Lügenpfad - Brigitte Pons - E-Book
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Lügenpfad E-Book

Brigitte Pons

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Beschreibung

Der Wahrheit auf der Spur ...

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, seit das amerikanische Militär sein Munitionslager im Wald nahe Vielbrunn aufgegeben hat. Mehr als zwanzig Jahre, seitdem die letzten Friedensaktivisten vor dem Zaun demonstrierten. Als Frank Liebknecht aus reiner Neugier Fragen stellt, reißt er nichtsahnend alte Wunden auf und bringt dadurch seinen besten Freund in Gefahr. Erst spät beschleicht ihn eine Ahnung, wie alles zusammenhängen könnte ...

Ein spannender Regio-Krimi aus dem Odenwald - jetzt als eBook bei beTHRILLED. Mörderisch gute Unterhaltung.




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Seitenzahl: 453

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Donnerstag, 26. September 2013, Vielbrunn, 18:10 Uhr

Freitag, 27. September 2013, Erbach, 22:10 Uhr

Samstag, 28. September 2013, Vielbrunn, 10:30 Uhr

Sonntag, 29. September 2013, Vielbrunn, 11:20 Uhr

Montag, 30. September 2013, Vielbrunn, 12:30 Uhr

Mittwoch, 2. Oktober 2013, Vielbrunn, 17:35 Uhr

März 1983, Michelstadt

Mittwoch, 2. Oktober 2013, Vielbrunn, 18:15 Uhr

Donnerstag, 3. Oktober 2013, Vielbrunn, 16:15 Uhr

Montag, 7. Oktober 2013, Vielbrunn, 10:30 Uhr

Dienstag, 8. Oktober 2013, Erbach, 11:25 Uhr

Dienstag, 8. Oktober 2013, Vielbrunn, 14:35 Uhr

Mittwoch, 9. Oktober 2013, Michelstadt, 16:05 Uhr

Donnerstag, 10. Oktober 2013, Erbach, 16:35 Uhr

Freitag, 11. Oktober 2013, Vielbrunn, 9:55 Uhr

Montag, 14. Oktober 2013, Erbach, 13:35 Uhr

Montag, 14. Oktober 2013, Erbach, 14:05 Uhr

Montag, 14. Oktober 2013, im Dunkel

Dienstag, 15. Oktober 2013, Vielbrunn, 8:05 Uhr

Dienstag, 15. Oktober 2013, Erbach, 10:10 Uhr

Dienstag, 15. Oktober 2013, Vielbrunn, 17:45 Uhr

Dienstag, 15. Oktober 2013, Erbach, 21:10 Uhr

Mittwoch, 16. Oktober 2013, Erbach, 5:35 Uhr

Mittwoch, 16. Oktober 2013, Erbach, 13:05 Uhr

Mittwoch, 16. Oktober 2013, Vielbrunn, 14:10 Uhr

Mittwoch, 16. Oktober 2013, Erbach, 15:30 Uhr

Mittwoch, 16. Oktober 2013, Vielbrunn, 15:45 Uhr

Mittwoch, 16. Oktober 2013, im Dunkel

Donnerstag, 17. Oktober 2013, Erbach, 4:35 Uhr

März 1983, Frankfurt am Main

Donnerstag, 17. Oktober 2013, Vielbrunn, 9:30 Uhr

Donnerstag, 17. Oktober 2013, Hainhaus, 17:15 Uhr

Freitag, 18. Oktober 2013, Vielbrunn, 7:10 Uhr

Freitag, 18. Oktober 2013, Erbach, 14:00 Uhr

Freitag, 18. Oktober 2013, Vielbrunn, 15:55 Uhr

Freitag, 18. Oktober 2013, Vielbrunn, 19:10 Uhr

Freitag, 18. Oktober 2013, Vielbrunn, 20:05 Uhr

April 1983, Michelstadt

Samstag, 19. Oktober 2013, Vielbrunn, 10:10 Uhr

Samstag, 19. Oktober 2013, im Dunkel

Sonntag, 20. Oktober 2013, Vielbrunn, 11:45 Uhr

Sonntag, 20. Oktober 2013, Miltenberg, 14:30 Uhr

Sonntag, 20. Oktober 2013, Ober-Mossau, 16:25 Uhr

Sonntag, 20. Oktober 2013, Miltenberg, 22:55 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Vielbrunn, 6:45 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Erbach, 10:00 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Vielbrunn, 10:30 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Vielbrunn, 13:20 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Hainhaus, 13:30 Uhr

Montag, 21. Oktober, im Dunkel

Montag, 21. Oktober 2013, Hainhaus, 14:30 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Hainhaus, 16:15 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Vielbrunn, 20:50 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, im Wald, 21:05 Uhr

Montag, 21. Oktober 2013, Erbach, 21:20 Uhr

Dienstag, 22. Oktober 2013, Erbach, 5:30 Uhr

Dienstag, 22. Oktober 2013, Erbach, 8:20 Uhr

Dienstag, 22. Oktober 2013, Erbach, 9:15 Uhr

Dienstag, 22. Oktober 2013, Vielbrunn, 15:35 Uhr

September 1983, Darmstadt

Mittwoch, 23. Oktober 2013, Erbach, 18:15 Uhr

Donnerstag, 24. Oktober 2013, Vielbrunn, 10:00 Uhr

Donnerstag, 24. Oktober 2013, Vielbrunn, 11:15 Uhr

Donnerstag, 24. Oktober 2013, Vielbrunn, 12:30 Uhr

Freitag, 25. Oktober 2013, Erbach, 10:15 Uhr

Freitag, 25. Oktober 2013, Vielbrunn, 14:45 Uhr

Freitag, 25. Oktober 2013, Offenbach, 15:30 Uhr

Freitag, 25. Oktober 2013, Vielbrunn, 18:45 Uhr

Samstag, 26. Oktober, Vielbrunn 2013, 10:25 Uhr

Samstag, 26. Oktober 2013, Vielbrunn, 14:20 Uhr

Samstag, 26. Oktober 2013, Moisdorf, 17:10 Uhr

Samstag, 26. Oktober 2013, Erbach, 19:30 Uhr

Samstag, 26. Oktober 2013, Vielbrunn, 19:45 Uhr

Samstag, 26. Oktober 2013, Vielbrunn, 22:15 Uhr

Samstag, 26. Oktober 2013, Hamburg, 23:05 Uhr

Sonntag, 27. Oktober 2013, Vielbrunn, 12:45 Uhr

Sonntag, 27. Oktober 2013, Vielbrunn, 18:10 Uhr

Montag, 28. Oktober 2013, Erbach, 8:30 Uhr

Freitag, 28. Oktober 1983, Hainhaus

Montag, 28. Oktober 2013, Erbach, 9:10 Uhr

Montag, 28. Oktober 2013, Miltenberg, 15:05 Uhr

Montag, 28. Oktober 2013, Erbach, 19:30 Uhr

Mittwoch, 30. Oktober 2013, Vielbrunn, 15:30 Uhr

Nachwort der Autorin, Erläuterungen und Dank

Zitate

Quellen

Weitere Titel der Autorin:

Frank-Liebknecht-Reihe

Bauernopfer

Lärmfeuer (Kurzkrimi)

Raubjagd

Rachekreuz

Totengesang

Comissari-Soler-Reihe (unter dem Pseudonym Isabella Esteban)

Mord in Barcelona

Tödliches Spiel in Barcelona

Über dieses Buch

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, seit das amerikanische Militär sein Munitionslager im Wald nahe Vielbrunn aufgegeben hat. Mehr als zwanzig Jahre, seitdem die letzten Friedensaktivisten vor dem Zaun demonstrierten. Als Frank Liebknecht aus reiner Neugier Fragen stellt, reißt er nichtsahnend alte Wunden auf und bringt dadurch seinen besten Freund in Gefahr. Erst spät beschleicht ihn eine Ahnung, wie alles zusammenhängen könnte ...

Über die Autorin

Brigitte Pons schreibt Romane und Kurzgeschichten und ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern«. Bei beTHRILLED sind bislang fünf Regionalkrimis sowie eine Kurzgeschichte mit dem sympathischen Polizisten Frank Liebknecht erschienen, der in Vielbrunn im Odenwald ermittelt. Als Isabella Esteban veröffentlicht die Autorin Barcelona-Krimis bei Bastei Lübbe.

Brigitte Pons ist verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.

Brigitte Pons

LÜGENPFAD

Frank Liebknechts fünfter Fall

Ein Odenwald-Krimi

Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Alex_11 / Getty Images (Abo), © twstipp / Getty Images (Abo), © Alexander-S / Getty Images (Abo), © ESOlex / Getty Images (Abo)

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-8826-8

be-ebooks.de

lesejury.de

Prolog

Unter seinem Hintern knatterte das Mofa, rüttelte ihn auf der Abkürzungsstrecke über Schotter und Wiese durch, bis er wieder eine Straße erreichte. Knallblauer Himmel, flirrende Luft, die in der Ferne eine Illusion von Wasser über den Asphalt wabern ließ. Endlich zeigte sich ein kleiner Lichtblick in der üblichen Sonntagslangeweile, und er verpasste womöglich alles! Dabei konnte er von seinem Zimmerfenster aus beinah bis zum Flugplatz Waldhorn spucken. Doch ausgerechnet heute, wo, wie er gehört hatte, Filmleute einen Hubschrauber-Rundflug machen wollten, war er nicht zu Hause!

Seine dämliche Verwandtschaft saß im Haus seines Onkels beim Geburtstagsgelage wie angenagelt beieinander, lobte die Klöße und den fetten Braten, jammerte im nächsten Atemzug darüber, zu viel gegessen zu haben, und dämmerte jetzt Schnaps trinkend Kaffee und Kuchen entgegen. Es kotzte ihn an. Die Gier, die Verlogenheit und die zum Ritual erhobene Dummheit. Sie fraßen doch freiwillig, bis sie fast platzten! Dazu das Geschwätz über die »Schmach von Córdoba«, trotz des frühen Führungstreffers durch Rummenigge. Als wäre es die größtmögliche Katastrophe, dass die Nationalmannschaft bei der WM in Argentinien gegen Österreich verloren hatte. Es gab ja auch keine wichtigeren aktuellen Themen in der Welt als Fußball. Aber er hielt lieber das Maul, als sich eine einzufangen, und nutzte die erste Gelegenheit, sich abzusetzen.

Wenn der Hubschrauber schon abgehoben hatte, würde er sich einen Vorwand ausdenken, um bis zur Landung zu bleiben, und den Verzehr von Frankfurter Kranz und mit Tortenguss ertränktem Obstkuchen schwänzen. Er musste unbedingt die Ausrüstung der Crew sehen. Er hoffte auf Dokumentarfilmer – Königsklasse in seinen Augen –, und darauf, dass sie eh auf dem neusten Stand wären.

Es staubte auf dem trockenen Rasenstreifen, als er die Kurve schnitt, dann ging es steil den Hügel hoch. Die Steigung verlangte seinem Mofa alles ab. Irgendein Nachbar würde sich später wieder über den Krach beschweren. Sonntagsruhe und so. Jeder erkannte das Geräusch seiner Flory. Hundert Meter weiter verschluckte ihn der Wald, kurz danach erreichte er endlich die Zufahrt zum Flugplatz. Statt drei Minuten wie sonst hatte er vom Haus seines Onkels eine Viertelstunde gebraucht. Übermütig kurvte er die letzten Meter in Schlangenlinien. Vor ihm lag das flache Holzgebäude der Gaststätte Roter Baron hinter einem Jägerzaun. Von den Tischen im Garten schaute man genau auf das Flugfeld und den Tower auf der linken Seite. Ein großes Wort für so ein kleines Türmchen auf einem ebenso kleinen Flugplatz.

Der Hubschrauber war noch da, und er hatte die allerbeste Aussicht darauf! Was für ein Dusel! An den Gartentischen saßen mehr Gäste als sonst, und auf dem Parkplatz stand ein Haufen Autos mit auswärtigen Kennzeichen. Ein Mann spähte durchs Fenster in den Innenraum eines Mercedes', der eine Farbe hatte wie die vergilbten alten Elfenbein-Schnitzereien im Museum drüben in Erbach.

Der Mann warf ihm einen scharfen Blick zu. »Was glotzt du so?«

Er zuckte die Schultern und schlug den Kragen der Jeansjacke hoch, ehe er von der Kreidler abstieg. Die Frage hätte er ja wohl genauso gut stellen können. Betont langsam klappte er den Mofa-Ständer aus und wischte mit der Faust den Staub vom Schriftzug. Wo zum Geier war die Crew?

Drei ziemlich junge Leute, eine Frau und zwei Männer, standen gerade auf und machten sich auf den Weg zum Hubschrauber. Für Filmemacher sahen die fast zu unspektakulär normal aus. Schlaghosen und Sonnenbrillen, aber weniger Ausrüstung, als er gehofft hatte. Nur eine einzige einfache Kamera. Pech gehabt, der Rest war wohl schon verstaut. Viel zu lange blieb er auf der Stelle stehen und verpasste den Augenblick, sie anzusprechen; suchte noch nach Worten, während schon jemand die leeren Flaschen und Gläser von ihrem Tisch abräumte.

Die Frau mit den kurzen dunklen Locken lachte hell auf und schaute für eine Sekunde genau zu ihm rüber. Kannte er die nicht von irgendwo? Er hob die Hand, aber da hatte sie sich bereits wieder umgedreht. Ihre hohe Stimme verschwand im dumpfen Rhythmus der Rotorblätter, die sich gemächlich in Bewegung setzten, und alle stiegen ein. Windwirbel rissen Staub und Grashalme hoch, die Kufen lösten sich zögerlich, als hielte sie zäher Kleister am Boden. Sah die Frau noch mal runter? Er legte den Kopf in den Nacken, beschattete seine Augen mit dem Unterarm und verfolgte den Heli seufzend, bis der hinterm Wald verschwand. Er hätte sich ein Bein ausgerissen, um mitfliegen zu dürfen!

An der Stange hinterm Tower blähte sich zappelnd der Windsack, fiel zusammen und füllte sich wieder. Genau so würde er später wieder herumhampeln. Zappelnd wie ein dämlicher Windsack, weil er so viele Fragen hatte, und zu viel Schiss, den Mund aufzumachen. Schöner Mist. Fast volljährig und immer noch ein Feigling. Eigentlich konnte er auch gleich abhauen. Aber ganz aufgeben wollte er dann doch noch nicht.

Er ging in die Gaststätte und legte ein Zwei-Mark-Stück in die Münzschale neben der Registrierkasse.

»Eine Coke, bitte.« Wie immer hätte er fast gesagt, um lässiger rüberzukommen. Schließlich war er häufig hier und drückte sich an der rot-weißen Schranke herum, spähte in den Hangar, sobald eins der Tore offen stand. So oft er es sich leisten konnte, kam er auf ein Getränk herein. Am anderen Ende der Theke quatschten zwei Männer der Bedienung die Ohren voll, die wenig begeistert wirkte. Fast ein bisschen nervös. Die Kerle starrten ihn an, während sie ihm kommentarlos die Cola und das Wechselgeld rüberschob. Flasche mit Strohhalm, kein Glas.

Eine seltsam angespannte Stimmung hing in der überheizten Luft, und er trollte sich wieder nach draußen. Mit einem Mal kam ihm die ganze Situation verdammt merkwürdig vor. Die vielen Autos, die Typen an der Theke und der, der sich immer noch am Mercedes herumdrückte. Als ob sie genau wie er auf irgendwas warteten. Dazu ihre argwöhnischen Blicke, die ihm suggerierten, er sei unerwünscht. Je länger er nachdachte, desto sicherer wurde er: Die drei im Hubschrauber waren keine Dokumentarfilmer. Schauspieler – vielleicht echte Promis? Irgendwo hatte er die jedenfalls schon mal gesehen. In einem unbeobachteten Moment zog er sich hinter die Hausecke zurück, um nachzudenken. Das hier war bedeutend. Und er würde herausfinden, wieso. In seinem Kopf sangen die Bee Gees Stayin' alive und sein Herz wummerte im schnellen Disco-Rhythmus dazu. Diesen Tag, das wusste er jetzt schon – den 6. August 1978 –, würde er nie vergessen. Und ganz plötzlich wurde ihm klar, warum die Leute vom Hubschrauber ihm so bekannt vorgekommen waren. Er hatte ihre Gesichter schon Dutzende Male gesehen: im Fernsehen, in der Zeitung und auf den Fahndungsplakaten, die in der Post und in jeder Bankfiliale hingen. Das waren keine Schauspieler, sondern Terroristen der Roten-Armee-Fraktion. Sein Herz legte noch einen Zahn zu. Er hockte sich ins Gras und wartete.

Donnerstag, 26. September 2013, Vielbrunn, 18:10 Uhr

– Frank Liebknecht –

Das war es dann also. Leere Einlegeböden offenbarten die Schrammen vieler Jahre, eine Handvoll nackter Bügel schaukelte an der Kleiderstange.

»Du bist sicher, dass du sonst nichts mitnehmen willst?«

Frank schloss die Schranktür, drehte sich um und nickte. Seine Zeit als Untermieter endete genau jetzt. »Nur die Teile auf der Spüle, für die ersten Tage. Wenn du willst, bringe ich sie dir dann wieder.«

»Untersteh dich!«

Er schob die vollgestopfte Reisetasche neben seinen Rucksack im Durchgang zwischen der Schlafnische und dem Wohnraum und nahm einen Bogen Zeitungspapier vom Tisch. Brunhilde Schreiner war ein Goldstück – mit Haaren auf den Zähnen. Und über der Oberlippe, wie sich bei passender Beleuchtung erkennen ließ oder wenn sie bei einem Anraunzer auf kurze Distanz ging. Am Anfang hatte ihn ihre ruppige Art mächtig eingeschüchtert. Da war sie noch seine Chefin gewesen und er ein blutiger Anfänger in Sachen Polizeidienst »in der Prärie«, wie sie es nannte. Keine leichte Lektion, obwohl er ja selbst ein Landei und gar nicht weit entfernt in Heppenheim aufgewachsen war. Er war zu ungeduldig, zu forsch, wenn er etwas wollte, womit er seine Unsicherheit zu kaschieren versuchte und meist das Gegenteil erreichte. Inzwischen war er bei den Einheimischen als Brunis Nachfolger akzeptiert – mit kleinen Abstrichen. Ein hartes Stück Arbeit für alle Beteiligten. Manche Leute nahmen an seinen etwas längeren Haaren Anstoß, wie von Bruni prophezeit. Auch noch nach zwei Jahren als einziger Polizeibeamter im örtlichen Revier. Aus Trotz hatte er sie wachsen lassen, bis es für einen richtigen Zopf reichte. Da mussten sie durch. So, wie er damit klarkommen musste, dass sein Singledasein nicht nur seine Mutter zu Kuppelversuchen animierte. Eine Katze allein reichte ihnen als seine Gefährtin nicht aus. Trinity streunte durchs Zimmer, den Schwanz hoch erhoben. Gepackte Taschen weckten ihren Argwohn, und das dauernde Rascheln und Knistern versetzte sie in Stress.

Er verbiss sich ein Grinsen und half Bruni, das Geschirr einzuwickeln. Blümchen mit Goldrand, blaues Odenwälder Steingut, ein wildes Sammelsurium, das sie ihm zur Verfügung gestellt hatte, wie auch die Möbel im ausgebauten Heuboden über ihrem Schuppen. Aus der Chefin war seine Vermieterin geworden und eine Freundin, auf die er immer zählen konnte.

Stillschweigend verpackten sie auch das, was zurückbleiben würde. Eingelagert in Kisten, für alle Fälle. Man konnte ja nie wissen. Bruni war gern vorbereitet.

»So ein Mist.« Leise fluchend strich sie eine eben zerknüllte Zeitungsseite glatt. »Mir ist die Ausgabe von heute dazwischengeraten. Die hab ich noch gar nicht durch.«

»Weltbewegendes wirst du nicht verpasst haben.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst. Die Chorprobe hätte ich jedenfalls verschwitzt.«

»Ein echtes Drama.«

»Mach dich nur lustig. Irgendwann rächt sich das. Information ist alles, und in unserem guten altmodischen Blättchen steckt oft mehr, als du denkst.« Ihr Zeigefinger rutschte weiter die Zeilen entlang und klopfte dann auf eine Überschrift. »Das war damals weltbewegend. Und hätte ein echtes Drama werden können.«

»Heute vor dreißig Jahren«, las Frank laut. Eine schwarze Umrandung hob die Rubrik aus dem übrigen Text hervor. »Der Held, den keiner kannte: Stanislaw Petrow.«

Zwischen den Knitterfalten lächelte ein Mann in Uniform, auf dem Trinity mit einem geschmeidigen Satz landete.

»Schon mal gehört?«

»Nein.«

»Dachte ich mir. Der Bursche hat nicht mehr und nicht weniger als den Dritten Weltkrieg verhindert. Um ein Haar wären wir alle futsch gewesen.«

»Die Gelegenheit gab's schon häufiger.«

»Da sagst du was. Trotzdem war der Vorfall besonders heikel.« Sie seufzte. »Wir leben, weil er auf seinen Verstand gehört und seinem Computer nicht getraut hat. Der zeigte nämlich einen Angriff von ein paar US-Raketen in Richtung Sowjetunion an. Petrow glaubte nicht daran und meldete einen Fehlalarm, was es auch war, wie sich herausstellte. Das Ganze wurde erst zehn Jahre später publik, und danach wurde er weltweit als Held gefeiert.«

»Dass einer beim Militär seinen Verstand benutzt? Das klingt ja auch nach einer Falschmeldung.« Frank grinste und nahm die Katze hoch, kraulte besänftigend ihren Rücken. Mit mäßigem Erfolg. Ihre Krallen ziepten auf seinem Bauch, und der Schwanz wischte ihm aufgeregt durchs Gesicht. Seelenverwandte. Das Tier spürte die Melancholie des Abschieds, die Bruni und er voreinander zu verbergen versuchten. Dabei blieb er im Dorf, zog nur ein paar Straßen weiter den Hügel rauf. Ungefähr zehn Minuten zu Fuß. Fünfzehn für Bruni, sieben für ihn.

»Du hast keine Ahnung, wie sich das damals angefühlt hat.«

»Geb ich zu. Der ganze Kram – Ostblock, Westmächte, politische Krisen –, kam in der Schule zwar vor, fand ich aber nicht so prickelnd.«

»Wenn ihr jungen Leute an die 80er denkt, habt ihr nur Musik im Kopf: Nena und ihre Luftballons. Oder euphorische Bilder von der Maueröffnung.«

»Stimmt auffallend, Bruni. Die Musik war geil und ist es noch. Kann man immer anhören.«

Sie riss die Spalte mit dem verschobenen Termin der Chorprobe aus, faltete den Rest der Seite und drückte sie ihm vor die Brust. »Hier, nimm das mit. Nachhilfe in Geschichte als Lektüre für einsame Abende im neuen Heim.«

»Aber klar doch.« Er schaute noch mal auf das Datum. »Als dieser Petrow die Welt gerettet hat, war ich fünf Monate alt. Da kam nicht viel von der großen Politik bei mir an. Und das verschlafene kleine Vielbrunn war bestimmt eine friedliche Oase, fernab der bösen Realität. Wie immer.«

»Genau. Hier ist ja nie was los, das weißt du aus eigener Erfahrung.« Bruni lachte laut auf und schloss die Laschen des Kartons. »Schluss für heute, du Kindskopf. Deine Herzdame fühlt sich unwohl, du solltest ihr eine angemessene Übergangsfrist gönnen, um sich einzugewöhnen, und ihr die neue Umgebung schmackhaft machen. Ich werde ein Auge drauf haben, dass sie die nächsten Tage hier noch rein kann. Allerdings fürchte ich, dass das ein Ende hat, sobald Chris einzieht.«

Ihre drei Söhne waren schon lange flügge, nun zog es einen zurück. Und zwar mit Frau und Kind, weshalb im Obergeschoss des Wohnhauses ein Umbau anstand. Solange würde Chris den Heuboden nutzen, aus dem später ein Büro werden sollte. Und Frank musste weichen. Hoffentlich fühlte Trinity sich nicht berufen, den Eindringling aus ihrem Revier zu vertreiben. Ihr Unmut äußerte sich gelegentlich auf unappetitliche Art – Schuhe sollte er besser nicht vor der Tür stehen lassen.

Wenig später hatte Frank alle Pappkartons über die steile Außentreppe in den Hof geschleppt und bis auf einen im Schuppen darunter verstaut. Der eine klemmte mit einem Spanngummi verzurrt auf dem Fahrradgepäckträger. Er packte die Reisetasche auf die Lenkergabel und rieb sich den Nacken. Eine wackelige Angelegenheit und wenig Platz zum Sitzen, obendrein störte der Rucksack.

»Vergiss es.« Bruni öffnete das Tor und trat vor ihm hinaus auf den Bürgersteig. »Das geht schief.«

Er musste nur die Balance finden. Zweimal fahren, oder sein Auto zu holen, weil er sich mit der Menge verschätzt hatte, war keine Option. Die paar Meter schaffte er auch so. Es nervte und spornte ihn zugleich an, dass Bruni ihm zusah. Trinity kletterte auf den Sattel und stieg von dort aus in den Ausschnitt seiner Sweatjacke. Eine kurze Drehung, dann kam ihr Kopf wieder zum Vorschein.

»Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben, Bruni. Sagt man doch so.«

Sie zog den Zip seines Reißverschlusses eine Zacke höher und tätschelte ihm die Wange. »Der faule Esel schleppt sich auf einmal tot. Das sagt man auch.«

Stanislaw Petrows Antlitz samt Heldengeschichte segelte gemächlich zwischen die Geschirrkiste und die Bücherstapel, die Frank schon beim ersten Umzugseinsatz im Wagen mitgenommen hatte. Genau wie seinen E-Bass und den uralten Fernseher. Neben dem Wäscheberg stapelten sich Lebensmittel. In der Küche ragten bisher nur abgeklemmte Rohre und elektrische Anschlüsse aus den Wänden.

»Home sweet home«, flüsterte er in Trinitys Ohr, die sich weigerte, den Platz in seiner Jacke zu verlassen. »Gemütlich da drin, oder?« Seine Stimme hallte durch die kahlen Räume. Es roch nach Zementstaub und Baustelle.

Er schloss die Schlafzimmertür, streckte sich auf der Gartenliege aus und kickte die Schuhe von den Fersen. Der Liefertermin für sein Bett war schon wieder verschoben worden. Trotzdem wollte er seine erste Nacht im eigenen Haus nicht länger hinauszögern. Hinter sich bringen. Dabei sollte der Gedanke eigentlich Vorfreude auslösen.

»Einen armseligen Dosenöffner hast du dir ausgesucht.« Wenigstens bewahrte Trinity Stillschweigen über seine Unzulänglichkeiten. Sie liebte ihn vorbehaltlos, seit er sie aus der Schlinge eines Tierquälers befreit hatte. Winzig war sie damals gewesen, und willensstark, auch nach der Amputation einer Pfote. Frank tastete nach den Katzenleckerlis, die sie endlich von seinem Bauch lockten, schaltete den Laptop an und klickte sich durch seine Playlist. Nena und ihre Luftballons. Ja, das Lied war auch drauf. Trinity sträubte das Nackenfell, als er ein paar Töne auf dem Bass mitzupfte. Er stieß die Tür auf, und sie nutzte die Gelegenheit, um in den Garten zu flüchten. Halbherzig spielte er, sah den zerknautschen Russen auf dem Boden und tippte 1983 ins Suchfeld des Rechners. Immer wieder das gleiche Spiel, wenn ihn ein Thema beschäftigte oder er sich langweilte. So wie jetzt. Das Netz hatte immer etwas zu erzählen. Jahreschroniken, Schlagzeilen, Rückblicke. Was geschah am Tag deiner Geburt? Eine interessante Frage, über die er nie wirklich nachgedacht hatte. Werbung für historische Zeitungen als Geschenk poppte auf. Er gab seinen eigenen Geburtstag ein. Das Telefon klingelte. 15. April: stark bewölkt mit etwas Regen, las er, und dass Too Shy von Kajagoogoo auf Platz eins der deutschen Single-Charts war. Das hatte er schon immer wissen wollen. Er steckte sich den Kopfhörer ins Ohr und drehte die Lautstärke der Musik runter. »Hallo, Mama.«

»Hallo, Frank.«

Sie tauschten die üblichen Floskeln zu Gesundheit und Wohlbefinden sämtlicher Verwandten und Bekannten aus. Etwas wirklich Spannendes hatten sie beide nicht zu erzählen, dennoch zögerte er das Ende des Gesprächs hinaus. Akustische Nestwärme, weil sein Haus noch weit davon entfernt war, sich wie ein Heim anzufühlen. Er wickelte sich in seine Decke.

»Was fällt dir zum Jahr 1983 ein?«

»Du stellst Fragen!« Sie lachte. »Deine Geburt natürlich.«

»Sonst nichts?«

»Da müsste ich mal überlegen. Deine Oma war im Krankenhaus, Rippenbruch, weil sie im Bus während der Fahrt aufgestanden ist, um das Fenster zuzumachen. Kannst du dir das vorstellen? Streckt sich zu der Luke im Dach, der Bus fährt um die Kurve – und sie legt sich lang. Also bin ich wochenlang mit Säugling ins Krankenhaus gefahren.«

»Hm. Krass.«

»Krass, aha. Das war es wohl nicht, was mir noch einfallen sollte? Entweder hab ich eine lange Leitung, oder du musst konkreter werden, wofür du dich interessierst.«

Der Name des Russen fiel ihm nicht mehr ein. Weltretter im September. Wahllos nannte er ein anderes Stichwort, das er kurz zuvor in der Jahreschronik im Internet gelesen hatte. »Der heiße Herbst? Habt ihr davon was mitbekommen – ich meine, bei euch direkt an der Bergstraße?« Seine Eltern wohnten immer noch in Heppenheim, eine knappe Autostunde entfernt.

Im Hintergrund brummelte sein Vater, und sie wiederholte. »Frank fragt nach dem heißen Herbst.«

»Haben wir doch andauernd. Erst zu heiße Sommer, dann zu heißen Herbst und einen Winter, der den Namen schon lang nicht mehr verdient.«

»Sag ihm, es geht nicht ums Wetter.«

»Das weiß er, Schatz«, sagte sie gedämpft. »Er foppt dich nur. Wie kommst du da drauf?«

»Ach, keine Ahnung, nur so.« Auf dem Bildschirm hatte er noch immer die Werbeanzeige vor sich. Es braute sich eine Idee zusammen, die er noch nicht greifen konnte.

Sein Vater hob die Stimme, ohne näher ans Telefon zu kommen. »Politisch betrachtet gab es mehr als einen heißen Herbst. Oder meint er vielleicht den Deutschen Herbst? Der war schlimm. Die ganze Republik stand unter Schock. Ich war ja immer der Meinung, die hätten verhandeln sollen. Sicher, es waren Terroristen, und wenn man denen den kleinen Finger reicht ... Der Schmidt war konsequent, klare Kante. Hab ich auch Respekt, trotzdem, wenn man die Bilder anguckt von dem Schleyer ... den haben sie geopfert und den Piloten von der Landshut auch, als sie in Mogadischu das Flugzeug gestürmt haben. Schumann hieß der ...«

»Falsches Jahrzehnt, das war 1977«, warf seine Mutter ein.

Frank hatte ihren Gesichtsausdruck klar vor Augen. Vater im Vortragsmodus – vielen Dank, mein Junge.

»›tschuldigung«, murmelte er. Er würde sich anderswo informieren. Lauter fügte er hinzu: »Ist auch nicht so wichtig. Die Renovierung geht übrigens gut voran.« Eine mehr als beschönigende Lüge, die jedoch mit Sicherheit das Geschichtsreferat beendete. »Macht echte Fortschritte.«

Er hörte den Sessel knarren, als sein Vater aufstand. »Soll ich zum Tapezieren vorbeikommen?«

»Nein, nein. Ganz so weit bin ich noch nicht ...«

»Gib mir mal den Hörer, Gisi. Dein Kumpel Marcel ist ein guter Kripo-Mann, einwandfreier Typ, anständige Karriere. Da kannst du dir eine Scheibe abschneiden, Junge. Aber vom Handwerkeln in deinem Haus sollte er die Finger lassen. Jedenfalls wenn ich nicht dabei bin.«

Frank biss sich auf die Zunge und schwieg wohlweislich, obwohl er dazu eine Menge zu sagen gehabt hätte. Es war ein nervenaufreibendes Spektakel gewesen, seinem Vater und seinem besten Freund bei der Zusammenarbeit zuzusehen. Trotz guter Vorsätze waren sie einander um ein Haar an die Gurgel gegangen. Planung kontra Improvisation – und er als Prellbock dazwischen. Am Ende des Machtkampfes hatten beide sich als Sieger gefühlt und gegen ihn verbündet. Damit konnte er leben. Was machte man nicht alles um des Friedens willen – und für ein ordentlich abgeschliffenes Parkett.

Freitag, 27. September 2013, Erbach, 22:10 Uhr

– Frank Liebknecht –

Der Pfeil bohrte sich ins Doppelfeld der Dartscheibe. Game over. Sylvie riss die Arme hoch und klatschte Marcel ab.

»Tschakka! So macht man das, Jungs. Das Team Mord lässt euch ganz schön alt aussehen.« Sie tänzelte an Hamit vorbei, der eine Verbeugung andeutete, und gab Frank einen Klaps auf den Hintern. »Du zahlst die nächste Runde.«

»Glückspilz.« Hamit drehte ihr die Kehrseite zu. »Krieg ich auch einen?«

»Nö.« Sie deutete einen Tritt mit dem Cowboystiefel an, und Hamit seufzte.

»Ist nicht das Gleiche, aber man nimmt, was man kriegen kann.« Seit Hamit Nural vor wenigen Monaten zum ersten Mal als Verstärkung zu einer Mordermittlung hinzugezogen worden war, umwarb er Sylvie mit großem Engagement. Und sie ließ ihn zappeln. Soweit zumindest die offizielle Version, an der es begründete Zweifel gab.

Widerstandslos trollte Frank sich zum Tresen, um Nachschub zu besorgen. Nach jedem Spiel auf Rechnung der Verlierer, so war der Deal. Eine Bestellung erübrigte sich, er war schon zum dritten Mal dran. Der Laden wurde immer voller und die Wartezeit jedes Mal länger. Kein Wunder, das Angebot in Emils Lagerhalle war gut und günstig: Bowling, Billard, Tischkicker und ein umfangreiches Fast-Food-Sortiment, gedämpftes Licht über den Sitzgruppen sowie eine gut sortierte Bar. Nur die Akustik des ehemaligen Getränkemarkts war die einer Lagerhalle geblieben und beeinträchtigte die Gemütlichkeit. Die Bedienung schob die Getränke rüber und schrieb sie auf seinen Deckel.

Frank schlängelte sich, die Flaschen über dem Kopf haltend, zurück zu den anderen. Manchmal beneidete er sie um ihr tägliches Zusammensein. Alle drei arbeiteten in der Kriminalinspektion Odenwald in Erbach. Sylvie und Marcel teilten sich seit knapp anderthalb Jahren sogar ein Büro in der Abteilung Kapitalverbrechen. Hamit saß in einem anderen Stockwerk und war auf Jugendliche spezialisiert, egal, ob sie nur gefährdet waren, in irgendwas reinzuschlittern, oder sich bereits als Intensivtäter einen Namen gemacht hatten. Insgesamt gab es rund hundert Leute am Standort – und Frank, eine Viertelstunde Autofahrt entfernt, auf seinem Ein-Mann-Außenposten. Er verteilte Bio-Limonade, solidarisch für alle, weil Marcel zum Wochenenddienst eingeteilt war und nüchtern bleiben musste.

»Ein guter Kellner hätte gleich das Leergut mitgenommen.« Marcel deutete zum Stehtisch, auf dem kein Zentimeter Platz frei war.

»Ich habe nicht vor umzuschulen.« Während ihrer Ausbildung wäre Frank jede Wette eingegangen, dass sie beide niemals Freunde sein könnten. Und keiner hätte dagegengehalten. Das hatte sich grundlegend geändert, trotz ihres oft eher rauen Umgangstons. Weiß der Teufel, wieso sie den nicht loswurden.

»Dorfsheriff mit Leib und Seele«, frotzelte Marcel weiter. »Ich dachte nur, da du gerade deine Häuslichkeit entdeckst, wären deine Sinne geschärft. Ist mir immer noch ein Rätsel, dass du ausgerechnet in Vielbrunn sesshaft werden willst.«

»Ist doch nett dort.« Sylvie fischte kalte Pommes aus einer Ketchup-Lache. »Der Wirt hat uns im Dorfkrug extra ein Dartboard aufgehängt, damit wir auch bei ihm im Nebenraum Pfeilchen werfen können.«

Sie wechselten zwischen mehreren Standorten, so kam jeder Mal in den Genuss eines kurzen Heimwegs.

»Ja, cool. Stimmt schon. Und die Schnitzel sind lecker. Alles perfekt für den Mann, der nicht kochen kann. Nicht wahr, Löckchen?« Marcel richtete eine Pfeilspitze auf ihn.

Ein Running Gag, den er nie ausließ – zwei streng genommen –, die Frank mit gehobenem Mittelfinger quittierte, obwohl er längst drüberstand.

»Jetzt seht euch um. Es ist Freitagabend, und unser Highlight ist es, kleine Metallstäbchen mit Plastikfedern auf ein Brett zu schleudern. Oder mit einem Holzstab Kugeln in Löcher zu schubsen. Kann man natürlich machen ... Genau wie man Beamter im besonderen Bezirksdienst am Ende der Welt werden kann.«

Kann man natürlich machen. Den Zusatz, ist halt scheiße, sparte Marcel zwar aus, aber Frank hörte ihn trotzdem. Der Hieb traf die gleiche Kerbe, in die sein Vater regelmäßig schlug. So wie gestern. Die Missachtung seiner Entscheidung ärgerte ihn, egal von welcher Seite.

»Ich weiß nicht, was du mehr willst als das hier«, brummte er. »Eine Schlittschuhbahn, Kino, Shisha-Bar? Gibt es alles in der Nähe. Mir reicht das Angebot völlig.«

»Da hat er recht.« Hamit grinste. »Manchmal frag ich mich, welchen Kick du brauchst, damit du mal nichts zu meckern hast, Marcel.«

»Das hat nichts mit Meckern zu tun! Denkt doch mal größer und langfristig. Wohin soll eure Reise gehen? Ist die Kriminalinspektion Odenwald Endstation oder Zwischenetappe?« Marcel hielt seine Flasche wie ein Mikrofon vor ihre Nasen. »Ein Statement bitte. Man braucht doch Ziele. Und spätestens ab dreißig muss Butter bei die Fische. Ja gut, Sylvie hat noch eine Weile Luft. Trotzdem: Wollt ihr es höher, schneller, weiter, oder entscheidet ihr euch für Reihenhaus und Sicherheit?«

»Okay, so betrachtet ist es keine schlechte Frage«, pflichtete Hamit ihm bei. »Und keine leichte Antwort.«

Sylvie beugte sich über das imaginäre Mikrofon und klopfte dagegen. »Ist das eingeschaltet? Test, Test. Wer soll zuerst?«

»Wer auch immer bereit ist. Das ist live, und wir sind alle auf Empfang. Haut einfach raus, was ihr euch vorstellen könnt: Ausbilder an der Polizeiakademie oder lieber Dezernatsleiterin, also Führungsposition, oder ewig weiter so?«

Missmutig gestand Frank sich ein, dass es wohl an ihm lag, wenn er sich heute von jeder Frage persönlich getroffen fühlte. Nach dem Telefonat mit seinem Vater war er überempfindlich. Sein Job als Dorfpolizist war eine Sackgasse ohne Aufstiegsmöglichkeit, das wusste er selbst. Er hatte ihn sich ausgesucht, weil er in Vielbrunn sein eigener Herr war mit Eigenverantwortung und vielen Freiheiten. Er bestimmte seinen Rhythmus allein, ganz wie es ihm beliebte. Daran war beim besten Willen nichts falsch.

Er pulte das Etikett von der feuchtkalten Flasche und klatschte es Marcel auf die Stirn. »Drill-Sergeant Neidhard, das wäre doch was. Schleifer für Neulinge im ersten Jahr.«

Hamit lachte. »Absolutes Härtetraining für alle.«

»Nein, er treibt nur die Abbrecherquote hoch.« Sylvie bohrte einen Fingernagel in Hamits Brust. »Du hättest es besser drauf, den Nachwuchs zu motivieren. Ich glaube, du wärst ein echt guter Lehrer.« Seine Arbeit mit jugendlichen Straftätern erforderte starke Nerven, Geduld und Optimismus. Von all dem brachte er reichlich mit.

»Habt ihr das gehört?« Beifall heischend breitete Hamit die Arme aus. »Den Satz lasse ich mir einrahmen!«

»Stickt Sylvie dir zu Weihnachten bestimmt gern auf ein Kissen«, behauptete Marcel. »Also Hamit wird Ausbilder, Sylvie hängt noch ein Studium dran und wird Kriminalrätin oder Polizeipräsidentin und ich ...« Er zog die Augenbrauen zusammen und schnitt Grimassen, aber das Etikett blieb kleben. »Bin frisch befördert zu Ingwer-Zitrone?«

Schweigend nickte Frank und hob beide Daumen.

»Das ist hipp. Lässt sich aber noch toppen.« Marcel löste den Aufkleber und strich sich die blonden Haare nach hinten. »Ein eigener Flaschenkasten – eine ganze Bar – zumindest ein Hugo sollte drin sein.«

Unter das Lachen und Herumblödeln mischte sich eine seltsam bittere Note. Schmeckte nur er das heraus? Die Frage, die Marcel in den Raum geworfen hatte, war mehr als einfach ein Scherz. Es war die Wahrheit: Die Welt drehte sich weiter, die Zeit schritt voran. Ihre kleine Gemeinschaft hatte sich gerade erst gefunden. Aus der engen Zusammenarbeit der letzten Monate war etwas entstanden, das deutlich übers rein Berufliche hinausging.

Vier Musketiere. Fragte sich nur, wie lange noch.

Samstag, 28. September 2013, Vielbrunn, 10:30 Uhr

– Frank Liebknecht –

Die Haustür stand offen. Seit einer Stunde war der Handwerker überfällig, der das alte Bad grundlegend umkrempeln sollte – Sanitäranlagen und Fliesen. Ein Profi, ganz im Sinne seines Vaters, wie ihm der Kostenvoranschlag schmerzlich bestätigt hatte. Außerdem durfte er auf eine Möbellieferung hoffen. Einen Teil seines improvisierten Lagers hatte er ins künftige Wohnzimmer verschoben, um Platz für Bett und Schrank zu schaffen, früh um fünf, weil ihm alle Knochen weh taten. Zwei Nächte auf der Gartenliege waren wahrlich genug.

Beim Einschalten des Laptops öffnete sich automatisch der Browser und zeigte ihm die zuletzt aufgerufenen Seiten an. Da waren sie wieder: der heiße Herbst, Stanislaw Petrow und die Jubiläumszeitung für alle Gelegenheiten. Frank nagte an einer Scheibe Brot, die er besser schon vor einer Woche gegessen hätte. Dreißigster Geburtstag. War das der Grund für Marcels plötzliche Gedankenspiele zu Karriere und Zukunft? Eine vorgezogene Midlife-Crisis, weil er im kommenden Januar schon den einunddreißigsten vor sich hatte und fürchtete in der Provinz zu versauern? Jetzt wälzte er also Fluchtgedanken. Eine ausgesprochen blöde Idee. Sie hatten Jahre gebraucht, um sich zusammenzuraufen. Bis Marcel ihm vor zwei Jahren in einer Notlage geholfen hatte – ohne jedes Zögern. Dabei hatte er einiges riskiert. Und bei dem einen Mal war es nicht geblieben. Wenn es brenzlig wurde, war Marcel da und rettete ihm den Arsch. Ihre Freundschaft war ganz nebenbei einfach passiert.

Und jetzt dachte Marcel offensichtlich darüber nach wegzugehen. Aber Frank konnte ihn nicht einfach ziehen lassen. Das Brot knackte wie Zwieback, forderte seinen Kiefer heraus. Mit einer Geburtstagszeitung konnte Marcel vermutlich so viel anfangen wie mit einem Set zum Topflappenhäkeln. Der hatte ohnehin ein merkwürdiges Verhältnis zu diesem Tag, den er laut eigener Aussage grundsätzlich nicht feierte und immer irgendwo im Urlaub verbrachte. Frank kaute schneller. Was sprach dagegen, dieses System zu kippen? Und dazu würde er ein Extrablatt der Sonderklasse kreieren, um ihm das Bleiben als Privileg zu verkaufen. Ganz individuell, auf die Region bezogen und mit möglichst viel Action. Vielleicht sogar ein Verbrechenspuzzle oder eine historische Schnitzeljagd. Er klemmte das letzte Stück Brotrinde wie eine Kippe zwischen die Zähne. Schmackhaft ging anders, doch die Idee hatte Charme.

Irgendwas musste in ihrem Geburtsjahr in Vielbrunn oder im Zuständigkeitsbereich der Kriminalinspektion Odenwald doch los gewesen sein. Irgendetwas, das Spuren hinterlassen hatte, die sich heute noch verwerten ließen. So beschaulich es auf den ersten Blick auch wirkte – ein reiner Hort des Friedens war sein kleines Vielbrunn nicht. Diesbezüglich hatte er schon einige Überraschungen erlebt. Sonst wäre der enge Kontakt zu den Kripo-Kollegen nie zustande gekommen. Seit er den Job übernommen hatte, hagelte es Leichen in Vielbrunn, worauf er gern verzichtet hätte. Auf manche ganz besonders, die er gut gekannt und gemocht hatte.

»Mahlzeit.«

Im Flur stand Alfred Kraft, einen leeren Eimer in der Hand, hinter ihm sein Lehrling, bepackt bis unters Kinn. Frank nahm die Brotrinde aus dem Mund. Den schmächtigen Jungen kannte er von der Jugendfeuerwehr, die sich gegenüber seiner Dienststelle zu ihren Übungsstunden traf.

»Dann wollen wir mal.« Ein Fingerzeig seines Chefs genügte, und Jojo schleppte die Ausrüstung weiter ins Bad. »Lassen Sie nur.« Kraft bremste Franks Impuls, dem Jungen einen Teil des Materials abzunehmen. »Der ist jung, der packt das.« Neugierig sah er sich um.

Über dem Parkett klebte Plastikfolie, wodurch der Raum an einen Tatort erinnerte. Oder an die Vorbereitung eines solchen durch einen umsichtigen Killer. Nach dem Schleifen musste der Boden neu versiegelt werden. Handschuhe, Klebeband und Schere lagen zusammen mit einer Rolle Müllsäcken vor der Schiebetür zum Garten. Franks mittig platzierte Liege und der Laptop auf seinen Knien machten den Eindruck nicht besser. Fehlte nur das Snipergewehr mit Zielfernrohr.

Azubi Jojo rannte ein weiteres Mal zum Wagen. Er hinkte leicht und biss die Zähne zusammen.

»Ich könnte einen Schluck vertragen«, verkündete Kraft, als er die Kaffeemaschine in der Ecke entdeckte.

Der lebte die ganz alte Schule mit klarer Hierarchie. Und der Kunde – also Frank – hatte Dankbarkeit zu zeigen und keine Erklärung für die Verspätung zu erwarten. Er akzeptierte notgedrungen. Der Handwerker saß am längeren Hebel und er im Zweifel ohne Toilette und mit abgeklemmter Wasserversorgung buchstäblich auf dem Trockenen.

Er setzte frischen Kaffee auf.

Sonntag, 29. September 2013, Vielbrunn, 11:20 Uhr

– Lothar Döring –

Wie üblich füllten sich die Plätze um den Stammtisch nach der Sonntagspredigt zügig. Lothar Döring, pensionierter Friseur, war einer der Ersten gewesen, weil er mit dem Doktor gefahren war. Die paar Meter von der Kirche zum Dorfkrug hätte er bequem laufen können und beim nächsten Mal würde er selbst bei strömendem Regen die Mitfahrgelegenheit ausschlagen. Der alte Doktor Kreiling fuhr nach Gehör – wegen schwindender Sehkraft und leichter Nackensteifigkeit. Und mit seinem Gehör war es auch nicht weit her. Sein dicker BMW brauchte mehr als die halbe Straße. In Dörings Glas sackte die Schaumkrone zusammen.

»Unser Polizist hat gestern gefragt, was im Dorf los war in den 80ern. Mitten beim Plattenlegen kommt der mit so 'nem Zeug an.« Alfred Kraft tippte sich an die Stirn und grinste. »Tote Hose, habe ich gesagt. Wir hatten ja nix. Noch nicht mal Telefon, so hinterm Mond.«

Alle lachten.

»Hat er das geglaubt?«

Döring schüttelte stumm den Kopf. Die Frage konnte nur von Ulrich Jakobi kommen, dem es trotz Brille an Durchblick fehlte. Liebknecht war alles andere als blöd.

»Nein. Dabei ist es wahr. Bis auf das mit dem Telefon.«

»Bei dir war tote Hose, Alfred!«, behauptete Kuhnert. »Du hattest noch Pickel im Gesicht und kein Haar am Sack.«

Der Fliesenleger lag altersmäßig im Mittelfeld der Stammtischrunde, und Döring gab der Einschätzung recht. Das Drama in seinem Friseursalon hatte er gut im Gedächtnis. Ein Popperschnitt allein machte aus einem Alfred vom Dorf keinen David Bowie.

»Es war schon mordsmäßig was los in Vielbrunn.« Gerhard Unger, der Wirt des Dorfkrugs, verteilte Teller mit heißen Würstchen, Senf und Brot. Ein kleiner Imbiss als Unterlage zum Bier, bevor sie alle zum Mittagessen nach Hause gingen. »Fürs Geschäft war das gut.«

»Und friedlich, trotz allem.« Doktor Kreiling hob das Glas. »Warum wollte Frank das denn wissen?«

»Weil was vom heißen Herbst in der Presse gestanden hat. Ob wir hier davon was mitgekriegt haben.«

»Des hob isch ach gelese, in de Heimatzeidung! Die Sach mit dene Rakete.« Burkhard Görlich, Ortsbeirat und Vorsitzender im Karnevalsverein, nickte wichtig und ballte die Faust. »Wie hieß des? Petting statt Pershing! Des hat der Alfred domols awwer noch nedd verstanne.«

Wieder lachten alle, und Alfred schnitt eine Grimasse. »Als ob du '83 Englisch konntest. Die Heimatzeitung heißt übrigens schon fast genauso lange nicht mehr Heimatzeitung.«

»Klugscheißer.« Görlich schnaubte.

Döring drehte sein Glas zwischen den Fingern, sah von Metzger Kuhnert zu Görlich, bis beide ihm Aufmerksamkeit schenkten. Wie immer fiel der Groschen bei Kuhnert schneller, der zum Zeichen, dass er verstanden hatte, an seine rot geäderte Nase tippte. Dann lehnte er sich über den Tisch zum Doktor und rollte einen Ärmel hoch. »Könnten Sie Mal gucken? Ich hab da was Komisches ...«

Sein breiter Rücken wirkte wie eine Lärmschutzwand, hinter der Döring in Deckung ging, um ungestört mit Görlich zu reden.

»Raketen«, raunte er. »Im Bericht. Und von dem anderen?«

»Nichts.« Burkhard Görlich zuckte die Schultern. »Wie denn auch? Weiß doch keiner außer uns.«

»Sicher.« Er nickte langsam. »Sicher.«

Als Kuhnert sich wieder setzte, putzte Jakobi blinzelnd seine Brillengläser, Alfred Kraft beschrieb ausführlich den Hautausschlag eines Kollegen mit Zementallergie, und Görlich bestellte eine weitere Runde Schnaps.

Sie prosteten einander zu. Drei von ihnen in stummer Einigkeit. Die Vergangenheit ruhte, und so sollte es bleiben.

Montag, 30. September 2013, Vielbrunn, 12:30 Uhr

– Frank Liebknecht –

Der Fahrtwind blies ihm durchs offene Autofenster ins Gesicht, trug seinen Gesang hinaus über die kurvige Landstraße, wo ihn zum Glück keiner hörte. Er nutzte seine Pause für einen kleinen privaten Ausflug. Aus dem Lautsprecher dröhnte die Demo-CD einer Band aus Darmstadt, die ihm der Bassist geschickt hatte. Er kannte Jan Jansohn schon eine Ewigkeit. Vollblutmusiker und Multitalent, mit dem sein eigenes Geklampfe nicht mithalten konnte. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Sommer jemals vergehen wollte. Dabei war meteorologisch bereits der Herbst angebrochen. Ein weiterer heißer Herbst. Er grölte den Text zum Metal-Sound und fühlte sich nach der zweiten Nacht im neuen Bett so unverschämt ausgeschlafen und gut, dass ihm weder der Gedanke an den langfristig drohenden Klimawandel noch der Ausfall seiner Autoklimaanlage die Laune verdarben. Die hatte schon vor Wochen schlappgemacht, und der Werkstattbesuch würde teuer werden, weshalb er ihn so weit wie möglich hinauszögerte.

Er mochte die Strecke über die bewaldeten Kuppen hinüber nach Erbach, das baulich mit dem benachbarten Michelstadt zusammengewachsen war. Am Ortsschild drosselte er die Geschwindigkeit, und parkte einige Minuten später in der Nähe des historischen Rathauses am Marktplatz in der Michelstädter Altstadt. Kopfsteinpflaster und Fachwerk, wie es malerischer nicht sein konnte. Abgesehen von den Macken, die das Alter mit sich brachte. Seit er unter die Hausbesitzer geraten war, witterte er überall Sanierungsbedarf. Die Löwenhofreite mit ihrem Säulenportal und dem Prunkbalkon darüber konnte mehr als nur einen Anstrich brauchen. Nicht sein Problem. Im Augenblick drückte ihn nur der Zeitfaktor. Er rannte die letzten Meter durch den Torbogen. Seine Mittagspause war begrenzt – im Gegensatz zum in der Dienststelle zu erledigenden Arbeitspensum. Über eine Steintreppe mit abgetretenen Sandsteinstufen und geschnitztem Geländer gelangte er in den ersten Stock zum Stadtarchiv. Er klingelte.

Weite Teile des Sonntags waren für eine umfangreiche Putzaktion und den versuchten Schrankaufbau draufgegangen. Vorprogrammiertes Scheitern, die Teile waren einfach zu unhandlich für einen allein. Im Sonnenuntergang hatte er auf der Terrassenkante gesessen, hinter sich das Chaos, vor sich den zugewucherten Garten. Katze, Laptop, kalte Pizza.

Sein geistiger Sprung von der kalten Pizza zum Kalten Krieg hatte ihn zu seiner Verblüffung wieder beim heißen Herbst 1983 landen lassen – und beim Odenwälder Friedensforum. Unwillkürlich stellte er sich seine Vielbrunner Schäfchen in gebatikten Klamotten vor, wie sie sich in fernöstlicher Meditation übten, hippiemäßig die Friedenspfeife herumreichten und für eine bessere Welt zu wem auch immer beteten. Pfarrer Käppler und Ortsvorsteher Ruckelshaußen mit Stirnband vorneweg, Stammtisch, Gesangsverein und das Frauennetzwerk, kollektiv bekifft, hinterher. Bruni mit Blumen im Haar zur Uniform statt der Dienstmütze, die die Karawane beim Zug durch die Gemeinde bewachte.

Der Wahrheit dahinter wollte er jetzt nachgehen.

Er legte die Hand aufs Herz, als die Archivleiterin öffnete. Eine große Frau, attraktiv, mit feinen Lachfältchen um die Augen. »Danke, dass ich kommen darf. Und dass Sie Ihre Pause opfern.«

»Sie haben eine Stunde ... maximal.« Susan Breitenbach winkte ihn durch in ihr Büro, das sehr privat wirkte. Heimelig und, der Nutzung entsprechend, ein wenig antiquiert. Der offene Kamin mit dem Stadtwappen und allerhand Nippes auf dem Sims hatte ausgedient. Ehemals war dies das Amtszimmer des Bürgermeisters gewesen. »Und ich mache das wirklich nur, weil Sie ein Freund meines Mannes sind. Unsere Öffnungszeiten sind ...«

»Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.« Manchmal war es hilfreich, Leute zu kennen und private Informationen abzuspeichern. So lange niemand erwartete, dass er selbst viel preisgab, hörte Frank gerne zu. Roman Breitenbach spielte Trompete in der Jazzband, der er sich als Bassist angeschlossen hatte. Feine kleine Welt.

»Sie waren schon am Telefon supernett, und ich verspreche, Sie werden gar nicht merken, dass ich da bin.« Er lächelte mit Nachdruck.

»Das wird wohl nichts«, sagte sie. »Wenn Sie Originaldokumente einsehen wollen, kann ich die bereitstellen. Selbst Hand anzulegen, ist unerwünscht. Alte Schriften sind empfindlich und teils ziemlich wertvoll.« Ihr Blick blieb an seinen Augen hängen, sie verstummte und blinzelte kurz, dann erwiderte sie sein Lächeln. »Das ist nichts Persönliches. Nur eben Vorschrift. Also, was darf es denn sein?«

»Keine mittelalterlichen Schriftrollen. Informationen über Ereignisse im Jahr 1983. Kann ich nach Schlagworten suchen?«

»Oh, das wäre schön. Hier wird noch klassisch archiviert: Papier im Karton.«

»Mist.« Das hatte er befürchtet.

»Von Digitalisierung träume ich.« Sie nahm ihn am Ellbogen und ließ ihn einen Blick ins angrenzende Magazin werfen. Lange Regalreihen, gefüllt mit grauen Schachteln. »Davon gibt es mehrere. Sie müssen schon ein Datum kennen oder die Nummer der Ausgabe einer Tageszeitung. Dann finden wir alles.«

Sie hatte recht. Er konnte sich unmöglich durch den ganzen Jahrgang wühlen – geschweige denn durch ein ganzes Jahrzehnt –, falls ihn etwas ansprang, das er weiterverfolgen wollte.

»Wenn Sie mir verraten, wonach Sie suchen, können wir das vielleicht abkürzen.«

Noch war er auf dem Weg der Inspiration ganz am Anfang. Und verwöhnt vom Internet, das seine Gedankensprünge in Sekundenschnelle mitmachte. Entsprechend war sein spontaner Ausflug schlecht vorbereitet. »Es gab Zwischenfälle rund um den heutigen Park für grüne Technologien«, sagte er. »Also lange bevor der gebaut wurde. An der gleichen Stelle muss vorher ein Militärstandort gewesen sein, gegen den das Odenwälder Friedensforum protestiert hat. Speziell dazu?«

»Klar, das Muni-Lager Hainhaus. Da liegt ein größeres Konvolut zur Bearbeitung. Sekunde.«

Offenbar war die Vorstellung von amerikanischen Soldaten im Wald bei Vielbrunn nur für ihn eine verblüffende Angelegenheit. »Sie kennen sich mit dem Thema aus?«

Sie wies ihn an, sich zu setzen, und verschwand. Schuber rutschten über Holz. »Das zu behaupten, wäre übertrieben. Die Amerikaner sind schon vor zwanzig Jahren abgezogen. Hängen geblieben ist bei mir, dass das gefeiert wurde. Mein Steckenpferd ist die weit länger zurückliegende Geschichte: Römer, Kastelle, Limesanlagen. Wenn ich mich mit etwas auskenne, dann sind das Viadukte und das Prinzip der Hypokaustenheizung.«

»Spannend«, behauptete er. Nur im Moment konnten ihm die alten Römer gestohlen bleiben. »Gab es denn Ärger mit den Amerikanern? Oder hat sie hinterher auch jemand vermisst? Geschlossene Kasernen bedeuten verlorene Arbeitsplätze.«

»Am Hainhaus war keine Kaserne, die Soldaten kamen jeden Tag von Bayern rüber.«

Die Landesgrenze verlief den sprichwörtlichen Katzensprung entfernt, schnitt das Gemeindegebiet vom Main ab, dessen Schleifen die Ebene um Miltenberg durchzogen. Frank überquerte sie bei seinen Fahrradtouren regelmäßig.

Das Paket in Susan Breitenbachs Armen war beachtlich. Schriftstücke ragten kreuz und quer aus dem mit Kordel verschnürten Aktendeckel, den sie vor ihm ablegte. »Ist leider lediglich grob vorsortiert. Da dürfte seit Anfang der 80er ziemlich jeder Zeitungsbericht drin sein, der im weiteren Sinne mit dem Depot zu tun hat und natürlich alles, was vom Friedensforum deswegen unternommen wurde. Wenn es nach mir ginge ...« Sie löste die Schnur und strich über die ausgefransten Seiten. »Ich meine, Sie sind Polizist ...«

»Was kann ich schon anstellen?« Er bemühte sich, den Welpenblick abzurufen, den ihm Bruni gern nachsagte. »Ihr Schreibtisch steht genau gegenüber, in bequemer Wurfweite Ihres Lochers.« Und neben dem stand unangetastet ihr Mittagessen. Salat vom Italiener um die Ecke mit kleinen Brötchen aus Pizzateig, die nach Hefe dufteten, frisch gebacken und sicher noch warm.

Sie prustete, kämpfte, gab nach. »Also schön. Weil wir beide Vielbrunner sind. Und ich werde höchstens mit Büroklammern werfen.«

»Sie sind ein Engel.«

»Erzählen Sie das meinem Mann, der vergisst das gelegentlich.«

Das Versprechen gab er gern und nahm sich fest vor, das nächste Treffen der Band nicht zu schwänzen. Womit der morgige Abend verplant war. Er schlug ein Bein unter und begann zu blättern. Ein flüchtiges Querlesen musste für die erste Entscheidung genügen. Aus einem Berg bildeten sich drei Stapel. Interessant, unwichtig, unentschieden. Der mittlere Stapel blieb bedenklich klein.

»Herr Liebknecht?«

Er schreckte hoch, als sich ein Arm vor seine Nase schob. Susan Breitenbach tippte aufs Ziffernblatt ihrer Uhr. Die Stunde war verflogen. Und er hatte noch keine Seite kopiert.

»Zehn Minuten!« Frank faltete sich auseinander, zuckte beim Auftreten. Kein Gefühl im Fuß, was sich gleich ändern würde. Beißendes Kribbeln kroch von den Zehen zur Wade. »Bitte! Mehr brauche ich nicht, dann pack ich alles ordentlich zusammen, und Sie sind mich los.« Bis zum nächsten Einfall. Wohin das Thema auch führen mochte, fertig war er garantiert nicht.

Über die knisternde Abdeckfolie hechtete Trinity durch den Wohnraum und rieb sich an Franks Knöchel. Noch nie war es ihr entgangen, wenn er eine Futterdose öffnete. Sie hatte im Garten das Unterholz belauert und zu seiner Erleichterung keine Maus erwischt. Obwohl ihr eine Vorderpfote fehlte, gab sie nie auf. Stolz teilte sie ihre raren Jagderfolge mit ihm und ignorierte, dass die mitgebrachte Beute ihm wenig Begeisterung entlockte. Frank löffelte Hühnchen in ihren Napf. Kaum vorstellbar, dass an der gleichen Stelle bald eine Theke und ein Küchenblock den Raum unterteilen würden. Einen Moment sah er der Katze beim Fressen zu, dann packte er Büromaterial in einen Karton, den er auf den Dachboden mitnahm. Eine schmale Treppe führte vom Flur gleich hinter dem Eingang nach oben. Von den Vorbesitzern war eine schwere Kommode übrig geblieben, auf Kopfhöhe zwischen den Balken gespannte Wäscheleinen und ein Sack mit Klammern. Der perfekte Platz, um ungestört die Sammlung aus dem Archiv zu sichten und hinterher liegen lassen zu können. Insgesamt musste er über zweihundert Schriftstücke in der Hand gehabt haben. Jetzt kam die Feinarbeit – Details herausfiltern, Kombinationen jonglieren, aus denen sich hoffentlich ein Puzzle basteln ließ, und dem Ganzen eine Struktur verpassen. Er drehte die Musik von All Will Know lauter. Auf dem Laptop öffnete er zusätzliche Seiten, die den Informationsradius weiter zogen. Vom Odenwald über ganz Deutschland in die Welt. Das war seine Beute, die er mit Genuss zu zerteilen gedachte.

Zwei Stunden später schaukelte eine krude Mischung aus Friedensdemonstrationen und Kriegsangst, Waldsterben, Umweltschutz, Terror und Hochrüstung an den Nylonschnüren. Leider war rund um Marcels Geburtstag am 27. Januar rein gar nichts vorgefallen, worum er sein Rätsel hätte stricken können. Er grinste. Es sei denn, er zog die Möglichkeit der Reinkarnation in Betracht. Oder die Übertragung von Eigenschaften frisch Verstorbener auf gleichzeitig Neugeborene. So hätte der Tod von Schauspieler Louis de Funès an eben jenem regnerischen Donnerstag Marcels merkwürdigen Humor erklärt. Und in den Single-Charts stand Culture Club ganz oben mit Do you really want to hurt me.

Mittwoch, 2. Oktober 2013, Vielbrunn, 17:35 Uhr

– Marcel Neidhard –

»Frank? Hallo! Wo steckst du?« Ziellos streifte Marcel durch das Haus, stieß im Bad einen anerkennenden Pfiff aus, und setzte sich ans Fußende des neuen Bettes. Die dicke Matratze federte, ohne wegzusacken. Gemütlich war das Schlafzimmer trotzdem nicht. Schrankteile, Dübel und Schrauben, obendrauf die Bauanleitung. Franks Vorbereitung beschränkte sich auf drei zusammengeleimte Schubkästen und größtmöglichen Flächenverbrauch. Marcel streunte weiter, guckte in den Keller und auf der Suche nach der Katze in den Garten. Gezwitscher und leuchtend rote Beeren an einem Busch, tief stehende Herbstsonne und lauer Wind. Was für eine Scheiß-Idylle. Das schrie geradezu nach einer Frau und einem Haufen kleiner braun gelockter Liebknecht-Babys.

Ein Klappern zog ihn zurück ins Haus. Er drückte die Eingangstür ins Schloss und folgte dem Geräusch bis zum oberen Ende der Treppe. »Trinity?«

Hinter der Tür erwischte ihn ein Luftzug, der durch die beiden gekippten Dachfenster strömte und nun verwirbelte. Er hielt den Atem an. Der gesamte Raum schien in Bewegung, als ob sich ein Schwarm Vögel mit rauschendem Flügelschlag erhob. Dann schlug ein Fenster zu, Klappern und Rauschen verstummten.

»Das ist doch ... echt jetzt!« Marcel schnaubte. Der Schwarm kam zur Ruhe, schaukelte an einer Leine nach, verweht auf dem Boden – und verwandelte sich in gewöhnliches Papier. Nicht zu fassen, dass er sich davon hatte erschrecken lassen. Er bückte sich nach einigen Blättern, legte sie auf die Kommode.

»Fuck!« Ein scharfes Brennen durchfuhr eine Fingerkuppe, und er schüttelte die Hand. »Blutige Spuren der Geschichte im Odenwald«, las er laut. Na, wie passend. Aus dem kleinen Schnitt perlten Tropfen.

Unter seinem Schuh zerriss Papier, gleichzeitig klimperte im Erdgeschoss ein Schlüssel. Verdammt. Das war nicht sein Tag. In flagranti und dann auch noch wie ein Bulldozer unterwegs. Er hob den kopierten Zeitungsbericht auf, versteckte ihn unter den anderen. Ein zerfledderter Stapel, aber dafür konnte er nichts. Eine Titelzeile fing seine Aufmerksamkeit ein, und er griff nach dem nächsten Artikel.

»Marcel?«

Hastig faltete er das Blatt zusammen, stopfte es in die Hosentasche und machte einen Schritt zur Treppe. Nicht schnell genug, um Frank vorzugaukeln, er habe den Dachboden nicht betreten.

»Was treibst du da oben?« In Franks Gesicht zeichnete sich Verärgerung ab.

»Wollte ich auch gerade fragen.« Er deutete über seine Schulter. »Das ist schon ein bisschen strange da drin.«

»Schon mal auf die Idee gekommen, dass sogar ich eine Privatsphäre haben könnte?«

»Nö, nicht wirklich.« Betont lässig nahm Marcel mehrere Stufen auf einmal. »Wer seine Hütte für jedermann zugänglich lässt, wenn er ... wo warst du überhaupt? Ich meine, du bist ein Bulle, Babe. Du hältst Schulungen für Senioren, wie sie Heim und Habe vor fremdem Zugriff schützen. Ein gutes Beispiel bist du nicht gerade. Ich konnte einfach so hereinspazieren.«

»Lenk nicht ab. Wir waren verabredet. Nächstes Mal lass ich dich draußen warten, wenn ich noch mal losmuss.« Frank kickte seine Schuhe in die Ecke.

»Katze vom Baum retten oder ausgebüxten Hund einfangen?«

»Weder noch. Was hast du oben gesehen?«

»Einen konspirativ-verdächtigen Raum.« Marcel trabte ihm nach zum Schlafzimmer. »Wärst du ein Fremder, würde ich ein Verbrechen vermuten, die Handschrift eines Psychos. Obwohl man das auch bei Bekannten nie ausschließen sollte.«

Während Frank sich aus der Dienstkleidung schälte, setzte Marcel sich wieder auf die Bettkante, unsicher, welche Strategie ihm eine bessere Position verschaffte: Rückzug oder Attacke. War er zu lange oben gewesen oder nicht lange genug? So oder so war er ahnungslos. Ein Zustand, den er nicht leiden konnte. Noch weniger mochte er es, wenn man ihn am langen Arm verhungern ließ. Und genau das war offenbar Franks Plan. Er warf ihm ein Kissen zwischen die Schulterblätter, was ihn beim Anziehen der Jogginghose aus dem Gleichgewicht brachte.

»Sag schon, worum es geht! Wenn's geheim ist, verrate mir wenigstens, warum. Bist du neuerdings beim Geheimdienst, oder spielst du Cold Case Vielbrunn?«

»Kein Kommentar. Halt dich einfach fern.« Frank zeigte die Zähne. »Hör auf den Psycho, zu deinem eigenen Besten.«

März 1983, Michelstadt

– Genscher –

Durch das Fernglas konnte er die Vorgänge am Güterbahnhof bequem beobachten. Die Ankunft des Zuges, das Umladen des Containers auf den Lkw mit Aufleger, Übergabe der Frachtpapiere, eine Rückfrage, die mit Schulterzucken und vagen Handzeichen beantwortet wurde. Der Fahrer kratzte sich den Nacken unter der Kappe und stieg ein. Allein, ohne weitere Begleitung.

Genscher rutschte von der Motorhaube seines Golfs. Welchen Weg würde der Fahrer einschlagen, lohnte es sich dranzubleiben?

»Komm schon, komm schon. Tu mir den Gefallen und ... Ja!«