Dort, wo die Liebe beginnt - Gudrun Leyendecker - E-Book

Dort, wo die Liebe beginnt E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Johanna will ihr Leben verändern, aber sie ist sich noch nicht sicher, wie alles weitergehen soll. Gerade in dem Moment erhält sie die Einladung ihres Onkels Apollo, der auf einem Gutshof eine moderne Künstlerkolonie eingerichtet hat. Da tun sich plötzlich für die junge Frau neue Möglichkeiten auf. Künstler, die ihr auf dem Gut Fontana begegnen, zeigen Johanna neue Wege.

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Gudrun Leyendecker ist seit 1995 Buchautorin. Sie wurde 1948 in Bonn geboren.

Siehe Wikipedia.

Sie veröffentlichte bisher über 80 Bücher, unter anderem Sachbücher, Kriminalromane, Liebesromane, und Satire. Leyendecker schreibt auch als Ghostwriterin für namhafte Regisseure. Sie ist Mitglied in schriftstellerischen Verbänden und in einem italienischen Kulturverein. Erfahrungen für ihre Tätigkeit sammelte sie auch in ihrer Jahrzehntelangen Tätigkeit als Lebensberaterin.

Inhaltsangabe:

Johanna will ihr Leben verändern, aber sie ist sich noch nicht sicher, wie alles weitergehen soll. Gerade in dem Moment erhält sie die Einladung ihres Onkels Apollo, der auf einem Gutshof eine moderne Künstlerkolonie eingerichtet hat. Da tun sich plötzlich für die junge Frau neue Möglichkeiten auf. Künstler, die ihr auf dem Gut Fontana begegnen, zeigen Johanna neue Wege.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

1.Kapitel

Habt ihr auch schon einmal festgestellt, dass in eurem Leben nicht alles so läuft, wie ihr es euch vorstellt?

Genau an diesem Punkt bin ich jetzt angekommen und habe in den letzten Tagen ziemlich oft nachgegrübelt, wie meine Zukunft aussehen soll.

Mitten in all diese Fragen hinein rief mich mein Patenonkel Apollo an, der einen idyllisch gelegenen Gutshof besitzt, in dem er unter anderem auch Künstlern eine wohnliche Atmosphäre bietet.

Deswegen befinde ich mich jetzt in einem voll beladenen Auto auf der Autobahn gen Süden und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Du kannst erst einmal ein paar Wochen Urlaub bei mir verbringen“, hat mir mein Onkel beim letzten Gespräch vorgeschlagen. „Es wohnen ein paar sehr nette junge Leute bei mir, die mich mit ihren Talenten in Erstaunen versetzen und erfreuen. Wenn du magst, kannst du dich ein wenig mit ihnen befassen, aber wenn du dazu keine Lust hast, steht dir hier ein großer Paradiesgarten zur Verfügung, in den du dich zurückziehen kannst wie in ein Kloster. Es ist also sowohl für Ruhe als auch für Abwechslung gesorgt. Und wenn du dich einmal ausweinen willst, habe ich ein offenes Ohr für dich.“

Ich bin zwar nicht begeistert von seinem Vorschlag, aber es spricht auch nichts dagegen, seinem Rat erst einmal zu folgen.

Immerhin war Onkel Apollo schon früher ein guter Zuhörer und Tröster. Für jede Situation hatte er ein Zauberpflaster und ein liebevolles Wort parat. Und wenn gar nichts anderes mehr half, nahm er mich in seine großen, beschützenden Arme.

Und mein Leben? Mein derzeitiger Beruf kommt mir vor, als habe mich jemand dazu verdammt, meine Zeit einfach nur totzuschlagen. Die letzte Partnerschaft ließ Enttäuschungen und Verletzungen zurück, die ich gerade mühsam verarbeite.

Also kann es in La Fontana, wie mein Onkel sein Anwesen getauft hat, nur besser werden.

Einmal, als ich klein war, habe ich ihn gefragt, warum er seinem Gut diesen Namen gegeben hat.

Er meinte, dieser Name sei sehr symbolisch für seine Wirkungsstätte, denn er bedeute „Die Quelle“, und alle schönen Dinge des Lebens hätten dort bei ihm seinen Ursprung.

Tante Helene, seine geschiedene Frau, behauptet allerdings stets, dass ihr Exmann sich dort wie ein allmächtiger Gigant fühle, weil er sich am Ende der Welt in seiner Hazienda mit verkrachten Existenzen umgäbe.

In wenigen Stunden werde ich mir selbst ein Bild darüber machen können, und ehrlich gesagt, ich freue mich schon auf etwas Abwechslung, egal, was da kommt.

2. Kapitel

Onkel Apollo sieht noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Seine breite Figur sieht immer noch aus wie ein kleiner Schutzwall, und sein rundlicher Bauch fühlt sich bei der Umarmung wie das bunte, weiche Kissen an, dass er mir früher vor dem Zu-Bett-gehen aufschüttelte.

Die freundlichen Augen, aus denen das Herz lächelt, sehen mich prüfend an. „Du kannst ein paar Tage Erholung gebrauchen“, stellt er fest. Und Abwechslung wirst du genug haben, denn bei mir wohnen Künstler jeden Alters.“

„Ich bin erst mal froh, bei dir zu sein“, antworte ich ihm mit Überzeugung und genieße seine väterliche Umarmung.

„Das hoffe ich“, antwortet er munter. „Trotzdem könntest du viel verpassen, wenn du dich immer nur zurückziehst. hier leben Musiker, Maler, Schriftsteller, Schauspieler, Bildhauer und Erfinder. Ich kann jeden Tag viel von ihnen lernen.“

„Das ist schön für dich“, freue ich mich. „Dann fühlst du dich bestimmt gut. Sind das alles Lebenskünstler?“

Er sieht mich nachdenklich an. „Ich will nicht zu viel verraten. Aber selbstverständlich ist es wichtig, dass du dich erst einmal erholst. Siehst du dort die junge Frau?“

Mein Blick folgt der Richtung seines Zeigefingers. „Ist sie auch eine Künstlerin? Sie sieht sehr hübsch aus.“

Er lächelt und nickt. „Sie hat große Talente und kocht und bäckt in der Küche. Das ist Linda, und sie wird dich ein bisschen betreuen. Du kannst gleich mit ihr gehen und dir dein Zimmer anschauen.“

Ich sehe ihn erstaunt an. „Da hast du ja einen besonders guten Fang gemacht. Ich weiß doch, wie sehr du gutes Essen schätzt. Wie hast du sie gefunden?“

Onkel Apollo schmunzelt. „Das ist eine lustige Geschichte. Sie war die Erste, die zu mir kam. Ich entdeckte sie vor einem sehr exquisiten Café. Ganz in das Schaufenster vertieft blickte sie sehnsüchtig auf ein Petit Four. Ich sprach sie an und lud sie zu Kaffee und Kuchen ein, hatte aber erst nach langem Bitten und Betteln Erfolg. Drinnen verriet sie mir, dass sie diese kleinen Köstlichkeiten gern selbst herstellt, aber keine Küche dazu hat, und so kamen wir bald in weitere Gespräche.“

„Dann ist sie also Konditorin von Beruf?“ schließe ich aus seinen Worten.

„Nein, das hat sie sich alles selbst angeeignet, weil sie das Kochen und das Backen so sehr liebt. Sie ist Journalistin und schreibt für eine Zeitung.“

„Veröffentlicht sie vielleicht ihre Rezepte dort?“ erkundige ich mich interessiert.

„Nein. Ihre Rezepte bleiben ihr Geheimnis. Sie schreibt Gedichte, die im Feuilleton veröffentlicht werden.“

„Was für eine Kombination!“ staune ich. „Sie erfindet Plätzchen-Rezepte und schreibt Poesie.“

Er führt mich zu Linda. „Sie meint, das sei sich sehr ähnlich, denn sie lasse sich die Worte auch alle auf der Zunge zergehen wie eine ihrer köstlichen Pralinen.“

„Das muss sie mir unbedingt erzählen“, finde ich. „Hört sich spannend an. Ich bin schon ganz neugierig, sie kennenzulernen.“

„Dazu wirst du jetzt und in den nächsten Tagen Gelegenheit haben“, verspricht er mir und stellt mir die junge Frau vor.

„Dies ist meine Lieblingsköchin, und alles, was sie zubereitet, wird von ihr mit Liebe hergestellt. Ist es nicht so?“ fragt er Linda.

Sie reicht mir die Hand und lächelt. „Dein Onkel hat Recht. Mein Hobby ist Herzenssache, und es gibt nichts Schöneres als gut schmeckende Kompositionen zu entwerfen, um den Gaumen der Menschen zu erfreuen. Wundere dich nicht, wenn ich etwas geschwollen rede, ich liebe es, die Worte nach meiner Wahl in melodischen Sätzen zu verbinden. Worte klingen in meinen Ohren wie Lieder, sie haben einen Rhythmus, sie haben eine Melodie, und man kann sie ganz gezielt für eigene Zwecke einsetzen.“

„Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, gestehe ich ihr. „Es hört sich aber vielversprechend an.“

Mein Onkel entfernt sich, und Linda führt mich durch die riesige Halle in einen Nebentrakt des großen Gebäudes. „Es ist im wahrsten Sinne des Wortes vielversprechend“, verrät mir die junge Frau. „Nicht weit von hier wohnt Venere, eine Frau mittleren Alters. Sie hat von ihrer Tante ein kleines Schloss geerbt, das sie mit sehr viel Sorgfalt renoviert und liebevoll behütet. Dein Onkel ist mit ihr gut befreundet, sie treffen sich fast jeden Tag, um sich gemeinsam an langen Spaziergängen zu erfreuen.

Venere hat nicht nur das Schloss geerbt, sondern auch ein großes Barvermögen. Von einem Teil dieses Geldes veranstaltet sie jedes Jahr einen Wettbewerb, und sie lobt Preise aus.“

„Das hört sich interessant an“, finde ich und folge ihr. „Es gibt also noch mehrere Köche und Konditoren hier?“

„Nein, ich bin die Einzige. Und der Preis wird nicht nur für Gedichte, Kuchen und Gerichte weitergegeben, sondern für Erfindungen oder Kunstwerke. Hier machen alle mit, die im Gutshof wohnen. Da gibt es Jonas den Maler und Bildhauer, es gibt Anastasia, die Krimiautorin, und es gibt Benny, den Komponisten und John, den Pianisten. Dann gibt es noch Giacomo, den Fotografen und Larissa die Schauspielerin. Und selbst der Gärtner Lorenzo macht mit.“

Ich stöhne kurz. „Das sind eine ganze Menge Leute, die ich sehr wahrscheinlich kennenlernen werde. Darauf freue ich mich natürlich. Das sind so viele verschiedene Talente und Künste, wie will man da einen Preis für die schönste Darbietung vergeben?!“

„Donna Venere ist eine Künstlerin durch und durch, und nebenbei eine sehr sympathische Frau. Aber sie stellt nicht die Jury dar.“

„Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Wer stimmt denn dann ab?“

„Das ist jedes Jahr eine andere Jury“, verrät mir Linda. „Aus gutem Grund, wie du dir wahrscheinlich denken kannst. Denn wenn alle Teilnehmer vorher schon wissen, wer ihre Kreation bewertet, dann könnten sie versuchen, die Jury zu beeinflussen oder gar zu bestechen. Und damit alles ganz seriös abgeht, gibt es jedes Jahr eine neue Jury, die ganz kurzfristig vorher von Donna Venere ausgewählt wird.“

„Das hört sich spannend an“, finde ich. „Und wie fühlst du dich dabei? Ich nehme an, du hast dir schon einige Köstlichkeiten ausgedacht, mit denen du dich bewirbst.“

Die junge Frau nickt. „Ja, und ich bin sehr froh, dass du jetzt hierhin gekommen bist, denn ich könnte dich gut als Testerin gebrauchen.“ Mit diesen Worten führt sie mich in ein geräumiges, helles Zimmer, das mit Bauernmöbeln eingerichtet ist.

Ich sehe mich um. „Das sieht gemütlich aus. Und zu deinem verlockenden Angebot kann ich nur sagen, ich stelle mich gern zum Probeessen zur Verfügung. Das alles kommt mir vor wie ein friedliches kleines Paradies, in dem eine harmonische Familie lebt.“

„Das täuscht“, verrät mir Linda. „Wir haben alle einen weiten Weg hinter uns, bis wir uns hier gefunden haben. Meiner war sehr chaotisch, und ich habe viel kämpfen müssen.“

„Oh, das tut mir leid“, antworte ich schnell. „Ich hoffe, es konnte dir jemand dabei helfen.“

„Dein Onkel Apollo war es, der mich unterstützt hat und mir nicht nur die Augen, sondern alle Sinne öffnete. Aber das ist nichts für heute. Jetzt solltest du dich erst einmal erholen und dich vielleicht etwas frisch machen. Wenn du fertig bist, kannst du mich gern in der Küche besuchen.“

„Also gut“, gebe ich nach. „Dann will ich mich einmal fügen, wenn das einem großen Plan dient. Wahrscheinlich habt ihr hier alle schon gute Erfahrungen gemacht. Bis später also!“

3. Kapitel

In der Halle treffe ich Onkel Apollo, der gerade eine neue Skulptur in eine Ecke platziert. „Schau dir nur diese hübsche Seejungfrau an!“ wendet er sich an mich. „Ein Genie hat sie erschaffen. Ist sie nicht wundervoll?“

Ich betrachte die Figur genauer. „Sie ist wirklich aus einer Künstlerhand hervorgegangen“, sage ich anerkennend. „Wer hat sie gemacht?“

„Jonas, ein junger Maler und Bildhauer. Du wirst ihn später auch noch kennenlernen. Hast du dich schon mit Linda angefreundet?“

„Sie ist eine sehr nette junge Frau, mir ist sie sympathisch, und ich kann mir gut vorstellen, dass wir bald Freundinnen sein werden.“

„Hat sie dir auch schon etwas von sich erzählt?“ will er wissen.

„Ja, sie möchte mich gern als Testerin engagieren. Außerdem hat sie darüber gesprochen, dass du ihr sehr geholfen hast. Kann das sein, dass du hier eine ganz besondere Gemeinschaft geschaffen hast? Sind das alles Menschen, die es im Leben nicht einfach hatten?“

Er runzelt die Stirn. „Viele Menschen haben ein schwieriges Leben, häufig auch Künstler, weil sie oft sehr sensibel sind. Aber meine Mitbewohner hatten schon extreme Probleme und niemanden, der ihnen half.“

„Und Linda? Was war mit ihr? Mit welchen Problemen konnte sie nicht fertig werden?“

„Wahrscheinlich möchte sie dir das lieber selbst erzählen“, überlegt mein Onkel. „Ihre Geschichte klingt sehr privat, und möglicherweise tut es ihr sogar gut, wenn sie mit dir noch einmal darüber reden kann. Ihr beide seid in einem Alter und könnt euch sicherlich gut verstehen.“

„Also schön! Dann werde ich geduldig sein. Das Zimmer ist übrigens sehr gemütlich. Hast du es nach deinem Stil eingerichtet?“

„Nein, das hat Venere für mich gemacht. Sie ist eine gute alte Freundin von mir und hat einen sehr guten Geschmack in diesen Dingen. Sie weiß, in welchen Möbeln man sich heimisch fühlen und entspannen kann.“

„Schön, dass sie nicht nur eine nette Freundin von dir ist, sondern dir auch in solchen Dingen helfen kann. Aber diesen eigenartigen Wettbewerb verstehe ich nicht. Da machen doch so unterschiedliche Künstler mit, die völlig unterschiedliche Werke herstellen. So kann man doch niemals ein gerechtes Urteil fällen und die originellste Arbeit prämieren.“

Sein Lächeln wirkt ansteckend. „Tatsächlich gibt es für jeden einen Gutschein für ein kleines Ausbildungs-Seminar oder eine kleine Kulturreise. Aber der Hauptpreis ist tatsächlich ein Stipendium und eine 7-tägige Kulturreise in ein Land nach Wahl.“

Ich staune. „Das ist wirklich sehr großzügig. Venere scheint etwas für Künstler übrig zu haben.“

„Sie hat ein Herz für Künstler, genau wie ich. Wir selbst haben da nicht so große Talente und genau deswegen sind wir darauf bedacht, die Talente der jungen Leute zu fördern.“

„Das ist eine gute Idee“, finde ich. „Aber ich verstehe den ganzen Zusammenhang noch nicht. Du hast Menschen gefunden, die offenbar Probleme hatten. Wie bist du darauf gekommen, dass sie auch das Talent zu einem Künstler in sich tragen?“

Er lächelt mich an. „Vermutlich habe ich dafür ein besonderes Gespür. Ich habe alle als sehr sensible Menschen kennen gelernt, das ließ mich ahnen, dass sie mehr sehen und fühlen als manche anderen Menschen. Schau dir nur diese Seejungfrau noch einmal genau an“, rät er mir. „Dieser Künstler nimmt mehr wahr als ein gewöhnlicher Sterblicher. Du könntest so lieb sein, und dich einmal in diese Figur vertiefen. Vielleicht findest du auch einen besseren Platz dafür oder rückst sie ein wenig anders ins Licht“, schlägt er mir vor, streicht mir aufmunternd über den Arm und entfernt sich.

4. Kapitel

Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich dem Rat meines Onkels folgen soll. Ist es nicht viel interessanter bei Linda in der Küche? Sicher wartet sie schon auf mich. Aber wenn mich der Herr des Hauses so nett um etwas bittet, kann ich es ihm schlecht abschlagen. Welchen Grund hat er wohl, mir diesen Auftrag zu übermitteln?

Hoffentlich sind er und Venere nicht auf die Idee gekommen, mich als Jury zu bestimmen. Das wäre schlichtweg eine Katastrophe, schließlich habe ich keine künstlerischen Talente, geschweige denn Ambitionen.

Falls Onkel Apollo tatsächlich daran gedacht hat, mich auf diese Weise zu beschäftigen, muss ich ihm wohl einen Korb geben. Natürlich habe ich in der Regel einen guten Geschmack, aber über Kunstwerke zu richten, steht mir nun gar nicht zu, da ich auch nicht im Entferntesten eine Expertin bin.

Also wende ich mich der Figur zu und betrachte sie genau. Die Skulptur ist etwas größer als ihre Schwester in Kopenhagen und sitzt aufrecht in einer freudigen Erwartungshaltung.

Je länger ich die Meerjungfrau betrachte, umso mehr zieht sie mich in ihren Bann. Die glatte, nackte Haut schimmert seidig, der schlanke Mädchenkörper wirkt lebendig, so, als ob sich die Figur gleich ganz aufrichten und mir entgegenstrecken könnte. Das zarte, kindliche Gesicht lächelt mich an und beginnt eine stumme Konversation mit mir.

Während ich überlege, was sie mir erzählen möchte, spüre ich eine Gestalt neben mir und wende mich ihr zu.

Ich entdecke einen jungen Mann, der mich aufmerksam betrachtet. „Sie scheint dich zu interessieren“, spricht er mich an. „Ich hoffe, du denkst nicht, ich habe versucht, ihre Schwester in Kopenhagen zu kopieren. Herzlich Willkommen, Johanna!“

Ich schenke ihm ein Lächeln. „Du weißt also, wer ich bin, vermutlich hat mich mein Onkel bei euch allen angekündigt. Ich nehme an, dass du Jonas bist, den mir unser Herbergsvater als Maler und Bildhauer avisiert hat.“

„Ich bin so weit noch nicht, aber ich möchte ein Künstler werden, denn dein Onkel hat das Interesse an Kunst in mir wachgerufen. Und jetzt versuche ich, meine Gefühle und Gedanken zu ordnen und auszudrücken. Nereide, wie ich die kleine Seejungfrau getauft habe, symbolisiert den Neuanfang meines Lebens.“

„Deine Skulptur blickt erwartungsvoll in die Zukunft“, teile ich ihm meine Meinung mit. „Wahrscheinlich hast du Hoffnung auf ein neues, positives Leben.“

„Du bist deinem Onkel sehr ähnlich“, findet er. „Zu ihm hatte ich auch sofort Vertrauen. Ich hatte gerade eine Therapie hinter mir, die mir zwar geholfen hat, mein Trauma zu bewältigen, die mir aber noch nicht den Blick für ein Morgen ermöglichen konnte. Dann kam dein Onkel, hat mich hierhin eingeladen und mir seine Werkräume und Ateliers zur Verfügung gestellt. Ich bin ein paar Tage tatenlos herumgelaufen und habe mir alles einfach nur angesehen. Dann bin ich viel in der Natur spazieren gegangen und konnte erleben, dass sich so nach und nach meine Sinne geöffnet haben, wenn der Wald duftete und die Vögel zwitscherten. Dann kam der Tag, an dem mich eines der Ateliers angesprochen hat, und ich musste einfach irgendetwas erschaffen. Zuerst waren es noch Klumpen, später Kugeln, und danach wuchsen alle möglichen Formen und Figuren daraus. Und in meiner Fantasie entwickelte sich die Vorstellung, eines Menschen, der aus dem Wasser steigt und in ein neues Leben blickt.“

„Dann hat Wasser für dich bestimmt eine besondere Bedeutung“, vermute ich.

„Ja, ich habe etwas Fürchterliches erlebt, das mir immer wieder nachgelaufen ist, obwohl es nun schon über fünfzehn Jahre her ist.“

„Du musst nicht darüber sprechen, wenn es für dich noch zu schmerzhaft ist“, versuche ich ihm eine Brücke zu bauen, damit er dieses Thema beenden kann. Aber er hat offenbar tatsächlich Vertrauen zu mir gefasst und beginnt, mir seine Geschichte zu erzählen. „Es ist in einem Urlaub in Spanien passiert, und ich war damals erst 16 Jahre alt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie ausgelassen meine Freunde und ich den Sommer, die Sonne und das Meer genossen haben. Wir waren so unbeschwert damals und glaubten, die ganze Welt gehöre nur uns. Zu einer anderen Reisegruppe gehörten zwei junge Mädchen, die waren noch etwas jünger als wir. Wir sahen oft neugierig zu ihnen hinüber, und auch sie schauten zu uns herüber, und schienen sich über uns zu amüsieren. Die Dunkelhaarige hieß Leila und die blonde Brigitte, und die beiden waren Freundinnen. Leilas Eltern leben meist in der Umgebung des Hotels, während sich ihre Tochter mit ihrer Freundin am Strand vergnügte.

Als wir Jungen etwas später einen kleinen Schwimmwettbewerb veranstalteten, folgten uns die Mädchen ins Meer. Und jetzt kannst du dir vielleicht schon denken, was passierte?!“

„Du hast mir gesagt, es ist etwas Schreckliches passiert. Vermutlich konnten die beiden Mädchen nicht schwimmen.“

„Brigitte schaffte es spielend, mit den Wellen des Meeres zu kämpfen, aber Leila hatte plötzlich keine Kraft mehr und drohte zu ertrinken. Ich war als Erster bei ihr und brachte sie ans Ufer, aber sie war bereits bewusstlos. Natürlich leisteten wir der jungen Frau sofort erste Hilfe und riefen die Strandwache herbei, ein Rettungswagen brachte sie ins Krankenhaus, aber Leilas Zustand blieb Tage lang kritisch. Auch psychisch erholte sie sich erst nach vielen Wochen. Wie du dir denken kannst, versuchte ich, auch nach dem Urlaub den Kontakt zu ihr und ihren Eltern zu erhalten.“

„Sicher waren dir ihre Eltern sehr dankbar, dass du ihre Tochter gerettet hast“, vermute ich.

„Ihre Dankbarkeit hielt sich in Grenzen, denn sie vermuteten, dass wir die Mädchen ins Wasser gelockt hatten. Und da Leila Mühe hatte, das Erlebte zu verarbeiten, haben sie mir sogar den Kontakt zu ihrer Tochter verboten.“

„Das ist wirklich schlimm. Wie hast du dich denn dabei gefühlt?“

„Ich habe mich tatsächlich schuldig gefühlt und mich gefragt, ob die Mädchen vielleicht nur ins Wasser gekommen waren, weil wir sie dazu animiert haben. Dann habe ich mich natürlich gefragt, ob meine Rettung nicht schnell genug gewesen war, oder ob ich irgendetwas dabei falsch gemacht habe. Die anderen haben immer versucht, mich zu trösten und mir zu sagen, dass ich mir keine Schuld geben solle, aber das ist nicht so einfach, wie es scheint.“

„Hast du denn dann weiter versucht, mit Leila oder ihren Eltern Kontakt aufzunehmen?“

„Oh ja, immer wieder, über Leilas Freundin Brigitte und sogar über