Eine saubere Angelegenheit - Brigitte Pons - E-Book

Eine saubere Angelegenheit E-Book

Brigitte Pons

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Ein Kommissar mit Koffeinproblem. Ein toter Frauenheld. Und jede Menge Verdächtige.

Ausgerechnet Kriminalhauptkommissar Torge Hansen, der als wenig diplomatisch gilt, soll einen Mordfall aufklären, bei dem Fingerspitzengefühl gefragt ist. Der Bodyguard eines umstrittenen Politikers wurde mit durchtrennter Kehle aufgefunden. Es mangelt an verwertbaren Spuren, jedoch nicht an Verdächtigen. Während sich die Ermittlungen im Umfeld des Politikers als zäh erweisen, hat das Privatleben des Toten einiges zu bieten: Frauen, Frauen und noch mal Frauen. Hat ihn eine davon getötet? Als das Geständnis einer Selbstmörderin auf Torges Schreibtisch landet, scheint der Fall gelöst. Schnell und sauber. Zu sauber für Torges Geschmack ...

Von Brigitte Pons ebenfalls bei beTHRILLED lieferbar: Die spannende Regionalkrimi-Reihe mit Frank Liebknecht, erster Band: Bauernopfer.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Seitenzahl: 358

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Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Nachwort der Autorin, Erläuterungen und Dank

Weitere Titel der Autorin

Odenwald-Krimis mit Frank Liebknecht:

Bauernopfer

Lärmfeuer (Kurz-Krimi)

Raubjagd

Rachekreuz

Totengesang

Lügenpfad

Als Isabella Esteban – Barcelona-Krimis mit Comissari Soler:

Mord in Barcelona

Tödliches Spiel in Barcelona

Über dieses Buch

Ein Kommissar mit Koffeinproblem. Ein toter Frauenheld. Und jede Menge Verdächtige.

Ausgerechnet Kriminalhauptkommissar Torge Hansen, der als wenig diplomatisch gilt, soll einen Mordfall aufklären, bei dem Fingerspitzengefühl gefragt ist. Der Bodyguard eines umstrittenen Politikers wurde mit durchtrennter Kehle aufgefunden. Es mangelt an verwertbaren Spuren, jedoch nicht an Verdächtigen. Während sich die Ermittlungen im Umfeld des Politikers als zäh erweisen, hat das Privatleben des Toten einiges zu bieten: Frauen, Frauen und noch mal Frauen. Hat eine davon ihn auf dem Gewissen? Als das Geständnis einer Selbstmörderin auf Torges Schreibtisch landet, scheint der Fall gelöst. Schnell und sauber. Zu sauber für Torges Geschmack …

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

Über die Autorin

Brigitte Pons schreibt Romane und Kurzgeschichten und ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern«. Bei beTHRILLED sind bislang vier Regionalkrimis sowie ein Kurzkrimi mit dem sympathischen Polizisten Frank Liebknecht erschienen, der in Vielbrunn im Odenwald ermittelt. Ein weiterer Band ist in Planung. Außerdem ist ihr Kriminalroman »Eine saubere Angelegenheit« als E-Book lieferbar. Unter dem Pseudonym Isabella Esteban veröffentlicht die Autorin Barcelona-Krimis bei Bastei Lübbe (Band 1: »Mord in Barcelona«).

Brigitte Pons ist verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.

BRIGITTE PONS

Eine saubere Angelegenheit

Kriminalroman

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Marion Heister

Covergestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung eines Motivs von © Pamela N. Martin/Gettyimages

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-9816-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Das Messer lag gut in seiner Hand. Es zu verwenden bereitete ihm Freude. Jedes Mal wieder. Die Schärfe der Klinge und dann das Geräusch, wenn er es über die Haut zog. Ein wohliger Schauer erfasste ihn bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abend.

Im Spiegel betrachtete er seinen muskulösen Oberkörper; das Ergebnis harter Arbeit, eiserner Disziplin – und sein Kapital, beruflich wie privat. Lässig machte er ein paar Tanzschritte, drehte sich um sich selbst und griff dann zu dem bereitstehenden Behälter.

Nassrasur – da ging einfach nichts drüber. Er schüttelte die Dosierflasche wie einen Cocktail-Shaker, schnalzte mit der Zunge und zwinkerte sich selbst zu, ehe er den cremig-weißen Schaum großzügig verteilte. Über Kinn und Hals, die Brust abwärts, am Nabel vorbei. Kein Haar sollte es wagen, sich seiner Klinge zu widersetzen. Er war Raymond mit der samtweichen Stimme, da durfte sein Körper nicht kratzig sein wie Schmirgelpapier. Jede Frau, die ihn ansah, wollte ihn genauso haben, wie er jetzt in seinem Badezimmer stand: nackte ein Meter fünfundachtzig geballte Männlichkeit. Aber nicht jede konnte ihn kriegen.

Dieser Abend sollte ein ganz besonderer werden.

Das Messer schabte Haare und schlagsahnigen Schaum beiseite, den er dann mit Schwung ins Waschbecken klatschte. Als es Minuten später klingelte, schlang er sich ein Handtuch um die frisch entflaumte Hüfte und ging pfeifend zur Haustür.

*

Von draußen hörte sie Gelächter in unterschiedlichen Tonarten und das unverwechselbare Geräusch, wenn Bierflaschen mit der Bodenkante gegeneinandergestoßen wurden. Offenbar hatten ihre neuen Nachbarn etwas zu feiern. Sie allerdings nicht. Auf dem Tisch vor ihr stand ein funzeliges Öllämpchen, in dem von Zeit zu Zeit Stechmücken mit hässlichem Zischen verglühten.

»Du wirst hier nicht ewig bleiben«, hatte Grit gesagt. »Das mit dir und Heiko kommt bestimmt wieder in Ordnung. Fünf Jahre, Dorothee, überleg doch mal – die schmeißt man nicht einfach so weg!«

Nein, nicht einfach so. Schon gar nicht jenseits der Vierzig, da war es Zeit, anzukommen, zu bleiben, sich zu arrangieren. Aber irgendwann war der Bogen überspannt, der Krug zu oft zum Brunnen gegangen und dann mit dem Kind hineingefallen. Und sie, das Kind, paddelte nun im kalten Wasser gegen den Untergang, die Titanic vor Augen, den Eisberg im Nacken. Dabei war doch Sommer, der Urlaub gebucht, und in wenigen Wochen hätten sie die Praxis abgeschlossen, um miteinander nach Ibiza zu entschweben. Aber die Beziehung von Dr. Heiko Thalbach und seiner Arzthelferin Dorothee Löblich gehörte der Vergangenheit an. Seit exakt zweiundvierzig Stunden und siebenunddreißig Minuten. Kopflos war sie aus der gemeinsamen Wohnung geflüchtet. Mehr als den Wochenendausflugs-BUKo hatte sie dabei nicht mitgenommen. Beischlafutensilienkoffer – der Ausdruck brachte das ganze Elend schlagartig auf den Punkt. Wenn nicht die ganze Welt permanent an Sex denken müsste, wäre das Leben viel leichter.

Zwei Stubenfliegen paarten sich laut brummend neben den Resten ihres Brötchens. Missmutig warf sie mit Krümeln nach dem wollüstigen Paar. Es war an der Zeit, das eigene Leben zu ordnen. Egal, wie schmutzig und schmerzhaft das Ende und der Neuanfang auch sein mochten. Sie starrte in die Flamme, während die Gefühle sie überrollten. Zärtliche Worte, Streicheln auf der Haut und Lügen, Lügen, Lügen.

Der Mückendoppelpack taumelte im Liebesrausch über den Tisch, und Dorothee brachte es doch nicht fertig, die beiden zu erschlagen. Leichte Opfer, hilflos ihren Trieben ausgeliefert. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, das Gesicht in die Hände – und stieß ein bitteres Lachen aus, das die Ölfunzel mit einer kleinen Rauchsäule und darauf folgender Dunkelheit ahndete. Lange starrte sie still in die Finsternis, bis sie plötzlich klarer sah.

Nüchtern betrachtet konnte es durchaus von Vorteil sein, für eine Weile abzutauchen. Unbeobachtet. Hier, auf einem Campingplatz zwischen senilen Dauercampern in einem möblierten Wohnwagen, wo sie garantiert niemand suchen würde. Wo es niemanden interessierte, wann sie kam und ging und was sie machte. Grit hatte gestern geschworen dichtzuhalten, was ihren Aufenthaltsort betraf. Dorothee durfte jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Grit kannte nur einen Teil der Wahrheit, und das sollte auch so bleiben. Was sie getan hatte, war konsequent, eindeutig und endgültig. Es ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Diesmal nicht.

Mittwoch

Seine linke Hand steckte in der Hosentasche und drehte einen kleinen Gegenstand zwischen den Fingern hin und her, die rechte schob die Tür auf. Im Innern der Wohnung wuselten sie herum wie Aliens, die ein fremdes Territorium okkupierten, platzierten Fähnchen und Schilder – und für einen Moment glaubte er sogar, sie ihre Nationalhymne singen zu hören. Einer der Marsianer in weißer Ganzkörperpluderhose steuerte zielsicher auf ihn zu.

Torge Hansen schüttelte energisch den Kopf, bis sich das Bild vor seinen Augen zurechtrückte. Es war eindeutig ein Fehler, derart unausgeschlafen zum Dienst zu erscheinen.

»Die Leiche liegt im Schlafzimmer. Rollo hat den Rest der Wohnung schon für uns freigegeben. Also pass auf, wohin du trittst.«

Torge hob wortlos die Hand zum Vulkaniergruß. Die Bemerkung ergab keinen Sinn. Er konnte keinerlei Kampfspuren oder Ähnliches entdecken, was ein vorsichtiges Vorantasten notwendig gemacht hätte. Er reckte den Nacken, schloss und öffnete in schneller Folge mehrfach die Augen, um die letzten schlaftrunkenen Trugbilder zu verscheuchen, und wappnete sich innerlich gegen den zu erwartenden Anblick. »Toter mit durchtrennter Kehle«, hatte Rollo ins Telefon geschnauft. Und beweg deinen Arsch zügig hierher, ehe AK mitkriegt, dass du zu spät bist.«

Blutiges Gemetzel vor dem Frühstück war nicht nach seinem Geschmack. Und auf AKs blöde Kommentare konnte er ganztägig verzichten. Der Gegenstand schmiegte sich unauffällig in seine Handfläche. Torge schaltete sein Ich-bin-gut-drauf-Lächeln ein und betrat das Schlafzimmer, aber Rollo versperrte ihm die Sicht. Wenn er sich anstrengte, konnte er die schmalen Schultern des Kollegen noch eine Weile im Mittelpunkt seines Blickfeldes behalten. Er nahm den weiteren Aufschub als Geschenk. Splatter live gab es in seinem Leben oft genug.

Roland Brunner quittierte sein Erscheinen nicht gerade mit Dankbarkeit.

»Endlich, du Schnarchnase! Hab schon zweimal am Telefon für dich gelogen. Wie siehst du überhaupt aus? Eine Handvoll Wasser und Rasieren wären kein Fehler gewesen.«

Torge tätschelte seinem Kollegen die Wange und drängte sich an ihm vorbei zum Bett. Es war an der Zeit, sich souverän zu zeigen. »Komm zur Sache, Mutti. Was haben wir hier?«

Auf einem weißen Laken lag ausgestreckt ein schwarzer Mann. Über ihm, bis zu den Schultern hochgezogen, eine dünne weiße Decke. Die klaffende Wunde am Hals war zu erwarten gewesen. Ebenso der Geruch. An der Wand über dem Bett hing ein Kunstdruck im Fantasy-Stil, vor dem Bett lag ein heller Teppich.

Verwirrt drehte Torge sich zu Rollo um. »Wo ist das Blut?«

»Gute Frage, Herr Kollege.« Rollo machte eine vage Handbewegung über seinem Kopf, die den ganzen Raum einschloss. »Hier scheint er nicht ermordet worden zu sein. Und einen Selbstmord würde ich ausschließen – auch wenn ich unserem Gerichtsmediziner nicht vorgreifen will.«

»Ein Arzt war schon hier?«

Rollo senkte bestätigend den Kopf, und sein Blick erweiterte den Satz um den stummen Vorwurf, dass selbstverständlich alle schon vor Torge da gewesen waren.

»Soll ich raten, was er gesagt hat? ›Todesursache und genauer Zeitpunkt werden erst nach eingehender Untersuchung bekannt gegeben. Sie werden mich nicht zu spekulativen Äußerungen verleiten, Herr Brunner!‹«

»So ist es. Wenn du einen Blick unter die Decke riskierst, findest du dort allerdings das, was ich – ganz spekulativ, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit – als die Tatwaffe bezeichnen würde. Da war sogar unsere Lieblingsstaatsanwältin, die du auch verpasst hast, spontan meiner Meinung.«

Torge zog ein Paar Latexhandschuhe über und schlug dann das Tuch beiseite. Der rechte Arm des Toten lag angewinkelt auf seiner Brust, in der Hand glänzte ein Rasiermesser. Unwillkürlich strich sich Torge über das stoppelige Kinn.

»Das spricht eindeutig für ungehemmten Bartwuchs, meinst du nicht?«

»Depp. Der Kerl hat penibel auf sein Äußeres geachtet, war gepflegt und durchtrainiert. Wenn er nicht tot wäre, könnte man neidisch werden.«

Torge versuchte, die durch voranschreitende Verwesung ausgelösten Schwellungen und die Maden aus seinem Bewusstsein auszublenden, rekonstruierte in Gedanken Muskeln, Proportionen, Gesichtszüge. Es gelang ihm erst, als Rollo ihm ein gerahmtes Bild vor die Nase hielt. Schwer zu glauben, dass es sich um dieselbe Person handelte. Was da vor ihm lag, war eindeutig ein perfekter Körper gewesen. Ein von der Natur begünstigter, schöner Mann. Auch wenn er selbst Frauen mehr als nur bevorzugte, musste er das anerkennen.

»Und wer ist unser glückloser Barbier?«

»Manchmal frage ich mich, wie du mit deiner selektiven Wahrnehmung bis hierher durchs Leben gekommen bist. Sein Name ist Raymond Jarr, müsstest du am Klingelschild gelesen haben, und das hast du nur gefunden, weil ich es dir am Telefon gesagt hatte. Bist du verkatert oder was ist mit dir los?«

Torge war nicht gewillt, auf diese Frage einzugehen. Ehe Rollo weiter nachbohren konnte, erschien zum Glück ein Kollege der Spurensicherung in der Tür.

»Seid ihr dann endlich so weit? Die Jungs mit dem Zinksarg warten schon darauf, dass sie die Leiche abtransportieren dürfen, und wir haben hier drin noch nicht mal richtig anfangen können.«

»Wir sind fertig. Entspann dich. Ihr müsst doch nur noch das Messer eintüten, das er in der Hand hat.«

»Toller Witz, Hansen.«

Rollo zog Torge nach draußen. »Du kriegst dein Update unterwegs, damit du die Infos an Cheffe weitergeben kannst. Deinen Wagen holen wir später.«

Das war eine der Angewohnheiten, die Torge an Rollo so schätzte: Er war uneigennützig und ließ ihn auch dann nicht hängen, wenn er es eigentlich verdient hatte.

*

Mit dem unter den Arm geklemmten Waschbeutel hastete Dorothee die Wege zwischen den liebevoll umzäunten Parzellen entlang. Ihr fehlte die passende innere Einstellung, die ihre Mitbewohner dazu bewegte, die Grünflächen mit Gartenzwergen und Laternchen zu schmücken. Ihr Verständnis reichte nicht einmal dazu, deren Engagement auch nur minimal zu würdigen.

In den langen Stunden der Nacht, in denen sie wieder wach gelegen und dabei auf das Schnarchen aus dem benachbarten Wohnwagen gelauscht hatte, war ihr klar geworden, dass es an der Zeit war, ihre Isolation zu durchbrechen.

Sie zog sich aus, ging in Startposition und warf die obligatorische Duschmünze in den Schlitz. Die Reihenfolge hatte sich als wichtig herausgestellt. Das Wasser sprudelte nur für wenige Minuten, und wenn sie nicht eingeschäumt auf dem Trockenen sitzen wollte, musste der Ablauf optimiert erfolgen. Weder die Wärme des Wassers noch das schmeichelnde Duschgel konnten ihre Sinne besänftigen. Grimmig schrubbte sie ihren von Mückenbissen übersäten Leib und rechnete nach. Es musste Mittwoch sein. Dann war also noch nicht mal eine Woche vergangen, seit sie wie ein Eremit in medientechnischer Klausur festsaß. Und doch fühlte es sich an, als bereitete sie sich auf eine Expedition in eine fremde Welt vor. Ihre Gespräche mit den Campern beschränkten sich auf allgemeine Banalitäten des Alltags, die von einem Zaun zum nächsten reichten und keinen Meter weiter. Aber da draußen, jenseits des Campingplatzes, konnte alles Mögliche passiert sein. Seuchen, Kriege, Naturkatastrophen. Und sie wusste von alldem nichts. Bei ihrer Flucht hatte sie nicht nur ihr Handy zurückgelassen, sondern auch ihr Tor zur Welt, zur Kommunikation, zur permanenten Erreichbarkeit. Kein Internet, das war für sie wie keine Arme, keine Ohren, keine Stimme – schlicht: keine Existenz. Ihren Laptop schaltete sie maximal auf Stand-by, aber niemals offline. Noch vor einer Woche war sie sicher gewesen, keinen halben Tag ohne den Informationstropf der weltweiten Gemeinschaft aushalten zu können. Und ohne Heiko.

Die Erinnerung veranlasste sie dazu, der Duschtür beim Schließen einen gezielten Tritt mitzugeben. Sie hatte nicht geahnt, wozu sie fähig war.

Wild kreiste die Zahnbürste durch ihren Mund. Die Borsten hinterließen blutige Kratzer auf ihrem Zahnfleisch. Dort, wo Heikos Platz in ihrem Innern gewesen war, spürte sie ein finsteres bodenloses Loch, das sie seltsam kaltließ.

*

Mit dem siebten Kaffee des Vormittags in der Hand machte Torge Hansen sich bereit, die bisher bekannten Informationen herunterzurattern. Er lehnte mit dem Rücken am Fenster des Büros, das er mit Rollo teilte. Auf dem Schreibtisch lagen diverse Unterlagen ausgebreitet, die sie aus der Wohnung des Mordopfers mitgenommen hatten. Außer ihnen waren noch Arno Kessler, Florian Marschall und der Dezernatsleiter Volker Misskamp anwesend, um die ersten Arbeitsschritte der neu gebildeten Mordkommission abzustimmen.

»Raymond Jarr, neunundzwanzig Jahre alt, doppelte Staatsbürgerschaft, in den USA geboren, seit vier Jahren dauerhaft in Deutschland, davon drei hier in Frankfurt. Offenbar ein extrem ordentlicher Mensch. Sein Lebenslauf und sämtliche Arbeitsverhältnisse, die er seit seiner Ankunft in Deutschland je innehatte, sind lückenlos nachvollziehbar abgeheftet.«

Arno Kessler hob spöttisch die Augenbrauen. »Waren ordentlich abgeheftet, meinst du wohl.«

Torge verkniff es sich gerade noch, den Mittelfinger zu heben. »Er hat als Model, als Barkeeper und zuletzt als Bodyguard gearbeitet. Heute Morgen wurde er von seiner Nachbarin tot in seinem Bett aufgefunden. Die Gerichtsmediziner haben uns gnädigerweise gerade eben als vorläufigen Todeszeitpunkt die Nacht von Freitag auf Samstag genannt.«

Florian Marschall balancierte einen Laptop auf den Knien und schrieb jedes Wort mit. Dass ihm in der Regel die Rolle der Tippse zufiel, störte ihn schon lange nicht mehr. Ohne seine Koordination und seinen Überblick waren die anderen hilflos; blinde Maulwürfe, die die Erde aufwühlten, aber die Würmer nicht zu fassen kriegten. Jeder wusste das.

»Wieso wurde er von der Nachbarin gefunden?«, hakte Kessler ungeduldig nach. »Wie kam die in die Wohnung? War die Tür aufgebrochen?«

Torge schlürfte geräuschvoll und ausgiebig aus seiner Tasse, und Rollo übernahm die Antwort.

»Helga Merz hat einen Notfallschlüssel. Normalerweise half Jarr ihr einmal pro Woche mit den Einkäufen, weil es keinen Aufzug im Haus gibt. Aber gestern ist er nicht bei ihr erschienen, hat nicht abgesagt und ist auch nicht ans Telefon gegangen. Darum hat sie schließlich heute früh nachgesehen. Sie hatten ein sehr gutes Verhältnis zueinander.«

»Zueinander oder miteinander?«, fragte Kessler schon wieder dazwischen. »Oder war der Typ schwul? Wenn einer schon Model ist …« Er verzog vielsagend das Gesicht.

»Zueinander, AK«, raunzte Torge. Dass ausgerechnet Kessler diese Bemerkung machte, war für ihn ebenso logisch wie unpassend. Arno Kessler urteilte gerne und schnell nach dem ersten Anschein; aber was den Kult um sein eigenes Äußeres betraf, konnte er locker mit jedem Promi mithalten. Allein sein faltenfreies, aalglattes Dauergrinsen reichte schon, um Torge den Tag zu verderben. »Frau Merz ist dreiundachtzig. Über Jarrs sexuelle Ausrichtung wissen wir noch nichts, aber er hat ein Handy mit einer Unmenge an Telefonnummern und Daten hinterlassen. Wenn du willst, kannst du dich gern darum kümmern.«

Kessler hob abwehrend die manikürten Hände.

»Ich glaube, die Arbeit verteilt hier immer noch Volker, oder habe ich was verpasst?«

»Immer langsam, Jungs. Bleibt bei der Sache. Was verraten uns der Papierkram und der Tatort noch?« Misskamp beschwichtigte, wie immer.

»Keine Schulden, keine großen Reichtümer auf der Bank. Aktueller Arbeitgeber ist die Firma Guardian Shield Security, Inhaberin Marion Brüning. Jarr ist dort seit neun Monaten beschäftigt gewesen. Wie diese Arbeit genau aussieht, kann ich dir aber noch nicht sagen.« Rollo fischte zielsicher ein Bündel Papier aus dem Wust und reichte es an Florian weiter, damit er die genaue Adresse übernehmen konnte.

»Der Fundort ist nicht der Tatort …«, setzte Torge an.

»Sagt wer?«

»Ich sage das, AK. Ich.« Knurrend knallte Torge die Tasse auf den Tisch und warf Kessler einen Stapel Bilder auf den Schoß. »Die Digitalen von den Spurensicherern kommen noch, aber die da zeigen deutlich, dass das Schlachtfest nicht im Bett gefeiert wurde.«

Schon wieder profitierte er von Rollos umsichtigem Handeln. Brunner schleifte überall die alte Sofortbildkamera mit hin, seit ihnen einmal die moderne Technik den Dienst verweigert und sie am Ende ohne jeglichen bildhaften Beleg für eine knifflige Situation dagestanden hatten. Völliger Blödsinn im Zeitalter des Fotohandys, wie Kessler immer wieder gern betonte. Doch Torge teilte Rollos Misstrauen – Pixel konnte man bequem manipulieren, und die schwer zu erkennenden digitalen Fälschungen nahmen immer mehr zu.

»Und ich sage noch was: Das war kein Mord im Affekt. Das war eiskalt geplant. Wie der Typ abgelegt wurde, deutet auf einen strukturierten Täter hin, der sich bei der Ausführung nicht von persönlichen Gefühlen leiten ließ.«

»Im Gegensatz zu unserm Hobby-Profiler Hansen. Nur weil du in deinem Regal die ganzen Psychobücher aufstellst, bist du noch kein Fachmann. Halte dich doch einfach mal an das, was wir konkret wissen, und spekulier hier nicht rum.«

Kessler würdigte die Bilder der Leiche eines beiläufigen Blickes und reichte sie an Misskamp weiter, nachdem Florian Marschall wortlos abgelehnt hatte, sie anzufassen.

»Wärst du vor Ort gewesen, AK, hättest du mit eigenen Augen gesehen, was ich meine!«

»Wärst du vor dem Einsatz schon im Büro gewesen, wüsstest du, dass ich einen Termin bei Gericht hatte.«

»Schluss jetzt! Muss Cheffe wirklich wieder ein Machtwort sprechen?«

Wenn er nicht mehr weiterwusste, setzte Volker Misskamp gerne auf Humor, mit wechselndem Erfolg. Kessler lachte gehorsam, und Torge guckte demonstrativ aus dem Fenster.

»Ich hätte doch eine Frau für das Team einplanen sollen, dann würdet ihr euch vielleicht weniger anzicken.«

Unbeeindruckt stöberte Rollo in den Daten des Handys. »Schwul war Jarr jedenfalls nicht«, bemerkte er nun. »Die gespeicherten Fotodateien sprechen zumindest dagegen.« Er hielt Marschall das Display hin, der kurz den Kopf hob, zustimmend grinste und dann zum ersten Mal selbst den Mund aufmachte.

»Ist euch eigentlich aufgefallen, dass Jarr hinter den Gehaltsabrechnungen immer seinen Einsatzplan angehängt hat? Da taucht mehrfach der Name Gottfried Puchinger auf. Zuletzt eine knappe Woche vor seinem Tod. Und für die nächsten Wochen ist er auch bei ihm eingeteilt.«

»Zeig her!« Kessler riss ihm die Blätter aus der Hand. »Tatsache – der Puchinger. Da kriegt die Nummer doch gleich einen ganz anderen Drive.« Seine Augen glänzten verzückt.

Misskamp ächzte leise. »Das hat mir noch gefehlt – der Landtagsabgeordnete mit der Hetzkampagne gegen Hartz-IV-Empfänger. Glückwunsch Leute, da haben wir den Hauptgewinn gezogen. Wieso habt ihr das nicht bemerkt?«

»So weit waren wir noch nicht. Die Leiche ist grad mal vor zwei Stunden gefunden worden.« Rollo drückte verzweifelt auf den Tasten des Handys herum, das urplötzlich begonnen hatte, ein Video mit unanständigen Stöhngeräuschen abzuspielen. »Das Ding hasst mich!«, fluchte er und übergab es an Torge, der es auf Anhieb zum Schweigen brachte.

»Ich habe magische Hände«, behauptete der und ließ diese beschwörend vor Rollos Nase kreisen.

»Wunderbar, damit hätten wir ja schon festgelegt, wer sich um die gespeicherten Kontaktdaten kümmert.« Misskamp ignorierte Torges Einwände. »Einer muss es machen, und wenn du das Ding jetzt schon im Griff hast, umso besser. Checkt, was ihr finden könnt über Raymond Jarrs privates Umfeld, nehmt seinen Arbeitsplatz unter die Lupe. Marschall sammelt alle Fäden auf und unterstützt euch, wenn es nötig ist. Arno, du übernimmst den Kontakt zur Staatsanwaltschaft und damit die Leitung und außerdem den Abgeordneten. Zuständig ist Frau Eichhorn – die sich für unser augenblickliches Treffen entschuldigen lässt. Die VIPs verlangen nach Fingerspitzengefühl, ich weiß, dafür hast du ein Händchen.«

»Yes!« Kessler ballte die Faust und bediente sich der Gestik eines Sportlers auf dem Siegerpodest. Jetzt wählte Torge doch den doppelten Mittelfinger, aber nur auf Hüfthöhe, sodass lediglich Rollo und Marschall es sehen konnten.

»Das ist ein Fall, bei dem wir die Samthandschuhe brauchen; und zwar durchgängig. Hoffentlich ist euch das klar?« Kessler brachte sich sofort in Position, wie jedes Mal, wenn es ihm gelungen war, Torge in der Rangordnung zu überholen. »Solange nicht ausgeschlossen ist, dass es eine politische Dimension bei der Angelegenheit gibt, brauchen wir absolute Diskretion!«

Misskamp nickte anerkennend zu diesen Worten, boxte Kessler kameradschaftlich gegen die Schulter und wandte sich zur Tür. »Dann ist ja alles geklärt. Ich verlasse mich auf euch. Ihr gehört alle zum selben Team. Zu meinem Team. Vergesst das nicht.«

Nachdrücklich schaute er Torge an, der einige Sekunden brauchte, bis er nickte.

*

Staub wirbelte auf bei jedem ihrer Schritte. Von der Autobahnbaustelle wehte der Geruch von heißem Teer herüber. Dorothee zog das Halstuch vor die Nase. Nomadenlook, hatte Heiko immer gesagt, wenn sie auch im Sommer nie ohne Tuch aus dem Haus ging. Ihre Kollektion war beachtlich. Billiger, als Schuhe zu sammeln, und sehr viel praktischer. Ein Tuch schützte vor Sonne und Regen, Dreck und Abgasen, vor eigenem und fremdem Mundgeruch – und half schon mal, eine verunglückte Frisur oder einen lästigen Pickel verschwinden zu lassen. Dass sie ständig neue Schals einkaufte, lag auch daran, dass sie diese mit unschöner Regelmäßigkeit wieder verschlampte. Wie so viele andere Dinge auch. Hastig durchwühlte sie ihre Tasche: Bürste, Taschentücher, Kopfschmerztablette, Kondome, Block, Kugelschreiber, Portemonnaie. Und der Haustürschlüssel. Gott sei Dank! Nur leider tauchte das vermisste Handy auch jetzt nicht wieder auf. Das wäre ja auch zu schön gewesen.

Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie fast nichts mitgenommen. War kopflos davongerannt, zu Fuß, statt den Motorroller zu nehmen. Einfach weg. Und das hatte sie jetzt davon.

Eine halbe Stunde hockte sie in glühender Hitze an der Haltestelle, ehe sie der Bus aus dem vertrockneten Niemandsland, das sich großspurig Industriegebiet nannte, bis zum Bahnhof von Waldfelden schaukelte. Von dort gab es eine direkte Verbindung nach Frankfurt, und das bedeutete: Zugang zu ihrer verlassenen Wohnung, zu ihrem Computer, zu ihrer Wäsche und ihrem eigenen Badezimmer. Wie sie sich nach einem Wannenbad sehnte! Mit etwas Glück konnte sie den ganzen Nachmittag ungestört und unbemerkt bleiben, solange Heiko in der Praxis arbeitete.

Eine weitere halbe Stunde später schlich sie wie ein Dieb die vertraute Straße entlang, fühlte sich fremd; ein Eindringling zwischen all den geregelten Existenzen und deren gepflegten Häusern. Obwohl sie noch vor wenigen Tagen ganz selbstverständlich dazugehört hatte. Vor der Wohnungstür blieb sie einen Moment stehen und lauschte. Stille umfing sie und die gewohnte Kühle, die vom Marmorboden des Flures und von den grob verputzten Wänden ausging. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, entspannte sie sich ein wenig. Wie in Trance ging sie von einem Zimmer zum anderen, blieb vor der Couch stehen, atmete tief durch.

Schließlich nahm sie eines der Bilder vom Regal im Wohnzimmer und sank auf den Fußboden. Sylt im letzten Sommer. Sie beide strahlten in die Kamera. Im Hintergrund das Meer, der Strand, die untergehende Sonne. An dem Abend hätte er ihr beinahe einen Heiratsantrag gemacht. Sie wusste es genau, obwohl es nicht dazu gekommen war. Etwas, das sie nicht näher bestimmen konnte, hatte sie damals dazu gebracht, die romantische Stimmung zu zerstören. Vielleicht war es die Angst vor der Antwort gewesen. Bis heute hatte sie es nicht geschafft, ihren Wohnsitz auf die gemeinsame Adresse umzumelden. Schlamperei oder Vorahnung? Sie konnte es nicht sagen. Vorsichtig strich sie mit dem Zeigefinger über Heikos zerzauste Haare, als könnte er es spüren. Der Druck hinter ihren Augen ärgerte sie. Verfluchte Melancholie!

Sie stellte das Bild zurück an seinen Platz. Heiko hatte nichts verändert. Alles sah aus wie immer. Auf dem Nachttisch lag noch der aufgeschlagene Roman, in dem sie zuletzt gelesen hatte. Mittwochabend, vor dem verhängnisvollen Donnerstag. Es war nicht zu übersehen, dass ihre Beziehung für Heiko noch längst nicht abgeschlossen war. Trotz allem. Eine Nacht, was bedeutete das schon? War es das wert, alles infrage zu stellen? Im ersten Zorn war die Sachlage einfach gewesen und klar – für sie beide. Und jetzt? Sie hatte es in der Hand. So wie jedes Mal. Mit Heiko Frieden zu schließen war leicht. Ihr Blick glitt über das Bett. Fünf Jahre Sicherheit, Geborgenheit und Liebe – mit gelegentlichen Ausrutschern.

Langsam öffnete sie die Schranktür und zog die Reisetasche heraus.

*

Arno Kessler telefonierte auf zwei Apparaten gleichzeitig. Eine Angewohnheit, die Torge ebenso sehr hasste wie Haare im Waschbecken oder labbrigen Kaffee. AK fühlte sich dabei wohl und wichtig und ganz besonders kompetent. Vor allem, wenn es sich so wie jetzt um Terminabsprachen mit der Sekretärin des Landtagsabgeordneten Gottfried Puchinger und Staatsanwältin Silvia Eichhorn handelte.

Kriminalhauptkommissar Kessler war mächtig scharf auf Prestige und hechelte sabbernd jeder Gelegenheit hinterher, die ihn ein Stück weiterbringen konnte auf der Jagd nach dem nächsten imaginären Sternchen für die Schulterklappe seiner Uniform. Torge war sich sicher, dass AK vor jedem Vorgesetzten schwanzwedelnd auf dem Buckel liegen würde, wenn er sich damit einen Vorteil verschaffen könnte. Die bildliche Vorstellung versüßte ihm die auferlegte Wartezeit auf der Türschwelle.

»Selbstverständlich, Frau Staatsanwältin; umgehend, ja. Stante pede, wie wir Lateiner sagen!«, säuselte Kessler nach links in die Sprechmuschel, um das Gespräch dann mit einem butterweichen »Sekündchen, bitte« zu unterbrechen. »Wann sagten Sie?«, fragte er nach rechts, warf Torge einen geheuchelt entschuldigenden Blick zu und schleimte munter weiter. »Auf dem Tennisplatz? Gar kein Problem. Selbstredend. Stehe zur Verfügung. Jederzeit.«

Torge beobachtete, wie sein Vorgesetzter auf Zeit Telefone und Organizer jonglierte. Vor seinem geistigen Auge sah er dabei eine haarige Rute im Dauereinsatz rotieren. Eigentlich bedauerte er es nicht, dass er dessen Job diesmal nicht bekommen hatte. Es folgte noch eine weitere servile Phrase zum Abschied in beide Richtungen, dann winkte AK den Bittsteller Torge Hansen gnädig zum Rapport. Da ihm immer noch der Schlafmangel in den Knochen steckte, beschloss Torge, ihm für heute den Triumph zu gönnen. Das Gefummel mit den Handydaten war nervig genug. Weitere Reibereien konnte er nicht gebrauchen. Wenn man ihn schon zum Laufburschen fürs Grobe erklärte, dem man diplomatisches Vorgehen nicht zutraute, dann sollte auch keiner von ihm erwarten, dass er selbstständige Entscheidungen traf. Er würde sich jeden einzelnen verfluchten Handgriff absegnen lassen. Er würde brav kooperieren und Arno Kessler den ganzen Ruhm zugestehen. Er würde helfen, AKs Beförderung voranzutreiben. Vielleicht war das die einzige Methode, sich ihn auf Dauer vom Hals zu schaffen. Misskamp war noch zu jung, um auf dessen Job zu spekulieren, was bedeutete, dass eine Beförderung Kesslers mit einer Versetzung verbunden sein musste. Wenn es nach Torge ging, möglichst schnell und weit weg. Er war gewillt, persönlich die Rakete zu zünden, mit der AK sich in höhere Sphären katapultieren konnte. Sie ihm auf den Rücken zu binden, wenn alles glatt lief. Und sie sonst wohin zu schieben, wenn nicht.

*

Freiheit! Genauso fühlte es sich an, und genau jetzt war sie bereit, das Gefühl zuzulassen. Der warme Wind wirbelte ihr die Haare um den Kopf, sauste in ihre Nasenlöcher, nahm ihr ab und zu die Luft oder die Sicht, wenn eine der Strähnen sich quer über die Augen legte. Es war Dorothee von Herzen gleichgültig. Der Helm baumelte nutzlos am Lenker ihrer Vespa. Sie wollte die Geschwindigkeit spüren und vielleicht auch ein bisschen die Gefahr. Nur für ein paar Minuten. Ein neues Leben lag vor ihr. Ohne Heiko, aber mit ihrer briefkastengelben Vespa. Und mit neuen Bekannten auf dem Campingplatz.

»Wir sind hier alle wie eine große Familie«, hatte Guntram ihr beim Einzug erklärt und sie väterlich in den Arm genommen. »Jeder passt auf den anderen auf und hilft. Musst nur die Tür aufmachen und rufen – so schnell kannste gar nicht gucken –, und dein Problem ist erledigt!«

Die weiteren Vorzüge, die er aufzuzählen wusste, waren an ihr abgeprallt, wie Gummibälle an Beton. Erst als er den See erwähnte, hatte sie kurz wieder aufgehorcht.

»Fünf Minuten durch den Wald, sauberes Wasser, und warm ist es auch. Baden ist halt verboten, weil sie am anderen Ende immer noch baggern. Interessiert aber keinen. Kontrolliert wird’s auch nicht.« Die Aussicht gefiel ihr, bis Guntram den Haken erläuterte. »Du musst nur aufpassen wegen der Nackedeis. Wenn du Angst hast vor alten Faltensäcken, so, wie ich einer bin, dann darfst du nicht in die Schilfwiese. Dort spannen die, wenn die jungen Leute am Poppen sind. Also, ich nicht, damit wir uns richtig verstehen. Da würde mir meine Madame Ärger machen.«

Schon wieder Sex. Und dann auch noch mit Spannern garniert. Das wollte sie sich lieber nicht vorstellen. Dann schon eher den Ärger mit der Madame. Die hörte auf den Namen Hiltrud, trug mit Vorliebe einen Freizeitanzug aus Ballonseide – lila-violett gestreift –, püschelige Pantoletten in der gleichen Farbe und dazu Rudi. Die Miniaturausgabe eines Pudels thronte ganztägig auf ihrem Arm.

Seufzend stellte Dorothee sich der Realität. Zwischen Autobahnauffahrt und Bundesstraße, Waldrand und Feldern, unweit des illegalen Badesees, an dessen Ufern Spanner lauerten und in dem jedes Jahr betrunkene junge Männer ihr Leben verloren, sollte also ihr neues Leben beginnen. Nun denn. Schlimmer konnte es wohl nicht mehr werden.

Immerhin hatte sie ihren Laptop wieder, wenn schon das dämliche Handy nirgendwo in Heikos Wohnung zu finden gewesen war. Heikos Wohnung. Nicht mehr ihre. Ja, das hörte sich richtig an. Und darum war es auch konsequent gewesen, nur das Allernötigste an Wäsche mitzunehmen und alles, woran Erinnerungen klebten, dort zu lassen.

Im Internetcafé war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass die, die sich im Netz Freunde nannten, nicht einmal bemerkt hatten, dass sie eine Woche lang nicht da gewesen war, und hatte mit wenigen Klicks reinen Tisch gemacht. Sie drehte den Gashebel bis zum Anschlag. Die Enden ihres Schals flatterten hinter ihr wie züngelnde Flammen. Wenn es nur im normalen Leben auch so leicht wäre, die Festplatte von Altlasten zu befreien.

*

Der Sommer steuerte auf den längsten Tag des Jahres zu, aber Torge wartete auf die Nacht. Und jede Nacht wartete er auf das Klingeln des Telefons und auf den Schlaf. Stunde um Stunde. Natürlich hätte er selbst zum Hörer greifen können. Fragen, wie es ihr ging, und beteuern, dass bei ihm alles in Ordnung war. Aber sie hätte gewusst, dass er log. Sie spürte es immer. Und dann hätte er zugeben müssen, dass er auch jetzt, nachdem sie ein halbes Jahr fort war, kein eigenes Leben führte, außerhalb seiner Arbeit.

Er war nicht zum ersten Mal allein. Eigentlich war das für ihn der Normalzustand. Er hatte verdammt noch mal kein Recht, sie weiter damit zu belasten.

Durch das geöffnete Fenster trug ein leichter Luftzug den Atem der Stadt herein. Benzin, Musikfetzen, den Geruch von frischem Kebab und unzweideutige Geräusche aus der Wohnung nebenan.

Torge klaubte eine Handvoll Münzen, einen Geldschein und den Schlüsselbund vom Tisch, stopfte alles in die Tasche seiner Jeans und ging. Die Nacht war noch lang.

Donnerstag

Auf den Fluren des Polizeipräsidiums kündigten Schritte und Stimmen den Beginn des neuen Arbeitstages an. Er hatte die Morgendämmerung gesehen und den Sonnenaufgang um Viertel nach vier. Gähnend richtete Torge sich auf und streckte die Glieder, sein Blick wanderte über die Wände. Hier fühlte er sich wohl, auch wenn der Raum im Grunde den gleichen abwaschbaren Charme verbreitete wie sein altes Klassenzimmer in der Gesamtschule. Am Gehäuse seines Computers klebten ein paar Notizzettel mit Durchwahlnummern und der Wochenspeiseplan der Kantine. Was man eben so brauchte. Auf dem Schreibtisch gegenüber stand eine ganze Bilderserie in unterschiedlichen Rahmen: Frau, Kinder, Urlaubsschnappschüsse. Am Computer hingen drei Postkarten von Freunden, und über dem Sideboard mit den aktuellen Fallakten pappten bunte Zeichnungen, datiert mit dem jeweiligen Alter des verantwortlichen Sprösslings.

Eilig senkte er den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die ausgedruckten Listen der in Raymond Jarrs Handy gespeicherten Telefonnummern und Kalendereinträge. Sekunden später öffnete sich die Tür.

»Das glaube ich jetzt nicht!« In Roland Brunners Augen spiegelte sich echte Überraschung. »Du hier – und das noch vor acht Uhr?«

Torge verzichtete darauf, seinem Kollegen einen guten Morgen zu wünschen. Den hatte er sicher schon gehabt, am heimischen Frühstückstisch. »Mach neuen Kaffee und dann ran an die Arbeit«, brummte er. »Der Bursche überfordert mein Vorstellungsvermögen.«

Rollo schüttelte die Thermoskanne und schaute über Torges Schulter. »Wieso – was hast du da?«

»Frauennamen. So weit das Auge reicht. SMS mit Lobeshymnen und Danksagungen – aber nicht von ihm. Die Weiber müssen ihm fast die Bude eingerannt haben. Wenn man ihnen Glauben schenkt, war der Typ ein echter Sexgott.«

»Ein toter Sexgott.« Rollo hob abschätzig die Achseln. »Da habe ich lieber ein paar Weiber weniger.« Er zog seinen Stuhl näher und setzte sich.

»Was ist mit dem Kaffee?«

»Später. Du kriegst sonst noch einen Herzinfarkt; kommst langsam ins kritische Alter, und Bewegung hast du auch zu wenig.« Freundschaftlich bohrte Rollo einen Zeigefinger in Torges Bauch, der im vergangenen Jahr an Umfang zugelegt hatte. Zwar nicht wirklich bedenklich, aber mehr, als ihm selbst zusagte. Rollo hatte schon einen Schuss vor den Bug einstecken müssen. Die Diagnose Diabetes hatte ihn völlig überraschend kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag getroffen und sein Leben grundlegend umgekrempelt. Fünfundzwanzig Kilo hatte er abgespeckt. Gemüse statt Burger und Langstreckenlauf statt Fernsehfußball waren seitdem angesagt.

»Ich konnte nicht schlafen, bin schon zwei Stunden hier«, erklärte Torge kurz. »Nachdem Jarrs Nachbarn gestern ja alle erzählt haben, dass er ein ruhiger unauffälliger Mensch war, können wir davon ausgehen, dass er die Damen nicht zu sich nach Hause eingeladen hat. Das hätten die sicher bemerkt. Jetzt habe ich versucht, zu jeder Telefonnummer einen Namen zu finden und die SMS-Nachrichten und Kalendereinträge zusammenzusortieren. Aber ich finde nicht für alle Übereinstimmungen.« Er zupfte an seiner Nasenspitze herum und gähnte.

»Du solltest was gegen deine Schlafstörungen tun. Das geht jetzt schon seit Montag so. Und vier Tage hintereinander …«

»Vergiss es, Mutti. Das geht von selbst vorbei.« Torge verbiss sich ein zynisches Auflachen. Vier Tage. Rollo hatte keine Ahnung. Was er sah, war nur die Spitze des Eisbergs. »Ein bis zwei Wochen, dann ist alles wieder in Butter.«

»Na von mir aus, dann behalte eben für dich, was los ist.« Sichtlich skeptisch wandte Rollo sich den Kalendereinträgen zu. »Verstehe ich das richtig, dass Raymond Jarr die meisten Frauen nur ein- oder zweimal getroffen hat?«

»Jepp. Sehe ich auch so. Entweder hat der sich selbst im Nebengewerbe als Callboy vermietet oder dauernd einen neuen Kick gebraucht. Auf der Suche nach was Festem war er garantiert nicht.«

»Dann werde ich mich gleich um seine Bankgeschäfte kümmern. Auf den ersten Blick war da zwar gestern nichts Auffälliges, aber vielleicht kann mir einer der Berater mehr erzählen. Wenn er sich wirklich noch was dazuverdient hat, muss ja irgendwo ein Hinweis auf die Kohle zu finden sein. Ein Schließfach mit Bargeld zum Beispiel.«

»Frag Florian, der nimmt sich heute sowieso den Computer vor, der in der Wohnung stand.« Torge warf einen überflüssigen Blick in die leere Kaffeetasse. »Ich darf gar nicht dran denken, wie viele heiße Bräute er im Netz womöglich noch entdeckt, die ich dann überprüfen muss.«

»Sieh das Ganze mal so: Marschall wühlt sich durch Bits und Bytes, ich schlag mich mit trockenen Bankdaten und Schlipsträgern rum, AK in persona gibt sich die Obduktion, und du darfst mit der holden Damenwelt telefonieren oder ihnen Hausbesuche abstatten. Jetzt behaupte bloß nicht, du hättest es schlecht getroffen!«

Der Gedanke, dass Kessler den Termin bei der Leichenöffnung übernommen hatte, zauberte ein Lächeln auf Torges Gesicht. »Ach ja – AK in Grün in der Gerichtsmedizin. Das rettet meinen Tag. Er tut sich das nur an, weil Professor Radeberger den Mann auf dem Tisch hat.«

»Ein eitler Affe.«

»Welchen meinst du nur damit? Die Koryphäe am Skalpell oder unser Allzweckzäpfchen?«

Rollo legte die Stirn in ordentliche Querfalten und überlegte kurz. »Kannst du dir aussuchen. Die zwei Koniferen haben einander jedenfalls verdient.«

»Jetzt hätte ich fast die Staatsanwältin vergessen, Rollo! Die macht den Termin perfekt. Wegen der ›nicht auszuschließenden politischen Dimension‹ wird das Eichhörnchen unmittelbar neben AK zu finden sein.« Auch die Staatsanwältin war ehrgeizig und konnte eine ziemliche Nervensäge sein, der nichts jemals schnell genug ging.

»Ich weiß nicht, was dabei schlimmer ist: der Geruch aus der offenen Bauchhöhle oder das Parfüm von der Eichhorn.«

»AKs Aftershave«, mutmaßte Florian Marschall, der gerade hereinkam. »Ihr solltet lieber die Tür zumachen, wenn ihr ablästert.«

»Ich wüsste wirklich niemanden, zu dem ›Aftershave‹ besser passt. Hat mal jemand in Arnos Anzugtasche geguckt? Ich wette, der hat den Rasierer und das Gleitgel immer dabei. Damit er jederzeit noch schnell ein paar Haare von irgendwelchen Arschbacken kratzen kann, um dann elegant reinzuflutschen.«

»Boah!« Rollo sprang auf und schüttelte sich. »Jetzt geh ich freiwillig Kaffee kochen. Manchmal bist du echt widerlich, Torge.«

»Danke. Ich gebe mir auch wirklich Mühe.«

*

Schon morgens um halb elf staute sich die Hitze hinter der großen Glasscheibe im Büro der Platzverwaltung. Die Sonne brachte unbarmherzig die gleichmäßigen waagerechten Schmierstreifen zum Vorschein, die belegten, dass tatsächlich jemand versucht hatte, das Fenster sauber zu halten. Völliger Quatsch.

Dorothee verspürte jedes Mal, wenn sie davor wartete, große Lust, mit dem Finger einen Kommentar darauf zu malen. Direkt vor dem Fenster bremsten die Autos der Camper auf grobkörnigem Kies, um sich die Schranke zur Einfahrt öffnen zu lassen. Begleitet von einer feinen staubigen Wolke, die sich auf dem Glas niederschlug. Ein Schiebeelement öffnete das Büro nach außen, sodass bequem wie an einem Drive-in-Schalter verhandelt werden konnte. Außerdem diente das Büro als Minikiosk, an dem man die Tageszeitung, klebrige Gummitiere, leicht zerlaufene Schokoriegel und zu kalt gelagertes Eis am Stiel erstehen konnte. Folglich unterbrachen Finger- und Nasenabdrücke die Putzstreifen an der Stelle, an der die Süßigkeiten gut sichtbar in der Sonne schmorten.

Unfrisiert, in Flipflops und Bademantel, stand Dorothee inmitten der fragwürdigen Leckereien, lauschte am Telefon Grits munterer Stimme und hoffte inständig, dass sie niemand so zu Gesicht bekam. Hanne, die Frau des Platzwartes, hatte sie vor wenigen Minuten mit deftigen Faustschlägen gegen die Tür aus dem Schlaf gerissen und zum Telefon geschleift. Nachdem Dorothee ihre frisch entdeckte Freiheit am Abend zuvor mit sich selbst gefeiert hatte, war ihr das Aufstehen nicht eben leichtgefallen. Entsprechend fühlte sie sich Grits Fröhlichkeit nicht gewachsen, registrierte nur die Hälfte von dem, was diese erzählte, und antwortete einsilbig und zurückhaltend. Hanne saß nur wenige Zentimeter neben dem Apparat und machte nicht den Eindruck, dass sie sich um Diskretion bemühte.

»Also bleibt es dabei: Wir gehen heute Abend wie geplant wieder ins Jerome?«

Dorothee überlegte angestrengt. Da war etwas. Etwas, was sie verdrängt hatte. Sehr gründlich. Draußen knirschte es ausgiebig, eine Dreckwolke wirbelte auf, dann verdeckte ein Wohnmobil die Aussicht auf Hannes Geranientöpfe auf der gegenüberliegenden Seite der Zufahrt. Dorothee klappte den Schalkragen des Bademantels hoch, als könnte sie sich in dem flauschigen Kleidungsstück verstecken. Sie zog das Kabel des Telefons lang, drehte dem Fenster den Rücken zu und suchte Deckung hinter einem Regal. Hanne trollte sich jetzt nach draußen, um dem wartenden Wohnmobil einen Standplatz zuzuweisen. Die Fensterhöhe des Gefährts harmonierte wohl nicht mit ihrem Tresen, überlegte Dorothee.

Tresen. Theke. Bar.

Das war es. Sie stöhnte auf. »Ich kann da unmöglich hingehen«, flüsterte sie gepresst.

»Heißt das, du willst dich wieder mit Heiko versöhnen? Wäre nicht die blödeste Idee …«

»Nein, das heißt es nicht. Es ist nur so, dass er – du weißt schon wer …« Sie stockte. »Ich kann da einfach nicht hin!«

»Du hast Angst, dem dunklen Lord zu begegnen? Warte – oh mein Gott –, das ist es: Er will dich wiedersehen! Du willst ihn wiedersehen? Ihr habt für heute Abend ein zweites Date ausgemacht? Ich fasse es nicht!«

Dorothee schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen das Regal, aus dem es nach muffigem Papier roch.

»Er wird nicht kommen«, sagte sie tonlos.

»Und wieso nicht?«

Sie drückte die Nase gegen eine Schraube, bis es wehtat. Dabei sah sie sein Gesicht vor sich – dunkle Augen, weiche, volle Lippen –, fühlte seinen Atem auf ihrem Gesicht, seine glatt rasierte Haut unter ihren Händen und fröstelte.

»Er wird nicht kommen, ich weiß es einfach. Okay?«

»Nö. Finde ich gar nicht okay. Außerdem, wenn du weißt, dass er nicht kommt, wo ist dann das Problem? Dann gucken wir ein bisschen Männer an und tanzen eine Runde und trinken einen Cocktail. Und wenn du willst, erzählst du mir endlich, was genau letzte Woche passiert ist, nachdem du die ganze Woche geschwiegen hast und nicht mal an dein Handy gehst. Und wenn du nicht willst, dann schweigst du eben weiter darüber, warum du nicht zurück zu Heiko gehst und warum du Black-Magic-Ray trotzdem nicht wieder treffen willst. Obwohl ich das beim besten Willen nicht begreifen kann. Ich meine, wenn es doch aus ist mit Heiko, was spricht dagegen, die heißeste Nacht deines Lebens zu wiederholen? Und wer weiß, vielleicht …«

»Er ist tot, Grit.« Dorothee presste die Augenlider fest aufeinander, bis kleine Sternchen über ihre Netzhaut tanzten.

»Was? Um Himmels willen …«

»Nein, nicht so tot«, verbesserte Dorothee sich hastig. »Nur für mich gestorben, erledigt, abgehakt. Es ging nur um den Augenblick.«

Die Bilder in ihrem Gedächtnis straften sie Lügen, und sie riss die Augen schnell wieder weit auf. Fast eine Woche hatte sie jede Erinnerung erfolgreich ausgeblendet. Keine Details. Sie hatte Heiko betrogen. Wieder einmal. Und er hatte sie erwischt, noch bevor sie beichten konnte. Es war das berühmte eine Mal zu viel gewesen. Stumm hatte sie seine Vorwürfe geschluckt. Seine Wut verstanden, die größer war als je zuvor. Die Demütigung, die sie ihm zugemutet hatte, war zu viel. Sie wollte ihn nicht mehr verletzen, nie wieder. Es hatte keinen anderen Weg gegeben, als es zu beenden. Alles. Endgültig.

»Und wieso habt ihr dann eine Verabredung für heute?«, bohrte Grit weiter. »Du redest Schwachsinn, Dorothee.«

»Und du verstehst mit Absicht alles falsch!«

Dorothees Hände zitterten wie unter Schüttelfrost, obwohl sie sich am liebsten den Bademantel vom Leib gerissen hätte, in dem sie plötzlich zu ersticken meinte. Sie durfte nicht damit rechnen, dass Grit einfach aufgab. Aus deren Sicht war der Fall klar.

Dorothee bemühte sich, die Argumente objektiv zu betrachten. Gar nicht so einfach. Ihr Verstand war offensichtlich ebenso auf der Strecke geblieben wie ihre Beziehung. Sie knirschte resignierend mit den Zähnen. Es gab nichts mehr zu verlieren und nur einen Weg, Grits Fragerei zu beenden und weiter einen Teil der Wahrheit für sich zu behalten.

»Also gut. Du hast gewonnen. Machen wir uns schön und mischen die Männerwelt auf. Aber nur ein bisschen. Ich habe nicht vor, mein Leben noch komplizierter zu machen, als es sowieso schon ist.«

»Ist das ein Keuschheitsgelübde?«

»Für heute Abend garantiert.«

»Und wenn Raymond doch da ist?«