Rachekreuz - Brigitte Pons - E-Book

Rachekreuz E-Book

Brigitte Pons

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Zorn verjährt nicht ...

Neben einem frisch ausgehobenen Grab steckt ein umgedrehtes Kreuz im Boden. War es Vandalismus, Satanismus ... oder nur grober Unfug? Während Polizist Frank Liebknecht noch rätselt, erschüttert ein brutaler Angriff auf einen Kommissar das Dorf. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen? Die Tochter des Opfers scheint etwas zu verbergen. Und dann ist da noch der Beutel mit den dreißig silbernen Münzen, der beim Grab gefunden wurde: Markstücke aus der DDR - der Judaslohn für einen Verräter? Frank folgt der Spur in die deutsche Vergangenheit, die sehr viel lebendiger ist als erwartet ...

Dieser Krimi ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Nachtblau stirbt die Erinnerung" erschienen.

"Rache, Hass, Doping, pubertierende Jugendliche und ein schwerverletzter Kommissar - Spannung pur!" (Mabuerele, Lovelybooks)

Weitere Regionalkrimis mit Frank Liebknecht:

Band 1: Bauernopfer.

Kurz-Krimi: Lärmfeuer.

Band 2: Raubjagd.

Band 4: Totengesang.

Band 5: Lügenpfad.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.



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Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Samstag, 16. März, Vielbrunn, 9:05 Uhr

Samstag, 16. März, Vielbrunn, 11:00 Uhr

Montag, 18. März, Vielbrunn, 11:30 Uhr

Dienstag, 19. März, Vielbrunn, 17:30 Uhr

Mittwoch, 20. März, Vielbrunn, 15:20 Uhr

Mittwoch, 20. März, Michelstadt, 21:30 Uhr

Donnerstag, 21. März, Vielbrunn, 19:55 Uhr

Donnerstag, 21. März, Vielbrunn, 20:05 Uhr

Donnerstag, 21. März, Vielbrunn, 20:10 Uhr

Donnerstag, 21. März, Vielbrunn, 23:45 Uhr

Freitag 22. März, Vielbrunn-Hainhaus, 7:10 Uhr

Freitag, 22. März, Michelstadt, 9:15 Uhr

Freitag, 22. März, Vielbrunn, 13:00 Uhr

Freitag, 22. März, Erbach, 13:30 Uhr

Freitag, 22. März, Vielbrunn, 19:15 Uhr

Samstag, 23. März, Vielbrunn, 9:30 Uhr

Samstag, 23. März, Vielbrunn, 11:00 Uhr

Samstag, 23. März, Vielbrunn, 11:40 Uhr

Samstag, 23. März, Erbach, 17:30 Uhr

Sonntag, 24. März, Vielbrunn, 11:30 Uhr

Sonntag, 24. März, Vielbrunn, 17:30 Uhr

Sonntag, 24. März, Vielbrunn, 19:45 Uhr

Montag, 25. März, Vielbrunn, 9:00 Uhr

Montag, 25. März, Erbach, 11:55 Uhr

Montag, 25. März, Vielbrunn, 12:30 Uhr

Montag, 25. März, Vielbrunn, 18:15 Uhr

Dienstag, 26. März, Michelstadt, 11:00 Uhr

Dienstag, 26. März, Michelstadt, 11:45 Uhr

Dienstag, 26. März, Vielbrunn, 18:30 Uhr

März 1983

Mittwoch, 27. März, Michelstadt, 11:00 Uhr

Mittwoch, 27. März, Michelstadt, 21:15 Uhr

Donnerstag, 28. März, Erbach, 14:45 Uhr

Donnerstag, 28. März, Vielbrunn, 19:20 Uhr

Donnerstag, 28. März, Vielbrunn, 19:30 Uhr

Freitag, 29. März, Vielbrunn, 11:15 Uhr

Freitag, 29. März, Vielbrunn, 14:30 Uhr

Freitag, 29. März, Vielbrunn, 20:45 Uhr

Samstag, 30. März, Vielbrunn, 19:30 Uhr

Samstag, 30. März, Michelstadt, 20:00 Uhr

Sonntag, 31. März, Heppenheim, 15:20 Uhr

Sonntag, 31. März, Magdeburg, 20:00 Uhr

Montag, 1. April, Vielbrunn, 16:30 Uhr

Dienstag, 2. April, Erbach, 10:30 Uhr

Dienstag, 2. April, Vielbrunn, 14:30 Uhr

Dienstag, 2. April, Vielbrunn, 16:15 Uhr

Dienstag, 2. April, Vielbrunn, 17:00 Uhr

Mittwoch, 3. April, Vielbrunn, 9:00 Uhr

Mittwoch, 3. April, Vielbrunn, 15:30 Uhr

Donnerstag, 4. April, Erbach, 14:30 Uhr

Donnerstag, 4. April, Erbach, 15:30 Uhr

Freitag, 5. April, Vielbrunn, 13:30 Uhr

Freitag, 5. April, Vielbrunn, 20:00 Uhr

Juni 1990

Samstag, 6. April, Erbach, 11:30 Uhr

Samstag, 6. April, Michelstadt, 20:00 Uhr

Sonntag, 7. April, Vielbrunn, 15:30 Uhr

Montag, 8. April, Vielbrunn, 9:15 Uhr

Montag, 8. April, Vielbrunn, 10:45 Uhr

Montag, 8. April, Erbach, 13:30 Uhr

Montag, 8. April, Vielbrunn, 16:30 Uhr

Montag, 8. April, Vielbrunn, 22:45 Uhr

Mai 1982

Dienstag, 9. April, Vielbrunn, 13:45 Uhr

Dienstag, 9. April, Vielbrunn, 16:10 Uhr

Dienstag, 9. April, Erbach, 19:30 Uhr

Mittwoch, 10. April, Vielbrunn, 9:05 Uhr

Mittwoch, 10. April, Vielbrunn, 9:50 Uhr

Mittwoch, 10. April, Erbach, 15:30 Uhr

Mittwoch, 10. April, Erbach, 19:00 Uhr

Donnerstag, 11. April, Vielbrunn, 10:00 Uhr

Donnerstag, 11. April, Erbach, 14:30 Uhr

Donnerstag, 11. April, Erbach, 15:45 Uhr

Donnerstag, 11. April, Vielbrunn, 16:30 Uhr

Januar 1991

Freitag, 12. April, Erbach, 10:00 Uhr

Freitag, 12. April, Vielbrunn, 13:45 Uhr

Freitag, 12. April, Erbach, 19:30 Uhr

Freitag, 12. April, Vielbrunn, 21:30 Uhr

Samstag, 13. April, Vielbrunn, 9:45 Uhr

Samstag, 13. April, Vielbrunn, 14:15 Uhr

Oktober 1993

Sonntag, 14. April, Magdeburg, 13:00 Uhr

Sonntag, 14. April, Michelstadt, 13:30 Uhr

Sonntag, 14. April, Magdeburg, 14:00 Uhr

Sonntag, 14. April, Vielbrunn, 14:30 Uhr

Sonntag, 14. April, unterwegs, 19:00 Uhr

Sonntag, 14. April, Vielbrunn, 21:00 Uhr

Montag, 15. April, Erbach, 8:30 Uhr

Montag, 15. April, Vielbrunn, 10:10 Uhr

Montag, 15. April, Erbach, 10:20 Uhr

Montag, 15. April, Vielbrunn, 10:20 Uhr

Montag, 15. April, Vielbrunn, 11:30 Uhr

Montag, 15. April, Vielbrunn, 13:30 Uhr

Montag, 15. April, Erbach, 14:00 Uhr

Montag, 15. April, Erbach, 14:30 Uhr

Montag, 15. April, Michelstadt, 15:30 Uhr

Montag, 15. April, Erbach, 15:45 Uhr

Dienstag, 16. April, Erbach, 6:45 Uhr

Freitag, 19. April, Vielbrunn, 10:45 Uhr

Nachwort der Autorin, Erläuterungen und Dank

Quellen und weiterführende Links

Nachtblau

Weitere Titel der Autorin

Frank Liebknecht ermittelt im Odenwald:

Bauernopfer (Band 1)

Lärmfeuer (Kurz-Krimi zwischen Band 1 und 2)

Raubjagd (Band 2)

Totengesang (Band 4)

Über dieses Buch

Neben einem frisch ausgehobenen Grab steckt ein umgedrehtes Kreuz im Boden. War es Vandalismus, Satanismus … oder nur grober Unfug? Während Polizist Frank Liebknecht noch rätselt, erschüttert ein brutaler Angriff auf einen Kommissar das Dorf. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen? Die Tochter des Opfers scheint etwas zu verbergen. Und dann ist da noch der Beutel mit den dreißig silbernen Münzen, der beim Grab gefunden wurde: Markstücke aus der DDR – der Judaslohn für einen Verräter? Frank folgt der Spur in die deutsche Vergangenheit, die sehr viel lebendiger ist als erwartet …

Dieser Krimi ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel »Nachtblau stirbt die Erinnerung« erschienen.

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

Über die Autorin

Brigitte Ponsschreibt Romane und Kurzgeschichten und ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern«. Bei beTHRILLED sind bislang vier Regionalkrimis sowie eine Kurzgeschichte mit dem sympathischen Polizisten Frank Liebknecht erschienen, der in Vielbrunn im Odenwald ermittelt. Ein weiterer Band ist in Planung. Als Isabella Esteban veröffentlicht die Autorin Barcelona-Krimis bei Bastei Lübbe (Band 1: »Mord in Barcelona«).

Brigitte Pons ist verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.

Brigitte Pons

RACHEKREUZ

Frank Liebknechts dritter Fall

Ein Odenwald-Krimi

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der Originalausgabe: »Nachtblau stirbt die Erinnerung«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Redaktion: Marion Heister

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © FooTToo / Getty Images; Mimadeo / Getty Images; Guter Punkt

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-8264-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Mit wildem Gebrüll jagten sie die Straße entlang, über den Feldweg und die Wiese hinunter. Die Großen vorneweg, Pfeil und Bogen auf dem Rücken und sie, die Jüngste, in einigem Abstand hinterher. Die Luft zitterte in der Mittagshitze. Der fransige Pony klebte schweißnass an ihrer Stirn. Sie biss die Zähne aufeinander. Die kurze Hose scheuerte an den Oberschenkeln, Steinchen klemmten sich pieksend unter die Riemen ihrer Sandalen. Trotzdem rannte sie immer schneller, strauchelte, rannte weiter. Heute würde sie sich nicht abhängen lassen. Keuchend folgte sie dem Gejohle der anderen, die vor ihren Augen im grünen Dickicht am Bachufer verschwanden. Sie umrundete die Hecke an der Wegbiegung, blieb mit den Haaren in einer Brombeerranke hängen, sprang über einen Maulwurfshügel.

Als sie endlich an dem kleinen Wäldchen ankam, war es plötzlich ganz still zwischen den Bäumen. Das Wasser sprang plätschernd über die Steine. Insekten summten. Sonst hörte sie nur ihren eigenen Atem, spürte das Schluchzen in ihrer Kehle aufsteigen. Das war gemein. So gemein! Sie wollte doch nur mitspielen. Ein Indianer sein wie die anderen. An ihren Waden bildeten sich rote, beißende Pusteln. Irgendwo musste sie eine Brennnessel gestreift haben. Wütend blinzelte sie den Schmerz weg und wischte mit der Faust die Tränen von den Wangen. Wenn sie doch nur zaubern könnte wie Pan Tau.

Seit dem letzten Sommer hatte sie keine Folge der neuen Serie mit dem schweigsamen Mann im Anzug verpasst, der nur seinen Melonenhut berühren musste, um alles zu verändern, und sich sogar selbst verwandeln konnte. Aber sie hätte sich bestimmt nie klein gemacht wie eine Puppe. Nein, stark wollte sie sein, die Stärkste von allen und jeden Wettstreit gewinnen!

Dort, wo die Blätter der Baumkronen weniger dicht waren, malte die Sonne helle Kringel auf den Boden. Sicher hatten die Großen sich versteckt, lagen auf der Lauer, lachten sie aus und beobachteten sie. Aber das konnte sie genauso gut. Im Schatten sank sie auf Hände und Knie, kroch näher ans Ufer, wartete zusammengekauert und wachsam. Die Luft über dem Bach verbreitete angenehme Kühle. Mit den staubigen Sandalen an den Füßen stieg sie ins Wasser. Die glitschigen Steine auf dem Grund gaben ihr nur wenig Halt, als sie sich vorwärts tastete. Sie war mutig, wusste ganz genau, worauf es ankam. Geduld, Ausdauer, Zähigkeit. Du brauchst mehr Biss, behauptete der Trainer im Turnverein. Nachdenklich schob sie die Zunge in die Zahnlücke in ihrem Oberkiefer und fühlte die scharfe Kante des nachwachsenden Schneidezahns. Das gefiel ihr. Der Biss kam ganz von selbst. Dann betrachtete sie prüfend ihre dünnen Oberarme. An ihren Muskeln musste sie weiter arbeiten und an ihrer Schnelligkeit. Sie unterdrückte ein Kichern. Im Kopf, da war sie fix, sagte ihre Lehrerin in der Schule. Genauso neugierig wie Pittiplatsch, aber viel klüger.

Die Jungs würden sich bald Sorgen machen und nach ihr suchen. Dazu mussten sie ihre Deckung aufgeben, und sie würde endlich herausfinden, wo ihr Versteck lag. Ja, die Dummköpfe würden den ganzen Nachmittag suchen, ohne zu merken, dass sie eben doch mit ihr gespielt hatten.

»Und in Zukunft seid ihr ganz lieb«, lachte sie leise. Denn jetzt bestimmte sie das Spiel, war der Mittelpunkt, um den sich alle drehten, ganz wie sie es wollte.

Samstag, 16. März, Vielbrunn, 9:05 Uhr

– Frank Liebknecht –

Schwarz und schwer lagen die aufgebrochenen Schollen neben dem flachen Loch im Boden, überzogen von einer dünnen Raureifkruste. Die Kristalle glitzerten im fahlen Sonnenlicht des eisigen Morgens. Mit dem Absatz trat Frank gegen die scharfe Bruchkante. Nur wenige Krümel lösten sich. Die Erde war seit Wochen tief gefroren, und die Temperaturen schafften es nur selten über den Nullpunkt. Mehr als drei, vier Grad waren aber auch dann nicht drin und ein Ende des Winters nicht abzusehen. Wer auch immer hier gegraben haben mochte, musste dabei mächtig ins Schwitzen geraten sein. Erstaunlich, dass sich überhaupt etwas bewegt hatte.

Frank nahm einen Klumpen auf, der knochenhart und unnachgiebig in seiner Hand lag. Einige Wurzeln und dunkelbraune Grashalme ragten heraus. Nachdenklich roch er daran. Angebrannt? Er entdeckte weitere Spuren versengter Pflanzen am Boden. Die obere Schicht war knapp einen halben Spatenstich tief abgetragen und der Aushub an der Stirnseite zu einem Hügel aufgeworfen worden. Und in diesem Hügel steckte kopfüber ein Holzkreuz.

»Also, was meinen Sie, Herr Liebknecht?« Pfarrer Käppler stand neben ihm und schaute im Minutentakt auf seine Armbanduhr. »Womit haben wir es hier zu tun: dumme Jungs oder böse Jungs?«

»Schwer zu sagen.« Frank hielt ihm den Brocken entgegen. »Da hat jemand rumgekokelt. Aber ich sehe keine direkte Feuerstelle oder dass etwas verbrannt worden ist. Sie etwa? Satanismus ist nicht gerade mein Fachgebiet, da sind Sie thematisch näher dran.« Käppler schnaubte. »Ich meine ja nur, wegen des Kreuzes.«

Es trug weder einen Namen noch irgendwelche Runen oder Symbole. Den Kopfstand allein konnte Frank nicht als eindeutige Aussage sehen. Zum Glück gab es auch keinerlei Anzeichen für ein Opferritual. Was auch immer die Feuerspuren bedeuteten, solange sich niemand an einem Lebewesen vergriffen hatte, konnte er damit umgehen. Verbrannte Hexensprüche und Kräuterzauber, um Tote zu wecken, ließen ihn kalt. Wenn einer darauf abfuhr, bitte, sollte er doch. Voodoo für Anfänger. Bei Tierquälerei hörte für ihn allerdings jede Toleranz auf.

»Ganz ehrlich, Herr Käppler: Ich tippe eher auf Unfug aus Langeweile. Im letzten halben Jahr war es recht ruhig bei uns, und der Winter ist öde …« Er zuckte die Schultern. »Ich kann eine Anzeige gegen Unbekannt aufnehmen. Schadet ja nicht. Obwohl weder eine Leiche ein- noch ausgebuddelt worden ist, soweit ich das sehen kann. Eine echte Störung der Totenruhe liegt daher eher nicht vor. Auch wenn es für hiesige Verhältnisse sicher heute Nacht etwas lauter war als gewöhnlich, dürfte das niemanden um den Schlaf gebracht haben.«

Sein Gähnen ließ sich nicht unterdrücken. Käppler hatte ihn vor dem Frühstück aus dem Haus gezerrt. In diese lausige Kälte, die ihm zum Hals heraushing.

»Sie nehmen das nicht allzu ernst, wie mir scheint.«

Seltsam war das Möchtegerngrab schon. Aber die Aufregung des Pfarrers teilte er nicht.

»Mir erschließt sich kein Sinn hinter der Aktion. Außer, dass jemand provozieren will, überschüssige Kräfte abbauen musste und zu diesem Zweck knüppelhart vereisten Boden umgegraben hat. Oder ist mir etwas entgangen?« Morgens fehlte ihm manchmal die nötige Geduld abzuwarten, bis das auf den Tisch kam, worum es eigentlich ging.

»Die Provokation ist Ihnen also nicht genug?«

Leise zählte Frank bis zehn, ehe er antwortete, und holte Block und Bleistift heraus. Altmodisch, aber zuverlässig auch bei Kälte, wenn das Smartphone unter klammen Fingern bockte.

»Also eine Anzeige, geht klar.« Er schätzte die Maße der Grabfläche, hielt die Uhrzeit der Meldung fest und machte Fotos in der Totalen und Nahaufnahmen. Zum Herumkriechen hatte er weder Lust noch sah er dazu eine Veranlassung. In der Hocke zoomte er Details heran. Malerisches Funkeln auf kross gebrutzelten Pflanzenresten. Ein reizvoller Kontrast. Er federte nach oben, verstaute die Sachen in der Jacke und zog den Reisverschluss bis zum Kinn. »Das war es. Ich bin fertig mit der Beweisaufnahme.« Er bemühte sich, das Wort nicht allzu ironisch klingen zu lassen. »Kommen Sie bei Gelegenheit in der Dienststelle vorbei zum Unterschreiben. Den Weg kennen Sie ja.« Fünfzehn Meter Luftlinie vom Friedhofstor, mit direktem Blickkontakt, ruhige Ortsrandlage. Wobei »ruhig« auf fast alle Straßen des Dorfes zutraf. Vage nickte er Käppler zu und drehte sich um.

»Aber Herr Liebknecht, was wird denn jetzt hiermit? Das können wir doch nicht einfach so lassen.«

Na klar. Wir. Frank blieb stehen. Warum konnte er nicht einfach weitergehen mit einem lässigen: Und ob wir das können. Oder dem Hinweis darauf, dass er der zuständige Polizist vor Ort war und nicht das Mädchen für alles. Beamter des besonderen Bezirksdienstes, Schutzpolizist mit Eigenverantwortung und speziellem Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung. Letzteres hatte ihm einiges abverlangt und tat es auch nach fast zwei Jahren Dienst noch immer. Zu jung, zu eigenwillig, zu langhaarig. Er grinste widerwillig. Aber ich habe es ja so gewollt. Zum Dank war er nun eben doch das Mädchen für alles. Die Schäfchen des Pfarrers waren irgendwie auch seine. Und noch einige mehr, was ihm eigentlich ganz gut gefiel.

Ja, zugegeben, der Anblick des verkehrt im Boden steckenden Kreuzes konnte durchaus verstörend auf Friedhofsbesucher wirken. Seine Eile, diesen Ort zu verlassen, war in erster Linie seiner Abneigung gegen Friedhöfe im Allgemeinen geschuldet. Außerdem war er ein Sommermensch. Die Kälte und Dunkelheit des Winters setzten ihm zu. Sobald es warm genug war, kurze Hosen zu tragen, blühte er auf. Energisch schüttelte er die Fluchtgedanken und die Sehnsucht nach Sonne ab. Der Frühling kam nicht schneller, wenn er sich in der Wohnung verkroch. Arbeit half da besser, die gefühlte Ewigkeit zu verkürzen.

»Also gut, was schwebt Ihnen vor?«

Der Pfarrer faltete die fleischigen Bärenpranken vor dem Bauch und hob die Schultern.

»Machen wir es platt«, schlug Frank vor, zog die Mütze tiefer über die Ohren und trat probeweise mit dem Absatz gegen den Hügel. Nichts bewegte sich. »Eine Schippe wäre nicht schlecht.« Suchend schaute er sich um.

»Herr Pfarrer, Herr Pfarrer!« Vom Eingang am Parkplatz neben der Trauerhalle eilte ein Mann heran. Sein Schritt wirkte schwerfällig, schaukelnd wie bei starkem Seegang.

»Der Hubsi. Wunderbar.« Käpplers Gesicht hellte sich schlagartig auf. »Dich schickt der Himmel!«

Mit ausgebreiteten Armen empfing er den Ankömmling, der vom schnellen Laufen schwer atmete. Sein Gesicht konnte Frank unter der Fellmütze mit den flatternden Ohrklappen erst erkennen, als er direkt vor ihm stand. Die kleinen Augen standen eng beieinander und verschwanden fast unter dichten Brauen, die ebenso struppig wirkten wie der Schnauzbart. Die krummen Beine und die heiser bellende Stimme verstärkten die Ähnlichkeit mit einem Rauhaardackel.

»Ist es wahr?«, fragte Hubsi an den Pfarrer gewandt und bedachte Frank mit einem kurzen Schlag gegen den Arm. »Es hat einer auf meinem Friedhof gegraben?«

Der ehemalige Gemeindearbeiter kümmerte sich auch im Ruhestand um die öffentlichen Anlagen, fegte das Laub vom Kirchplatz und räumte im Winter Schnee. Und er hielt den Totenacker in Schuss.

Frank hatte keine Ahnung, wie er mit vollem Namen hieß. Alle nannte ihn nur Hubsi, und mit Hubsi war jeder per Du. Er trat einen Schritt beiseite und gab den Blick frei.

»Was soll’n das?«, nuschelte Hubsi. »Ist wer gestorben?«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Davon ist mir nichts bekannt. Woher weißt du denn von der Buddelei?«

»Na die Kläre hat’s erzählt. Beim Bäcker.«

Käppler zog den Ärmel über die Armbanduhr und seufzte. »Und ich hatte gehofft, sie ist heute noch nicht durch.« Auf Franks fragenden Blick ergänzte er: »Sie kommt jeden Samstagmorgen und besucht ihren Mann, bevor sie Brötchen holen geht. Der liegt eine Reihe weiter. Aber wenn sie es gesehen hat, könnten wir es auch in die Zeitung setzen.«

Horrido, Neuigkeiten für alle. Franks Begeisterung über diese Nachricht hielt sich in Grenzen. Unter den Umständen konnte er den Pfarrer natürlich nicht alleine lassen. Kläres Erzählung lockte sicher bald Besucher an. Es war bestimmt kein Fehler, den selbst ernannten Friedhofsgärtner und Totengräber mit einzubeziehen, das konnte die nächsten Schritte beschleunigen. Außerdem hatte der möglicherweise einen anderen Blick auf die Dinge als Frank.

»Schau dir das bitte mal genau an. Fällt dir irgendwas auf?«

Hubsi schabte sich den Schnauzer. »Die Stelle ist falsch. Der nächste Tote gehört dort drüben hin, weiter links. Und dafür ist alles fertig vorbereitet und die Grube abgedeckt, vor dem ersten Frost. Bei uns geht es immer schön der Reihe nach, nicht kreuz und quer.«

»Sonst noch was?«

»Ein bisschen flach ist es.« Hubsis Lachen ging in Husten über. »Schon komisch, aufzuhören, wenn man das schwierigste Stück geschafft hat.«

»Wie meinst du das?«

»Die oberen Zentimeter sind am härtesten. Weiter unten wird es weicher. Also wenn man bei dem Wetter überhaupt anfängt, verstehe ich nicht, wieso man dann nicht weitermacht. Offenbar wusste der ja, wie es geht.«

»Woraus schließt du das?«

Überrascht sah Hubsi ihn an. »Er hat eingeheizt. Ohne die Oberfläche aufzutauen, kannst du das vergessen. Da kriegst du den Spaten keinen Millimeter in den Boden.«

Das warf ein neues Licht auf die Angelegenheit. Dann hatte jemand geplant und nicht spontan gehandelt.

»Wie macht man das üblicherweise?«

»Mit einem netten kleinen Flammenwerfer.« Hubsi grinste. »Ich habe einen Gasbrenner, falls im Winter doch mehr Leute sterben als gedacht.«

Nachdenklich betrachtete Frank die exakt gerade gestochenen Kanten.

»Einebnen«, beschloss er. Und möglichst wenig Wind um die Nummer machen. Sein Job war der des Spielverderbers. Was auch immer das für ein Spiel sein sollte.

Ohne ein weiteres Wort trabte Hubsi los, holte eine Schaufel und machte sich an die Arbeit. Das Blech klirrte, als er es in den aufgeworfenen Boden stieß. Es widerstrebte Frank, dem alten Mann dabei zuzusehen, wie er sich mit dem Erdhügel abmühte.

»Kann ich dir helfen?«

Hubsi brummelte nur unverständlich. Mit beiden Händen packte Frank das Kreuz und rüttelte daran, bis es sich mit einem Knirschen löste. Er verzog das Gesicht. Ein hässliches Geräusch. Aber abgebrochen war es nicht. Keine Splitter. Achtlos ließ er es neben sich fallen und steckte die Hand in das entstandene Loch.

»Da ist was drin.« Er winkte Hubsi heran und nahm ihm die Schaufel ab, um das Loch weiter aufzubrechen. »Das fühlt sich komisch an. Weich, aber auch fest.«

Mit der Kante hieb er auf die Stelle ein, kniete sich dann wieder hin und entfernte einige lose Klumpen. Endlich gelang es ihm, den Inhalt zu greifen und herauszuziehen. Grober brauner Stoff, eine einfache Kordel, metallisches Klimpern. Erleichtert atmete Frank auf. Kein totes Tier, so viel stand fest.

»Was ist das?« Käppler trat näher.

»Werden wir gleich sehen.« Frank legte den Beutel vor sich auf die Erde und streifte die Handschuhe ab, um die Schnur aufzuknoten. Als er ihn umdrehte, rollten Münzen heraus. Alle gleich groß, in stumpfem Silbergrau.

»Ist das Spielgeld?« Hubsi schob den Kopf ins Blickfeld. »Oder wertvoll?«

Frank drehte eine Münze zwischen den Fingern. Eine Eins auf der Vorderseite, zwei Ähren und die Bezeichnung »Mark«. Auf der Rückseite Hammer und Zirkel.

»Deutsche Demokratische Republik«, las er. »Ostwährung. Ein Schatz ist es also schon mal nicht.«

Käppler ging neben ihm in die Hocke und sortierte die Geldstücke in eine Linie nebeneinander. Seine Lippen bewegten sich beim lautlosen Zählen. »Neunundzwanzig.« Er nahm die letzte Münze aus Franks Hand und reihte sie hinter den anderen ein. Ein eigentümlicher Schrecken lag in seinen Augen.

»Was haben Sie denn, Herr Pfarrer?«

»Dreißig Silberlinge«, murmelte Käppler und rieb sich das Doppelkinn. »Dreißig Silberlinge.«

Samstag, 16. März, Vielbrunn, 11:00 Uhr

– Frank Liebknecht –

Trinity erwartete Frank auf der Treppe vor seiner Wohnung. Ihre Begrüßung fiel frostig aus, und ihr Blick zeigte überdeutlich, was sie davon hielt, dass ihr gemeinsames Frühstück ausgefallen war und sie so lange im Freien hatte herumsitzen müssen.

»Tut mir leid, Süße.« Er schloss die Tür auf und ließ ihr den Vortritt. »Du hast was bei mir gut, und darfst dir jetzt sofort etwas wünschen. Okay?« Er folgte ihr in die Küche und strich ihr liebevoll über den Kopf. »Hühnchen oder Thunfisch?«

Sie umkreiste die beiden Dosen, die er aus dem Schrank holte und entschied sich für das Huhn. »Gute Wahl.«

Während er den Futternapf füllte, rieb sie sich an seinen Waden. Ihre Liebe war durchaus käuflich, wenn es ums Essen ging, das wussten sie beide. Und mit dem Hühnchen verdiente er sich eine zusätzliche Portion Zärtlichkeit. Er entfernte den Deckel von einer weiteren Dose – Ravioli extrascharf – und setzte sich damit aufs Sofa. Eine schlechte Angewohnheit, das Zeug kalt zu gabeln, aber das war ihm ziemlich egal.

Dreißig silberne Münzen. Wie der Sold des Verräters Judas. Käppler hatte eine ganze Weile gebraucht, um seine Fassung wiederzuerlangen. Ein makaberer Scherz, zwei Wochen vor Ostern. Der Pfarrer zweifelte nicht an einem Zusammenhang mit dem christlichen Fest. Das Protokoll des Vorfalls war deutlich länger geworden als zunächst gedacht. Neben den reinen Fakten hatte Frank auch sämtliche Vermutungen Käpplers zu Papier gebracht.

Einen Sinn ergab die Aktion für ihn nach wie vor nicht. Natürlich konnte eine religiöse Provokation dahinterstecken. Fragte sich nur, gegen wen genau sie sich richten sollte. Als besonders fromm konnte man die Dorfgemeinschaft nicht bezeichnen, weder den evangelischen noch den katholischen Teil. Da der Friedhof nicht an eine der Kirchen angegliedert war, gab es auch in dieser Hinsicht keinen Hinweis, wer gemeint sein sollte.

Lustlos kaute er auf einer der glitschigen Nudeln herum. Trinitys Katzenfutter schmeckte wahrscheinlich besser. Jedenfalls war er sicher, dass der Täter in der Nacht gegraben hatte und nicht erst am Morgen. Der Boden in und um das Grab und auch der Hügel waren ganz gleichmäßig mit Reif bedeckt gewesen. Hubsis Bemerkung zur geringen Tiefe der Grabung geisterte ihm durch den Kopf. War der Täter gestört worden? Aber weshalb hatte er seine Arbeit dann nicht später zu Ende gebracht?

Frank stellte die Ravioli beiseite, die Trinity neugierig beschnüffelte, ehe sie sich auf seinem Bauch niederließ. Ihm war klar, wie sie sich den weiteren Tagesablauf vorstellte: Er hatte sie zu kraulen, während sie sich der Körperpflege widmete – und weit darüber hinaus. Stundenlang. Nun gut, nichts sprach dagegen. Seine Hand streichelte sanft über ihren Rücken. Ein Hauch von Resignation lag in dem Gedanken, nichts Besseres zu tun zu haben an einem Samstag. Weder am Nachmittag, noch am Abend.

Trinitys Schnurren füllte den Raum. Sie war seine einzige ernst zu nehmende Beziehung und das nun schon seit einem halben Jahr. Den letzten Versuch mit einer Frau konnte er getrost als Desaster abhaken, und, wenn er ehrlich war, alle vorangegangenen ebenso. Trinitys Gesellschaft war also eine gute und ungewöhnlich beständige Wahl.

Und sonst? Blieben noch eine Handvoll Musiker und Kollegen, mit denen er in engerem Kontakt stand. Konnte er die Freunde nennen? Er überlegte, wann er mit den Bandmitgliedern je einen persönlichen Satz gewechselt hatte, und strich einen nach dem anderen aus der imaginären Freundesliste. Mit Sylvie von der Kripo Erbach kam er inzwischen gut klar, aber er ertrug sie nur in kleiner Dosierung. Ein gemeinsamer Kneipenabend alle vier bis sechs Wochen deckte seinen Bedarf vollkommen. Und den verbrachten sie nicht allein miteinander. Ihr Kripo-Kollege, den Frank schon seit der Ausbildung kannte, war immer dabei. Ihn traf er deutlich häufiger.

»Scheiße, Trinity – ist dir klar, was das heißt?«

Sie schaute kurz hoch und leckte sich dann weiter die verstümmelte Vorderpfote.

»Es bleibt ein einziger übrig. Ein Freund. Und der ist nun wirklich« – er suchte nach einem passenden Wort – »speziell. Findest du nicht auch? Ziemlich speziell, der Marcel.« Er lachte leise und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Löckchen. Ja, Marcel war ein echter Spinner. Und tatsächlich sein bester und einziger Freund.

Trinity maunzte ungehalten, die Streichelpause dauerte eindeutig schon zu lange.

»Weißt du, was ich machen werde? Ich rufe jetzt den Käppler an. Der hat vermutlich auch kein heißes Samstagabend-Date geplant. Dann spielen wir ein bisschen Räuber und Gendarm und legen uns abwechselnd auf dem Friedhof auf die Lauer, sobald es dunkel wird. Für den Fall, dass der Komiker mit der Schaufel seine Botschaft erneuern will. Wenn es sich denn um eine handelt. Schließlich kann er nicht sicher sein, dass sie bei dem angekommen ist, der sie kriegen sollte.«

Montag, 18. März, Vielbrunn, 11:30 Uhr

– Frank Liebknecht –

Natürlich hatten sie die Nacht umsonst auf dem Friedhof verbracht. Nicht mal ein Eichhörnchen oder ein Marder hatte sich blicken lassen. Totenstille über den Gräbern. Im Gegensatz dazu herrschte an diesem Montag ein ungewohnter Betrieb in der kleinen Polizeidienststelle. Kläres Grabgeschichte und Hubsis Ergänzung mit dem Münzenfund hatten über das Wochenende so ziemlich jeden erreicht und ihre Wirkung entfaltet.

Frank spulte den immer gleichen Text ab, wie eine Schallplatte mit Sprung. Seine Vielbrunner nahmen den Vorfall auf dem Friedhof geradezu persönlich. Akribisch notierte er alle Aussagen, nickte gewissenhaft, bedankte sich artig. Mit der Totenruhe trieb man keine Scherze. Ja, das hatte er inzwischen begriffen. Er nutzte die erste Gelegenheit, die Eingangstür abzuschließen. Das wäre ein Moment für Brunhilde gewesen, seine Vorgängerin im Amt, die nun ihren Ruhestand genoss und sich gerade irgendwo im Mittelmeer auf dem Sonnendeck eines Kreuzfahrtschiffes aalte. Ein scharfer Blick, drei mahnende Worte und die Dorfgemeinschaft hätte sich entspannt. Und er auch. Die Unruhe des Pfarrers, angesichts der Silberlinge, griff allmählich auf ihn über. Das schadete seiner Souveränität. Aber es war eben nicht auszuschließen, dass noch mehr kam. Auch nicht auszuschließen, dass es woanders passierte oder schon passiert war. Er griff zum Telefon.

»Hey, Sheriff. Was geht?«

Großartig. Diese Begrüßung liebte er ganz besonders. Offenbar erkannte Sylvia Klingelhöfers Apparat seine Rufnummer. Es gab sicher niemanden außer ihm, den sie so ansprach. Obwohl man bei ihr da nicht wirklich sicher sein konnte.

»Ist Marcel nicht da? Ich hatte eigentlich seine Durchwahl …« Weiter kam er nicht.

»Du hast nicht mal ein Hallo für mich? Das tut weh, Sheriff. Das tut mir echt weh. Man sollte es nicht meinen, aber sogar ich habe Gefühle.« Gut gelaunt lachte sie auf. »Neidhard treibt sich irgendwo im Haus herum und hat auf mich umgestellt. Also sag an: Womit kann ich dich glücklich machen?«

Er konnte ihr anzügliches Zwinkern direkt vor sich sehen. »Ist rein dienstlich, Sylvie.«

»Och, wie öde … oder gab es einen Mord?«

»Nur ein bisschen nächtlicher Unfug auf dem Friedhof. Und nein, bevor du fragst: keine Untoten.« Sie stieß ein beleidigtes Schnauben aus, ließ ihn aber weiterreden. »Jemand hat ein Grab ausgehoben, nur ein paar Zentimeter tief, und daneben ein Holzkreuz kopfüber in die Erde gesteckt. Darunter lag ein Beutel mit dreißig Mark in Münzen. Hattet ihr so was Ähnliches schon mal?«

»Vandalismus auf Friedhöfen gibt es häufiger. Aber das ist nicht direkt unser Fachgebiet, wie du weißt.«

»Es geht nicht um Vandalismus. Die Münzen sind der Punkt. Unser Pfarrer ist ein bisschen von der Rolle wegen der Symbolik. Die Bibel, Judas der Verräter … und Ostern steht vor der Tür.«

»Kenne ich, die Geschichte. Schon klar. Aber nein, kann mich nicht erinnern, in letzter Zeit etwas in der Art mitbekommen zu haben. Ich höre mich aber gern mal in den anderen Abteilungen und beim Chef für dich um. Brenner kriegt mehr mit, was rundum läuft, auch außerdienstlich.«

»Danke, Sylvie. Ich will nur sichergehen.«

»Solange nicht als Nächstes mafiamäßig abgeschnittene Pferdeköpfe herumliegen, würde ich mir keine allzu großen Gedanken machen.«

»Habe ich auch nicht vor. Aber meine Leute hier sind wenig angetan. Die suchen nach einem tieferen Sinn.«

Eine zweite Stimme drang undeutlich zu ihm durch, dann gab Sylvie in Stichpunkten den Grund seines Anrufes wieder. Dabei reduzierte sie weder die Lautstärke, noch nahm sie den Hörer runter.

»Marcel ist eingetrudelt«, erklärte sie dann. »Er fragt, ob du dir schon wieder eine freakige Sekte eingehandelt hast. Ups – Kollege zappelt hektisch und zieht Fratzen –, das sollte ich wohl nicht wörtlich an dich weitergeben. Das mit dem heidnischen Odenwälder Bergvolk dann vermutlich auch nicht, oder?«

»Wir sind wohl inhaltlich durch, Sylvie. Melde dich, wenn du was von Belang …«

»Nein warte, nicht auflegen! Mir fällt da noch was ein, wenn ich dich schon an der Strippe habe. Soweit ich weiß, hast du demnächst Geburtstag …«

»Lass mich bloß damit in Ruhe.«

»Hast du etwa Angst vor der bösen Null und dass das Leben vorbei ist jenseits der Dreißig? Oh-oh, ich verstehe: dreißig, wie die geheimnisvollen Münzen im Grab.«

Darauf zu antworten war ihm echt zu blöd. Er hörte Marcel im Hintergrund reden, dann eilige Schritte und das Klacken, als der auf den Lautsprecherknopf drückte.

»Sag es nicht, Liebknecht. Ich will es erklären. Sylvie ist eine echte Großstadtpflanze, die kennt die grausamen Bräuche des Landvolks nicht. Es ist nämlich so …«

»Halt doch einfach die Schnauze, Marcel«, stöhnte er.

»Auf dem Dorf ist es die blanke Katastrophe, wenn du Single bleibst. Daher gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn einer mit dreißig nicht unter der Haube ist, wird bei ihm zwangsgepoltert.«

»Echt jetzt?« Sylvie quietschte begeistert. »So mit Porzellanschmeißen und allem? Was für eine tolle Idee – ich bin dabei!«

»Wag dich nicht, Sylvie, und du auch nicht, Neidhard.«

»Mach dich locker, Babe. Du hast noch vier Wochen, um das Problem zu lösen. Und ich bin für so was eh nicht zu haben. Ich fürchte aber, Sylvie hat jetzt Blut geleckt, und deine Kumpels aus dem Dorf werden sie sicher unterstützen.«

»Du Arsch.« Frank knallte den Hörer auf, aber Marcels Lachen hallte noch eine ganze Weile nach.

Dienstag, 19. März, Vielbrunn, 17:30 Uhr

– René Hübner –

Der Raum wirkte wie ein Wohnzimmer. Dunkle Holzmöbel mit Schnitzereien, Vorhänge und gerahmte Bilder an der Wand. Die medizinischen Geräte fügten sich diskret ein, Fachbücher im antiken Regal, die Liege und das EKG hinter einem Paravent. Das alles änderte nichts daran, dass René Hübner sich unwohl fühlte. Er zuckte zusammen, als seine Krankenakte vor ihm auf dem Schreibtisch landete.

»Herr Hübner, ich bin überrascht, Sie hier zu sehen und nicht nebenan im Labor.« Doktor Thielecke bedeutete ihm sitzen zu bleiben und nahm ihm gegenüber Platz. Händeschütteln, das hatte er bei Renés erstem Besuch klargestellt, gehörte für ihn zu den größten Hygienekatastrophen der zivilisierten Welt. Er studierte die letzte Eintragung und sah dann hoch. »Gibt es ein Problem mit der Verträglichkeit? Die nächste Spritze ist erst wieder am kommenden Montag dran.«

»Ich weiß, ja. Es ist nur … ich fühle mich nicht gut. Es ist, als ob …« René unterbrach sich und streckte dem Arzt beide Hände entgegen. »Sehen Sie das? Seit drei Tagen geht das so. Ich zittere, ich schlafe nicht, komme keine Sekunde zur Ruhe. Kann das von der Spritze kommen?« Überdeutlich hörte er die absurde Hoffnung auf eine Bestätigung in seiner eigenen Stimme.

»Sie können die Hände wieder runternehmen. Theoretisch könnte das in Zusammenhang mit der Spritze stehen. Doch ich halte das eher für unwahrscheinlich. Doktor Kreiling hatte keinerlei Bedenken, Ihren Heuschnupfen mit einer Hyposensibilisierung zu therapieren, und ich teile seine Ansicht nach wie vor. Ich habe Sie ja nun schon seit Januar unter meiner persönlichen Beobachtung. Nebenwirkungen hätten früher einsetzen müssen. Sie sollten nicht gleich das Schlimmste befürchten. In der Regel sind die einfachen Erklärungen die richtigen. Parkinson«, er holte tief Luft, »ist ein Schreckgespenst, das nach wie vor nur etwa ein Prozent der Bevölkerung trifft. Natürlich steigt die Prozentzahl mit höherem Alter, aber mit fünfzig befinden Sie sich noch am unteren Ende der Wahrscheinlichkeit. Sollte es bei Ihnen keine familiäre Disposition in der Richtung geben, deuten die Symptome wohl eher auf Stress.« Abwartend lehnte Thielecke sich zurück und schaute René direkt ins Gesicht.

Familiäre Disposition. Sein Atem zitterte ebenso sehr wie seine Hände. Dazu konnte er nichts sagen. Seine Eltern waren seit fast genau dreißig Jahren tot. Zu jung gestorben, als dass er solche Dinge über sie wissen könnte. Viel zu jung.

»Veränderungen privater oder beruflicher Natur belasten uns manchmal stärker, als wir bewusst wahrnehmen. Spannungen, Streit, unangenehme Vorkommnisse … Denken Sie ruhig einen Augenblick nach, Herr Hübner. Ich werde unterdessen Ihren Blutdruck kontrollieren. Rollen Sie bitte Ihren Ärmel hoch.«

René gehorchte widerstandslos. Die Manschette legte sich kühl auf seine Haut.

»Die Medikamente zur Blutdrucksenkung nehmen Sie regelmäßig?«

»Ja.« Wie er das hasste. Jeden Tag aufs Neue. Notwendigkeit hin oder her. So klein, so harmlos, so verführerisch.

Der Arzt pumpte, horchte und beobachtete den Zeiger des Messgerätes, während langsam der Druck auf den Oberarm nachließ. »Hm. Immer noch deutlich über dem gewünschten Wert. Was macht das Herzrasen?«

Missmutig zuckte René die Schultern. »Ab und zu. In den letzten Tagen wieder etwas mehr. Seit Samstag.«

»Und der Sport?«

»Da geht es mir gut. Ich halte mich an Ihre Anweisungen. In der Halle spüre ich nichts. Auch wenn mich meine Kids manchmal Nerven kosten.« Jetzt lächelte er. Das Training mit den Jugendlichen erfüllte ihn. »Fehlt Ihnen das nicht?«

Thielecke nickte. »Doch, gelegentlich. Obwohl ich ja nie als Trainer gearbeitet habe, nur als Mannschaftsarzt und im Leistungszentrum. Es ist eine besondere Gemeinschaft, die Athleten und Betreuerstab verbindet.«

»Bereuen Sie den Ausstieg?«

»Ach nein, ich bin froh über die Ruhe hier. Und ein paar meiner Schützlinge halten mir nach wie vor die Treue. Reisen mir von einer Praxis zur anderen nach, egal wo ich mich niederlasse.« Er zückte seinen Rezeptblock. »Wer kann dann schon Nein sagen? Vertrauen ist die wichtigste Währung in der Medizin und im Sport.«

René nahm das Rezept entgegen. Da war was dran. Ohne Vertrauen fehlte ein entscheidender Faktor. Das durfte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

»Das Spray verwenden Sie nur im Notfall. Wenn eine akute Attacke kommt und der Blutdruck durch die Decke knallt. Sie wissen, wie sich das anfühlt.«

Leider nur zu gut. René seufzte.

»Die anderen beiden Präparate sind homöopathisch, wirken ein wenig entspannend und ausgleichend. Aber …« Thielecke zögerte kurz. »Sollte die Ursache Ihrer Unruhe doch psychisch, also stressbedingt sein, wird das auf Dauer nichts nützen. Sie müssen das Problem an der Wurzel angehen. Ich bin da, wenn Sie reden wollen.«

»Danke, aber ich strapaziere Ihre Zeit sowieso schon reichlich.«

Thielecke winkte ab. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Meine Sprechstundenhilfe hat hinter Ihnen abgeschlossen. Es kommt kein Patient mehr nach, und auf mich wartet niemand.« Er stand auf und öffnete eine Schranktür, hinter der sich zahllose Medikamente stapelten. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger strich er über die Reihen. »Ich nehme an, dass der kleine Zwischenfall auf dem Friedhof Ihr Herz so aus dem Takt bringt.«

Fassungslos starrte René auf Thieleckes Rücken. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Der Schweißausbruch traf ihn ebenso unvorbereitet wie die Bemerkung.

»Wie ich darauf komme?« Thielecke drehte sich überrascht um, dann ging ihm sichtbar ein Licht auf. »Oh, nicht, Herr Hübner. Entschuldigen Sie, habe ich mich versprochen? Ich meinte: Ich nehme nicht an. Das war ein Scherz. Nur weil es Ihnen seit Samstag schlecht geht, und genau da hat man die Münzen gefunden. Den Judaslohn auf dem Gottesacker«, erklärte er kopfschüttelnd. »Der Dummejungenstreich wird im Dorf ja hochgekocht, als müssten wir einen Landesverräter in unseren Reihen vermuten.« Sorgfältig verschloss er den Schrank und kehrte mit einer Schachtel zurück. »Wir sollten offen reden, Herr Hübner.«

Das Zittern erreichte einen neuen Höhepunkt. René presste beide Hände flach auf seine Oberschenkel.

»Die Blutdrucksenker, die Sie einnehmen, haben gelegentlich Nebenwirkungen, die Männern schwer zu schaffen machen und trotzdem meist totgeschwiegen werden. Aber die Schwierigkeiten verschwinden nicht, wenn wir sie ignorieren. Sie sind mit fünfzig zu jung, um das Thema Sex aufzugeben – und Sie haben eine sehr attraktive Frau.«

Aufstöhnend schloss René kurz die Augen und hätte dann beinahe gelacht. Er musste es wohl als Übersprungsreaktion werten, dass er ausgerechnet bei diesem heiklen Thema Erleichterung fühlte.

»Erektionsstörungen treten häufig nur vorübergehend auf und sind auch ein Zeichen für Stress. Lassen Sie sich dadurch nicht blockieren.« Thielecke gab der Schachtel einen Schubs quer über den Tisch. »Gratisprobe von einem Pharmavertreter. Testen Sie es. Das ist besser, als sich von den Problemen erdrücken zu lassen. Wenn das eine aus Ihrem Kopf verschwunden ist, können Sie die anderen vielleicht leichter in den Griff bekommen.«

Wie war Thielecke darauf gekommen? Hatte seine Frau etwa etwas bemerkt und mit dem Arzt darüber gesprochen? Es ließ sich nicht leugnen, dass er unter Stress stand. Ulrike war eine aufmerksame Frau. Vor ihr Geheimnisse zu bewahren erforderte schon immer besondere Anstrengungen. Widerstrebend nahm René die Packung in die Hand und zog einen Blisterstreifen heraus. Fünf kleine, ovale Tabletten. Zartes Blau.

»So was wollte ich nie wieder schlucken«, murmelte er.

»Demnach haben Sie also schon mal solche kleinen blauen Helferlein genutzt?« Der Doktor lächelte nachsichtig. »Machen Sie sich keine Gedanken, das ist wirklich keine Schande.«

»Nein.« René steckte die Pillen weg. Kleine blaue Helferlein. »Ich weiß.«

Aber der Doktor wusste nicht.

Mittwoch, 20. März, Vielbrunn, 15:20 Uhr

– Jannis Hübner –

Jannis ließ die Beine baumeln und kickte bei jeder Vorwärtsbewegung Steinchen und Eisbröckchen unter der Bank heraus. Sein Hintern wurde langsam kalt, aber Foxi machte keine Anstalten, endlich ihr Geschäft zu erledigen. Er musste immer furchtbar lachen, wenn die Erwachsenen das sagten: ihr Geschäft erledigen. Als ob jemand Foxi dafür bezahlte, wenn sie einen Haufen machte. In seiner Jackentasche raschelte die Plastiktüte. Viel weniger lustig fand er es, das Geschäft anschließend beseitigen zu müssen. Aber das gehörte dazu, und seine Mama bestand darauf, dass er das machte, wenn er allein mit Foxi spazieren ging.

»Hallo Jannis.«

Er blinzelte ins Gegenlicht.

»Hallo.«

»Wollen wir ein Spiel spielen?«

»Was für ein Spiel?«

»Wir spielen Schule. Du gehst doch gern zur Schule, nicht wahr? Und du schreibst ganz besonders gern.«

Jannis nickte eifrig. Schule war toll. Das erste halbe Jahr hatte ihm riesig Spaß gemacht.

»Ich bringe dir etwas bei. Aber das muss unser Geheimnis bleiben, bis du es ganz richtig kannst. Auswendig schreiben und aufsagen. Dann machen wir daraus eine ganz besondere Überraschung für deinen Opa. Zu Ostern. Willst du?«

Und ob er wollte. Ohne Zögern nahm er den Zettel und den Stift und malte langsam die angesagten Buchstaben auf.

Nina, Nina tam Kartina eto Tractor i Motor.

Das hörte sich fremd an, aber es gefiel ihm. Sicher konnte er ganz schnell lernen, das aufzusagen.

»Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass wir uns immer an die erinnern, die wir lieb haben. Egal wie lange wir getrennt sind. Dass wir niemals irgendetwas vergessen. Merk dir das gut, Jannis. Merk dir das.«

Mittwoch, 20. März, Michelstadt, 21:30 Uhr

– René Hübner –

Aus der Dusche drangen gleichmäßiges Wasserrauschen und die Stimmen der Mädchen. Die Tür zur Umkleidekabine stand wie immer einen Spalt offen. René schaute sich prüfend um und zog die Klappe des Geräteraums herunter. Alles verstaut, so wie es sein sollte. Auf seine Kids war eben Verlass. Die Jungs waren längst weg. Da dauerte das Duschen kaum mehr als fünf Minuten, wenn sie es nicht sowieso vorzogen, das zu Hause zu erledigen. Er setzte sich auf die Gymnastikbank, mit dem Rücken zur Wand, die Uhr fest im Blick. Hoffentlich brauchten die Mädchen noch eine Weile. Das Klemmbrett auf seinen Knien bebte, und er umklammerte den Kugelschreiber, als könne der ihm Halt geben. Es war nicht daran zu denken, seine Trainingsnotizen zu vervollständigen, aber darauf hätte er sich inhaltlich gerade sowieso nicht konzentrieren können. Die Bilder in seinem Kopf machten ihm Angst. Sie ließen sich nicht abschalten, drehten sich im Kreis, berührten immer den gleichen Punkt. Er benötigte Hilfe. Dringend.

Pia lachte. Oder war das Tammy? Das Wasser lief immer noch. Zumindest eine von ihnen war also vermutlich noch eingeschäumt, musste sich abduschen, abtrocknen, Haare föhnen, eincremen. Jetzt fingen sie an zu singen. Es musste Tammy sein, die er lauter hörte, schrill und schräg. Also stand sie schon in ein Handtuch gewickelt vor dem Spiegel. Der Hausmeister würde sich nachher wieder aufregen. Wegen der Haare im Abfluss und der Pfützen, die sie in der Kabine hinterließen, wenn sie nackt und tropfnass herumliefen.

Die Namen und Zahlen auf der Trainingsliste tanzten vor seinen Augen, und fast wäre ihm der Stift entglitten. Keuchend atmete er durch. Mein Gott, warum war er denn so nervös? Er hatte nichts verbrochen. Niemand konnte ihm etwas vorwerfen.

Gegenüber wurde die Hallentür geöffnet, die direkt ins Freie führte, und auf Renés Armen sträubten sich die Haare.

Pias Vater blieb auf den Fliesen am Eingang stehen, um den Hallenboden nicht zu beschmutzen, und lehnte sich mit der Schulter gegen die Betonwand neben der Tribüne.

»Hallo, Herr Hübner«, rief er herüber. »Sie ist wieder nicht fertig, oder?« Der Ausdruck seines Gesichts zeigte deutlich, dass er nichts anderes erwartet hatte.

»Nein, noch nicht.« René erhob sich, um ihm entgegenzugehen. »Lange kann es aber nicht mehr dauern.«

In der Umkleide brummten zwei Föhne um die Wette. Das bedeutete, dass auch ihm nur wenig Zeit blieb. Seine Initiative war gefragt.

Seid bereit. Immer bereit.

»Herr Brenner, ich müsste Sie mal sprechen. Nicht jetzt sofort, aber möglichst bald.«

»Was hat sie angestellt?«

»Wer – Pia? Nichts. Nein, mit Pia ist alles in Ordnung. Sie ist fleißig bei der Sache und wird immer schneller.«

»Beim Umziehen nicht.« Brenner schaute auf die Uhr und seufzte. »Da wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mal ein Wörtchen mit ihr reden könnten. Ich bin derzeit nur als Taxi akzeptabel, ansonsten …« Er drehte den Daumen nach unten. »Aber worum geht es denn?«

Jetzt. Jetzt musste es heraus. »Um einen beruflichen Rat. Pia hat mal erwähnt, was Sie machen.«

Brenner straffte merklich die Schultern. »Wie ich meine Tochter kenne, war die Bezeichnung für mich: Bulle. Aber nicht jeder Bulle ist für alle Fragen Spezialist. Also etwas genauer brauche ich es schon, um Ihnen zu sagen, an wen Sie sich in der Dienststelle wenden können. Oder sind Sie sicher, dass es gleich die Kripo sein muss?«

War das als Witz gemeint? Eine Einladung zum offenen Gespräch klang auf jeden Fall anders. René presste das Klemmbrett an sich und starrte an Brenner vorbei zur Glastür, die jeder Windstoß in leichte Schwingungen versetzte. Die Reflektion der Deckenbeleuchtung blendete. Draußen im Dunkel bewegten sich undeutlich huschende Schatten, und er zuckte zusammen.

Brenner sah sich um. »Was ist da?«

»Nichts«, murmelte er. »Hoffe ich. Können wir uns bitte … inoffiziell unterhalten? Vertraulich. Es ist privat und kompliziert – und vielleicht bilde ich mir alles auch nur ein. Ich will auf keinen Fall, dass jemand davon erfährt. Schon gar nicht meine Frau.« Die Stimmen der Mädchen wurden lauter, und René sprach schneller. »Ich glaube, ich werde verfolgt. Am Montagabend schon, und heute auch.«

»Noch was?«

Sehr beeindruckt klang Brenner nicht, und René sah sich gezwungen auszusprechen, was er im Grunde nicht wahrhaben wollte. »Sie wissen, ich wohne in Vielbrunn, und da war diese Sache mit dem Grab … Vielleicht haben Sie davon gehört?« Er wartete, bis Brenner nickte. »Ich denke, das betrifft mich.«

Pia und Tammy schlidderten auf Socken heran, die Sporttaschen in der einen, die Stiefel in der anderen Hand.

»Wir müssen Tammy nach Hause fahren«, verkündete Pia anstelle einer Begrüßung. »Ihre Mum hat’s verpeilt.«

»Hallo, Herr Brenner.« Tammy versuchte es mit einem Lächeln und einem Hauch Höflichkeit. »Ist das okay?«

»Ich kann dich auch gern bringen, du müsstest nur noch fünf Minuten warten«, bot René an und bereute den Satz im gleichen Atemzug. Ein solches Angebot sollte ein Trainer niemals machen, und doch passierte ihm das immer wieder. Außerdem war sein Gespräch mit Brenner noch nicht beendet. Er atmete auf, als dieser Pia den Autoschlüssel zuwarf.

»Lassen Sie nur. Ich mache das. Geht schon vor, ich komme gleich.«

Halb im Laufen schlüpften die beiden Mädchen in ihre Schuhe.

»Bis Montag, René.« Pia umarmte ihn demonstrativ und gönnte ihrem Vater keinen weiteren Blick. René schaute betreten zur Seite, ihr Verhalten war unangemessen. Sie knallte die Tasche gegen die Tür, die nach außen aufflog, und verschwand in der Nacht.

»Tschüss, René. Warte, Pia!« Tammy stolperte hinter ihr her.

Brenner schwieg, bis sie außer Hörweite waren. »Okay. Machen wir es kurz: Sind Sie jetzt allein in der Halle? Fühlen Sie sich akut bedroht?«

»Nein, nicht akut, und der Hausmeister ist auch da.«

»Gut. Ich muss mich ranhalten, damit die Mädels mich nicht am Ende stehen lassen und ohne mich fahren. Pia ist gerade alles zuzutrauen.« Brenner ging zum Ausgang, lauschte nach draußen und wandte sich in der Tür wieder an René. »Das mit dem Grab interessiert mich. Sie meinen die Sache mit den Münzen, richtig? Morgen ist Donnerstag. Da muss ich abends sowieso nach Vielbrunn. So gegen acht Uhr. Ist das machbar für Sie?«

»Halb neun wäre besser.«

»Ist mir auch recht. Und wo? Am besten schlagen Sie etwas vor. Das Ganze soll ja wohl diskret ablaufen, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich kann Sie auch abholen.«

»Nein, das ist nicht nötig.« Einen Augenblick zögerte er, die Idee kam ihm blöd vor. Andererseits auch konsequent. »Am Friedhof«, sagte er langsam. »Auf dem Parkplatz, dort sollten wir um diese Zeit ungestört sein.«

Mit einem Grinsen auf den Lippen nickte Brenner. »Friedhof. Passender geht es wohl nicht.«

Donnerstag, 21. März, Vielbrunn, 19:55 Uhr

– Pia Brenner –

»Mann, das ist so Scheiße, Brenner, weißt du das eigentlich? Ich bin doch kein Baby!«

»Aber auch nicht volljährig und zwar noch mehr als ein Jahr lang. Und wenn du mich noch mal Brenner nennst, drehe ich um, und du kannst die Party ganz knicken. Verstanden?«

Mit einem giftigen Zischen drehte Pia sich zum Fenster. Wieso musste der dauernd den Vater raushängen lassen und sie bevormunden? Seit er zu Hause ausgezogen war, nahm das unerträgliche Formen an. Ihre Mum war viel cooler. Sie schluckte die Tränen runter, die ganz plötzlich hochschossen.

Das fehlte noch, vor Brenner zu heulen und sich das Make-up zu ruinieren. Dabei war der an allem schuld. Kein Wunder, dass Mum sich einen anderen gesucht hatte. Obwohl der genauso ein Langweiler war. Jetzt hockte Brenner in dieser hässlichen Miniwohnung, wo sie sich das Zimmer mit ihrer Schwester teilen musste, wenn sie gleichzeitig bei ihm übernachteten – oder noch schlimmer, mit ihrem Bruder. An den Zwergen konnte er ihretwegen gern herumerziehen. Aber die machten ja ohnehin alles, was er wollte, hingen an Papas Hemdzipfel und himmelten ihn an. Pias Finger flogen über das Handydisplay. War ihr egal, dass sie jeden Moment eintreffen würden. Die SMS musste noch raus. Julia sollte vorgewarnt sein, dass ihre Laune im Arsch war. Zwölf Uhr abholen. War sie etwa Aschenputtel?

»Lächerlich, echt.« Sie drückte auf Senden und warf das Telefon in ihre Handtasche. »Das ist so peinlich. Außer mir wird keiner so früh abgeholt. Die pennen alle bei Julia.«

Sie konnte an Brenners Gesicht ablesen, wie sehr er sich beherrschte, um nicht den üblichen Spruch loszulassen, dass ihn die anderen nicht interessierten.

»Zwölf Uhr. Morgen ist Schule.«

»Es ist der letzte Tag vor den Ferien! Glaubst du im Ernst, dass da irgendeiner arbeitet? Wenn überhaupt die Hälfte der Leute da ist, kriegt unser Lehrer einen Schock.«

»Er wird es überleben.«

Brenner schaltete runter und bog von der Hauptstraße ab. Vor dem Haus konnte Pia einige ihrer Freunde stehen sehen, wie sie lachten, rauchten, mit Flaschen in der Hand. Die Party war schon in vollem Gange. Extra früh heute, um es richtig auszukosten, aber dank Brenner kam sie spät und würde als Erste gehen. Sie stieg aus, kaum dass der Wagen stand.

»Zwölf Uhr. Genau hier«, sagte ihr Vater.

Die Ruhe in seiner Stimme brachte Pia zum Explodieren. Sie knallte die Tür zu.

»Ich hasse dich, Brenner! Ich hasse dich!«, brüllte sie ihm hinterher, und es war ihr egal, ob er es hörte und alle anderen auch. Schon wieder spürte sie den Druck von Tränen. Never ever. Sie war hier, um zu feiern. Alles, was sie brauchte, war etwas zu trinken und laute Musik.

Entschlossen drehte sie sich um und prallte gegen David, der sie mit breitem Grinsen auffing. Ausgerechnet David.

»Hast du mir aufgelauert oder was?«, fauchte sie, obwohl sie doch gehofft hatte, ihn zu treffen.

»Hey, hey. Was ist los?«

»Geht dich nichts an.«

Unbeeindruckt schüttelte er seine langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Eine Hand lag locker auf ihrer Schulter, in der anderen hielt er eine Colaflasche. Sein Atem verriet, dass er sie mit reichlich Alkohol aufgefüllt hatte. »Sag schon, wen hast du da gerade verflucht? Du musst nur sagen, wenn ich etwas für dich tun kann, Prinzessin. Ich tue alles.«

Wollte der sie am Ende auch in Watte packen und in einem Schloss einsperren? Prinzessin. Von wegen!

»Das war mein Vater«, knurrte sie. »Ich wünschte, er wäre tot.« Zornig stieß sie David beide Hände vor die Brust. »Und ja, du kannst was für mich tun. Hau ab.«

»Fällt dir nichts Besseres ein, Pia? Ich meine das ernst, wenn ich sage: alles.« Er hielt ihren Arm fest und beugte sich zu ihr. Mit den Fingerspitzen strich er über ihr Kinn. »Warum glaubst du mir nicht? Verdammt noch mal, ich liebe dich.« Er kam ihr so nah, dass seine Wimpern ihre Stirn berührten.

»Kriech zurück in deine Höhle und verschwinde einfach, David!«

Donnerstag, 21. März, Vielbrunn, 20:05 Uhr

– René Hübner –

Seine Frau verfolgte aufmerksam die ersten Meldungen der Tagesschau. Weltpolitik. Männer in Grau, dazwischen ein blauer Hosenanzug. Die Bilder flogen an René vorbei, ohne eine Botschaft zu hinterlassen. Er durfte nicht länger warten, musste los, ehe Ulrike Verdacht schöpfte und Fragen stellte. Sie spürte immer, wie es ihm ging. Und im Augenblick war er nervös. Sehr nervös. Das Polster knarrte beim Aufstehen; die Schuhe auf dem Parkett, der Schlüsselbund, alles erschien ihm lauter als sonst.

»Willst du die Nachrichten nicht zu Ende ansehen?« Ulrike trat hinter ihm auf den Flur.

»Ist doch sowieso jeden Tag das Gleiche.« Beiläufig gab René ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich brauche frische Luft.«

»Gehst du eine Runde mit dem Hund?«

Daran hatte er nicht gedacht, aber er nickte trotzdem. Vielleicht sollte er das wirklich tun. Der Hund war jedenfalls eine gute Begründung, um eine Weile unterwegs zu sein.

»Ja, mache ich.«