Dr. Elsie Kühn-Leitz - Heide-Renate Döringer - E-Book

Dr. Elsie Kühn-Leitz E-Book

Heide-Renate Döringer

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Beschreibung

Dr. Elsie Kühn-Leitz entstammt der bekannten Wetzlarer Unternehmerfamilie Leitz, die mit ihren Produkten im Bereich der Mikroskopie und Fotografie weltberühmt wurde. Der familiäre Hintergrund erlaubte es ihr, ein Leben für Menschlichkeit und Völkerverständigung zu führen. Sie setzte sich rückhaltlos für verfolgte jüdische Bürger und Zwangsarbeiter ein und nahm dabei die Gefangenschaft im Gestapo-Gefängnis in Kauf. Nach Ende des Krieges half sie beim Aufbau des Kulturlebens ihrer Heimatstadt, kämpfte mit Adenauer für ein geeintes Europa und organisierte die frühe Partnerschaft mit der französischen Stadt Avignon. Elsie Kühn-Leitz unterstütze Albert Schweitzer und sein Hospital in Lambarene und besuchte wiederholt afrikanische Staaten in Zeiten des Umbruchs, wobei sie sich vehement für die notleidende Bevölkerung einsetzte. Ihr Leben folgte dem Motto Albert Schweitzers: Jeder hat zu helfen, wo es ihm die innere Stimme sagt. Dr. Elsie Kühn-Leitz hat genau hingehört.

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Für Heinz-Otto Döringer und Werner Michaeli † zwei bekennende Leitzianer*

Leitspruch

»Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

Die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

Aber versuchen will ich ihn.«

Rainer-Maria Rilke

Vorwort

Wetzlar – Goethe-Stadt oder Leitz-Stadt – für mich war es immer letzteres, da mein Ehemann Heinz-Otto Döringer mit der Firma Leitz eng verbunden war. Sein Großvater und sein Vater Heinrich Döringer Senior und Junior waren Buchbindermeister und Photographen mit Atelier seit 1888 in Oberursel. In den 20er Jahren des neuen Jahrhunderts eröffneten sie ein eigenes Photogeschäft und wurden ab 1930 offizielle LEICA-Händler.

Mein Mann schloss die klassische »Leitz Ausbildung« zum »Technischen Kaufmann für Feinmechanik und Optik« in dreistatt vierjähriger Lehre und Unterricht an der Werkschule LEITZ mit IHK-Zertifikat ab. Er durchlief fast sämtliche Abteilungen des Unternehmens mit je ein bis drei Wochen praktischer Mitarbeit in Produktion, Verwaltung, Verkauf und Anwendungstechnik. Neben hunderten von Mitarbeitern, Abteilungsleitern, Bereichsleitern und Mitgliedern der Geschäftsleitung lernte er, insbesondere beim Mittagessen bei »Mutti« im Casino, in der Werkschule und auf vielen Partys die Kollegen mit der gleichen Ausbildung und die Praktikanten der ausländischen Leitz-Vertretungen kennen. So fühlte er sich bald als echter Leitzianer. Viele dieser Kollegen aus dem In- und Ausland wurden zu lebenslangen Freunden. Der engste von allen war der geborene Wetzlarer Werner Michaeli. Werners Großvater war schon in der Produktion bei Leitz tätig und Vater Georg (Schorsch) Michaeli war der erfolgreiche »Technische Kaufmann« und an allen deutschen Universitäten, Hochschulen und Instituten als Repräsentant für die relevanten LEITZ-Produkte bekannt wie »ein bunter Hund«. Werner, mit der Leitz-Ausbildung in Technik, Feinmechanik und Optik, erwarb später die Firma »EMO-Optik - Arthur Seibert Produktion und Vertrieb Emoskop und Lupen«.

1961/62 musste mein Mann zum Wehrdienst, studierte danach Business Englisch in Eastbourne und London und an der Akademie für Welthandel mit dem Abschluss Exportkaufmann. Mitte der 60er Jahre kam er über die Export Abteilung Leitz und durch Gespräche mit Dr. Freund und Günther Leitz zu OPTOTECHNIK nach Wien. Von dort aus war er für den Vertrieb der wissenschaftlichen Leitz Produkte in Österreich und Osteuropa zuständig. Schwerpunkt war die Kontaktpflege auf Messen und auf vielen Reisen zu den potentiellen Anwendern, Ministerien und Abnehmern in den Ostblock-Ländern.

Die alle zwei Jahre in Köln stattfindende Photokina. Messe für Fotografie, Video und Imaging war ab den 70er Jahren ein fester Termin in unserem Familien-Kalender. Während mein Mann, als Fotohändler und Ringfoto Verwaltungsrat, stets eine ganze Woche dort verbrachte, besuchten unsere Söhne und ich am Wochenende diese faszinierende Ausstellung und kehrten dabei stets auf dem Leitz-Stand und bei Werner Michaeli EMO Optik ein.

In Wetzlar und in der umfangreichen Literatur zu den LEITZ-Werken sind die Firmeninhaber Ernst Leitz I bis Ernst Leitz III ebenso wie Knut Kühn-Leitz omnipräsent, Elsie Kühn-Leitz jedoch, die Tochter von Ernst Leitz II, wird kaum erwähnt. Allein ihr Schwiegersohn, Klaus Otto Nass, hat mit seinem Buch Mut zur Menschlichkeit dieser bemerkenswerten Frau Achtung erwiesen. Diese Lektüre hat mich fasziniert und dazu bewogen, mich einmal selbst auf Spurensuche zu begeben.

Das folgende Lebensbild zeigt eine engagierte, intelligente, mitfühlende und weltoffene Frau, für die nur der Mensch zählte, sei er Zwangsarbeiter, Gefängnisinsasse, Künstler, Staatsmann, Europäer oder Afrikaner.

Elsie Kühn-Leitz hat in ihrem Leben zahlreiche Höhen und Tiefen erlebt. Ihren Versuch der Beihilfe zur Flucht einer Jüdin, den Besuch im Gefangenenlager und die schlimme Zeit im Gestapo-Gefängnis hat sie selbst schriftlich festgehalten. Diese schrecklichen Erlebnisse werden im Buch zum großen Teil wörtlich wiedergegeben, ebenso wie die Erinnerungen von Freunden und Angestellten im Haus Friedwart. Zusätzlich bezeugen Kopien von Urkunden, Ehrenbriefen und Gedenktafeln die Anerkennung der Leistungen dieser außergewöhnlichen Frau.

INHALT

Wetzlar

I. Familiengeschichte

Auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft

II. Elsie Leitz

Kindheit in Wetzlar

Die neue Familie

III. Oskar Barnack – Vater der Leica

IV. Auf neuen Wegen

Freie Schulgemeinde Wickersdorf

Elsie als Studentin

Frankfurt - München - Berlin - Frankfurt

München

Die zwanziger Jahre in Berlin Zwischen Hörsaal und Bühne

Berlin

Wieder in Frankfurt

Die Doktorarbeit

V. Elsie Kühn-Leitz

Die Ehefrau

VI. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg

Repressalien und Judenverfolgung

Familien Heinrich und Gustav Ehrenfeld

Alfred Türk

Wieder zu Hause

Unterlagerführerin Elsie Kühn-Leitz

Ein Einsatz mit weitreichenden Folgen Der Fall Palm

Das weitere Schicksal der Hedwig Palm

Rückführungslager Pfaffenwalde

Tod der Maria Holliwata

In Gestapohaft

Im Polizeigefängnis

Ein normaler Tagesablauf

Schicksale

Gestapo-Verhöre

Extrastrafe für die Judenhelferin

Bombenalarm

Ein Ausflug in Gestapo-Begleitung

In der Nähstube

Kriegsende in Wetzlar

Berthe Krull

Dank aus aller Welt

Wetzlar erinnert

VII. Nach dem Krieg

Die Wetzlarer Kulturgemeinschaft

Gäste in Haus Friedwart

Die neue Dom-Orgel

Der wandernde Christus im 20. Jahrhundert

Im Goethe-Jahr 1949 Das Jubiläum der Leitz-Werke

Goethe zu Ehren

Das 10jährige Bestehen der »Wetzlarer Kulturgemeinschaft«

Sie war und ist der gute Geist im Musikleben der Stadt

VIII. Für ein geeintes Europa

Konrad Adenauer Ratgeber und Freund

Die Deutsch-Französische Freundschaft

Avignon – eine herrliche Partnerstadt

Freundschaftsfahrten

Ein Fest in Avignon – Die Partnerschaftsfeier im April 1960

Der Élysée-Vertrag

Bemerkenswerte Besucher Der Bundeskanzler

Albert Schweitzer in Wetzlar – 1959

IX. Elsie Kühn-Leitz

- Die Afrika-Reisende und ihr Weltbild

Elsies erster Besuch in Lambarene

Der Doktor und das liebe Vieh

Treffen mit einem Weltenbummler

Hilfe für Lambarene

Unterwegs im Namen der Menschlichkeit

Patrice É. Lumumba

Der Tod des Urwalddoktors

Beim Präsidenten Mobutu

Die Entstehung des Staates Biafra

Im Senegal 1969

X. Die letzten Jahre

Und immer wieder auf Reisen

Der fortwährende israelisch-palästinensische Konflikt

Bemühen um Zita, die Ex-Kaiserin

Der Kampf um die Lahn-Stadt

Unterwegs mit Frau Hottenrott

Teilnahme am Europäischen Seminarin Torremolinos

Die Wetzlarer Ehrenbürgerin – Dr. Elsie Kühn-Leitz ist tot

Ehrungen

Zeitlinie

Der Elsie Kühn-Leitz Preis

Anmerkungen

Quellenverzeichnis

Nachwort

Die Autorin

Wetzlar

Wetzlar ist eine Stadt in Mittelhessen, die am Zusammenfluss von Lahn, Dill und Wetzbach liegt. Der Ort hat eine lange, wechselvolle Geschichte, denn obwohl erst im 12. Jahrhundert urkundlich erwähnt, erzählen archäologische Funde aus dem 8. Jahrhundert schon von einer Siedlung an dieser Stelle.

Das Leben der Menschen war einfach, neben dem Ackerbau produzierte man Leinen und handelte damit. Die mittelalterliche Kleinstadt erhielt erst eine gewisse Bedeutung, als sie zum Sitz des Reichskammergerichtes (1689-1806) erwählt wurde. Für die zugezogenen Kammergerichtsangehörigen mussten neue Wohnhäuser gebaut werden, und mit den hochwohlgeborenen Personen entwickelte sich das gesellschaftliche Leben. Nun gab es Empfänge, Konzerte, Theateraufführungen und Bälle; besonders die Visitation, die jährlich vorgenommene Evaluierung des Reichskammergerichtes, erregte im ganzen Reich Aufmerksamkeit. Plötzlich stand Wetzlar im Mittelpunkt des Interesses, und die einfachen Bürger staunten beim Anblick der Soldaten in farbenprächtigen Uniformen und der illustren Gäste. Zur Visitation reisten kaiserliche Kommissare an und konferierten mit Kurfürsten, Fürsten und Vertretern der Reichsstädte.

Auch junge Juristen, vor allem Praktikanten, die eine Zeit lang die Arbeit des Reichskammergerichtes studieren und Erfahrungen sammeln wollten, kamen nach Wetzlar. Der berühmteste unter ihnen war Johann Wolfgang Goethe, der nur einen kurzen Sommer, von Mitte Mai bis 11. September 1772 hier verbrachte. Nach Abschluss seiner Studien in Straßburg hospitierte er nun am Kammergericht, was ihm nicht sonderlich gefiel, aber er begeisterte sich für die liebliche Landschaft, die herrliche Natur und die urwüchsigen Menschen.

Als er die hübsche Charlotte Buff, Tochter eines Deutschordenamtsmannes, kennenlernte, verliebte er sich unsterblich; die junge Dame war jedoch verlobt und Goethe musste schweren Herzens entsagen. In seinem Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« schildert er seine Erlebnisse in Wetzlar und wird als junger Dichter schnell weltberühmt, ebenso wie die Stadt Wetzlar selbst, die sich fortan stolz Goethe-Stadt nennt.

Mit der Auflösung des Kammergerichts verarmte Wetzlar schnell, und erst infolge der Schiffbarmachung der Lahn (um 1849), des Ausbaus der Bahnstrecken Gießen-Wetzlar-Köln-Deutz (um 1862) und Koblenz-Wetzlar-Gießen (um 1863) trat mit der beginnenden Industrialisierung ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung ein. 1867 begann das Gießereiwesen in der Stadt und 1872 eröffnete Buderus den ersten Hochofen.

Um diese Zeit kam auch der junge Ernst Leitz in die Stadt an der Lahn und ahnte noch nicht, dass sich aus einer kleinen Werkstatt im Laufe der Jahre das Leitz-Imperium entwickeln sollte.

I. Familiengeschichte

Die Familie Leitz stammt ursprünglich aus Pforzheim, und ihr Stammbaum lässt sich zurückverfolgen bis auf Peter Michael Leitz, der zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) dort ansässig war. Der Vater des bekannten Ernst Leitz I aus Wetzlar war Ernst August Leitz (1802-1872), ein streng religiöser und gewissenhafter Lehrer und Erzieher. Im Jahre 1829 nahm dieser eine Stelle in dem südbadischen Städtchen Sulzbach an, wo er sich 1838 mit Christina Döbelin vermählte. Auf einer der letzten Seiten der Familienbibel von Christina und Ernst August befindet sich die schlichte Eintragung: Unser Sohn Ernst wurde am 26. April 1843 vormittags 10 1/2 geboren. Zwei Schwestern sind Ernst schon vorausgegangen und ein Bruder folgt noch.

Ernst Leitz I (Gemälde)

Ludwig Leitz, Ernst Leitz II

Knut Kühn-Leitz und Ernst Leitz III

Ernst Leitz I 1843-1920

Sehnlichster Wunsch der Eltern ist es, dass ihr erster Sohn Theologie studiert, aber der hat andere Neigungen. Schon in jungen Jahren zeigt Ernst eine praktische Veranlagung, die ihn für einen technischen Beruf geradezu prädestiniert. Nur ungern gibt der Vater den Plänen seines Sohnes nach und nimmt Kontakt zu seinem Bekannten, dem Instrumentenbauer Christian Ludwig Oechsle in Pforzheim, auf. In dessen renommierter »Werkstätte für physikalische Instrumente« kann Ernst sein handwerkliches Rüstzeug erwerben und gleichzeitig die dortige Gewerbeschule besuchen. Als Geselle geht er nach herkömmlichem Brauch auf die Wanderschaft, zuerst in die Schweiz nach Genf und Zürich, wo er seine Erfahrungen und Kenntnisse auf dem Gebiet der Uhrenherstellung, die höchste Präzision verlangt, erweitert. Zusammen mit seinem Freund Karl Junker aus Gießen macht er sich anschließend auf den Weg nach Paris, und ohne es zu merken werden dabei die Weichen für sein späteres Leben gestellt. Karl erzählt ihm nämlich unterwegs von der bescheidenen Werkstätte eines Friedrich Christian Belthle in Wetzlar, in welcher Mikroskope hergestellt werden. Ernst Leitz findet die Information seines Kumpels interessant und beschließt, in die kleine Stadt an der Lahn zu reisen.

Stadtansicht Wetzlars von Nordosten

Stahlstich um 1850

AUF DEM WEG IN EINE UNGEWISSE ZUKUNFT

Hier in Wetzlar beginnt für den 21jährigen Mechaniker-Gesellen in dem von Carl Kellner gegründeten und von Belthle übernommenen Optischen Institut eine interessante Zeit. Neun Mitarbeiter gibt es, aber die Firma steckt in großen finanziellen Schwierigkeiten. Da muss Ernst Leitz eine Entscheidung treffen und geht ein Risiko ein: Mit den Ersparnissen seiner Familie wird er gezwungenermaßen zunächst einmal Teilhaber an der kleinen Werkstatt, die sonst untergegangen wäre. Im Jahre 1869 ändert sich wieder alles, denn kurz vor dem frühen Tod des Eigentümers Friedrich Belthle bestimmt dieser Ernst Leitz zum Alleininhaber der Firma.

Mittlerweile hat Ernst Leitz auch sein persönliches Glück in Wetzlar gefunden. Er verliebt sich in Anna Maria Antoinette Ferdinandine Löhr, und am 5. März 1867 findet die Hochzeit statt. Anna, die Tochter eines Weißgerbermeisters, wird ihm eine hilfreiche Lebensgefährtin; sie ist eine kluge, arbeitsame und sparsame Frau mit pragmatischer Lebensanschauung und dem Herz auf dem rechten Fleck. Es heißt, dass Anna in den Anfängen selbst nach Feierabend die Werkstattfenster putzte, dass sie jeden neu aufzunehmenden Mechaniker bei der obligatorischen Tasse Kaffee in Augenschein nahm und die Lehrlingsbewerber persönlich aussuchte. Heimlich soll sie auch schon mal einem in Not geratenen Arbeiter Geld in die Manteltasche gesteckt haben. Nicht zuletzt ist es ihrem fraulichen und verständnisvollen Wesen zu verdanken, dass in den schwierigen Jahren des Aufstiegs der Firma Leitz, wie das Optische Institut nun heißt, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Geborgenheit geschaffen wird, die für dieses Werk jahrzehntelang charakteristisch geblieben ist.2

Noch im Jahre 1867 zieht die Familie aus den engen gemieteten Räumen in der Wetzlarer Innenstadt in ein eigenes Wohnhaus außerhalb der Stadtmauern am Kalsmunttor.3 Vier Kinder wachsen hier auf, die beiden Söhne Ludwig und Ernst mit ihren jüngeren Schwestern Ella und Anna. Das neue Haus mit seiner Werkstatt im Untergeschoss steht inmitten stiller Obstgärten, und die Kinder genießen das Spielen in freier Natur.

Ernst Leitz Anna Leitz1

Beide Söhne sollen in die Fußstapfen des Vaters treten, was sie gerne tun, wenn ihre Lehrjahre auch nicht leicht sind.

Max Weise, geboren 1871, arbeitete von 1896 bis1936 als Werkmeister bei Leitz. Er berichtet:

Vor 53 Jahren kam ich von Chemnitz nach Wetzlar und sagte mir in Chemnitz bei meiner Abreise, ich gebe der Firma Leitz in Wetzlar eine Gastrolle. Es war mein 16. Arbeitsplatz, den ich somit beziehen wollte. In Wetzlar angekommen war der Eindruck über dieses Landstädtchen der denkbar unangenehmste. Nur 8000 Einwohner, alle großstädtischen Bildungs- und Vergnügungsmöglichkeiten fehlten. Die einzige Sensation, die man dort als ungewöhnlich antraf, waren die Eisensteinwagen, die täglich über den Eisenmarkt fuhren und die Pflaster derartig verkuppelten, dass unsere Damen mit ihren Schuhen oft dazwischen stecken blieben.

Der Eindruck über Wetzlar wurde jedoch ein anderer als man einige Wochen bei der Firma beschäftigt war ...

Die Arbeitsverhältnisse bei der Firma Leitz waren einzig in ihrer Art. In den 15 Arbeitsplätzen, die ich bereits durchlaufen hatte, hatte ich ein derartiges Verhältnis nie vorgefunden. Es gab keine geschlossenen Tore, man konnte kommen und gehen zur Arbeit nach Belieben. Bauersfrauen kamen mit Butter, Eiern, Käse, Obst in die Werkstätten. Der Schützengartenwirt kam zum Frühstück mit einem Tablett voll Essbarem, die Barbiere kamen wöchentlich dreimal und übten ihren Beruf aus. Es waren zwei Brausebäder vorhanden, in denen man sich während der Arbeitszeit erholen konnte. Der Seniorchef war in seiner Jugend selbst als Mechanikergehilfe tätig gewesen und hatte herausgefunden, wie man junge Leute an ihrem Arbeitsplatz in einer Stadt wie Wetzlar festhält.

Jeder in der Werkstatt bekam ein Muster, das er vervielfältigen musste und hatte sich dazu sein Werkzeug und Einrichtungen selbst herzustellen. So lag es an ihm, sich die Sachen so herzustellen, dass er vorteilhaft arbeiten konnte. Das gleiche Arbeitsstück war immer und immer wieder anzufertigen und durch die Fertigkeit, die man dadurch bekam, konnte man auch im Akkord den allgemeinen Wochenverdienst verdoppeln oder auch verdreifachen und sich deshalb ab und an auch einen BLAUEN leisten. So kam es vor, wenn der alte Herr Leitz in den Werkstäten mal niemand vorfand, dass er auch in den Schützengarten kam und ein Bier mit uns trank.

Wir alle sind in Wetzlar geblieben, sind bodenständig geworden, haben Wetzlarer Bürgerstöchter geheiratet und uns Häuser gebaut, wobei uns der alte Chef mit einer Hypothek half.4

Noch in den 1950er Jahren erfolgte die Lehre nach gleichem Muster.5

Ludwig Leitz 1867-1898

Im Jahre 1888 nimmt Ernst Leitz seinen ältesten Sohn Ludwig als Mitarbeiter in die Firma auf. Mit zähem Fleiß vervollkommnet der junge Mann seine in der Schule erworbenen Sprachkenntnisse so weit, dass er sowohl die englische als auch die französische Sprache wie seine Muttersprache beherrscht. Im Unternehmen erwirbt Ludwig sich bei der Entwicklung der Mikrofotografie besondere Verdienste und verhilft dem Werk durch die Errichtung von Zweiggeschäften zu einem außerordentlichen Aufschwung. Auf ausgedehnten Reisen besucht Ludwig Leitz die wissenschaftlichen Institute von Universitäten in Frankreich, Italien, England und Russland; zweimal fährt er auch in die Vereinigten Staaten von Amerika. Seine große Vertrautheit mit dem Mikroskop, seine Überzeugung von der Leistung der Erzeugnisse seines Hauses, die er oft mit denen anderer Firmen vergleichen kann, machen es ihm leicht, für die Produkte des Wetzlarer Werkes zu werben. Zusammen mit William Kraft, der ebenfalls aus Wetzlar stammt, bewerkstelligt Ludwig Leitz die Errichtung einer Zweigstelle in New York (1895). Diese Niederlassung wird in den 30er Jahren des nächsten Jahrhunderts der rettende Hafen für unendlich viele Menschen aus Deutschland werden. Bald ist die Firma Leitz weltweit ein Begriff.6

Des Vaters Wahlspruch

»Die Welt ist mein Feld!«

ist Wirklichkeit geworden.

Doch das Glück währt nicht lange. Im Frühjahr 1898 stürzt Ludwig unglücklich mit seinem Pferd und ein Schädelbruch führt zu monatelanger Krankheit und dem Tod am 6. November 1898.

Die Familie, die Mitarbeiter der Firma und viele Wetzlarer Bürger trauern.

Ernst Leitz II 1871-1956

Am 1. März 1871, während alle Glocken des Wetzlarer Doms den Einmarsch der deutschen Truppen in Paris und damit das siegreiche Ende des Deutsch-Französischen Krieges verkündigen, wird in der oberen Altstadt Ernst als zweiter Sohn geboren.

Ernst Leitz II durchläuft genau wie sein älterer Bruder Ludwig eine Ausbildung in sämtlichen Abteilungen des Leitz-Werks in Wetzlar. Die Nähe zu Betrieb, Werkstätten und Kunden befähigt ihn, technische Fortschritte und ihre Anwendungsbedeutung sicher zu erkennen und die Erkenntnisse in Produkte umzusetzen, was später maßgebend zum Erfolg der Firma beitragen wird.

Nach dem Tod seines Bruders Ludwig wird Ernst II zur wichtigsten Stütze des Vaters. Beide Männer bestimmen zusammen das Geschehen, und es sind nicht nur die technische Perfektion und kluge Vermarktung der Produkte, die den Aufstieg der Leitz-Werke bestimmen. Einen wesentlichen Anteil am Erfolg haben die kluge Betriebsführung und die außergewöhnlich guten Arbeitsbedingungen, denn die Leitz-Männer sind fürsorgliche Firmenchefs. In dem zur Feier des 70. Geburtstages von Dr. h. c. Leitz herausgegebenen Erinnerungsbuch erinnert Carl Metz, Leiter der Rechenabteilung Optik, rückblickend an diese fortschrittlichen Arbeitsbedingungen und das familiäre Klima im Unternehmen.

Schon Ernst Leitz I war seinen Arbeitern und Angestellten gegenüber nie ein Vorgesetzter, sondern ein verantwortlicher Mitarbeiter, der auch die kleinen Wünsche des einzelnen Betriebsangehörigen verständnisvoll meisterte und helfend unauffällig überall dort eingriff, wo er konnte. Schon im Jahre 1885 gründete er eine zusätzliche Unterstützungskasse für Krankheits- und sonstige Notfälle in der Belegschaft. Als das 50.000ste Mikroskop im Jahre 1899 fertiggestellt wurde, stiftete er eine Pensionskasse...

Die Werksangehörigen und ihre Familien, speziell die Kinder, werden im Bedarfsfalle von der Firma zu Kur- und Ferienaufenthalten geschickt. Ein Krankenzimmer mit einer Schwester steht seit 1915 zur Verfügung, hier werden auch kostenlose Behandlungen mit Höhensonne, Ultrakurzwellen und Soluxlicht vorgenommen. Ab 1917 hat die Firma auch eine eigene Betriebsfürsorgerin eingestellt, die alle Kranken des Betriebes besucht und wo Not ist, mit Mitteln der Firma eingreift.

In der Werksküche des Gemeinschaftshauses, dem auch die Kantine angeschlossen ist, wird ein warmes Mittagsessen verabreicht. Diese Einrichtung wird hauptsächlich von denen in Anspruch genommen, die von auswärts kommen. Es werden täglich 700-800 Essen ausgegeben.

Die schönste Pflege des Gemeinschaftsgedankens in der Firma Leitz findet in der alljährlich stattfindenden Rheinfahrt der gesamten Belegschaft, einschließlich der Pensionäre, ihren Ausdruck. Unser schöner deutscher Rhein kann in seiner Eignung für Gemeinschaftfahrten von nichts übertroffen werden. In aller Morgenfrühe fährt die Belegschaft in vier Sonderzügen nach Koblenz. An der historischen Stätte, dem »Deutschen Eck«, der Mündung von Mosel und Rhein, findet am Fuße des Denkmals von Wilhelm I., dem Gründer des Deutschen Reiches, jedesmal eine Feier statt, verbunden mit der Ehrung der Jubilare des Jahres. Vier Musikchöre und die Werkskapelle wirken mit. Anschließend werden vier Dampfer bestiegen, auf denen die Belegschaft rheinauf und rheinab fährt. In fröhlicher Gemeinschaft geht es am Abend zu Schiff wieder zurück nach Koblenz zur gemeinsamen Heimfahrt nach Wetzlar. So ist es kein Wunder, dass man gerne bei Leitz arbeitet. Stolz sagen die Frauen: »Mein Mann und mein Sohn gehen ins Leitze ...«

Und selbst die Kinder auf der Straße rufen beim Gerangel:

»Du kannst mich gar nicht reize,

mein Vadder is bei Leitze.«

Ernst Leitz ist wegen seines natürlichen Umgangs mit jedermann bei den Einwohnern Wetzlars sehr beliebt. Gerne erzählt man beim Stammtisch, wenn man auf ihn zu sprechen kommt, folgende Anekdote:

Ernst Leitz unterwegs

Eines Tages weilt Ernst Leitz geschäftlich in Berlin und schlendert gemütlich den Kudamm entlang. Da trifft er zufällig einen Wetzlarer Bekannten, der sagt erstaunt; »Ei wie läufst du denn hier in der Hauptstadt rum – ohne Schlips und Kragen?« Der Firmenchef antwortet ungerührt: »Wieso denn nicht? Hier kennt mich doch keiner.«

Zurück in Wetzlar treffen sich die beiden einige Zeit später am Domplatz wieder. Da sagt der Wetzlarer ganz erstaunt: »Na, du gehst ja auch hier ohne Schlips und Kragen!« Worauf Ernst Leitz antwortet: »Wieso denn nicht? Hier kennt mich doch jeder.«8

Gesamtansicht des Leitz-Werkes im Jahre 1890

Ernst Leitz II lernt seine Frau Elsie Gürtler (1877-1910) kennen. Am 7. März findet die Hochzeit in Wetzlar statt.

Das junge Paar lebt lange im Haus der Eltern am Kalsmunttor, bevor Ernst Leitz II für sich und seine Familie im Jahr 1903 am Laufdorfer Weg 4 oberhalb der Fabrikanlagen am Hang des Kalsmunt ein zweigeschossiges, repräsentatives Wohnhaus errichten lässt. Die Erker, Fenster und die schmiedeeisernen Arbeiten entsprechen dem fl oralen Stil der Zeit und verleihen der liebevoll getauften Villa Rosenburg ihren Namen.

II. Elsie Leitz

KINDHEIT IN WETZLAR

Die kleine Elsie erblickt am 22. Dezember 1903 in der Villa Rosenburg das Licht der Welt. Schon kurz nach der Geburt erhält das Mädchen, als Referenz an die amerikanischen Verwandten ihrer Mutter, die Vornamen Elsy Grace, sie wird jedoch stets Elsie gerufen werden.

Das erste Enkelkind

Elsie wächst gemeinsam mit ihren beiden Brüdern Ludwig und Ernst auf.

Das Mädchen ist erst sechs Jahre alt, als die Mutter stirbt, und da der Vater sehr beschäftigt und oft auf Reisen ist, findet sie fortan familiäre Geborgenheit hauptsächlich bei ihren Großeltern mütterlicherseits in Hannover. Ihre Großmutter, die aus Neuengland stammt, ist mit Geheimrat Gürtler verheiratet und kümmert sich so gut es geht um ihre Enkelin, die ihr sehr ans Herz gewachsen ist. Die Kleine nennt die Großmutter zärtlich Öhmchen und lauscht verzückt dem Spiel der ausgebildeten Klavierpianistin. Oft singen beide gemeinsam englische Kinderlieder und vergnügen sich mit Nursery Rhymes. Elsies Liebe zur Musik und ihr Sprachgefühl entwickeln sich früh.1

Im Jahre 1912 lernt der Vater Hedwig Wachsmuth (1877-1937) kennen und heiratet am 6. März 1912 wieder.

Hedwig Wachsmuth-Bleistiftzeichnung

Nun plant Ernst Leitz II ein neues Domizil etwas oberhalb am Kalsmuntberg in einem großen Gartengrundstück. Er beauftragt Jean Schmidt, den Hausarchitekten der Firma Leitz, mit dem Entwurf und dem Rohbau des neuen Wohnhauses. Die Innenausstattung und Einrichtung übernimmt auf Anraten der in München wohnenden Schwägerin Ella Bocks ein in jenen Jahren international anerkannter Architekt und Möbeldesigner – Bruno Paul. Dieser sorgt dafür, dass das Haus, welches von außen wie eine typische Villa der wilhelminischen Kaiserzeit wirkt, im Innern eine wohnliche Atmosphäre hat. Raumgestaltung und Einrichtung folgen einem frühen Art Déco-Stil, zeitweise mit ostasiatischen Einflüssen. Elsie trägt in ihrem Herzen stets den in die Balustrade am Treppenaufgang geschnitzten Spruch

Deutsches Haus im Deutschen Land

in Deutschlands schwerer Zeit entstand,

Friedwart wurde es genannt,

schirm es Gott mit deiner Hand.

Oktober 1917

Wo auch immer in der Welt sie sich aufhält, ihr Heim ist Haus Friedwart.

Hier, im Haus Friedwart, wird es der kleinen Elsie nie langweilig, da ständig Gäste kommen und der Vater außerdem seit 1907 ein richtiges Auto besitzt, das Wilhelm Willer fährt.

Der Chauffeur bringt Elsie zum Unterricht in die Lotte-Schule ...

... und er wird sie 40 Jahre lang stets herzlich empfangen, wann immer sie nach Hause kommt.

DIE NEUE FAMILIE

Am 14. Oktober 1914 wird in Wetzlar der Sohn Günther geboren. Da sich Hedwig Wachsmuth, nun verheiratete Hedwig Leitz, liebevoll um die Kinder und den Haushalt kümmert, kann sich Ernst Leitz II wieder ganz seinem Werk widmen, und er stellt Fachkräfte ein, die die Produktionspalette erweitern sollen. Da sind als erstes Emil Mechau und Oskar Barnack zu nennen.

III. Oskar Barnack – Vater der Leica

Oskar Barnack kommt im Jahre 1911 als Meister der Versuchsabteilung zur Firma E. Leitz nach Wetzlar. Dort baut sein Freund Emil Mechau seinen berühmten Kinoprojektor mit optischem Ausgleich, und Barnack konstruiert nebenbei einen Kinoaufnahmeapparat, mit dem sich viele Begebenheiten festhalten lassen.

Oskar Barnack ist schon seit vielen Jahren begeisterter Fotograf, und da er recht klein und zart gebaut ist, an chronischer Bronchitis und später an Asthma leidet, stört ihn das Gewicht der großen Kameras und der 13 x 18 cm Glasplatten sehr. Als er mit der Kinokamera arbeitet, baut er sich hierzu noch eine kleine Kamera für Belichtungsproben. Da kommt er auf die Idee, sich für seine Wanderausflüge eine Schnappschusskamera zu entwickeln, die zunächst ganz auf seine eigenen Bedürfnisse abgestimmt ist. Diese Kamera soll klein und leicht, einfach zu bedienen sein und mehrere Aufnahmen von guter Qualität in rascher Folge ermöglichen. Nach seinen Vorstellungen soll die Kamera außerdem robust und mit großer Präzision gefertigt sein. Er nennt sie liebevoll Liliput. Im Jahre 1914 entwickelt er zwei Prototypen, deren einziges erhaltenes Exemplar heute Ur-Leica genannt wird.

Bis die neue Kamera aber in Serie hergestellt werden kann, dauert es weitere zehn Jahre. Zuerst kommt der Krieg dazwischen und die Firma Leitz muss für die Wehrmacht produzieren. Anfang der 20er Jahre haben die hohen Reparationsforderungen der Siegermächte die finanziellen Möglichkeiten des Deutschen Reichs weit überschritten, und die Regierung versucht das Problem mit der Notenpresse zu lösen. Nun wird in großem Stil frisches Geld gedruckt. Lange Schlangen bilden sich vor den Lebensmittelgeschäften und 1923 kommt es zu einer Hyperinflation. Die Geldscheine können beim