Die Würde der Toten - Brigitte Pons - E-Book

Die Würde der Toten E-Book

Brigitte Pons

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Henriette, genannt Henry, ist Thanatopraktikerin: Sie richtet Verstorbene für die Bestattung her. Die Würde der Toten ist ihr heilig. Und sie liebt ihre Arbeit. Bis sie es mit Leichen zweifelhafter Herkunft, einem undurchsichtigen Geschäftsmann und einem wortkargen Polizisten zu tun bekommt. Sie stellt Fragen. Doch wer zu viel wissen will, bringt sich und andere in Gefahr. Um das Leben eines Freundes zu retten, muss Henry schwere Entscheidungen treffen und all ihre Prinzipien über Bord werfen. Die Gefahr schleicht sich langsam an. Ein Krimi für Lesegenießer. Überarbeitete und lektorierte Neuauflage

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Seitenzahl: 334

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Brigitte Pons

Die Würde der Toten

Kriminalroman

IMPRESSUM

© 2024 Brigitte Pons

Umschlag: tredition Cover-Designer

Foto Umschlag Rückseite: Patrick Liste

Lektorat: Meike Schwagmann

Erstausgabe 2012, Prolibris Verlag, Kassel

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg,

Deutschland

ISBN

Paperback             978-3-384-05388-6

e-Book                  978-3-384-05390-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Brigitte Pons, Platanenallee 29, 64546 Mörfelden-Walldorf, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Montag

Kapitel 1

Kapitel 2

Dienstag

Kapitel 3

Kapitel 4

Mittwoch

Kapitel 5

Donnerstag

Kapitel 6

Kapitel 7

Freitag

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Samstag

Kapitel 11

Sonntag

Kapitel 12

Montag

Kapitel 13

Kapitel 14

Dienstag

Kapitel 15

Kapitel 16

Mittwoch

Kapitel 17

Donnerstag

Kapitel 18

Freitag

Kapitel 19

Kapitel 20

Samstag

Kapitel 21

Kapitel 22

Sonntag

Kapitel 23

Kapitel 24

Montag

Kapitel 25

Kapitel 26

Dienstag

Kapitel 27

Mittwoch

Kapitel 28

Donnerstag

Kapitel 29

Danke!

Die Autorin

Die Würde der Toten

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Die Autorin

Die Würde der Toten

Cover

1

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Prolog

Vorsichtig wickelte er die Mullbinde ab, bewegte langsam die Finger und ließ das Handgelenk kreisen. Es knirschte, aber anscheinend war nichts gebrochen. Aus der Hosentasche zerrte er ein Bündel zerknüllter Geldscheine und warf sie neben sich auf das ungemachte Bett.

Tausend Euro. Ein ordentlicher Batzen für eine knappe Viertelstunde Einsatz. Das war viel besser als sein alter Job. Nichts für Weicheier mit Skrupeln. Kein Platz für Mitleid. Auch nicht mit sich selbst. Aber damit kam er klar.

Er konnte sicher noch mehr herausholen. Wenn er sich clever anstellte.

Und sich nicht erwischen ließ.

Montag

Kapitel 1

Aus der Helligkeit des Vormittages trat Adrian ein ins kühle Halbdunkel des Bestattungsinstituts. Er brauchte einige Sekunden, um sich an die veränderte Beleuchtung zu gewöhnen. Der Raum verströmte einen muffigen Geruch, passend zum Ambiente. Kerzen unter einem Kreuz, dezente Musik. Rechts, durch eine Glaswand abgetrennt, standen drei Särge mit Plastikblumenschmuck, eine Vitrine mit Urnen. Auf der linken Seite, hinter einem Schreibtisch, saß ein alter Mann im schwarzen Anzug und telefonierte. Adrian empfand seine eigene Erscheinung plötzlich als unpassend. Jeans, ein einfaches T-Shirt und eine Lederjacke. Er räusperte sich.

Der Mann hob überrascht den Kopf, warf einen Blick zur Uhr, dann in den Kalender und legte die Hand über die Sprechmuschel. Stumm gestikulierend bedeutete er Adrian, das Gespräch sei wichtig und ergänzte dann flüsternd: „Gehen Sie den Flur entlang und die Treppe runter. Henry muss gleich fertig sein. Klopfen Sie einfach.“

Auf dem Weg nach unten schlug ihm Formalingeruch entgegen, der immer intensiver wurde. Durch die letzte Tür auf dem Flur drang Licht, aber niemand reagierte auf auf sein Klopfen. Ohne lange zu überlegen, öffnete er und betrat einen bis zur Decke hinauf gefliesten Raum. Erinnerungen an die Gemeinschaftsdusche in der Schulsporthalle huschten durch seinen Kopf, als er den im Boden eingelassen Abfluss wahrnahm. Dann fiel sein Blick auf den Stahltisch. Und auf die nackten Füße an nackten Beinen. Aber nur kurz. Er wurde abgelenkt, als von rechts, aus dem nicht einsehbaren Bereich hinter der Tür, eine pummelige Gestalt in einer abwaschbaren Schürze aus Gummi erschien. Ihre Schuhe steckten in Plastikgamaschen.

Schlachthofatmosphäre. Auf einem unsichtbaren Schlagzeug schlug sie mit zwei dünnen Stäben einen lautlosen Takt und tanzte dazu über die weißen Fliesen.

Am Tisch angekommen steckte sie auf jeden der Trommelstöcke einen Schlauch. Den linken verband sie mit einem zylindrischen Glasbehälter, in dem eine rosafarbene Flüssigkeit waberte. Dann griff sie zu einem feinen Messer und machte sich damit am Hals des Leichnams zu schaffen.

Adrian schluckte trocken. Er musste dieses widerliche Treiben sofort beenden!

„Ich suche Henry“, platzte er heraus.

Frankenstein ließ die Folterwerkzeuge fallen und drehte sich um. Frankensteins Tochter, korrigierte Adrian sich stumm.

Mit einer Hand zupfte sie sich die Kopfhörer eines MP3-Players aus den Ohren, den er erst jetzt bemerkte. „Sind Sie noch zu retten? Sie haben mich zu Tode erschreckt.“

Sein Lachen war nicht aufzuhalten. Makaber, unpassend, unbändig. „Na, dann liegen Sie hier ja gleich richtig, wenn Sie tot umfallen.“

Ihr sommersprossiges Gesicht wechselte die Farbe. Von peinlich ertappter Röte zu milchigem Weiß. Jenem Weiß, das einzig den Rothaarigen vorbehalten ist.

„Der Mann dort oben hat mich runtergeschickt, zu einem gewissen Henry. Stimmt das – finde ich den hier?“

„Stimmt fast.“ Sie nickte nachdrücklich. „Sekunde noch.“

Mit dem Skalpell setzte sie zügig zwei kurze Schnitte, nahm die Trommelstöcke wieder auf, bei denen es sich, wie Adrian nun erkannte, um große Kanülen handelte, und schob sie dem Toten scheinbar mühelos unter die Haut. Sie kontrollierte den Behälter und betätigte einige Schalter, woraufhin ein Motor zu laufen begann. Wortlos beförderte sie die Gummihandschuhe in den Müll, wusch sich akribisch die Hände und rieb sie mit einer Desinfektionslösung ein, um ihm dann die rechte hinzustrecken.

„Henriette Körner, aber alle nennen mich Henry. Wir sind hier prinzipiell per Du, intern versteht sich. Wenn Kundschaft da ist, natürlich nicht. Also, bis auf solche“, sie deutete auf den Leichnam, „die lauschen nicht. Das sind mir die liebsten. Dann lass mal hören, was hast du denn für Referenzen? Schon mal so einen Job gemacht?“

Ehe er antworten konnte, sprach sie weiter:

„Neuling, tippe ich, so grün wie du um die Nase bist. Meine Klienten sind friedlich, die tun niemandem was. Du sollst als Aushilfe vor allem den Transport hierher und die Fahrten zum Friedhof übernehmen, dann ist der Deckel drüber. Außerdem sind wir sowieso immer zu zweit. Am Anfang werde ich den ganzen Papierkram übernehmen, wenn wir eine Leiche abholen. Das ist alles halb so wild. Und das hier“, sie deutete wieder auf den Mann, „ist mein Ding, damit hast du nichts zu tun.“

Sie nahm eine Wasserflasche vom Tisch, die beim Öffnen zischte, und schenkte ihm ein Glas ein.

Adrian brachte keinen Ton heraus, nahm einen Schluck, konnte den Blick nicht vom Hals des Toten lösen, in dem jetzt zwei Schläuche steckten. Durch den einen wurde die rosa Flüssigkeit in den Körper gepumpt, durch den anderen bewegte sich eine rötlich-braune Masse in entgegengesetzter Richtung.

Sein Magen reklamierte den Anblick als unzumutbar.

„Eigentlich“, er lehnte sich an den Türrahmen und hielt sich am Glas fest, „suche ich keinen Aushilfsjob.“

„Verstehe ich. Eine Festanstellung wäre mir an deiner Stelle auch lieber. Aber das geben die Finanzen momentan nicht her.“

„Nein. Darum geht es nicht.“ Es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen. Der Gedanke war noch nicht endgültig in seinem Kopf angekommen. Wahrscheinlich verspürte er gerade darum schon wieder den aberwitzigen Drang zu lachen. „Es ist nur wegen Elisabeth. Sie braucht eine Beerdigung, weil – na ja – sie ist tot.“

Die Pumpe tat, was sie zu tun hatte, pumpte ungerührt weiter, und die Schläuche gaben unappetitliche Schmatzgeräusche von sich.

„Ist nicht dein Ernst!“

In Henriette Körners Stimme mischte sich ein schriller Unterton, und Adrian grinste verlegen.

„Wirklich lustig ist es aber auch nicht.“

Hektisch wischte Henry sich die Haare aus der Stirn und startete einen Erklärungsversuch: „Mann, das tut mir so leid! Niemand kommt zu mir hier runter, jedenfalls normalerweise. Nur ausgerechnet heute … Ich wusste nicht …“

„Schon gut.“

„Nein, ist es nicht! Es sollte sich eine Aushilfe vorstellen, und zwar um elf Uhr. Darum dachte ich, dass du das bist, also Sie. Ich hatte echt keine Ahnung, dass gleichzeitig jemand zum Trauergespräch angemeldet ist. Und Sie haben ja auch gesagt, Sie wollen zu mir.“

Adrian war gar nicht auf die Idee gekommen, vorher anzurufen und einen Termin zu machen. Man hatte ihn im Dienst über Elisabeths Tod informiert, und er war direkt vom Polizeipräsidium aus ins Krankenhaus gefahren. Nachdem er dort die notwendigen Formalitäten hinter sich gebracht hatte, wollte er auch die nächsten Schritte umgehend in die Wege leiten und erst dann nach Hause fahren. Unter seinem Arm klemmte immer noch seine Sporttasche, in die eine Schwester Elisabeths Habseligkeiten eingepackt hatte.

„Es tut mir wirklich sehr leid, das war ein blödes Missverständnis, und natürlich tut es mir auch leid, dass Sie einen lieben Menschen verloren haben.“

Einen lieben Menschen. Er unterdrückte den Impuls zu widersprechen. „Sie konnten das nicht wissen.“

Ihre erschreckten Augen ließen sie weniger abgebrüht erscheinen, als der erste Eindruck es ihm vermittelt hatte.

„Trotzdem. Ich bringe Sie nach oben. Herr Moosbacher wird sich gleich um Sie kümmern. Sie werden sehen, mit seiner Hilfe und Erfahrung-“

„Ich will aber lieber mit Ihnen reden“, unterbrach er sie.

„Das ist eigentlich nicht meine Aufgabe. Herr Moosbacher kann das viel besser.“

„Eigentlich? Aber Sie können es auch?“

Erstaunlicherweise wirkte die Frau beruhigend auf ihn. Vielleicht, weil sie für einen Moment so fassungslos ausgesehen hatte, wie er selbst es eigentlich hätte sein sollen.

„Ja, ich kann das auch“, gab sie widerwillig zu.

„Dann bleibe ich hier.“

„Kommt nicht in Frage!“ Henriette schüttelte den Kopf. „Also, dass wir hier unten reden, kommt nicht in Frage, meine ich. Lassen Sie uns nach oben gehen.“

Gegen seinen Willen drängte sie ihn aus dem Raum.

Er trottete vor ihr die Treppe hinauf, registrierte kaum, dass sie weiter mit ihm sprach und antwortete mechanisch.

Während sie schnell und leise auf den Mann hinter dem Schreibtisch einredete, blieb Adrian mitten im Zimmer stehen und starrte auf die Tasche in seiner Hand. Seine Tasche mit Elisabeths Sachen. Ihm wurde übel, obwohl er hier oben den Lösungsmittelgeruch nicht mehr wahrnehmen konnte.

*

Der Schreck machte Eberhard Moosbacher sprachlos. Wie hatte er nur so gedankenlos sein können, einen Hinterbliebenen zu Henry in den Keller zu schicken? Selbst das verstörende Telefonat ließ er vor sich selbst nicht als Entschuldigung gelten. Sie konnten es sich nicht leisten auch nur einen einzigen Auftrag zu verlieren. Gerade darum kam es ihm jetzt gelegen, dass Henry das Trauergespräch übernehmen wollte. Er brauchte Zeit, seine Gedanken zu sortieren und wieder zu Atem zu kommen. Man hatte ihn bedroht, mit körperlicher Gewalt. Der Anrufer verwendete Worte wie Schuld und Ehre, Verantwortung, Sühne und immer wieder Familie. Nicht alles konnte Eberhard Moosbacher verstehen, nicht einmal den Akzent des Mannes einem Land zuordnen. Der freundliche Tonfall vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Hinweis auf brechende Knochen ebenso ernst zu nehmen war, wie das darauf folgende Angebot der schützenden Hand, die sich über ihn und die Seinen breiten könne. Unter gewissen Umständen.

Der Mann hatte nicht auf eine Antwort gewartet.

Mit fahrigen Bewegungen kramte Eberhard Moosbacher den Schlüssel hervor, schloss die Eingangstür ab und zog sich in sein Büro zurück. Seine Kräfte ließen nach, körperlich und mental. Er konnte dem Druck nicht mehr lange standhalten. Wenn er nicht bald eine Lösung fand, würden sich andere um seine Probleme kümmern. Er wagte nicht sich auszumalen wie.

Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich der Angst vor der Zukunft hilflos ausgeliefert.

*

Henriette Körner nahm Adrian an der Schulter, drehte ihn ein Stück zur Seite und schob ihn ins Nebenzimmer. Dort öffnete sie das Fenster, stellte ohne zu fragen eine Tasse vor ihn auf den Tisch und goss aus der Thermoskanne Kaffee ein. Er sah aus, als ob er eine Portion Frischluft und Koffein gebrauchen könnte. Sie hätte jetzt einen Whiskey bevorzugt. Einen doppelten. Lebende Menschen waren oft schrecklich kompliziert.

In Gedanken legte sie sich Sätze zurecht und verwarf sie wieder. Ihr letztes Gespräch dieser Art lag mindestens ein Jahr zurück. Nach ihrem außergewöhnlichen Aufeinandertreffen im Keller konnte sie nicht mit den üblichen einleitenden Worten beginnen.

„Na gut“, entfuhr es ihr schließlich. Etwas zu salopp, aber beherzt. „Am besten arbeiten wir nach und nach die wesentlichen Punkte ab. Ist das in Ordnung für Sie, Herr …?“

„Wolf, Adrian Wolf. Ja, ist es.“

Da ihr der Totenschein noch nicht vorlag, fragte Henriette die persönlichen Daten der Verstorbenen ab. Adrian Wolf antwortete einsilbig. Der Versuch, ihn durch geschäftsmäßiges Auftreten zu entkrampfen, scheiterte. Sie merkte, wie ihr seine Aufmerksamkeit entglitt und sich auf den Verkehr draußen auf der Straße richtete. Ein blauer Golf fuhr mit schleifendem Keilriemen vorbei. Dann ein grauer Wagen, vermutlich ein japanisches Modell. Immer an derselben Stelle blitzte draußen ein greller Lichtreflex auf, und er kniff die Augen zusammen. Henriette beobachtete ihn eine Weile, es schien ihm nicht aufzufallen, dass sie minutenlang schwiegen. Schließlich schloss sie das Fenster und setzte erneut an.

„Wissen Sie, ob Frau von Bragelsdorf hinterlassen hat, wie sie beigesetzt werden möchte? Manche Menschen treffen Vorbereitungen, planen …“

„Elisabeth nicht.“

„Hat sie vielleicht mit jemand anders darüber gesprochen?“, hakte sie vorsichtig nach.

„Wüsste nicht, mit wem.“

Wieder verfiel er in Schweigen, und sie studierte sein Gesicht. Schmal und kantig, erste Falten auf der Stirn und um den Mund, graue Schatten auf Kinn und Wangen, die von kräftigem Bartwuchs zeugten. Sie schätzte ihn auf Anfang, höchstens Mitte vierzig. Also etwa zehn Jahre älter als sie selbst.

„Ist da niemand sonst, der sich kümmert? Ein Ehemann, Geschwister, Kinder, Freunde, die Sie bei den Vorbereitungen unterstützen können?“

Adrian schnaubte verächtlich, rührte angestrengt in der halbleeren Tasse, trank den letzten Schluck Kaffee.

„Gibt wohl nur uns beide, Henry.“

Mit konzentrierter Miene betrachtete er den Bus, der gerade den Blick aus dem Fenster versperrte. Henriette versuchte es weiter.

„Vielleicht ist es einfacher, wenn wir die Sache von einer anderen Seite herangehen. Erzählen Sie mir von Elisabeth von Bragelsdorf.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“

„Was verbindet Sie mit ihr? Wer war sie für Sie?“

„Sie war – einfach Elisabeth.“

„Eine gute Freundin?“

Er zögerte einen Moment, ehe er den Kopf schüttelte. Henriette seufzte. Sie war es gewohnt, dass ihre Kunden nicht mir ihr sprachen, aber die hatten einen guten Grund zu schweigen. Dieser hier nicht. Fast bereute sie es schon wieder, den Keller verlassen und dieses Gespräch angenommen zu haben.

Ihre Toten heuchelten nicht, sie waren unfähig zur Lüge, eindeutig. Aber diesen Mann hier konnte sie nicht verstehen. Entweder war das ein völlig kalter Hund oder einer, der sich versteckte. Sie beschloss, sich auf sein Schweigen einzulassen, legte die Hände auf die Tischplatte, beobachtete den stummen Kampf in seinen Zügen und wartete.

Schließlich fuhr Adrian Wolf sich mit beiden Händen übers Gesicht, rieb die Augen hinter der Brille. Rot und gereizt, aber trocken. Er hatte keine Träne vergossen.

„Elisabeth war meine Mutter.“

Kapitel 2

An die Fahrt vom Beerdigungsinstitut nach Niederrad konnte Adrian sich kaum erinnern. Mehrmals war er erschreckt zusammengezuckt und musste sich neu orientieren.

Jetzt war er erleichtert, endlich angekommen zu sein. Umständlich kramte er den Wohnungsschlüssel aus der hinteren Hosentasche, ohne die Sporttasche abzustellen. Er schob die Haustür mit dem Fuß auf, ignorierte den Aufzug. Dessen Funktionsfähigkeit lag bei konstant Null, nur die Graffiti-Schmierereien wechselten regelmäßig. Das Treppenhaus roch nach nassem Hund und kaltem Rauch. Im zweiten Stock streifte sein Blick ein frisch in den Putz gekratztes schiefes Herz mit krakeligen Initialen, in denen man sowohl A+K, als auch R+H oder etwas ganz anderes erkennen konnte. Der Hausmeister würde wieder einen Anfall kriegen, böse Briefe schreiben und kollektiv alle zwischen fünf und fünfundzwanzig verdächtigen und anbrüllen.

Im vierten Stock des alten Sozialbaublocks war die Luft stickig. Darüber lag nur noch der schlecht isolierte Dachboden. Der Schlüssel klemmte im Schloss, und er musste am Knauf ziehen und ihn gleichzeitig drehen, um die Wohnungstür zu öffnen. Krampfhaft hielt er dabei die Tasche fest, um sie dann in den hintersten Winkel des Garderobenschranks zu stopfen.

Aus der Jacke zog er die Visitenkarte von Eberhard Moosbacher, auf deren Rückseite handschriftlich eine Durchwahlnummer gekritzelt war - und ein Name. Unschlüssig drehte er sie in der Hand und warf sie schließlich mit dem Schlüssel auf die Ablage. Henriette Körner. Morgen sollte er sich wieder bei ihr melden. Aber heute wollte er nicht mehr weiter nachdenken.

Er bog ins Badezimmer ab, drehte den Wasserhahn auf und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Aus dem Wohnzimmer holte er eine Flasche Rotwein und einen Korkenzieher und setzte sich auf den Wannenrand. Eigentlich nicht sein Ding. Er bevorzugte Bier. Elisabeth hatte Rotwein gemocht. Irgendwann hatte er den hier sicher für sie gekauft und dann vergessen. Adrian fixierte die hellblauen Fliesen an der Wand. Schwimmbadkachelblau. Über dem Waschbecken öffnete er die Flasche, dann goss er den Inhalt langsam in den Ausguss, verfolgte den dunklen Strudel, der sich gluckernd drehte und dabei schmutzige Streifen auf der weißen Keramik zurückließ. Er schlurfte hinaus, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und trank, ohne abzusetzen. Noch in der Küche streifte er die Schuhe ab, zog sich aus und rollte die Wäsche zu einem handlichen Bündel zusammen, das er anschließend im Bad in den Wäschekorb stopfte.

Elisabeth. Mutter. Henrys Fragen kreisten in seinem Kopf, als er langsam ins Wasser glitt. Es war lange her, dass er in der Wanne gelegen hatte. Er duschte lieber. Schnell und zweckmäßig. Aber jetzt hatte er das Bedürfnis, sich einzuweichen, bis sich die Haut in kleinen Wellen pellte, der Desinfektionsmittelduft aus seiner Nase verschwand und der Mottenkugelgestank des Todes. Woher dieser Gedanke an Mottenkugeln kam, konnte er sich nicht erklären. Aber beide Gerüche verfolgten ihn, seit er im Bestattungsunternehmen gewesen war, verwirbelten nun in seinem Kopf, wurden allmählich ersetzt durch den Duft der Erinnerung.

Adrian füllte seine Lungen mit Luft, tauchte unter und öffnete die Augen. Kein Schaumbad, das in den Augen brannte, kein aufdringliches Aroma, so stark und überwältigend, dass es ihn ekelte. Seine Folter, wenn Elisabeth badete. Er dachte daran, wie sie dabei ausgesehen hatte, als er ein Kind war. Schön, makellos, unnahbar. Wie sie seine Blicke auf sich gezogen hatte, um ihn anschließend dafür zu tadeln.

Der Wasserdruck erzeugte ein tiefes Rauschen, das durch seine Ohren bis in die hintersten Gehirnzellen vordrang. Dort überlagerte es für einen Moment alle Gedanken und mischte sich mit den verzerrten Bildern, die das hin und her schwappende Wasser auf die Netzhaut projizierte. Das Dröhnen verstärkte sich. Er spürte das Pulsieren seines Blutes in den Schläfen, während ihm allmählich die Luft ausging und kam prustend zurück an die Oberfläche. Draußen klingelte das Telefon. Er ignorierte es. Beileidsbekundungen waren das Letzte, was er gebrauchen konnte. Es gab keinen Verlust zu beklagen. Wenn er überhaupt etwas empfand, dann Erleichterung.

Henriette Körner hatte ihn weggeschickt, damit er sich Zeit nahm zum Nachdenken und keine überstürzten Entscheidungen traf. Man konnte Leichen kühlen und lagern, bei entsprechender Behandlung. Auf Antrag auch zwei Wochen lang. Es bestand keine Notwendigkeit zur Eile. Außer vielleicht für ihn. Begraben und vergessen.

Was mochte Ihre Mutter, was war ihr wichtig?, hatte die Frau aus dem Keller gefragt. Neugierig und unerbittlich. Aber es interessierte ihn nicht, war ihm, verdammt noch mal, egal. Er sollte passende Musik heraussuchen für die Trauerfeier. Brauchte einen Anzeigentext für die Zeitung, musste Leute informieren. Da war durchaus noch Verwandtschaft, deren Existenz er aber viel lieber ausgeblendet hätte.

Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Seine Füße lagen auf dem Wannenrand. Diese Henry war bereit, alles zu organisieren, nur lag ihr penetrant viel an dem, was sie Trauerarbeit nannte.

Langsam beugte er die Knie und sein Kopf verschwand wieder im gedämpften Rauschen.

Blödsinn, das alles. Er kam auch so zurecht.

*

Die plüschige Sitzecke im „Club 18“ war Alfred Westermanns bevorzugter Platz für Verhandlungen. Entspannte Atmosphäre, gedämpfte Beleuchtung, diskreter Service. Seine Jungs außer Hörweite, aber mit Sichtkontakt. Von der Bar wehte das Lachen der leicht bekleideten Damen herüber. Mit denen würde er sich später beschäftigen. Jetzt ging es ums Geschäft. Doch das Gespräch verlief alles andere als befriedigend.

„Ich dachte, wir waren uns einig?“ Mehr als eine leichte Überraschung ließ er sich nicht anmerken.

Kolja Bilanow beugte sich nach vorne, griff nach dem Longdrinkglas und ließ die Eiswürfel kreisen.

„Dinge ändern sich.“

„Inwiefern?“ Bedächtig nippte Bilanow, tupfte sich Mundwinkel und Schnurrbart mit der Serviette ab und stellte das Glas auf den Tisch. Er lehnte sich zurück und bettete die gefalteten Hände in den Schoß, ehe er antwortete.

„Meine Arbeit macht mir Freude, aber ich werde nicht jünger. Noch ein paar Jahre, dann will ich mich zur Ruhe setzen. Du hast einen meiner besten Männer abgeworben“, sagte er ruhig. „Das gefällt mir nicht. Doch ich verstehe es. Du weißt, ich bin nicht nachtragend. Obwohl es mein Plan war, dass er meine Angelegenheiten für mich weiterführt, trotz der kleinen Unstimmigkeiten, die wir zuletzt hatten. Nun muss ich umdenken für meine Zukunft. Daher habe ich nachgerechnet. Der Gewinn stimmt, das Risiko stimmt, die Abwicklung ist einfach – wie immer. Nur, was mir nicht mehr schmeckt, ist die Verteilung. Es bleibt zu viel Risiko für mich und zu viel Gewinn für dich.“

Eine Frage des Geldes also. Und eine Frage des Respekts. Alfred Westermann blinzelte nicht einmal. „Wenn du aussteigen willst, nur zu, dann bleibt der ganze Gewinn für mich.“

„Aus Geschäften mit dir steigt man nicht einfach aus, das wissen wir beide. Aber ich weiß auch, dass du jemanden suchst, auf den du verdammt wütend bist.“

„Den kleinen, dreckigen Totengräber?“

Bilanow neigte bestätigend den Kopf. „Wir verhandeln neu, und ich sage dir, wie du ihn findest.“

Im Gegensatz zu den Damen an der Theke ließ Westermann sich nicht von der kehligen, weichen Stimme seines Gesprächspartners einwickeln. Sein Urteil über Kolja Bilanow war längst gefallen.

„Interessiert?“

Einmal Denunziant, immer Denunziant. Es schadete nicht, die Information trotzdem zu nutzen. „Es lebe der Verrat.“ Westermann lächelte sanft.

*

Es war schon beinahe Mitternacht, als Martina Leger die Wohnungstür aufschloss. Ihre Absätze klapperten über den Flur und Adrian ging ihr zögernd ein paar Schritte entgegen.

„Wie geht es dir?“ Martina musterte ihn besorgt.

Sie war den weiten Weg von München nach Frankfurt gekommen, nachdem sie seine SMS mit der Nachricht von Elisabeths Tod erhalten hatte. Für wenige, schlaflose Stunden, die sie gemeinsam verbringen konnten. Obwohl sie am nächsten Morgen pünktlich zu einem Geschäftstermin wieder zurück sein musste.

„Geht schon“, murmelte Adrian vage und verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. „Elisabeths Tod kam nicht wirklich überraschend. Irgendwie habe ich“, er machte eine kurze Pause, „habe ich darauf gewartet.“

Erleichtert stieß sie die Luft aus und umarmte ihn. „Ich bin froh, dass du das endlich aussprichst. Es ist natürlich immer“, sie schien nach dem passenden Wort zu suchen, „bedauerlich, wenn ein Mensch stirbt.“

Bedauerlich? Er hatte darauf gewartet, gelauert, gehofft und es herbeigesehnt. Er fragte sich, ob er sich dafür schämen müsste. Aber er schämte sich nicht. Martina strich sanft über seinen Nacken. „Wenn du mich brauchst, bin ich da. Nur, verlange nicht von mir, dir Trauer vorzuspielen. Elisabeth war eine Belastung, sie war alt und bösartig, sie war schwer krank und hatte schon lange nichts mehr vom Leben. Auch, wenn das immer ein bisschen platt klingt, aber ihr Tod war vermutlich eine Erlösung für sie. Und auch für dich, wenn du ehrlich bist.“

Erlösung. Er zog ihre Hand an die Lippen und drückte einen Kuss darauf. Sie hatte Recht. Elisabeths Tod bedeutete seine Freiheit. Eine Freiheit, die ihm längst zugestanden hatte. Martinas gradlinige Offenheit vertrieb die letzten Zweifel aus seinem Kopf. Sie rückte seine Welt wieder zurecht, brachte ihm die gewohnte Selbstsicherheit zurück.

Es gab nicht den geringsten Grund, über Elisabeths Geschichte nachzugrübeln oder an Gunther von Bragelsdorf zu denken. Und schon gar nicht an den anderen Mann in ihrem Leben. Martina war hier, seinetwegen, nur das zählte. Sie war seine Zukunft. Er lächelte eine Spur zu breit, zu souverän. „Die Sache ist bald erledigt. Mach dir keine Gedanken um mich. Denn, weißt du, ich bin erwachsen, das haut mich nicht um. Also danke für das Angebot, aber ich schätze, Hilfe werde ich keine brauchen. Es sind nur noch ein paar Kleinigkeiten zu klären, den Rest überlasse ich dem Bestatter. Wechseln wir das Thema. Es tut einfach gut, dass du da bist.“ Er zog sie in seine Arme. Ihr Körper wurde weich und sie schnurrte wie eine Katze, als er ihren Hals küsste und mit den Händen in ihre Locken fuhr.

Seine Empfindungen gehörten ihm allein und gingen niemanden etwas an. Schon gar nicht die Frau aus dem Leichenkeller. Elisabeths Leben war zu Ende, aber seines nicht. Er lebte, atmete, und keiner durfte ihm sagen, was er zu fühlen hatte. Die Vergangenheit sollte vergangen bleiben und aus seinem Hirn verschwinden. Wie Elisabeth.Martina genoss seine ungestüme Umarmung, strich mit den Fingernägeln herausfordernd sein Rückgrat entlang, lachte leise, flüsterte zärtliche in sein Ohr. Doch ihre schmeichelnden Worte erreichten ihn nicht. Ein verbissenes Verlangen grub tiefe Falten in sein Gesicht, als er ihr die Bluse über den Kopf streifte und in ihren Haaren Vergessen suchte.

Da war dieser flüchtige Hauch von Rosenblättern in seinem Innern, Verwesung und Formaldehyd.

Krampfhaft presste er die Lider zusammen, bis sie schmerzten und nur noch tanzende bunte Lichtblitze dahinter zuckten. Das Vergessen ließ auf sich warten.

Dienstag

Kapitel 3

Martina war bereits gegangen, als Adrian am Morgen erwachte. Unschlüssig stand er vor dem Kleiderschrank herum und starrte minutenlang hinein. Er schaffte es nicht, ein schwarzes Hemd anzuziehen oder wenigstens eine schwarze Krawatte. Elisabeth hätte es von ihm erwartet. Aber Elisabeth war tot. Er wählte ein helles Blau.

In der Küche stand ein benutztes Glas, daneben der Orangensaft. Adrian trank direkt aus der Packung und stellte Martinas Glas in die Spülmaschine. Sie hatte kein Problem damit, sich um fünf Uhr früh in den Wagen zu setzen, um nach München zu fahren, und davor noch zu duschen. Er schon. Sein Biorhythmus verlangte Schlaf bis mindestens halb sieben. Vor acht kam er in den seltensten Fällen an seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium an.

Man bekam Dienstbefreiung für Todesfälle im engsten Familienkreis. Doch Adrian ging zur Arbeit wie an jedem anderen Tag, nahm die Anteilnahme der Kollegen schweigend zur Kenntnis, schloss dann die Tür hinter sich und verbannte Elisabeth für ein paar Stunden aus seinem Kopf.

Erst sein Terminkalender im Computer erinnerte ihn kurz vor dem Feierabend mit dezentem Klingeln daran, dass er sich dem Problem wieder stellen musste.

Er verließ sein Büro, legte am Drehkreuz die Ausweiskarte auf das Lesegerät und grüßte den Pförtner mit beiläufigem Heben der Hand. Die U-Bahn-Station war nur wenige Meter entfernt, und kurz zog Adrian in Erwägung, den Wagen am Präsidium zurückzulassen. In der Stadt einen Parkplatz zu ergattern, war nahezu aussichtslos; fast überall benötigte man einen Anwohnerausweis, und die Kollegen vom Ordnungsamt waren im Dauereinsatz.

Eigentlich war Elisabeths Wohnung, in der Nähe des Museumsufers, bequem mit der U-Bahn zu erreichen. Aber er hatte keine Lust nach seinem Besuch dort weiter mit den Öffentlichen durch die Stadt zu schaukeln. Auf die Dauer wurde das zu umständlich, schließlich musste er irgendwie nach Hause und morgen früh wieder zur Arbeit kommen. Und wer weiß, wohin noch zwischendurch. Je nachdem, was der kleinen Rothaarigen heute einfiel.

Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zur Danneckerstraße. Dort parkte er halblegal vor dem Zugang zu einer Grünanlage mit Spielplatz. Eine ruhige Gegend mit Vorgärten hinter hohen Eisenzäunen. Elisabeth von Bragelsdorf hatte nicht einfach nur gewohnt. Sie hatte im ersten Stock des Gründerzeitgebäudes geradezu residiert. Mit Putzhilfe und Köchin. Beiden war auf Elisabeths Wunsch sofort gekündigt worden, nachdem sie vor drei Wochen ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Aus Kostengründen.

Adrian öffnete alle Fenster und ließ die Räume von der kalten, klaren Herbstluft durchfluten. Gunther von Bragelsdorf war all die Jahre für die Miete aufgekommen. Oder gehörte ihm die Wohnung sogar? Adrian musste sich eingestehen, dass er es nicht wusste. Wie so vieles, was es nun herauszufinden galt. Zwangsweise, ob er wollte oder nicht. Er schnaubte ungehalten. Vielleicht erwartete ihn ein reiches Erbe. Klassisches Mordmotiv. Vielleicht aber auch nicht. Zu ihren Vermögensverhältnissen hatte Elisabeth sich nie deutlich geäußert. Über Geld spricht man nicht. Man hat es einfach. Im Wohnzimmer prangte ihr Porträt über dem dunkelbraunen Sofa.

Adrian ging auf die Knie, durchsuchte hastig den Schrank, den Blick ihrer gemalten Augen im Nacken. In einem Schubfach entdeckte er eine kleine Pappschachtel mit Bildern, die fast ausnahmslos Elisabeth zeigten. Daneben fand sich ein Stapel alter Briefe, die er unberührt liegen ließ, und ein Adressbuch. Er steckte drei der Fotografien in einen Umschlag, nahm das Adressbuch an sich und beeilte sich, die Wohnung wieder zu verlassen.

Im Feierabendverkehr brauchte er eine gefühlte Ewigkeit bis nach Höchst. Es wäre viel sinnvoller gewesen, einen Bestatter in der Nähe seiner eigenen Wohnung zu beauftragen, als in der Nähe der Klinik. Aber dazu war es nun zu spät. Einen Moment lang dachte er daran, Eberhard Moosbacher den Umschlag einfach in die Hand zu drücken und zu verschwinden. Dann entschied er sich dagegen.

Langsam öffnete er die Eingangstür, niemand nahm ihn in Empfang. Er hielt den Atem an, um dem Mottenkugelgeruch zu entgehen, den er hier wieder zu riechen glaubte, und durchquerte den Raum mit großen Schritten. Erst als er sicher war, nur noch Lösungsmitteldämpfe einzuatmen, stieß er die Luft wieder aus. Im Versorgungsraum hörte er Henry leise singen und trat ein, ohne zu klopfen Diesmal entlockte ihm ihr Anblick nur ein Grinsen und verschaffte ihm keine Gänsehaut. Er vermied es, die Person auf dem Tisch zu betrachten, was schwierig war, weil er fasziniert Henrys tänzerisches Tun verfolgte. Sie arbeitete mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen, konzentriert und zügig, und schaffte es, dabei gleichzeitig ihre Hüften und Schultern in rhythmische Schwingungen zu versetzen. An der Wand hinter dem Tisch waren Zettel und Fotografien an einer Magnetleiste aufgehängt. Gelegentlich warf sie einen kurzen Blick darauf, lächelte, flüsterte ein paar Worte, die eindeutig für ihre Klientin bestimmt waren, um dann wieder weiterzusingen.

Selbstvergessen. Das Wort kam ihm in den Sinn, als er sie beobachtete.

Unvorstellbar für ihn, sich so einem Toten zu nähern.

Zu seiner Ausbildung bei der Polizei hatte auch die Anwesenheit bei einer Obduktion gehört, die er nur mit äußerster Anstrengung aufrecht stehend hinter sich gebracht hatte.

Und dann war der Unfall passiert.

Seither vermied er Begegnungen dieser Art. Er drückte sich, wenn nötig, womit er sich den Unmut seiner Kollegen zuzog. Schließlich hatte er sogar die Abteilung gewechselt, um den Toten zu entkommen. Aber jetzt stand er hier. In einem Raum mit einer fremden Toten und einer fremden lebenden Frau.

Henriette Körner kämmte der Leiche die Haare, zupfte das Kleid zurecht, dann schaltete sie die Musik aus. „Hallo“, sagte sie, noch ehe sie sich umdrehte. Adrian fühlte sich seltsam ertappt, beinahe schuldig, so dass er nicht einmal eine Antwort stottern konnte.

„Sie haben mir zugesehen?“

Seine Zunge klebte am Gaumen, und er nickte mit den Augen.

Henry löste die Magnete von der Wand, sortierte die Bilder auf einen kleinen Stapel, den sie dann in einen Umschlag schob und in einer Schublade verstaute. „Es dauert noch ein bisschen, bis ich Zeit für Sie habe. Die Dame wird gleich noch in den Sarg umgebettet. Sie sollten oben warten.“

Die Haut seiner Unterlippe sprang auf, als er ein Nein herauspresste. Mit der Zungenspitze entfernte er den Blutstropfen.

Henry bedeutete ihm, sich auf einen Stuhl in der Ecke zu setzen. Dann nestelte sie an den Kabeln des MP3-Players herum, drückte ihm das Gerät in die Hand, schob ihm die Kopfhörer in die Ohren und betätigte die Starttaste. „Hören Sie mal. Das waren ihre Lieblingslieder.“

Während er bewegungslos in seiner Ecke verharrte und benommen Udo Jürgens‘ Stimme lauschte, verließ sie den Raum, was ihm einen Anflug von Panik bescherte. Doch schon Sekunden später öffnete sich die Aufzugstür an der gegenüberliegenden Wand. Gemeinsam mit einem schlaksigen, blassen Jüngling steuerte sie einen Transportwagen mit einem Sarg zum Versorgungstisch. Der Kerl musste wohl die Aushilfe sein.

Als sie ansetzten, die frisch frisierte Dame anzuheben und umzubetten, war Adrian versucht, die Augen zu schließen, tat es aber nicht. Die Stimme in seinem Ohr sang von griechischem Wein. Frankensteins Tochter und ihr Gehilfe glätteten das Kleid, falteten runzlige Hände. Aus einem Korb in der Ecke entnahm Henry einen zerfledderten Teddybär, den sie ebenso sorgsam in den Sarg legte, wie zuvor die Tote. Der Deckel schloss sich über beiden, und eine Frauenstimme schmetterte ein Liebeslied. Die Griechin mit der scheußlichen Brille. Ihm fiel der Name nicht ein.

Der Sarg wurde wieder zurück in den Aufzug geschoben, und Adrian blieb allein mit den weißen Fliesen an der Wand, den Folterwerkzeugen, Gummihandschuhen, Schläuchen und dem leeren Korb, in dem der Bär gesessen hatte.

Die Lippe blutete wieder, und er zog sie ein, saugte daran. Grübelte dem Geschmack nach. Süß? Bitter? Nicht salzig wie Tränen auf jeden Fall. Er räusperte sich und musste blinzeln. Entschlossen stand er auf, schaltete die Musik ab und drehte dem Korb den Rücken.

Aus der Innentasche seiner Jacke holte er den Umschlag. Vor ihm in der Schublade lag der andere, den Henry vorhin hineingesteckt hatte. Wenn sie mit Elisabeth fertig war, würde sie seinen auch dort ablegen. Er zog die Schublade einen Spalt breit auf. Ein Name in zittriger altdeutscher Schrift, darunter eine Adresse, ein feucht verwischter Fleck. Er hörte Henrys Schritte und drückte die Schublade zu.

Wortlos streckte er ihr den Umschlag entgegen.

„Danke.“ Sie legte das Kuvert beiseite, ohne es zu öffnen. „Die Familie wird in etwa einer Stunde da sein. Erst wenn alle noch mal bei ihr waren, wird der Sarg endgültig geschlossen. Wir haben oben ein schönes Zimmer für diesen Zweck eingerichtet, mit gedämpftem Licht und leiser Musik.“

„Diese hier?“ Er reichte ihr den MP3-Player.

„Nein. Wir richten uns nach den Lebenden. Es ist immer ein kleiner Spagat. Zum einen finde ich es total wichtig, die letzten Wünsche der Verstorbenen zu berücksichtigen, andererseits muss man die aber auch mit den Empfindungen der Hinterbliebenen in Einklang bringen. Das ist nicht immer ganz einfach. Gerade was Musik anbelangt. Sie trifft das Herz unmittelbar.“ Henry deutete auf sein Gesicht. „Ihre Lippe blutet.“

Er wischte mit dem Handrücken darüber. Sie versuchte, in seine Augen zu sehen, doch er wich ihr aus.

Manche traf die Trauer so unvorbereitet, dass sie sich verschlossen wie eine Auster. Aber dieser Mann hatte vorher schon in der Austernschale gesessen und krampfhaft den Deckel zugehalten. Das Bild gefiel ihr. Und auch wieder nicht. Austern öffneten sich ungern freiwillig, aber sie aufhebeln zu wollen, bedeutete ihren Tod. Eine schwierige Angelegenheit also, die Behutsamkeit erforderte.

Nur war Geduld lebenden Menschen gegenüber nicht unbedingt ihre Stärke.

Unschlüssig schlenkerte sie mit den Kopfhörerkabeln.

„Ich kann es Ihnen zeigen, wenn Sie wollen. Das Abschiedszimmer.“

Er schwieg.

„Ihre Mutter ist inzwischen auch bei uns eingetroffen.“ Wieder erzielte sie keine Reaktion. Sie wartete.

Schließlich stupste sein Zeigefinger gegen den Umschlag. „Da drin sind die Sachen, die Sie haben wollten.“

Als Henry die Verklebung der Lasche löste, wandte er sich ab. Sie breitete die Bilder vor sich aus, um sich einen eigenen Eindruck von der Frau zu verschaffen, über die Adrian Wolf partout nicht mit ihr sprechen wollte.

Eine strahlende Schönheit, elegant, bezauberndes Lächeln. Ein Strauß Rosen in ihrem Arm bei der Hochzeit. Vor einem Rosenbusch in einem Park. Sitzend auf einem Stuhl, das Kleid bedeckt von leuchtenden Rosen. Schön, wie ein Werbeprospekt. Perfekt inszeniert. Austernperle auf Hochglanz poliert.

„Ist das Ihr Vater?“

„Stiefvater.“

„Lebt er noch? Ich meine …“ Die Bilder mussten mindestens dreißig Jahre alt sein.

„Ja, er lebt noch. Er steht auf der Liste. Sie sind geschieden.“

„Und Ihr Vater?“

Seine Hand ballte sich zur Faust, er stieß sich vom Tisch ab, machte drei Schritte rückwärts in den Raum. „Der nicht.“

„Das tut mir leid.“

Vor ihrem Poster mit der anatomischen Innenansicht des Menschen blieb er stehen, studierte ausgiebig das rote und blaue Adergeflecht. „Der ist nicht auf der Liste.“

„Aber er lebt noch?“

„Kann sein.“

„Dann haben Sie ihn noch nicht informiert?“

„Das geht ihn nichts an!“, fuhr Adrian sie heftig an.

„Aber sie hatten ein Kind zusammen!“

„Soweit die Theorie. Hören Sie, können wir das Thema wechseln? Der Mann spielt hier keine Rolle.“

„Schon gut.“ Sie hob besänftigend die Hände. „Natürlich. Wollen wir vielleicht lieber doch nach oben gehen?“

„Nein.“

Seine Verärgerung mündete in Sturheit, aber Henry ließ ihn gewähren. Wo ihre Unterhaltung stattfand, war letztlich wirklich egal. Mit einem kleinen Hopser platzierte sie sich auf der kalten Stahlplatte des Arbeitstisches an der Wand und wies ihm den Stuhl zu.

„Also dann, ganz formlos, wenn Ihnen das lieber ist. Ich habe Ihnen gestern einen möglichen Ablaufplan geschildert, der ist aber nicht zwingend. Sie geben die Geschwindigkeit vor. Was wir aber bald machen müssen, ist einen Termin für die Beerdigung zu vereinbaren, danach die Anzeige in der Zeitung aufgeben und die Leute anschreiben, die persönlich informiert werden sollen.“

Überkopf angelte sie einen Ordner aus dem Metallschrank und klappte ihn auf. Routinen abspulen, entspannte die Gemüter normalerweise. Danach war es oft leichter, Dinge anzusprechen, die stärkere Gefühle auslösten. Zumindest behauptete Eberhard Moosbacher das. Bei ihrem Gegenüber hegte Henry allerdings begründete Zweifel, denn schon wieder schüttelte er den Kopf.

„Nein.“ Adrian kippte die Lehne des Drehstuhls leicht nach hinten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Was wir hier machen, ist vielleicht unüblich, aber nicht formlos.“

Ein Teil von ihm suchte Streit.

„Worauf wollen Sie hinaus?“

Ein Teil von ihm wollte nach Hause und die Decke über den Kopf ziehen. „Ganz am Anfang gestern waren wir beim Du. Das ist formlos.“

Ein Teil von ihm dachte daran, dass dieses seltsame, sommersprossige Geschöpf ihn gestern trotz allem zum Lachen gebracht hatte.

„Also gut, dann ist es also nicht formlos. Machen wir trotzdem weiter?“

Der Teil, der sich nach Lachen sehnte, gewann.

„Nur, wenn wir es ab sofort doch formlos machen.“ Diesmal schaute er sie direkt an. Er blinzelte kaum merklich dabei, aber er ertrug ihren prüfenden Blick.

„Schön“, sagte sie schließlich. „Formlos heißt also per Du?“

Adrian nickte.

Kapitel 4

Der Mann vor Eberhard Moosbachers Schreibtisch machte ein bekümmertes Gesicht. Der buschige graue Schnurrbart zog seine Mundwinkel optisch noch weiter hinunter.