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Brigitte Pons

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Beschreibung

Sie ist jung. Sie ist zornig. Sie ist autoaggressiv. Sie ist intelligent und verletzt. Sie spielt mit Sex und den Gefühlen anderer. Sie steht auf Tolstoi und Brecht und korrekte Zitate. Sie verabscheut Unaufrichtigkeit ohne selbst die Wahrheit zu sagen. Sie glaubt nicht an Liebe. Ihr Name ist Su. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens - einem Mörder - und sich selbst, findet Su womit sie nicht gerechnet hat …

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sonntag, 28. April

Montag, 29. April

Dienstag, 30. April

Mittwoch, 01. Mai

Donnerstag, 02. Mai

Freitag, 03. Mai

Samstag, 04. Mai

Montag, 06. Mai

Mittwoch, 08. Mai

Donnerstag, 09. Mai

Samstag, 11. Mai

Montag, 13. Mai

Mittwoch, 15. Mai

Donnerstag, 16. Mai

Freitag, 17. Mai

Samstag, 18. Mai

Sonntag, 19. Mai

Montag, 20. Mai

Dienstag, 21. Mai

Mittwoch, 22. Mai

Freitag, 24. Mai

Samstag, 25. Mai

Sonntag, 26. Mai

Montag, 27. Mai

Mittwoch, 29. Mai

Donnerstag, 30. Mai

Freitag, 31. Mai

Sonntag, 02. Juni

Mittwoch, 05. Juni

Freitag, 07. Juni

Samstag, 08. Juni

Sonntag, 09. Juni

Mittwoch, 12. Juni

Samstag, 15. Juni

Sonntag, 16. Juni

Montag, 17. Juni

Dienstag, 18. Juni

Mittwoch, 19. Juni

Donnerstag, 20. Juni

Freitag, 21. Juni

Montag, 24. Juni

Mittwoch, 26. Juni

Freitag, 28. Juni

Samstag, 29. Juni

Sonntag, 30. Juni

Montag, 01. Juli

Dienstag, 02. Juli

Donnerstag, 04. Juli

Freitag, 05. Juli

Samstag, 06. Juli

Sonntag, 07. Juli

Montag, 08. Juli

Dienstag, 09. Juli

Mittwoch, 10. Juli

Donnerstag, 11. Juli

Freitag, 12. Juli

Samstag, 13. Juli

Sonntag, 14. Juli

Montag, 15. Juli

Dienstag, 16. Juli

Mittwoch, 17. Juli

Donnerstag, 18. Juli

Freitag, 19. Juli

Samstag, 20. Juli

Sonntag, 21. Juli

Montag, 22. Juli

Dienstag, 23. Juli

Danke:

Literaturliste

Impressum

Prolog

„Wer bist du?“

Ein Windhauch strich schmeichelnd um ihren Körper.

„Mein Name ist Su.“

„Danach habe ich nicht gefragt. Das weißt du.“

Natürlich wusste sie das. Und sie wusste auch, dass die sanfte Stimme und die Berührung nur eine Illusion waren. In der Dunkelheit starrte sie zur Zimmerdecke, wo die Worte wie kleine Lichtpunkte vor ihr tanzten. Wer bist du?

Der Wind frischte auf. Mehr und mehr. Kälter.

„Finde es heraus“, sagte Su, wiederholte es lauter, brüllte es gegen das Tosen des Orkans bis ihr nur noch ein Flüstern blieb. „Finde es heraus. Bitte.“

Sonntag, 28. April

Mit großen Sprüngen hastete Su die Treppe hinauf. Drei Stufen bis zum ersten Absatz dann sieben.

„Anni, bin da!“ Noch mal sechs Stufen, klopfen und die Tür aufreißen. Anni schloss nie ab. Wer sie besuchte, konnte einfach reinkommen. Su schmiss ihre Tasche im Flur in die Ecke. Es kam allerdings selten jemand, außer ihr. Das lag an Lisbeth. Meistens saß Lisbeth in der Küche auf der Bank und trank Kaffee, wenn Anni nicht antwortete. Aber da war niemand.

Das Schlafzimmer stand offen. Annis Kleider hingen über dem Stuhl, der Rollladen war halb heruntergelassen. Es war fast Mittag. Kein guter Tag, wenn sie es bis jetzt nicht geschafft hatte sich anzuziehen. Wahrscheinlich war sie im Bad und antwortete deshalb nicht. Egal, ihr würde schon etwas einfallen, um Anni aufzumuntern. Liebesromanheftchen vorlesen zum Beispiel. Und zwischendurch beseitigen, was auch immer ihr danebengegangen war. Su rümpfte die Nase. Ein schwerer, unangenehmer Geruch schlug ihr aus dem Wohnzimmer entgegen. Erstmal die Vorhänge aufziehen, lüften und dann … Su strauchelte im Halbdunkel, hielt den Atem an. Sie erkannte einen Fuß mit Schuh, einen ohne, nur mit Stützstrumpf.

„Scheiße!“ Su sackte auf die Knie.

Der hellblaue Morgenmantel lag um Anni ausgebreitet, der Gehstock außerhalb ihrer Reichweite. „Hörst du mich?“ Su schüttelte sie, strich über das wirre graue Haar. Zähflüssiges Zeug an ihrer Hand, an ihrem Knie. Unter Annis Kopf. Su hielt sich den Mund zu, keuchte. Jetzt klebte es auch in ihrem Gesicht. Braun und zäh. Zitternd wischte sie sich mit ihrem Ärmel über die Wange. Erst langsam, dann immer heftiger. Annis Blut ließ sich nicht wegwischen.

„Lisbeth?“ Der Schrei kullerte über Sus Lippen, fiel fast lautlos zu Boden. „Ich ruf einen Arzt. Ja? Sag was. Bitte sag doch was!“

Unter halb geschlossenen Lidern starrten die Augen ins Nichts, der Mund klaffte auf. Anni brauchte keinen Arzt mehr. Bloß noch einen für den Totenschein. Und einen Gerichtsmediziner. Nur nicht heulen. Schwankend tastete Su sich zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei, nannte Adresse, Anlass und Namen. Dann setzte sie sich vor der Wohnung auf die Stufen und wartete. Der Fluchtreflex krampfte ihren Magen zusammen. Wenn sie jetzt weglief, wäre sie sofort verdächtig. Wenn sie blieb, auch. War schon klar. Einfach, weil sie Su war. Weil sie nicht war, wie alle anderen und es eine Akte über sie gab. Außerdem waren ihre Fingerabdrücke überall in der Wohnung und ihre Spuren im Blut und an der Leiche. Anni ist eine Leiche. Su presste die Stirn gegen das Treppengeländer. Keine Tränen. Ich schwöre, Anni.

*

Stimmen und Schritte hallten durchs Treppenhaus. Wie in Trance verfolgte Su das Eintreffen der Sanitäter, die unverrichteter Dinge wieder abzogen, des Arztes und der Streifenpolizisten. Unwirklich und fremd fühlte es sich an, all diese Menschen in Annis Wohnung ein und ausgehen zu sehen. Su wollte keine Fragen mehr beantworten. Ihre Aussage hatte sie gemacht. Und sie wollte auch nicht mehr angestarrt werden. Sie griff ihre Tasche und schlängelte sich hinaus, vorbei an den Beamten und der Absperrung, hinter der sich Schaulustige sammelten. Sensationsgeile Arschlöcher.

Blindlings überquerte sie die Straße und scherte sich nicht um den Verkehr. Nur noch ein paar Schritte durch den Grünstreifen bis zum Main. Hier fiel ihr das Atmen leichter. Sie setzte sich auf die gemauerte Uferkante und ließ die Beine baumeln. Nicht besonders viel Wasser im Fluss. Ein eher trockener Frühling in diesem Jahr. Ihre Gedanken kreiselten. Was interessierten sie der Fluss, der Frühling? Keine Anni mehr und keine Lisbeth. Polizei überall. Sie wusste genau, was als nächstes in Annis Wohnung passierte. Blitzlichter, Kameras und Spurensicherung in tausend kleine Plastiktüten - wie im Film. Anni war über achtzig. Und nun hatte sie ein Loch im Schädel und wurde in einen Zinksarg gepackt. Das Bild wollte sich nicht wegschieben lassen. Immer wieder sah Su ihre Augen. Fremd und leer. Dazu der Geruch. Er hing in ihrer Nase fest, pappte an ihrem Gaumen, wie das Blut zuvor in ihrem Gesicht. Sie kratzte sich am linken Unterarm. Ein Scheißfilm war das. Allein die Fragen des Polizisten. Erst der ganze persönliche Kram, dann über den Leichenfund. Ekelhaftes Wort: Leichenfund. Ob ihr etwas aufgefallen wäre. Etwas Ungewöhnliches, Besonderes. Sie kratzte heftiger. Nein, was soll mir schon aufgefallen sein? War alles ganz normal. Ganz normal, bis auf die Tote im Wohnzimmer. Am liebsten hätte sie die langen Handschuhe ausgezogen, um besser kratzen zu können. Gerade noch rechtzeitig merkte sie, dass ihre Hand den Stoff bereits nach unten gezogen hatte, um mit den Nägeln an die Haut zu kommen. Wenn sie doch nur nicht die Fingerlosen angezogen hätte. Aber für die anderen war es zu warm. Sie krallte die rechte Hand um die linke. Die Nägel bohrten sich in die Haut. Das Verlangen wuchs.

War wirklich alles ganz normal gewesen? Anni hatte nicht geantwortet und sie war rein gegangen. Durch die unverschlossene Tür. Normal. In Gedanken wiederholte sie jeden ihrer Schritte. Systematisch biss sie dabei einen Nagel nach dem anderen ab. Blick in die Küche, ins Schlafzimmer - dann hatte sie zur Wohnzimmertür gegriffen. Stopp! Der Flur war dunkel gewesen. Aber Anni ließ die Lampe immer brennen, Tag und Nacht, weil es dort kein Fenster gab.

Su spuckte ein Stück Fingernagel in den Main. Ihr Zeigefinger tat weh. Die Fingerkuppe wurde nur noch von einer hauchdünnen Haut geschützt. Einmal noch mit den Zähnen ran, dann würde es bluten. Entschlossen setzte sie sich auf ihre Hände.

War es wichtig, wer das Licht gelöscht hatte? Konnte sein. Womöglich gab es Fingerabdrücke. Routinearbeit für die Spurensicherung. Für die war es ein Fall, wie jeder andere. War es aber nicht. Blicklos starrte sie auf die leise gegen die Mauer klatschenden Wellen.

Der einzige Mensch, mit dem sie hatte reden können, konnte nicht mehr mit ihr reden. Schöner Mist. Und sie durfte von der Polizei keine Auskunft erwarten. Fragen beantworten, ja, aber Antworten auf Fragen bekommen? Nein. Das hatte der Bulle ihr unmissverständlich klar gemacht. Im Gegensatz zu Herbert, der jede Auskunft kriegen würde, die er haben wollte, nur weil er Annis Sohn war. Dieser langweilige, fiese Sack, der immer wieder versucht hatte, seine Mutter in ein Pflegeheim zu stecken. Eine Wohnung am Frankfurter Mainufer ließ sich gut verkaufen oder vermieten. Einziehen wollte der Kotzbrocken sicher nicht; hatte ja selbst ein viel besseres Haus, irgendwo im Taunus. Ein geiziger Geldscheißer.

Ihr Finger glitt wie von selbst in den Mund. Blut auf ihrer Zunge. Mit der flachen Hand schlug sie auf den Stein. Verdammt! Langsam atmen. Pfoten zurück unter den Hintern. Sie hatte Herbert einmal mit Lisbeth zusammen aus der Wohnung geworfen. Das verzieh er ihr niemals. Sie musste nicht glauben, dass sie von ihm etwas erfahren würde. Blieb also doch nur die Polizei. Oder selbst nachforschen. Ermitteln, wie Columbo. Den hatte Anni besonders gern gemocht. Wenn es dunkel wurde, konnte sie wieder nach oben gehen.

*

Der Hausflur lag im Dämmerlicht. Eine der Lampen, die die Treppe zwischen den Stockwerken beleuchtete war kaputt. Auch unten am Eingang funktionierte nur eine der beiden Leuchtröhren. Schon seit Wochen. Sie hatten die Wohnungstür mit jeder Menge Klebeband abgesperrt, von einer Seite des Türrahmens zur anderen. Das obligatorische Polizeisiegel aufgeklebt. Jetzt hätte sie ihre Fingernägel brauchen können. Das Siegel saß fest. Mit Geduld und Spucke, Kind. Klar Anni. Nur war Geduld noch nie Sus starke Seite gewesen. Sie feuchtete das Siegel an, zählte bis zehn, zwanzig, dreißig, dann popelte sie wieder daran herum. Das sah nicht gut aus. Sie schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Zählen. Atmen. Konzentrieren. Su kramte eine abgelaufene Telefonkarte heraus. Damit ließen sich Schlösser ganz hervorragend öffnen. Wer brauchte schon eine Kreditkarte? Ein gefühlvoller Ruck und die Tür sprang auf. Nur eines der Absperrbänder zerriss beim Durchklettern. Eine gute Quote. Sie stopfte das Band in die Tasche und zog den Stoff ihres Handschuhs über die Finger, ehe sie das Licht einschaltete. Eine Vorsichtsmaßnahme, um keine neuen Abdrücke zu hinterlassen. Obwohl die vermutlich niemanden mehr interessierten. Ihre Tasche legte sie an der gewohnten Stelle ab. Sie kannte jedes Bodenbrett, wusste genau welches knarrte und wo sie geräuschlos auftreten konnte. Beim Anblick der Kreidespuren im Wohnzimmer stellten sich ihre Nackenhaare auf. Das blieb also übrig, wenn ein Leben gewaltsam endete. Die Verkrustungen verursachten Brechreiz. Blut und mehr. Niemand hatte sich die Mühe gemacht aufzuwischen. Der Fleck auf ihrer Hose würde sie weiter daran erinnern. Sie strich darüber, während ihre Augen den Raum abtasteten. Es konnte nicht schaden die Arbeit der Polizei zu kontrollieren. Kontrolle war gut, gab Sicherheit.

Zentimeter für Zentimeter bewegte Su sich vorwärts, akribisch und wenn nötig mit der Nase fast auf dem Boden. Die Lichtschalter sahen aus, als hätte dort jemand ein Puder benutzt. Bei Columbo machten sie das auch, was Anni sehr beeindruckt hatte. Einstäuben und dann mit Spezialfolie den Abdruck abziehen. Na gut, vielleicht waren die Bullen nicht so nachlässig gewesen, wie sie befürchtet hatte.

Sie öffnete eine Schublade des Küchenschrankes, in der Gummiringe, Kordel und Klebeetiketten durcheinander lagen. Das scharfe Messer schob Su ganz nach hinten. Unter dem Butterbrotpapier fand sie den Klebestreifenabroller. Vertraue niemandem. Einen Gefrierbeutel musste sie noch aus der Truhenbank holen, dort wo sie immer saß, wenn sie mit Lisbeth Kaffee trank. Getrunken hatte. Merk dir das, Su: hatte. Von der Bank aus konnte man aus dem Fenster sehen. Nach hinten raus auf eine Seitenstraße. Jetzt sah sie kaum mehr als ihre eigene Spiegelung in der Scheibe, gespenstisch blass, dahinter die graubraunen Umrisse der umliegenden Häuser. Am Himmel ein letzter Schimmer Tageslicht.

Das Plastik dehnte und verzog sich in alle Richtungen, als Su versuchte den Beutel entlang der Schweißnaht aufzureißen. Mit dem Messer wäre es einfacher. Viel einfacher. Zögernd stand sie vor dem Schrank, zog dann blitzschnell die Schublade auf, packte das Messer, setzte gezielt zwei Schnitte, warf es zurück in den hintersten Winkel und knallte die Schublade wieder zu. Scheiße, war das laut. Sie hielt die Luft an. Aber es rührte sich nichts im Haus. Typisch. Diese blöden Penner hatten ja nicht mal was von dem Mord mitgekriegt.

Als Ersatz für das Puder, benutzte sie eine Prise Mehl, die sie über den Schalter pustete. Sorgfältig legte sie mehrere Klebestreifen nebeneinander auf die hauchfeine Spur und drückte sie fest an. In der gleichen Reihenfolge legte sie Streifen im Beutel ab, den sie anschließend rundherum verschloss. Konnte man überhaupt etwas erkennen? Vielleicht - vielleicht auch nicht.Mit zusammengekniffenen Augen durchstreifte sie ein weiteres Mal die Wohnung. Sie durfte keinen Fehler machen. Es gab nur diese eine Chance. Der Flur blieb klein und dunkel, mit abgewetzten Holzdielen, einem fleckigen Spiegel und einer uralten Tapete, die längst hätte ersetzen werden müssen. Gleich neben dem Eingang war sie so zerkratzt, als hätte Moritz seine Krallen dort gewetzt. Aber der Nachbarkater war unschuldig. Die Kratzer stammten von Annis rollender Einkaufstasche. Solange sie noch alleine einkaufen gegangen war, hatte sie das Wägelchen beim Hereinkommen mit Schwung über die Schwelle geschubst. Jedes Mal donnerte es dabei gegen die gleiche Stelle und sie zerrte gegen die Laufrichtung der Rollen weiter. Im Laufe der Zeit war ein eigenwilliges Muster aus Kratzern entstanden. Lebensspuren an der Wand. Nun war dieses Leben zu Ende. Es würde keine weiteren Spuren mehr geben und für sie keinen Grund, die Wohnung noch einmal zu betreten. Nachdenklich strich sie einen widerspenstigen Tapetenzipfel glatt. Etwas störte. Su bückte sich. Eine Stofffaser, eine Borste von einem Besen? Eher ein Haar. Rötlich, kurz und fest. Dieses Haar gehörte hier nicht her. Sie holte einen weiteren Gefrierbeutel und einen Gummiring, verstaute es bei den anderen Beweisstücken und spähte ins Treppenhaus. Keiner zu sehen. Zwischen den Absperrbändern schlängelte sie sich hinaus, befestigte das aufgeweichte Siegel mit einem Tropfen Flüssigkleber zwischen Tür und Rahmen. Die ausgefransten Ränder zeigten deutlich, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Unwirsch zuckte Su die Schultern. Auch egal. Wer sollte das schon bemerken? Die Polizei war hier fertig und Herbert raffte sowieso nichts.

Hinter ihr maunzte es.

„Moritz!“ Su ging in die Hocke. „Hallo mein Süßer.“

Schnurrend strich der Kater um ihre Beine, ließ sich Hals und Ohren kraulen, schloss die Augen und stand still. Ein vorsichtiger Einzelgänger. Genau wie sie. Anni hatte auf Moritz aufgepasst, wenn sein Besitzer verreist war, ihn gefüttert und ihm das Fell geschubbert. Mit ihren runzligen Händen, an denen die Haut dünn gewesen war wie Pergamentpapier und genauso geknistert hatte, wenn man sie berührte.

Su schniefte. Die Gefühlsduselei musste sie loswerden, sonst konnte sie nicht denken. Aus der Hosentasche kramte sie das inzwischen löchrige Taschentuch, das ein Polizist ihr gegeben hatte. Einmal Schnäuzen ging gerade noch. Bei Anni war alles anders gewesen. Bei ihr hatte Su sie selbst sein können. Einfach so. Wohin jetzt, mit diesem Selbst? Seufzend stand sie auf. Zeit zu gehen.

„Kommst du mit raus, Moritz?“

Er maunzte wieder, drehte ihr den Rücken und sprang geschmeidig die Stufen hinauf. Das hieß dann wohl nein. Komisch eigentlich, dass sie den Nachbarn nicht kannte, dem der Kater gehörte. Ein Chemiker und ein netter Mensch, hatte Anni über ihn gesagt,der mit Mikroskopen und Computern arbeitete. Der Ansatz gefiel ihr. Ein Forscher. Sie straffte die Schultern und folgte Moritz in den zweiten Stock.

*

Es war viertel vor elf. Nicht gerade eine Uhrzeit zu der er Besuch erwartete. Jakob erhob sich von seinem Schreibtisch und rückte die Brille zurecht. Er hatte schon oft darüber nachgedacht einen Türspion einbauen zu lassen und fragte sich einmal mehr, warum er es nie schaffte, solche kleinen Projekte auch umzusetzen. Sein Nacken fühlte sich verspannt an. Das Wochenende hatte er auf einem wenig sinnvollen Seminar verbracht. Am späten Nachmittag war er wieder zu Hause eingetroffen und direkt von der Polizei mit der Nachricht vom Mord konfrontiert worden. Danach hatte er sich zur Beruhigung drei Gläser Rotwein gegönnt und eindeutig zu schnell getrunken. An konzentrierte Erledigung des Papierkrams auf seinem Schreibtisch war nicht mehr zu denken gewesen. Also hatte er noch ein Glas getrunken und die letzte halbe Stunde damit zugebracht, Zettel zu kleinen Häufchen aufzutürmen, die Stapel nebeneinander aufzureihen und sie anschließend wieder auseinander zu pflücken, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, nach welchen Kriterien er sie sortiert hatte. Eine Unterbrechung dieser fruchtlosen Tätigkeit, erschien ihm nun durchaus nicht unerfreulich. Ohne zu zögern, öffnete er. Wie ein Pfeil sauste Moritz an ihm vorüber. Aber Moritz kam nicht allein. Er hätte auch schlecht klingeln können.

Auf der Schwelle stand eine junge Frau - sie mochte Anfang zwanzig sein -, nicht besonders groß, mit blauschwarzen, zotteligen Haaren und dunklen Augen. Zu einem schwarzen T-Shirt mit grell rotem Druck, trug sie eine aufgekrempelte Jeans, Ringelstrümpfe und fingerlose schwarze Satinhandschuhe, die bis über die Ellbogen hinauf reichten. Um den Hals baumelte eine klotzige Kette mit Peace-Zeichen. Sie musterte ihn weniger erstaunt, aber ebenso unverfroren.

„Du bist Jakob?“, fragte sie.

Verdutzt nickte er. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn duzte, schob sie sich an ihm vorbei und ging zielstrebig bis ins Wohnzimmer. Jakob schloss die Eingangstür und kniff kurz die Augen zusammen, aber das seltsame Wesen war immer noch da und fläzte nun in seinem Sessel.

„Entschuldigen Sie, kennen wir uns?“

„Nö.“ Ihre Beine baumelten über die Armlehne. Unbehaglich zupfte er unter ihrem Blick an seiner Wäsche herum. Seine Hose war an den Knien ausgebeult und hing zu tief, das karierte Hemd war nachlässig in den Bund gestopft und die Pantoffeln hatten schon bessere Zeiten gesehen, dessen war er sich wohl bewusst.

„Ich bin Su. Hat Anni dir nichts von mir erzählt?“

Auf dem Couchtisch lag eine angebrochene Packung Kekse. Su schob sich einen davon zwischen die Zähne und beobachtete ihn weiter.

„Su.“ Jakob dachte nach. Es dauerte länger als sonst. „Ach, Sie sind das Mädchen, dass für sie einkauft und so.“ Ihr Name sei Susanne, hatte Anni damals gesagt. Susanne. Dabei hatte sie den Kopf geschüttelt und gelacht. Warum hatte er nicht verstanden.

„Genau.“ Eine Krümelspur lagerte sich auf ihrem T-Shirt ab. „Ist das ein Merlot?“, fragte sie mit Blick auf die Rotweinflasche.

„Nein, ein Dornfelder, glaube ich, aber …“

„Ist okay, den mag ich.“ Sie füllte sein Glas und trank einen großen Schluck. „Du siehst nicht aus wie ein Jakob. Ich werde dich Jack nennen. Das passt viel besser.“ Sie nickte mit Nachdruck und genehmigte sich noch etwas Wein. „Setz dich endlich hin, Jack. Es ist ungemütlich, wenn du da herumstehst.“ Mit gezielten Fußtritten gegen die eigenen Fersen streifte sie ihre Stiefel ab, die polternd aufs Parkett krachten. „Willst du nicht wissen, warum ich gekommen bin?“

Er setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Augen hinter der Brille. Das ist nicht mein Tag. Ganz entschieden nicht mein Tag.

„Also schön. Warum sind Sie hier, Susanne?“

Angewidert verzog sie das Gesicht und faltete die Beine zum Schneidersitz. „Mann Jack, das ist ätzend, lass das. Ich bin Su. Einfach: Su. Habe ich doch gesagt. Und das mit dem Sie kannst du dir erst recht sparen. Sehe ich aus, wie jemand, zu dem man Sie sagt? Also wirklich!“ Sie beugte sich nach vorne, ohne den Knoten in ihren Beinen zu lösen, wie er nicht ohne Bewunderung feststellte. Mit Schwung kippte sie den Rest Rotwein ins Glas und hielt es ihm hin. „Trink einen Schluck, das entkrampft.“

Da war etwas in ihren Augen. Er konnte es nicht erklären, aber er trank das Glas in einem Zug aus. Das fünfte. Aber das war nun auch schon egal.

„Kommen wir zum Punkt, Jack. Anni ist tot. Die Polizei war bei dir und hat dich informatorisch befragt. Heute Vormittag habe ich ihre Leiche gefunden und eben war ich in der Wohnung und habe den Tatort untersucht. Die Spuren kann ich aber nicht auswerten. Dazu brauche ich dich, Jack.“

„Mich? Wieso mich? Ich bin sicher, die Polizei hat …“

„Hat sie nicht!“, unterbrach Su ihn heftig. „Direkt neben der Eingangstür an der Tapete, fand ich ein Haar oder eine Faser – vermutlich aber eher ein Haar. Wer ein Indiz übersieht, dem entgeht vielleicht noch mehr. Darum habe ich auch Fingerabdrücke vom Lichtschalter gesichert. Auf dem Flur war es dunkel und Anni macht die Lampe nie aus. Das muss der Mörder gewesen sein. Du bist Wissenschaftler. Du kannst meine Funde untersuchen.“

„Wieso gehst du damit nicht zur Polizei?“

„Jack.“ Ihr Tonfall wurde mitleidig. „Jack, schau mich an. Kennst du einen Polizisten auf dieser Welt, der mir glaubt? Der mir überhaupt zuhört? Es sei denn, er hält mich für schuldig und hofft auf ein Geständnis, dann vielleicht.“

Wieder rieb Jakob sich die Augen. Zumindest das letzte Argument erschien ihm durchaus schlüssig. „Su, es tut mir wirklich leid, aber ich kann das nicht.“

Ihre Augen verengten sich schlagartig zu kleinen Schlitzen. „Du willst nicht, wolltest du sagen. Bleib bei der Wahrheit, Jack. Lüg mich nicht an. Niemals!“ Sie sprang aus dem Sessel. Moritz maunzte erstaunt in der Sofaecke.

„Das mache ich nicht. Aber du erwartest etwas von mir, wovon ich keine Ahnung habe. Ich bin Wissenschaftler, ja, aber kein Forensiker.“ Jakob folgte Su mit den Augen, als sie Runden um den Sessel drehte. Es war nicht zu übersehen, dass sie an seinen Worten zweifelte.

„Du kannst es nicht“, wiederholte sie und steckte einen Finger in den Mund, um an einem Nagel zu kauen, aber der war abgebissen bis aufs Fleisch. „Du kannst es noch nicht. Denk nach, Jack. Dir wird etwas einfallen.“ Sie breitete die Arme aus und deutete auf die Wände ringsum, Fachliteratur soweit das Auge reichte. „Du hast ein Buch im Regal, in dem es drin steht oder du kennst jemand, der das kann. Denk nach!“

Wieder fing sie seinen Blick ein.

Mein Gott, was hat das Mädchen nur in seinen Augen? Sie glänzten auf eine unwirkliche Art, dunkel und abgrundtief. Als hätten sie schon alles gesehen auf dieser Welt. Höhen und Tiefen. Die Schwärze ihrer Pupillen, das von geplatzten Äderchen gerötete Weiß, dazu die schwarzen struppigen Haare und ihre Schminke, erweckten den Eindruck eine Untote vor sich zu haben. Und doch sah er keinen Grund ihr zu misstrauen. Die Erkenntnis war nicht in Worte zu fassen, ein vages Bauchgefühl. Der Zombie war nur außen, doch was zu ihm sprach, kam von innen und sagte:Hilf mir.

„In Ordnung, ich werde es versuchen. Die Polizei ist vermutlich wirklich die falsche Adresse, wenn man aussieht, wie ein Zombie auf Entzug.“

Der Zombie lachte und er zuckte zusammen. Hatte er das tatsächlich gesagt?

„Danke.“ Su deutete eine Mischung aus Verbeugung und Hofknicks an. „Du hast Grips und Humor.“ Sie warf sich zurück in den Sessel und schloss die Augen.

„Alles in Ordnung, Su?“

„Ja, ja klar.“ Sie gähnte. „Ich bin müde. Das war echt ein Scheißtag. Deiner auch, ich weiß, und darum hau ich jetzt ab.“ Mit dem Unterarm wischte sie den Tisch neben dem Glas und der Rotweinflasche sauber und legte die Beweisstücke aus Annis Wohnung ab. „Du kümmerst dich darum?“

Jakob nickte. „Hast du es weit nach Hause?“

Sie zuckte die Schultern, ohne ihn anzusehen, hängte ihre Tasche um. „Einmal quer durch die Stadt mit der U-Bahn, dann ein paar Minuten zu Fuß. Kein Ding.“

Was gab es für einen Zombie schon zu befürchten? Su kannte dieses Gefühl womöglich gar nicht. Schweigend zurrte sie die Schnürsenkel ihrer Stiefel fest. Jakob schaute zur Uhr und zum Fenster. Der Frankfurter Nahverkehr war gut ausgebaut. Aber es war auch spät. Und finster. Wenn seine eigene Tochter …! Er schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Warte.“ Rotwein und Vaterinstinkt. Fatale Mischung. „Du kannst auf der Couch schlafen, wenn du willst.“

Montag, 29. April

Der Hörsaal war brechend voll, heiß und stickig. Schweißgeruch durchdrang das Tuch vor ihrer Nase. Su quetschte sich in eine Ecke, in der Hoffnung mit niemandem in Berührung zu kommen. Sie zog die Knie bis vor die Brust, legte ihr Kinn darauf und versuchte alles außer den Worten des Professors auszublenden. Die Vorlesung langweilte sie. Der Mensch, der glaubte ihnen etwas beibringen zu können, sprach mit schleppender Stimme, zerredet das schönste Thema und verunstaltete, was zu einem Genuss hätte werden können. Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts – Jugendstil, Modernisme, Art nouveau. Sein monotones Geplapper machte sie schläfrig. Die Nacht war kurz gewesen. Ihre Lider senkten sich. Doch dann sah sie sie. Annis tote Augen. Den leblosen Körper in einer Blutlache. Ruckartig hob sie den Kopf. Blinzelte. Um sie herum Menschen - lebende Menschen, nichtssagende Menschen - die sie nicht kannte, nicht kennen wollte. Und Anni war tot, würde es bleiben und für immer mit diesem leeren Blick in ihrem Kopf sein.

Raus. Ich muss raus. Begleitet von halblauten Flüchen hangelte sie sich über Tische und Klappsitze, hastig weggezogene Ringbücher, Arme, Beine und Rucksäcke hinweg zur Tür. Dann weiter über den Flur zum Ausgang und ins Freie. Frühlingsluft wehte honigsüß aus blühenden Büschen, unterlegt mit Abgasen, die gnädig den immer noch allgegenwärtigen Leichengeruch überdeckten. Mit offenem Mund sog sie den Atem in ihre Lungen, schaute keuchend zum grau verhangenen Himmel. Am Rande einer Wolke zeigte sich ein schmaler Streifen Sonne. Ein Lichtblick. Wie Jack. Er war nicht aufgewacht, als sie gegangen war. Ob er auch ohne Rotwein nett war? Er musste einfach nett sein. Sie brauchte jemand, der nett war. Zu ihr. Jack war kein Typ, der anderen etwas vormachte. Alleinstehend und einsam, ein Arbeitstier, das hatte sie gleich erkannt. Einer mit Gefühl. Es war besser, wenn er ihr freiwillig half. Sie wollte ihn nicht benutzen. Aber sie würde es tun, wenn es nötig war. Jack konnte ihr Rettungsring sein. Er hatte seine Couch angeboten und statt sich dort an sie ranzuschmeißen nur mit ihr geredet. Und trotz seines Rotweinschädels Schach gespielt bis drei Uhr morgens. Ein guter Anfang, aber längst keine Garantie. Er musste sich bewähren, wie alle anderen.

Sie beschloss den Rest der Vorlesungen zu schwänzen. Konzentrieren konnte sie sich ohnehin nicht. Besser sie machte eine Stippvisite in der WG und dann auf dem Polizeirevier. Sie schwitzte bei dem Gedanken. Feigling. Hier ging es um Anni und nicht um sie selbst. Sie musste es wenigstens versuchen. Vielleicht machte einer der Polizisten doch den Mund auf. Für Anni würde sie kämpfen. Mit allen Mitteln, auch wenn es ihre letzten Reserven kostete. Lügen, heucheln, durchhalten.

Noch sechs Stunden, bis sie zur Arbeit musste. Noch mindestens elf Stunden, bis sie zu Jack gehen konnte.

*

Hinter der Theke des „Café Tolstoi“ warf Justin einen erstaunten Blick auf seine Armbanduhr.

„Träume ich? Du bist zu früh.“

„Danke der Nachfrage, Kojak. Es geht mir gut. Wenn ich früher anfange, kann ich dann nachher eher gehen?“

Prüfend hielt er ein Glas gegen das Licht, poliert nach und stellte es ins Regal. „Das wird nichts. Christine hat abgesagt, irgendwelcher Beziehungsstress. Das heißt, nur du und ich heute Abend.“ Er warf ihr ein Geschirrtuch zu. „Mach mit den Gläsern weiter.“

Unendlich langsam kroch der Zeiger voran. Su lutschte ein Pfefferminz nach dem anderen. Extra scharf, damit der Schmerzreiz auf der Zunge und in der Nase alles andere überlagerte. Die Stunden vergingen mit Bier zapfen, Teller schleppen und Gesprächen ausweichen, bis Justin endlich das Zeichen zum Feierabend gab.

„Hau ab, Su. Den Rest schaffe ich alleine. Du kommst Donnerstag zum Frühstück?“

„Sechs Uhr, wie versprochen. Träum von mir!“

Mit einer Kusshand verabschiedete sie sich, stopfte Schürze und Geschirrtücher in den Wäschesack hinter der Küchentür und schlüpfte nach draußen. Fast Mitternacht.

Was, wenn Jack nicht aufmachte? Sie rannte zum Sachsenhäuser Ufer, über die Alte Brücke und den Fluss, die Straße am Mainkai entlang, im Kopf das Geräusch ihrer Stiefel und die Stimme, die im Takt zu spät rief. Doch in seinem Wohnzimmer brannte noch Licht. Atemlos erreichte Su den zweiten Stock, betätigte mit bebender Hand die Klingel. Er musste sie einlassen. Musste, musste, musste.

„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, war alles, was er zur Uhrzeit sagte. Wie am Abend zuvor setzte er sich auf das Sofa und sie in den Sessel. Moritz begrüßte sie freudig und kletterte auf ihre Knie.

„Er mag dich.“

„Ich weiß.“ Erwartungsvoll schaute sie Jakob an. „Was hast du herausgefunden?“

Er legte die Stirn in Falten. „Noch gar nichts.“

„Nichts?“ Wollte er sie verarschen und hinhalten bis sie aufgab? Sie kraulte Moritz’ Ohren, ohne Jakob aus den Augen zu lassen. Wenn er seine Zusage bereute, warum hatte er dann die Tür geöffnet? Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche Wasser. „Du hast auf mich gewartet?“

„Sagen wir, ich habe damit gerechnet, dass du kommst.“ Er rieb sich das Kinn und schenkte ein. „Üblicherweise trinke ich nicht so viel wie gestern“, erklärte er ungefragt. „Das war nur, weil …“

„Ausnahmezustand. Schon klar. Du musst dich nicht rechtfertigen, für das, was du tust oder nicht tust.“

„Doch. In dem Fall schon. Ich habe dir schließlich ein Versprechen gegeben. Es tut mir leid, aber es dauert ein bisschen länger, bis ich mich darum kümmern kann. Das wollte ich dir gleich nach dem Aufstehen sagen, aber da warst du schon weg.“

„Bis zum Morgen bleibe ich nur, wenn ich Sex hatte.“

Su grinste. Seine Verlegenheit versöhnte sie ein wenig. Auch wenn er eine echte Begründung schuldig blieb. „Und weil ich heute Abend so spät dran bin, hast du zumindest deine Steuererklärung fertig gemacht.“

„Woher weißt du das?“

„Na hör mal, der ganze Kram lag gestern auf dem Schreibtisch herum. Ich bin weder blind noch blöd. Außerdem hatte ich einen ganz klaren Kopf beim Aufstehen. Und jetzt ist alles aufgeräumt, nur ein fetter, brauner Umschlag liegt noch da. Man muss kein Hellseher sein, um das zu deuten.“

Langsam nickte er und sie konnte förmlich sehen, wie er nach einem Thema suchte, das weder allzu persönlich war, noch mit dem Mord zu tun hatte.

„Wieso trägst du diese Handschuhe, die sind mir gestern schon aufgefallen?“

„Kein Kommentar.“ So banal? Damit kam er nicht durch. „Wieso trägst du Pantoffeln, die sich fast in ihre Bestandteile auflösen, wenn man sie nur anguckt?“

„Was?“

Sie deutete auf seine Füße. „Die Dinger da.“

„Weil ich sie mag und sie sind bequem.“

„Sie sind potthässlich, aber es ist deine Sache.“

„Hm, verstehe. Meine Sache, deine Sache.“

Su verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sieh mal an, das hatte er gleich geschnallt. „Ich war heute Mittag bei der Polizei. Die haben mir nichts gesagt. Nur, dass die baldige Freigabe des Leichnams beantragt wurde. Ich soll Herbert fragen, wenn ich etwas wissen will.“

„Annis Sohn?“

„Genau. Kennst du ihn?“

„Flüchtig.“

„Nach flüchten ist mir auch, wenn ich den sehe.“ Ihre Beine schaukelten über der Sessellehne. „Mit wem warst du heute aus? Ist sie hübsch?“

„Wie bitte?“ Sein Kopf färbte sich rot.

„Habe ich Recht?“

„Ja, schon. Wie kommst du darauf?“

„Indizien. Ist ganz leicht. Du musst nur deine Nase benutzen.“ Verständnislos wartete er auf weitere Erklärungen. „Dein Jackett hängt im Flur auf einem Bügel. Wenn man daran vorbeiläuft, kann man es riechen. Komm mit!“ Sie hob Moritz von ihrem Schoß, packte Jakobs Hand und zerrte ihn mit sich. „Schließ die Augen und rieche.“

„Das ist doch albern.“

„Nein, ist es nicht.“ Mit geschlossenen Augen erklärte sie: „Es riecht nach Rasierwasser. Ein anderes, als das, das du gestern benutzt hast. Du hast versucht sie zu beeindrucken, mit einer Edelmarke, teuer. Da ist auch Essensgeruch, Sushi, schätze ich. Ebenfalls edel und teuer. Zum Abschied hat sie dich umarmt; die edle, teure Frau und ihre Duftmarke hinterlassen. Chanel vermutlich. Wie schon erwähnt, edel …“

„… und teuer.“

Su grinste. „Ist sie den Aufwand wert?“

„Wie meinst du das?“

„Du bist kein Sushi-Typ. Sie muss dich schwer beeindruckt haben, wenn du das für sie isst.“

„Du beeindruckst mich auch.“ Jakob zuckte zusammen. Das Gespräch nahm eine völlig falsche Wendung.

„Dafür könnte ich dich jetzt auch umarmen!“

Statt endlich zu schweigen, beugte Jakob sich vor, schnupperte. „Und welche Duftmarke bleibt dann an mir hängen?“

„Studentenkneipe. Kopfnote Rauch, auf einer feinen Basis von Knoblauchbaguette.“

„Mit einem Hauch von Pfefferminze?“

„Richtig. Aber Pfefferminze bleibt nur, wenn ich dich küsse.“

Schnell winkte er ab. „Ist nicht geplant.“

„Alles für siereserviert?“ Su feixte und beobachtete ihn, während sie wieder zum Sessel ging. „Erzähl mir von ihr.“

„Das möchte ich nicht.“

„Ich will wissen, ob sie dich verdient hat.“ Und er verdiente ein schlechtes Gewissen, weil er Zeit für sein Vergnügen gehabt hatte, aber nicht für ihr Problem. Genau deshalb würde er reden, selbst wenn er den Trick durchschaute.

Wie erwartet hielt er nicht lange stand.

„Lisa arbeitet in der Forschung, wie ich.“ Seine Stimme vibrierte. „Allerdings nicht mit mir zusammen. Sie ist klug und charmant. Witzig und geistreich.“

„Sexy?“

Er wich ihrem Blick aus. „Ja, auch.“

Su genoss die Situation. Ein erwachsener Mann, der rote Ohren bekam, wenn sie ein Wort wie sexy sagte. Der Hammer.

„Ihre Augen sind himmelblau, wie aus Porzellan. Eigentlich weiß ich gar nicht, was sie an mir findet. Wir reden viel über unsere Arbeit. Sie versteht, dass ich nicht aufhören kann, wenn ich einer Sache auf der Spur bin. Der Feierabend fällt schon mal aus, wenn man mitten in einer wichtigen Phase steckt, auf Messergebnisse wartet oder der entscheidende Gedanke zum Greifen nah ist.“

„Deine Frau hat das nicht kapiert, oder?“

Überrascht schnappte er nach Luft.

„Wie lange bist du schon allein?“

Halt suchend griff er nach seinem Wasserglas. Es war zwecklos ihr etwas vorzumachen. „Zwei Jahre. Ungefähr. Ziemlich genau zweieinhalb.“

„Du hast sie nicht verlassen.“

Die einfache Feststellung brachte ihn noch weiter aus der Fassung. Er setzte die Brille ab und wieder auf, zögerte, seufzte. „Du wohnst doch sowieso im Labor, dann kannst du deine Wäsche gleich dort in den Schrank packen, hat sie gesagt und mir die Koffer vor die Tür gestellt. Wozu brauche ich einen Mann, der nie zu Hause ist. Ein Doppelbett in dem immer nur ich alleine liege?“ Er verstummte.

Offenbar tat die alte Geschichte immer noch weh. Idiotisch, dass er sich davon runterziehen ließ, wo er doch eine Neue hatte. Der Mann brauchte dringend etwas Aufmunterung.

„Und wie liegt es sich in Lisas Bett? War sie damals schon im Spiel?“

„Es war nur meine Arbeit! Nur die Arbeit, keine andere Frau.“

„Wie langweilig. Aber Lisa ist jetzt die Richtige für Arbeit und Bett?“

„Du gehst zu weit. Das geht dich nichts an.“

„Oh.“ Demonstrativ hielt sie sich den Mund zu. „Das schlimme Mädchen hat was Schlimmes gefragt. Du Armer! Lisa lässt dich nicht ran, was? Soll ich mal mit ihr reden, von Frau zu Frau?“ Su platzte beinahe vor Lachen. Er war so komisch in seiner Verzweiflung über ihre Sticheleien. „Ach Jack, lach doch einfach darüber. Das Leben kann beschissen sein. Die eine wollte dich zu Hause im Bett und konnte nichts mit deiner Arbeit anfangen. Die andere will dich und deine Arbeit, aber du kriegst sie nicht ins Bett.“ Vergnügt ließ sie sich aufs Sofa fallen und schlang die Arme um ihn. „Zum Glück hast du jetzt mich.“

Sein Rücken versteifte sich. „Was willst du damit sagen?“

„Das wüsstest du gerne.“ Genüsslich hauchte sie ihren Pfefferminzatem über seinen Hals, rieb die Nase an seiner Wange. „Finde es heraus!“ Genauso plötzlich, wie sie ihn umarmt hatte, gab sie ihn wieder frei. „Geh schlafen, Jack. Ich bin müde.“

Ganz selbstverständlich schnappte sie die Decke und streckte sich neben ihm aus. Moritz schien darauf nur gewartet zu haben. Auf weichen Pfoten überquerte er Jakobs Beine und machte es sich auf Su gemütlich.

„Gute Nacht, Jack.“

„Ja. Dann.“ Jakob räusperte sich. „Dann gute Nacht.“

Mit der Gewissheit, dass es nicht die letzte Nacht sein würde, in der dieses Mädchen in seiner Wohnung schlief, trollte er sich in sein Bett.

Dienstag, 30. April

Su kam, ohne zu klingeln. Jakob war sowieso nicht da. Auch an diesem Morgen war sie gegangen, als er noch geschlafen hatte. Es gehörte zum Plan, dass er nie wissen sollte, wann sie kam und wann sie ging oder warum. Zu viel Intimität macht abhängig. Und gemeinsames Aufstehen hatte etwas sehr Intimes.

Die Telefonkarte ersetzte ihr den Schlüssel, wie so oft. Aber etwas war anders. Zögernd ging sie vorwärts, stand im Halbdunkel des Flures still. Vor sich einen schmalen Streifen Licht, der neben der angelehnten Wohnzimmertür hereinfiel. Das letzte Mal, als sie eine Wohnung betreten hatte, in der etwas anders gewesen war als üblich, hatte sie Anni gefunden. Der Boden schien unter ihr zu schwanken, zu vibrieren. Vorsichtig drückte sie den Türspalt auf, sah das Fenster zum Main, den Fußboden vor dem Essplatz. Keine Leiche. Trotzdem war da ein fremder Geruch. Sie wagte noch nicht auszuatmen, erweiterte den Einblick ins Zimmer. Der Sessel, der Couchtisch, das Sofa, das mitten im Raum vor der Bücherwand stand. Sie zuckte zurück. Da lag jemand. Halb aufgerichtet, mit dem Rücken zu ihr, und über diesen Rücken baumelte ein langer Zopf.

Su presste sich an die Wand. Was machte dieses Mädchen in Jacks Wohnung, auf ihrem neuen Lieblingsschlafplatz? Das Mädchen hatte Jacks Kopfhörer auf den Ohren. Große, altmodisch schwere Kopfhörer, die alle Umgebungsgeräusche schluckten und Musik pur bis ins Gehirn pusteten. Rhythmisch bewegten sich Kopf und Schultern. Passend zu den Vibrationen, die sich über die Bodenbretter in Sus Füße übertrugen. Sie spürte harte, laute Bässe und zog die Stiefel aus. Das Mädchen würde nicht merken, dass sie näher kam. Garantiert hatte sie die Augen zu. Durch das Fenster schien die Sonne genau auf die belegte Sofaecke. Su tauchte unter dem Sonnenfleck durch, denn die plötzliche Unterbrechung der wärmenden Strahlen musste sie verraten - wenn dieses Wesen nur ein wenig mehr als Grütze im Hirn hatte. Am anderen Ende des Zimmers richtete sie sich wieder auf und zuckte zusammen. Verdammt! Wütende Hitze stieg ihr vom Magen zur Brust auf. Wer hatte hier Grütze im Hirn? Ein Zopf machte noch lange kein Mädchen.Das hätte ihr nicht passieren dürfen. Sie war blöd. So blöd.

Su kontrollierte ihren Herzschlag. Es änderte sich nichts, nur weil das ein Kerl war. Seine Augen waren geschlossen, immerhin war diese Annahme korrekt gewesen. Das Gesicht war schmal und unrasiert, mit dichten, dunklen Augenbrauen und einer großen Nase. Auch der Rest, den sie von ihm sehen konnte, war schmal und haarig, bis auf die nackten Füße, mit denen er im Takt der Musik wippte. Ein haariger Halbaffe. Lass mal sehen, wer du bist. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen, sodass einer dieser großen Füße vor ihr in der Luft schwebte. Sie unterdrückte den Zorn darüber, dass ihr diese eindeutig männlichen Körperteile nicht gleich an der Tür aufgefallen waren. Der Fehler hatte Strafe verdient. Bedächtig rollte sie einen ihrer langen Strümpfe herunter und zog ihn aus, setzte sich auf die Armlehne und schlug ebenfalls die Beine übereinander. Dann schob sie sich näher heran, wartete einen günstigen Takt ab und drückte ihre Fußsohle gegen seine, sodass sie ihn im gleichen Moment mit der ganzen Fläche von den Zehen bis zur Ferse berührte.

Einen Augenblick hielt er still, dann nahm er den Rhythmus der Musik wieder auf und öffnete die Augen. Kastanienbraun, zwischen langen Wimpern. Nicht mehr als ein leichtes Erstaunen war darin zu lesen. Schweigend maßen sie einander, ohne einen Gedanken erkennen zu lassen. Langsam bewegte Su ihren Fuß über sein Bein. Seine Haare kitzelten ihre Zehen. Die Wade entlang näherte sie sich dem Oberschenkel. Ungerührt saß er da, zog nebenbei den Kopfhörer von den Ohren und ließ ihn einfach hinter sich fallen. Erst als ihr Fuß in seinem Hosenbein verschwand, brach er das Schweigen.

„Was wird das?“ Seine Stimme war angenehm, ruhig und dunkel. Unaufgeregt.

„Was glaubst du?“, fragte sie zurück.

„Ich glaube, was ich sehe.“

„Was siehst du?“

„Ich sehe, was du machst.“

„Und das glaubst du?“ Su schüttelte den Kopf. „Du bildest dir nur ein, dass du glaubst, was du siehst. Aber stattdessen glaubst du, was du fühlst.“

„Ach ja? Was fühle ich denn?“

„Sag du es mir.“ Es gefiel ihr, wie er ihren Ton aufnahm.

„Warum sollte ich?“ Er grinste.

„Was das hier wird, hängt von dem ab, was du fühlst“, erklärte Su. „Ist doch ganz einfach.“

„Aha. Wenn ich an das glaube, was ich fühle?“

„Exakt.“

„Wo genau ist der Unterschied zu dem, was ich sehe?“ Er deutete auf ihr Bein. „Ich kann es sehen und ich spüre es auch.“

„Deine Augen schicken dir andere Signale als deine Haut, das sollte sogar einem Mann bekannt sein. Und diese Signale lösen unterschiedliche Reaktionen aus. Glaubst du an das, was du äußerlich fühlst oder an dein inneres Gefühl?“

„Das Äußere ist zuverlässiger.“ Er rieb über sein stoppeliges Kinn.

„Du stehst also auf Äußerlichkeiten. Du glaubst, was du siehst und was du außen spürst. Das ist oberflächlich.“

„Kann sein. Aber es ist real. Was unter der Oberfläche ist, kann man nur ahnen. Nicht wissen.“

„Aber du weißt, was du siehst?“ Sie lachte leise und ein wenig verächtlich, dann schüttelte sie wieder den Kopf. „Vergiss es. Du glaubst nur zu wissen, was du siehst, aber dein Gehirn täuscht dich. Es speichert Bilder ab. Immer, wenn du etwas siehst, vergleicht dein Gehirn das Neue mit dem, was es schon kennt. Es sortiert in Schubladen ein. Deshalb kannst du deiner Wahrnehmung nicht trauen. Dein Gehirn lässt dich glauben, dass du etwas siehst, was du schon kennst. Es schafft Vorurteile.“

„Evolutionsgeschichtlich gesehen eine durchaus sinnvolle Einrichtung, meinst du nicht?“

„Doch“, stimmte Su zu. „Evolutionsgeschichtlich. Blockiert aber das Lernvermögen, was neue Zusammenhänge und Wahrheiten betrifft.“

„Was ist deine Wahrheit?“ Er schob die Hand vom Kinn in den Nacken, zog den Zopf zurecht.

„Warum findest du es nicht selbst heraus?“

„Weil ich unter die Oberfläche müsste“, erklärte er gelassen.

„Und?“

„Du siehst nicht aus wie jemand, der es anderen erlaubt unter die Oberfläche zu kommen.“

„Schon wieder urteilst du nach dem äußeren Anschein.“ Sie rümpfte die Nase. „Was ist denn deine Wahrheit?“

„Dass ich glaube, was ich sehe; immer noch. Und ich glaube an meine Lernfähigkeit, was neue Wahrheiten betrifft.“

Seine Antworten reizten Su. Ein Kampf auf Augenhöhe? Vielleicht. „Wenn du so viel sehen kannst, dann sag mir - rein von außen betrachtet -, was meine Wahrheit ist.“

„Nichts ist so, wie es scheint?“

„Nicht schlecht.“ Anerkennend neigte Su den Kopf.

„Ich habe noch eine Wahrheit für dich“, sagte er. „Es wird Zeit, dass du deinen Fuß aus meiner Hose nimmst.“

Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Und wieso soll ich das tun?“

„Weil das meine Oberfläche ist. Und wer da wann dran und drunter darf, bestimme ich.“

„Sicher?“ Provozierend langsam bewegte sie die Zehen über seine Haut.

„Ganz sicher“, bekräftigte er ohne das kleinste Zucken.

Su zog den Fuß zurück. „Du bildest dir also ein, dass du nicht manipulierbar bist?“

„Jeder ist manipulierbar.“

„Trotzdem denkst du, du kannst über dich selbst bestimmen.“

„Bis zu einem gewissen Punkt, ja.“

Jetzt wurde es interessant. Auffordernd stieß sie ihn an. „Na los, sag schon: Welcher Punkt?“

„Das ist verschieden.“

„Du sagtest, bis zu einem gewissen Punkt!“

Er runzelte die Stirn. „Ja. Richtig, aber das kannst du doch nicht wörtlich nehmen.“

„Kann ich doch.“

„Na gut, dann sag ich es so: Innerhalb gewisser Grenzen kann ich über mich selbst bestimmen. Ist das genau genug?“

„Wel-che-Gren-zen?“ Mit jeder Silbe verpasste sie ihm einen leichten Tritt gegen den Schenkel.

„Die das Leben eben setzt. Man muss essen, arbeiten, schlafen, sich um Dinge kümmern. Geld verdienen, um zu …“

Mit einem unkontrollierten Aufschrei schoss Su in die Höhe.

„Was ist los?“

Sein verständnisloser Gesichtsausdruck gab ihr den Rest. Kapierte der das wirklich nicht? „Ich glaubte, du könntest vernünftig mit mir reden. Und jetzt? Schwammige Floskeln. Vorhin warst du echt! Was soll dieses Geschwätz: Grenzen, die das Leben eben setzt. Das ist so trivial! Ich verschwinde.“

Eilig richtete er sich auf. „Hey, warte – bleib hier! Du hast Recht, okay? Ich wollte mich rausreden und du hast mich entlarvt. Na schön.“

Zu gehen bedeutet ihn gewinnen zu lassen.

„Und nun komm runter von der Palme. Weißt du, was du gerade gesagt hast? Ich glaubte. Das heißt doch, dass du nach deinem inneren Gefühl urteilst. Aber dein inneres Gefühl entsteht doch auch nur aus abgespeicherten Situationen, die schon mal da gewesen sind. Genau wie bei den Dingen, die wir sehen. Also: Wie steht es mit deiner Lernfähigkeit für Neues?“

Sie hörte zu, erregt und am ganzen Körper bebend.

„Ich bin was Neues für dich“, stellte er fest. „Du bist was Neues für mich. Ist es da nicht einen Versuch wert, verborgene Wahrheiten zu finden und unsere Lernfähigkeit zu testen?“

Er schaffte es, sie wütend zu machen. Und er schaffte es, dass sie trotzdem blieb. Das konnte gefährlich werden. Verborgene Wahrheiten - das war ihr Spiel. War er wirklich bereit es zu spielen? Su setzte sich wieder und nickte.

„Das ist es wert. Definitiv.“ Sie musterte ihn eingehend. „Vielleicht wirst du es bereuen“, sagte sie dann. „Denn vielleicht bin ich eine der Grenzen in deinem Leben.“

„Vielleicht.“ Er streckte seine langen Beine aus und legte sie quer über ihren Schoß.

„Willst du das herausfinden?“

„Definitiv.“

Eine Weile saßen sie nur da. Ihr Schweigen hatte nichts Unangenehmes.

„Wer bist du?“, fragte er dann.

Sie öffnete den Mund, aber er kam ihr zuvor.

„Halt. Ich weiß: auch das muss ich selbst herausfinden. Das gehört zu unserem Deal, nicht wahr? Sag mir einfach nur deinen Namen.“

„Su.“

„Und was tust du hier, Su?“

„Ich sitze auf dem Sofa?“

Er rollte die Augen. „Präzisiere. Weshalb bist du hier?“

„Ich warte auf den Mann, der hier wohnt.“

„Auf den Mann, der hier wohnt?“

„Ja, meinen Freund.“

„Deinen Freund?“

„Jack.“

„Jack?“

„Hast du ein Echo verschluckt, namenloser Halbaffe?“ Sie zupfte unsanft an den Haaren auf seinem Schienbein.

„Au! Nein, aber ich dachte …?“

„Du denkst zu viel.“ An seinen Füßen vorbei, beugte sie den Oberkörper zur Seite, um den Strumpf aufzusammeln und wieder überzuziehen. Lange konnte sie nicht mehr bleiben.

„Der Mann, der hier wohnt und auf den ich warte, heißt Jakob.“

„Und?“ Ihre Fingerspitzen glitten über seine Haut, kreisten um seine Knöchel.

„Und Jakob ist mein Vater.“

„Wo ist das Problem?“

„Er ist dein Freund?“

In der Haustür drehte sich der Schlüssel.

„Schätze, du kannst ihn gleich selbst fragen.“

Als Jakob das Wohnzimmer betrat, schubste Su die fremden Beine von ihrem Schoß, sprang auf und fiel ihm um den Hals. „Hallo Jack! Hast du was für mich?“

Verwirrt schaute Jakob von einem zum anderen und versuchte ihre Arme in seinem Nacken zu lösen, während er stumm verneinte.

„Beeile dich, Jack. Du weißt, ich brauche das. Dringend!“

„Sicher, ich gebe mir Mühe. Aber …“

Mit einem Zeigefinger auf seinen Lippen brachte sie ihn zum Schweigen. Wieder keine Antworten. Das letzte was sie von ihm hören wollte, waren Ausflüchte und Lügen. „Morgen? Ich verlass mich auf dich.“

„Tut mir leid, ich bin morgen nicht da.“

„Dann übermorgen.“ Ebenso abrupt, wie sie ihn umschlungen hatte, ließ Su von ihm ab. Mit einem Lächeln. Wie groß ihre Enttäuschung wirklich war, sollte er nicht merken.

Auf dem Flur schlüpfte sie in die Stiefel, machte dann kehrt und drückte Jakob einen innigen Kuss auf den Mund. Über die Schulter warf sie einen Blick zum Sofa.

„Tschüss, Halbaffe. Pass gut auf deine Oberfläche auf.“

„Werde ich machen, Su. Sehen wir uns wieder?“

„Definitiv!“

Unbewegt verharrte Jakob an Ort und Stelle, schaute erst Su hinterher - begleitet von bedächtigem Kopfschütteln -, und dann zu seinem Sohn.

„Hallo Erik“, sagte er schließlich. Seine Stimme klang schleppend, als koste es ihn Mühe sich zu konzentrieren.

„Wer war das gerade, Jakob? Oder soll ich dich ab jetzt lieber auch Jack nennen?“

Eriks breites Grinsen löste bei Jakob nur weiteres Kopfschütteln aus. „Ich dachte, ihr kennt euch. Es sah sehr vertraut aus, wie ihr miteinander dagesessen - gelegen - habt.“

Moritz strich um Jakobs Beine, sprang auf das Sofa und kuschelte sich in Eriks Ellenbeuge.

„So leicht kann man sich täuschen, Jack. Sie hat mir nur ihren Namen gesagt. Und dass sie deine Freundin ist.“

„Meine was?“ Jakob starrte ihn an.

„Eigentlich dachte ich, die Dame, für die du dich interessierst, heißt Lisa und ist Wissenschaftlerin. Ich bin echt beeindruckt von dir. Wobei ich nicht weiß, was mich mehr verblüfft: Das du so cool bist, zwei Freundinnen gleichzeitig an Land zu ziehen, oder dass eine davon ausgerechnet Suist.“

Aufstöhnend raufte Jakob sich die Haare. „Du hast da was falsch verstanden: Su ist nicht meine Freundin.“

„Sagt sie aber.“ Und was Su sagte, meinte sie auch. Das hatte sie Erik unmissverständlich klar gemacht.

„Ja – nein, jedenfalls nicht so, wie du denkst.“

„Wie ist der Kuss dann zu deuten? Oder macht sie das bei jedem?“ Körperkontakt war sie jedenfalls generell nicht abgeneigt. Im Gegenteil. Das hatte er deutlich zu spüren bekommen. Es hatte äußerster Beherrschung bedurft, ihre Berührungen scheinbar gleichgültig hinzunehmen. „Sie war schon recht zutraulich.“

„Vorsicht, Erik. Sie ist nicht so - wie soll ich sagen?“

„Nicht so, wie sie aussieht? Das habe ich schon kapiert.“ Eine Frisur wie eine Mangafigur, Strümpfe wie Pipi Langstrumpf, dazu der Blick eines Vampirs und ein Temperament, für das ihm keine Beschreibung einfiel. „Was wollte sie von dir, was sie so dringend braucht?“ Jakobs hilfloses Suchen nach Erklärungen reizte Erik genauso hartnäckig nachzubohren, wie Su es getan hatte. „Das klang, als bist du ihr Dealer oder zumindest ein Drogenkurier.“

„Bist du verrückt, Erik?“ Endlich verließ Jakob den Platz neben der Tür und sank auf den Sessel. „Mit so was habe ich nichts zu tun. Außerdem glaube ich nicht, dass sie Drogen nimmt.“

„Das war ein Scherz. Die ist total anders, als alle Mädels, die ich kenne. Wo hast du dir die geangelt?“

„Das war eher andersrum.“ Jakob nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. „Eine lange, überaus merkwürdige Geschichte.“

Erik verschränkte die Hände hinterm Kopf. „Na dann los, Jakob. Märchenstunde. Ich habe Zeit.“

Mittwoch, 01. Mai

Schon an der Tür schlug Su die typische Geruchsmischung aus Desinfektionsmittel und Urin entgegen. Es kostete sie jedes Mal Überwindung das Pflegeheim zu betreten – und heute ungleich mehr als sonst. Viel zu lange war sie nicht bei Martha gewesen, hatte den Besuch vor sich her geschoben und nun musste sie ihr erzählen, dass Anni tot war. Ermordet.

„Scheiß dir nicht in die Hose, Su.“

Sie presste die Lippen aufeinander und eine Hand auf den schmerzhaft verkrampften Bauch. Doch das Gurgeln in ihrem Magen ließ nicht nach, bewegte sich unaufhaltsam durch die Speiseröhre aufwärts und das Brennen trieb ihr die Tränen in die Augen. Zum Kotzen dieses Leben. Einfach zum Kotzen. Sie hastete zur Besuchertoilette.

Minuten später stand sie wieder aufrecht vor dem Waschbecken.

„Du siehst echt klasse aus“, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild, das mit stumpfen Augen zurückguckte. Sie wusch sich die Hände, spülte den Mund aus, wusch die Hände wieder. Es half nichts, sie musste da jetzt durch. Martha war Annis Freundin und hatte ein Recht darauf zu erfahren, was geschehen war. Von ihr, die die beiden Frauen als Bote verbunden hatte, seit beide das Haus nicht mehr verlassen konnten. Mit Martha hatte Su nicht viel gemeinsam, bis auf die Sache mit Herbert. Der demonstrativ ihre Warnung in den Wind geschlagen hatte und deshalb in einem inkontinenzgetränkten Sessel gelandet war. Für einen Moment grinste Su. Herbert, das Arschloch, an seiner eigenen Arroganz gescheitert.

Ihr Blick streifte Kunstdrucke von Wiesenblumen in bunten Bilderrahmen und Lampen in modernem Design an den Flurwänden. Ein Hauch von Leichtigkeit über den Handläufen und dem streifigen Abrieb der Rollatorräder. Was für ein billiger Täuschungsversuch. Das hier war kein Hotel.

Die Tür zu Marthas Zimmer stand weit offen. Rechts lag eine Frau und röchelte im Schlaf durch ihre Schläuche. Aber das Bett an der linken Wand fehlte. Unsicher tastete Su nach dem Türrahmen. Kein Bett. Kein Nachttisch.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Eine Hand packte Sus Ellbogen, fing sie auf, als der Schwindel ihre Knie einknicken ließ. Endstation. Ein ovales Gesicht mit besorgter Miene, ein hellblauer Kittel. Das Bild tanzte über Sus Netzhaut, ohne ihren Verstand zu erreichen.

„Kein Patient ohne Bett. Ohne Bett kein Patient“, murmelte sie und befreite sich von dem fremden Arm. Fass mich nicht an.

„Kommen Sie, Su. Setzen wir uns.“

Die Pflegerin dirigierte sie zur Sitzecke neben der Teeküche, auf einen der federnden Plastikstühle. „Martha ist ganz friedlich eingeschlafen.“ Ihre Hand tätschelte Sus Bein. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Fass mich nicht an!

Wortlos stand Su auf, vor sich die offene Tür zu dem Zimmer, in dem ein Bett fehlte. Dann drehte sie sich um und rannte - hinaus auf die Straße, geradeaus, weiter und weiter, ohne Ziel.

Sie hätte Jack gebraucht. Jetzt sofort. Wieso bist du nicht da, wenn ich dich nötig habe? Seine erstaunten Augen, wenn sie etwas Unerwartetes sagte. Die Verwirrung, wenn sie ihm zu nahe kam. Dann konnte sie fühlen, dass sie selbst noch lebte. An die andere Möglichkeit wollte sie nicht denken. Ihr Arm brannte vor Verlangen und sie biss sich in die Hand, bis der Schmerz sie beruhigte. Nein, soweit kam es nicht noch einmal. Sie hatte es Anni versprochen. Aber sie musste etwas tun, um sich abzureagieren. Auch der Halbaffe wäre ihr recht gewesen, einer zum Kräftemessen, zum Quälen. Aber gefährlich. Verdammt gefährlich.

Blieb nur sie selbst. Ein guter Gegner. Der beste Gegner von allen. Denn du bist immer da. Kannst mir nicht weglaufen. Hältst was aus. Zeig mir, wo die Grenze heute ist, Su.

Sie wählte eine einfache Grenze. Nur Justin würde meckern.

*

Als sie im Tolstoi eintraf und sich auf den Barhocker setzte, war ihr Bewusstsein bereits leicht getrübt.

„Hallo Su. Du hast heute keinen Dienst.“

„Weiß ich Justin. Bin heute Gast, gib mir einen doppelten Whiskey, bitte.“ Sie stützte den Kopf in beide Hände.

„Was ist los, Kleine? Du siehst nicht ganz frisch aus.“

Su lachte, ein tiefes, kehliges Lachen. Sie konnte genau spüren, wie es aus ihrem Bauch nach oben blubberte.

„Der Barkeeper, dein Freund und Helfer. Seelentröster in der Not!“ Es blubberte weiter.

Justin stellte den Whiskey vor ihr auf den Tresen und musterte sie missmutig. „Das gefällt mir nicht Su. Hast du was genommen?“

„Was genommen? Was soll ich denn genommen haben? Ein Stück Kuchen, eine Tasse Kaffee, eine handvoll Bonbons?“

„Eine handvoll Pillen, vielleicht?“

Sein Blick durchbohrte sie regelrecht.

„Oh, wie süß! Du machst dir doch nicht etwa Sorgen? Keine Angst, ich bin Morgen früh zum Dienst wieder fit. Mir geht es prächtig und mir wird es bald noch viel besser gehen.“ Sie kippte das Glas in einem Zug und hielt es ihm unter die Nase. „Davon hatte ich schon eine handvoll. Warte, das ist gelogen, so viele waren es noch nicht. Oder doch? Scheißegal. Davon möchte ich noch mehr!“ Das Leben wurde leicht und beschwingt und Justins Glatze glänzte im Mondlicht. Nein, kein Mondlicht, nur die Deckenlampe. Aber mit Mondlicht wäre es viel poetischer gewesen. Sie gluckste. „Komm, sei ein Schatz und gib mir noch einen.“

„Du hattest nichts sonst? Keine Drogen?“

„Nur Alkohol, ich schwöre! Ist zwar auch eine Droge, aber das interessiert niemanden. Egal. Die beste Droge ist ein klarer Kopf. Wusste schon Udo Lindenberg, der Mann mit dem Hut. Aber ich will ja keine Drogen - also, weg mit dem klaren Kopf.“

Es kratzte sie nicht, dass Justin wenig begeistert war, Hauptsache er ließ sie gewähren. Was konnte er schon tun? Sie war erwachsen, wenn er ihr nichts gab, ging sie eben woanders hin.

Zwischen den Tischen hastete Christine herum und balancierte ein Tablett über dem Kopf.

„Hey, Schnuckelchen. Was macht der Beziehungsstress?“ Die Frage war gemein. Su konnte genau sehen, was los war. Der Rock zu kurz, die Bluse zu eng, sodass alle Reize dem Betrachter üppig entgegenwogten.

„Nichts. Gar kein Beziehungsstress mehr“, murmelte Christine. Ihr Freund hatte Schluss gemacht, das war offensichtlich. Darum musste sie sich beweisen, dass sie bei anderen Männern Chancen hatte. Sofort.

Su kippte ihr Glas hin und her, die Eiswürfel kreisten. Alle Achtung. Soviel Eigeninitiative hatte Su ihr nicht zugetraut.

„Hoffentlich lässt sie sich nicht vom Erstbesten abschleppen, heute Abend.“

„Wie süß, machst du dir etwa Sorgen?“, äffte Justin sie bissig nach. „Ihr Mädels macht mich krank. Du säufst dir mit Vorsatz die Kutte zu und die andere baggerte alle männlichen Gäste an.“

„Touché, lieber Justin“, säuselte Su. „Vielleicht sollten wir im Laufe des Abends die Rollen tauschen? Christine trinkt für mich weiter und ich schleppe einen ab? Oder willst du lieber?“

Das Blubberlachen kam und ging, wie es wollte. Verlor sie etwa jetzt schon die Kontrolle?Das kam gar nicht in Frage. Su konzentrierte sich auf die Flaschen auf dem Regal über der Bar.

„Was hältst du davon, willst du lieber saufen oder einen Kerl mitnehmen, Justin?“

„Ich will, dass du die Klappe hältst, liebe Su. Lass Christine in Ruhe, der geht es dreckig genug.“

Su packte ihn am Hemd und zog ihn zu sich, bis ihre Nasen sich berührten. „Und wie geht es dir, mein Chef, mein Kojak, mein entzückender? Das Leben ist wunderbar beschissen. Und verdammt kurz. Gib mir noch einen Whiskey oder ich küsse dich auf der Stelle!“

„Womit habe ich das verdient?“ Ruhig aber bestimmt, drückte er sie zurück auf den Barhocker.

„Ich lebe, du lebst, wir leben - ist das nicht Grund genug?“ Es war nur das Lachen, das sich nicht kontrollieren ließ. Keine ihrer Bewegungen verriet, wie viel sie getrunken hatte. Die Worte verließen mühelos ihre Lippen und die Gedankengänge schienen ihr nicht verquerer als sonst.

„Weißt du, was echt komisch ist, Justin? Ich dachte immer, dass es im Grunde nur drei verschiedene Variationen an Typen gibt: Idioten, gewöhnliche Langweiler und Vernunftmenschen. Aber das stimmt nicht. Seit neustem weiß ich, es gibt zumindest noch ein anderes Wesen. Einen Halbaffen.“

„Aha. Und was unterscheidet ihn von den anderen?“

„Bin mir noch nicht sicher. Auf alle Fälle ist er kein Idiot. Ein vernünftiger Mensch ist er aber auch nicht und schon gar nicht gewöhnlich. Wie gesagt, eine eigene, eigenartige Spezies. Ein Halbaffe eben.“

„Und wieso Affe?“

Sie lachte und strich ihm über die Glatze. „Du bist so schön, wenn sich der Mond auf deinem Kopf spiegelt. Er ist ein Affe, weil er im Überfluss hat, was dir fehlt: Haare!“

Justin kniff die Augen zusammen und knurrte leise.

Su antwortete mit einem gierigen Stöhnen. „Mann, bist du sexy, wenn du sauer wirst!“

„Finger von mir, Su. Ich bin fast doppelt so alt wie du.“

„Du übertreibst, vielleicht doppelt so breit. Also, rein körperlich. Und selbst wenn es so wäre, was kümmert es mich? Sexy sein hat nichts mit dem Alter zu tun. Der beste Sex entsteht sowieso im Gehirn.“ Das Blubbern erfüllte sie von den Zehen bis in die Haarspitzen.

Als Christine zurückkam, rutschte Su vom Barhocker und hielt sie fest. Auf dem Tablett klirrten die schmutzigen Gläser.

„Christinchen, tut mir leid, mit deinem Freund“, flüsterte sie ihr zu. „Aber wenn er dich abserviert hat, ist er ein Arsch und keine Träne wert. Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst. Es wäre bescheuert den einen Arsch einfach durch den nächsten zu ersetzen. Das hat keine Frau nötig.“

Christines Kulleraugen liefen über. Su nahm ihr das schwankende Tablett ab. So warme Worte von ihr, die sonst entweder schwieg oder mit bösartigstem Sarkasmus um sich warf. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Ich lebe, du lebst, sie lebt. Die Grenze war neu und sie war etwas Besonderes.

Su stellte das Tablett auf die Theke, drückte Christine eine Serviette in die Hand und schob sie aus dem Gastraum. „Putz dir die Nase und verschwinde. Mein Dienst fängt gerade an.“

Justin schaute überrascht auf und beobachtete, wie Su die Gläser im Spülwasser versenkte und dann mit einem Lappen die Arbeitsfläche sauber wischte. „Was machst du da, Su?“

„Ich habe deiner Kellnerin gerade frei gegeben, Kojak. Die ist fertig für heute. Wirf mal eine frische Schürze rüber.“ Das war keine Frage, nur eine Ansage. Und sie hatte noch eine. „Ich schlaf heute Nacht im Hinterzimmer.“

„Entzückend, Baby.“ Justin hob die Schultern. „Verstehen muss ich das wohl nicht.“

Su küsste seine Glatze, band die Schürze um die Mitte und machte sich auf den verhassten Weg zwischen die Tische.

Donnerstag, 02. Mai