Dr. Stefan Frank Großband 33 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 33 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2520 bis 2529 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 1234

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 33

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2019 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Ground Picture/shutterstock

ISBN: 978-3-7517-8297-5

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 33

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2520

Wie ist sterben, Mama?

Dr. Stefan Frank 2521

Annes Geheimnis

Dr. Stefan Frank 2522

Ich bleib bei dir, Marie!

Dr. Stefan Frank 2523

Deine Liebe macht mich krank

Dr. Stefan Frank 2524

Ohne jeden Skrupel

Dr. Stefan Frank 2525

Ein kurzes Glück, bevor ich gehe!

Dr. Stefan Frank 2526

Wo ist mein Kind?

Dr. Stefan Frank 2527

Alles ist gut, wenn wir zusammen sind

Dr. Stefan Frank 2528

Schau mich bitte wieder an

Dr. Stefan Frank 2529

Nichts zu verlieren

Guide

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Contents

Wie ist sterben, Mama?

Als es für den kleinen Finn um alles ging

Als Finn geboren wurde, war er für seine Eltern Lena und Julian ein absolutes Wunschkind. Vor der jungen Familie schien eine glückliche Zukunft zu liegen. Doch die Zeiten haben sich geändert: Der inzwischen siebenjährige Finn muss seit anderthalb Jahren gegen eine tückische Krankheit kämpfen. Krankenhausaufenthalte, ständige Sorge und Kummer dominieren seitdem den Alltag der Familie, wobei sich die Eltern nach Kräften bemühen, vor ihrem Sohn zu verbergen, wie groß ihre eigene Angst ist. Für ihn wollen sie stark sein, er selbst ist doch auch ein so tapferer Kämpfer!

Doch eines Tages kommt Lena hinter ein dunkles Geheimnis, das Julian in den letzten sieben Jahren vor ihr verborgen hat. Dieses Geheimnis wiegt so schwer, dass Lena es nicht mehr erträgt, mit ihrem Mann zusammenzuleben, und sich von ihm trennt. Julian ist verzweifelt. Ja, er hat einen schweren Fehler gemacht, aber er liebt seine Frau und seinen Sohn von ganzem Herzen! Ohne die beiden kann er sich sein Leben nicht vorstellen. Und wie sollen sie Finn ausreichend unterstützen und motivieren, seinen schweren Kampf weiterzukämpfen, wenn sie nicht länger an einem Strang ziehen? Ist jetzt womöglich alles verloren – ihre Ehe und das Leben ihres Sohnes?

Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben seiner Praxis. Ein munteres Trommeln, als würde der Himmel ein Konzert veranstalten. Hin und wieder mischte sich grollender Donner wie Paukenschläge ein.

Der Herbst machte seinem Namen alle Ehre und zeigte sich kühl und feucht. Für die nächsten Tage versprach der Wetterbericht wieder Sonnenschein, dieser Nachmittag jedoch würde nicht mehr trockener werden.

Bunte Blätter rieselten von den Bäumen der hübschen weißen Villa, in der Stefan Frank lebte und praktizierte. Seine Praxis war im Erdgeschoss untergebracht. Der Grünwalder Arzt war sehr beliebt, weil er immer ein offenes Ohr hatte und auch einmal ungewöhnliche Wege fand, um seinen Patienten zu helfen.

Manchmal stieß jedoch auch er an seine Grenzen. Wie im Fall des kleinen Finn, zum Beispiel.

Der Siebenjährige kämpfte seit anderthalb Jahren gegen Leukämie. Seine Blutwerte schwankten von Untersuchung zu Untersuchung. Finn hatte schon mehrere Blöcke Chemotherapie hinter sich. Man sah seiner schmächtigen Gestalt an, dass harte Monate hinter ihm lagen.

Seine Haare wuchsen gerade wieder, und er war unternehmungslustiger als noch vor wenigen Wochen. Doch all das konnte sich schon bald wieder ändern.

Finns Mutter schaute Dr. Frank an wie einen Richter, der gleich das Urteil verkündet. Lena Wendt war eine schlanke Frau mit blonden Haaren und einem etwas unsicheren Lächeln.

„War Finns heftiges Kopfweh heute beim Aufwachen ein Zeichen dafür, dass sich wieder ein Infekt anbahnt?“

„Das nicht, nein. Seine Körpertemperatur ist normal, und er hat weder Halsweh noch Schnupfen. Seine Blutwerte sind allerdings nicht so gut wie erhofft.“

Stefan Frank erinnerte sich, wie Frau Wendt vor anderthalb Jahren mit ihrem Sohn zu ihm gekommen war. Damals war Finn ständig müde gewesen und hatte immer wieder Nasenbluten gehabt. Sein Blutbild hatte die Erkrankung verraten: ALL, eine akute lymphatische Leukämie.

Finns Körper produzierte Unmengen entarteter weißer Blutkörperchen. Daher kam auch der Name der Leukämie, der übersetzt weißes Blut bedeutete.

Das Blut war die Lebensader des Körpers. Es transportierte Nährstoffe, Sauerstoff und Hormone, wehrte Krankheiten ab und verschloss Wunden. Bei Leukämie waren all diese Vorgänge gestört.

Gesunde weiße Blutkörperchen bekämpften Bakterien, Pilze und Viren. Bei einer Leukämie wucherten sie in Unmengen heran, reiften jedoch nicht und waren damit nutzlos. Zudem verdrängten sie die roten Blutkörperchen und Blutplättchen, was den Sauerstofftransport durch den Körper verminderte und die Blutgerinnung störte.

Atemnot, Müdigkeit und Schwäche waren die Folge – ebenso wie eine frappierende Neigung zu Blutungen.

„Wann sind Sie wieder bei Finns Onkologen bestellt?“

„Am kommenden Montag.“

„Gut. Bis dahin sollte sich Finn schonen. Etwas Fiebersaft sollte gegen das Kopfweh helfen.“

„Darf er rausgehen?“

„Ja, gegen Spaziergänge ist nichts einzuwenden.“

„Das ist prima.“ Finns Augen leuchteten auf. „Am Wochenende gehen wir nämlich in den Zoo!“

„Er spricht seit Wochen von nichts anderem“, fügte seine Mutter hinzu. „Bis jetzt ging es ihm nicht gut genug dafür, aber am kommenden Samstag wollen wir hingehen.“

„Papa leiht mir eine Kamera. Ich darf alle Tiere fotografieren. Später werde ich Pressefotograf, wie Papa.“

„Dann wünsche ich dir bei dem Ausflug viel Spaß, Finn“, sagte Dr. Frank. „Und iss ein Eis für mich mit, ja?“

„Das mach ich!“ Finn strahlte.

Seine Mutter bedankte sich, ehe sie sich verabschiedeten und das Sprechzimmer verließen.

Stefan Frank vermerkte sich das Kopfweh in Finns Unterlagen. Dabei hatte er ein warnendes Gefühl im Magen. Die Erkrankung seines kleinen Patienten war tückisch – und der Verlauf der Therapie leider nicht so gut wie erhofft …

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufblicken.

Auf seinen Ruf schwang die Tür auf, und Schwester Martha spähte herein. Mit ihren kurzen grauen Haaren und dem fröhlichen Funkeln war sie seit vielen Jahren die gute Seele seiner Praxis. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Marie-Luise Flanitzer hielt sie die Termine in Ordnung und sorgte dafür, dass in seiner Praxis alles rund lief.

„Brauchen Sie mich noch, Chef?“

„Ich brauche Sie immer, Martha.“

„Det war eigentlich nicht det, was ick hören wollte.“ Ihr Zungenschlag verriet ihre Berliner Herkunft. „Patienten warten keine mehr. Ick hab aufgeräumt. Die Post wurde schon abgeholt. Wenn nichts mehr anliegt, würde ick jetzt gern gehen.“

„Dann machen Sie ruhig Feierabend. Warum sind Sie denn heute so in Eile?“

„Ick möchte die Übertragung des Ironman aus Hawaii nicht verpassen.“

„Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Triathlon interessieren.“

„Oh, det mache ich sonst auch nicht, aber der Ironman ist was Besonderes. Mir bricht schon bei der Vorstellung, vier Kilometer zu schwimmen, über hundertachtzig Kilometer zu radeln und danach mehr als zweiundvierzig Kilometer zu rennen, der kalte Schweiß aus. Ick könnte det nicht. Dafür sehe ick mir gern die gut aussehenden Sportler mit ihren Sixpacks an.“ Sie zwinkerte ihrem Chef zu.

„Verstehe. Nun, mein Sixpack ist genau da, wo es hingehört.“ Stefan Frank machte eine kurze Pause. „Im Kühlschrank!“

„So, so.“ Ein Lächeln grub zahlreiche Falten in ihr Gesicht ein. „Fischen Sie etwa gerade nach Komplimenten, Chef?“

„Eigentlich nicht, aber ich hätte nichts dagegen, wenn eins anbeißt …“ Er hatte kaum ausgesprochen, als ein blasses, schmales Gesicht hinter Schwester Martha auftauchte. Es gehörte zu einem Mädchen von sechs Jahren.

Die Kleine hatte ihre blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten und links mit einem rosa Gummi und rechts mit einem grünen Gummiband umwickelt. Regenwasser rann ihr über die Wangen. Ihr rotes Sweatshirt klebte ebenso wie die Jeans regennass an ihrem Körper.

„Emma? Was machst du denn hier?“ Alarmiert sah Dr. Frank seine kleine Besucherin an. Emma wohnte mit ihrer Mutter in der Nachbarschaft. Hin und wieder kam ihre Mutter wegen eines Infekts mit ihr her, aber sie waren länger nicht mehr da gewesen.

Zaghaft streckte Emma ihren linken Arm aus und zog den Ärmel hoch. Darunter kamen mehrere blaue Flecken zum Vorschein.

Stefan Frank hörte seine Sprechstundenhilfe scharf einatmen.

„Kannst du machen, dass das weggeht, Onkel Doktor?“ Emma sah vertrauensvoll zu ihm auf. „Mami schimpft, wenn sie es sieht.“

„Sie schimpft?“, fragte er sacht nach.

„Hm-m.“

„Bist du etwa alleine hergekommen?“

Emma nickte, sodass ihre Zöpfe flogen.

Stefan Frank sah seine Sprechstundenhilfe an.

„Rufen Sie bitte Frau Geisler an und sagen ihr, dass Emma hier ist?“

„Geht klar, Chef.“ Schwester Martha wirbelte herum.

Derweil beugte sich Stefan Frank vor und sah seine kleine Patientin aufmerksam an.

„Hat dir jemand wehgetan, Spätzchen?“

„Hm-m“, verneinte sie.

„Bist du sicher? Du kannst es mir sagen, Emma.“

„Niemand hat mir wehgetan.“

„Hast du dich vielleicht gestoßen?“

Emma schüttelte den Kopf.

„Und hast du noch mehr solche Flecken, Emma?“

Sie zögerte kurz, dann nickte sie und streifte ihr Sweatshirt ab. Darunter kamen weitere blaue Flecken zum Vorschein. Manche verblassten bereits, andere schienen frisch zu sein.

Mein Gott, dachte er. Das darf nicht wahr sein!

Die allerschlimmsten Bilder stiegen vor ihm auf, aber er zwang sich, ruhig zu überlegen. Gab es vielleicht eine harmlose Erklärung für ihre Blutergüsse? Manche blutverdünnenden Medikamente konnten dazu führen. Aspirin, zum Beispiel. War es das?

„Bekommst du manchmal Medizin, Emma? Tabletten, zum Beispiel?“

Emma verneinte und klang dabei so überzeugend, dass sich seine Hoffnung in Luft auflöste. Offenbar waren die Flecken nicht harmlos.

Die kleine Emma war auffallend mager. Als er sie nun untersuchte, fiel ihm auf, dass ihr Zahnfleisch entzündet war. Eine Blutkrankheit vielleicht?

Stefan Frank wollte nicht gleich das Schlimmste annehmen, aber er ahnte nichts Gutes: Hatte jemand der Sechsjährigen wehgetan? Oder war es doch eine Erkrankung?

In ihrem nassen Shirt würde sie sich erkälten, deshalb nahm er eine Decke aus dem Schrank und hüllte das Mädchen hinein.

In diesem Augenblick kam Schwester Martha zurück.

„Frau Geisler ist noch in der Luft“, erzählte sie. „Sie ist Flugbegleiterin. Ihre Maschine landet erst in einer Stunde.“

„In Ordnung.“ Er wandte sich wieder an seine Patientin. „Wer kümmert sich um dich, wenn deine Mutter arbeitet?“

„Ich selbst“, piepste sie. „Das kann ich schon. Ehrlich.“

„Kommt niemand und sieht nach dir?“

„Nö. Mami sagt, wir haben nur uns.“

Stefan Frank verstand – und machte sich Sorgen.

Ich muss mit ihrer Mutter sprechen, nahm er sich vor. Wenn wir keine Erklärung für Emmas blaue Flecken finden, bleibt mir nichts anderes übrig, als das Jugendamt einzuschalten.

***

„Was denken Sie eigentlich, wer Sie sind?“ Wütend funkelte Svenja Geisler den Grünwalder Arzt über den Schreibtisch hinweg an.

Die Flugbegleiterin trug ihre blaue Uniform und ein gelbes Halstuch. Sie war eine bildhübsche junge Frau mit dunklen Haaren und den gleichmäßigen Gesichtszügen eines Fotomodells. Sie roch nach einem teuren Parfum und Zigarettenrauch.

„Da steige ich nach einer langen Schicht aus dem Flugzeug und will nur noch nach Hause und schlafen, da erreicht mich der Anruf Ihrer Arzthelferin. Ich werde hierher zitiert, und nun unterstellen Sie mir, ich würde mein Kind schlagen?“

„Ich unterstelle noch gar nichts“, erwiderte Dr. Frank ernst. „Emma ist zu mir gekommen und hat mir ihre blauen Flecken gezeigt. Denen muss ich auf den Grund gehen, das verstehen Sie sicherlich.“

„Diese Flecken hat sie schon lange. Die kommen und gehen.“

„Haben Sie Emma daraufhin untersuchen lassen?“

„Wegen ein paar blauer Flecken?“ Emmas Mutter lachte ungläubig. „Ist das Ihr Ernst? Sie ist doch nicht krank. Kinder stoßen sich nun mal. Das passiert eben.“

„Emma scheint wegen der Blutergüsse besorgt zu sein, sonst wäre sie sicherlich nicht hergekommen.“

„Sie wollte nur Aufmerksamkeit erhaschen, und das hat ja auch funktioniert, nicht wahr?“ Ein bitterer Zug grub sich um den Mund der Mutter ein.

Dr. Frank dachte an das kleine Mädchen, das nebenan bei Schwester Martha saß und sich mit Kakao und Keksen füttern ließ. Seine Helferin hatte ihre Pläne für den Abend kurzerhand sausen lassen, um sich um die Sechsjährige zu kümmern, bis deren Mutter eintraf.

Svenja Geisler schien jedoch alles andere als in Sorge zu sein.

„Was genau erwarten Sie von mir, Herr Doktor?“

„Ich möchte Emma gründlich untersuchen. Vielleicht gibt es eine organische Ursache für ihre Symptome, vielleicht aber auch nicht. Es ist auch denkbar, dass jemand sie misshandelt.“

„Emma? Misshandelt? So ein hanebüchener Unsinn. Wer erzählt denn so etwas?“

„Das ist leider ein Schluss, denn man aus ihrem Zustand ziehen kann.“

„Himmel, ich würde ihr doch nicht wehtun. Niemals!“

„Was ist mit Freunden? Ist manchmal jemand allein mit ihr?“

„Nein, da gibt es niemanden. Ihr Vater hat sich verdrückt, als sie noch nicht mal geboren war, und ich bringe meine Männer nicht mit heim. Ist ein Prinzip von mir.“

„Emma sagte, sie würde sich um sich selbst kümmern, wenn Sie bei der Arbeit sind.“

„Ja, na und? Ich verdiene nicht viel. Wir kommen gerade so über die Runden. Ein Kindermädchen kann ich mir nicht leisten. Emma geht zur Schule und in den Hort. Damit hat es sich.“

„Also schaut niemand nach ihr?“

„Nein. Sie ist nur ungeschickt. Mehr steckt nicht dahinter.“

Stefan Frank schwieg. Er musste Emma untersuchen, wenn er herausfinden wollte, woher ihre blauen Flecken kamen, deshalb bat er Schwester Martha, Emma hereinzubringen.

Sie trug das Kind ins Sprechzimmer und setzte es auf der Liege ab. Emma war noch immer in die Decke gehüllt und hatte einen Kakaobart, den Schwester Martha ihr rasch abwischte.

„Bitte schimpf nicht, Mami.“ Unsicher blickte Emma zu ihrer Mutter.

„Wir zwei reden später miteinander“, murmelte diese.

Dr. Frank wurde das Gefühl nicht los, dass es eine Frage gab, die er noch nicht gestellt hatte. Er zerbrach sich den Kopf. Übersah er womöglich etwas?

„Hat Emma außer den blauen Flecken noch andere Symptome?“

„Nein, nichts. Ihr fehlt nichts. Sie schläft, sie isst …“

„Was isst sie?“, hakte er nach. „Wenn Sie nicht da sind, wer kocht dann für Emma?“

„Ich natürlich. Glauben Sie etwa, ich würde nicht gut für mein Kind sorgen? Ich stelle ihr jeden Tag alles bereit. Sie muss ihr Essen nur noch in der Mikrowelle warmmachen.“

„Und was genau bereiten Sie für Emma zu?“

„Nudeln und Reis. Etwas anderes mag sie nicht. Dazu trinkt sie jeden Tag zwei Gläser Milch.“

Nudeln und Reis? Stefan Frank rieb sich nachdenklich das Kinn. Ein Verdacht klopfte an seinem Verstand an, war jedoch so abwegig, dass er ihn gleich wieder verwerfen wollte.

„Was ist mit Gemüse?“, hakte er nach. „Und Obst?“

Svenja zog die Schultern hoch.

„Ach, wissen Sie, wir haben es beide nicht so mit dem Grünzeug, Emma und ich.“

Sein Verdacht erhärtete sich.

„Ich würde Emma gern Blut abnehmen und im Labor analysieren lassen, Frau Geisler. Womöglich weiß ich, was Emma fehlt.“

„Wollen Sie etwa andeuten, meine Tochter wäre krank?“

„Krank nicht, nur mangelernährt.“

„Also, das ist eine Frechheit! Mein Kind leidet keinen Hunger! Was wollen Sie mir denn noch alles unterstellen?“

„Mit Hunger hat das nichts zu tun. Wenn mein Verdacht zutrifft, dann fehlen Emma wichtige Vitamine. Ohne genügend Vitamin C kann der Körper kein Kollagen bilden. Das braucht man für gesunde Knochen, Muskeln und Blutgefäße. Wenn Emmas Blutgefäße Probleme machen, würde das ihre blauen Flecken erklären.“

„Zu wenig Vitamin C? Das ist ja lachhaft!“

„Leider nicht. Diese Erkrankung hat früher vor allem Seefahrer befallen, bis bekannt wurde, dass eine Zitrone am Tag ausreicht, um sie zu verhindern.“

„Seefahrer?“ Svenja kniff die Augen zusammen. „Sie denken doch nicht etwa …“

„Doch, es ist möglich, dass Emma unter Skorbut leidet.“ Er nickte. „Wenn sie weder frisches Obst noch Gemüse isst, ist das sogar die wahrscheinlichste Erklärung für ihren Zustand. Heutzutage ist die Krankheit selten geworden. Sie kommt fast nur noch bei bestimmten Diäten vor.“

„Skorbut? Fallen einem davon nicht die Zähne aus?“

„Wenn es fortschreitet, ja. Emmas Zahnfleisch zeigt bereits Schädigungen. Das ist mir schon aufgefallen.“

„Mein Gott!“ Der Schock warf Emmas Mutter nun doch aus der Bahn. Sie zitterte sichtlich. „Ich brauche eine Zigarette“, murmelte sie.

„In der Praxis ist Rauchen leider nicht gestattet.“

„Schon gut. Ist … ist diese Krankheit denn behandelbar?“

„Das ist sie. Wenn sich mein Verdacht bestätigt, werden Vitamin-C-Tabletten und vitaminreiches Essen Emma helfen.“

„Ich verstehe.“ Svenja trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. „Ich kann doch nicht an alles denken, verflixt noch mal! Die Arbeit, der Haushalt und Emma … Manchmal weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Aber ich werde tun, was ich kann. Ich werde Emma Saft kaufen und all das.“

„Das wäre gut.“ Stefan Frank nickte. Trotzdem wich das mulmige Gefühl in seinem Inneren nicht. Die Sechsjährige würde weiterhin sich selbst überlassen sein, wenn ihre Mutter bei der Arbeit war. Gab es da denn wirklich keine andere Lösung?

***

„Wo ist mein Handy?“ Lena kramte in ihrer Umhängetasche und dem Mantel. „Ich kann mein Telefon nicht finden!“

„Dann lass es einfach hier“, schlug Julian vor. Er unterdrückte ein entnervtes Stöhnen. Seine Frau tat keinen Schritt ohne ihr Handy!

„Nein, ich muss es finden.“

„Wir brauchen es heute doch gar nicht.“

„Und wenn ein wichtiger Anruf kommt?“ Sie stöberte weiter in der Diele herum.

Finn stand bereits fix und fertig angezogen in der Haustür und trat von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten hätte Julian es ihm gleichgetan.

„Der Zoo wird schließen, bis wir da sind“, mahnte er.

„Ich habe es bestimmt gleich.“

Seine Frau strebte zur Treppe und stieg nach oben. Nun gestattete er sich doch ein leises Seufzen. Seine Frau war regelrecht an das Handy gekettet! Er selbst besaß auch eines, es ging heutzutage ja kaum noch ohne. In seinem Job erst recht nicht. Als Pressefotograf musste er erreichbar sein, wenn ein Auftrag hereinkam. Sobald die Arbeit getan war, schaltete er das Telefon jedoch aus.

Von draußen drang munteres Zwitschern herein. Nach dem Regen der vergangenen Tage zeigte sich das Wetter an diesem Morgen von der allerbesten Seite. Die Sonne wärmte die Luft auf angenehme Temperaturen. Ihr Haus stand in einer ruhigen Seitenstraße von Grünwald, nicht weit vom Wald entfernt. Bis nach München hinein war es eine Fahrt von einer halben Stunde. Wenn der Verkehr dicht war, dauerte es länger.

„Huch!“, kam es plötzlich von oben.

„Hast du das Handy gefunden, Liebes?“

„Nein, noch nicht, aber Geld!“

„Geld? Noch besser. Dann kannst du den Eintritt übernehmen.“

„Ich meine es ernst. Kannst du raufkommen?“

Julian furchte die Stirn.

„Sicher.“ Er eilte die acht Stufen nach oben. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer war nur angelehnt. Als er sie aufstieß, schaute ihn seine Frau verblüfft an. In den Händen hielt sie zwei Bündel Geldscheine.

„Sag mal, hast du im Lotto gewonnen, oder arbeitest du heimlich für die Mafia, Julian?“

„Weder noch.“ Er versteifte sich innerlich. Hatte sie ihn soeben ertappt? Nach all der Zeit? „Was hattest du denn an meinem Schreibtisch zu suchen?“

„Mein Handy. Ich war vorhin kurz an deinem Computer und dachte, ich hätte es hier oben liegen gelassen. Beim Suchen ist mir aufgefallen, dass eine Schublade nicht richtig geschlossen ist. Ich wollte sie zuschieben, aber sie klemmte. Beim Aufziehen habe ich dann das Geld gefunden. Julian, das müssen ja mehrere Tausend Euro sein!“

Er nickte und verwünschte sich selbst, dass er die Schublade nicht ordentlich abgeschlossen hatte.

„Woher kommt das ganze Geld?“ Lena schien nicht recht zu wissen, ob sie begeistert oder bestürzt sein sollte.

„Ich habe es gespart. Jeden Monat dreihundert Euro. Man weiß nie, was kommt. Irgendwann können wir das Geld sicherlich gebrauchen.“

„Du sparst für uns? Das ist toll, aber willst du das Geld nicht lieber zur Bank bringen?“

„Dafür sehe ich keinen Grund.“ Julian schüttelte den Kopf. „Zinsen gibt es keine. Also kann ich es auch hier lagern.“

Diese Erklärung schien seine Frau zufriedenzustellen. Sie legte das Geld zurück und schloss die Schublade wieder, ehe sie zu ihm kam und ihm einen Kuss gab.

„Ich habe einen wirklich tollen Mann“, flüsterte sie und strahlte ihn an.

Sein Gewissen knüppelte ihn nieder. Er brachte kein Wort hervor.

Das war knapp gewesen. Sehr knapp sogar. Es stimmte, dass er das Geld seit langer Zeit sparte, aber den Grund dafür kannte seine Frau nicht – und er durfte ihn ihr auch nicht verraten.

Seit sieben Jahren lastete ihm das Geheimnis schon auf der Seele. Früher oder später würde es herauskommen. So war das immer mit Geheimnissen: Sie flogen einem um die Ohren, wenn man am wenigsten damit rechnete.

Julian war schon oft kurz davor gewesen, seiner Frau alles zu beichten, aber die Angst, damit seine Ehe zu zerstören, hielt ihn zurück. Gut war es um ihre Beziehung ohnehin nicht bestellt.

Die lange Krankheit ihres Sohnes ging nicht spurlos an ihnen vorüber. Er konnte sich kaum noch erinnern, wann sie das letzte Mal über etwas anderes als Medikamente und Termine gesprochen hatten. Oder wann sie zuletzt intim gewesen waren. Sie lebten zusammen, aber nicht miteinander.

Sein Geständnis würde das Ende ihrer Familie bedeuten …

„Kommt ihr?“, drängte Finn von unten.

„Gleich. Wir suchen noch das Handy deiner Mutter.“

„Das liegt in der Küche.“

„Prima! Dann sind wir gleich da!“ Julian nahm die Hand seiner Frau. Sie lächelte ihn an. Ihr Blick drang ihm ins Herz und wärmte ihn, aber sogleich überfiel ihn das schlechte Gewissen wieder mit der Macht eines Tornados. Was würde sein Fehler aus ihnen beiden machen?

Er ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte es ihr verschwiegen, um seine Familie zu beschützen. Leider würde seine Frau das vermutlich anders sehen …

Schweigend folgte er ihr nach unten und ging zu seinem Wagen.

Finn kletterte auf den Rücksitz. In den Händen hielt er den Fotoapparat, den Julian ihm für den Ausflug geliehen hatte. Strahlend schaute er darauf nieder und erzählte, welche Tiere er unbedingt im Zoo fotografieren wollte: Fledermäuse, Schildkröten und Robben …

Das Geplauder floss an Julian vorbei wie ein munterer Bach, während er wartete, bis seine Frau eingestiegen war, und dann losfuhr.

Finn liebte Tiere und hätte liebend gern ein eigenes Haustier gehabt, aber er musste sich gedulden. Solange er krank war, war seine körpereigene Immunabwehr geschwächt, deshalb war ein Haustier tabu. Nicht einmal an einen Hamster war zu denken.

Seine Mutter hatte ihren Job als Lehrerin aufgegeben, als er krank geworden war. Sie unterrichtete ihn daheim, wenn es ihm gut genug ging. Ihr war es zu verdanken, dass er noch keine Klassenstufe hatte wiederholen müssen.

Am Tierpark hatten sie Glück und fanden rasch einen Parkplatz. Finn eilte zur Giraffensavanne und hob die Kamera. Er drückte ein paarmal ab. Dann drehte er sich mit leuchtenden Augen um.

„Geduld, Finn“, mahnte Julian. „Als Fotograf musst du auf den richtigen Augenblick warten. Schau zuerst zu dem Motiv, das du aufnehmen möchtest.“

„Die Giraffenmama mit dem Kleinen.“

„Dann bring deine Kamera in Position und folge ihnen mit dem Sucher. Hast du sie?“

„Ja, aber sie machen gar nichts.“

„Geduld, Finn, Geduld.“

Sie warteten eine Weile, dann reckte das Jungtier plötzlich den Kopf und suchte nach der mütterlichen Milchquelle.

„Jetzt, Finn! Jetzt!“

Es klickte. Finn ließ seine Kamera sinken, schaute auf das Display und strahlte.

„Das Foto ist süß.“

„Gut gemacht“, lobte Julian und legte ihm einen Arm um die Schultern. „Siehst du, Geduld zahlt sich aus.“

„Das werde ich mir merken, Papa.“ Finns Wangen glühten.

Lena befühlte sein Gesicht.

„Du bist ja ganz heiß, Finn.“

„Och, mir geht‘s gut.“

„Das kommt sicher nur von der Aufregung“, begütigte Julian.

„Ich bin mir da nicht so sicher.“ Sie schüttelte den Kopf und sah ihren Sohn besorgt an. „Ich glaube, du hast wieder Fieber. Wir sollten lieber heimfahren.“

„Was?“ Finn machte vor Schreck einen kleinen Satz rückwärts. „Aber wir sind doch gerade erst gekommen! Und wir waren noch gar nicht bei den Robben.“

„Wir können ein anderes Mal wiederkommen. Wirklich, es ist besser, wir fahren heim, und du legst dich hin.“

„Ich möchte mich nicht hinlegen. Bitte, Papa hat doch nur heute frei. Können wir nicht weitergehen?“

Lena kämpfte mit sich. In ihrem Gesicht arbeitete es.

Julian strich ihr über die Wange. Er wollte gerade vorschlagen, eine kurze Rast zu machen und etwas zu trinken, als Finn plötzlich einen leisen Wehlaut ausstieß.

„Finn? Was, um alles in der Welt …“ Er stockte, denn sein Sohn verdrehte die Augen und brach zusammen!

***

„Ich werde diesen Notarzt verklagen.“ Angespannt lief Julian neben dem Klinikbett auf und ab. Er rieb seine Hände, weil sie kribbelten, als würde eine Kolonie Ameisen über seine Haut laufen. Doch es waren keine Insekten. Nur die Unruhe, die ihn nicht mehr losließ, seitdem sein Sohn kollabiert war.

„Warum willst du ihn denn verklangen?“ Seine Frau saß am Bett ihres Sohnes und hielt dessen rechte Hand mit ihren Händen umfangen, als könnte sie ihn damit festhalten und verhindern, dass er ihnen entrissen wurde.

„Weil es eine Ewigkeit gedauert hat, bis er endlich da war! So etwas muss viel schneller gehen. Nach fünf Minuten hätten die Helfer da sein müssen. Vermutlich haben sie unterwegs noch irgendwo angehalten und einen Kaffee getrunken.“

„Das glaube ich nicht. Es wird uns nur so lange vorgekommen sein, weil wir Angst hatten. Da vergeht die Zeit gar nicht.“

„Mag sein.“ Julian war kurz stehen geblieben, nahm seine Wanderung nun jedoch wieder auf.

Seine Frau strich ihrem Sohn über den Kopf. Finn schlief jetzt. Die Medikamente machten ihn müde.

Sein Zusammenbruch war jedoch kein gutes Zeichen gewesen. Da musste Julian nicht lange nachfragen. Etwas braute sich über ihnen zusammen. Die Frage war nur: Was war es? Und wie schlimm war es diesmal?

Himmel, wie er es verabscheute! Die Ungewissheit. Die Angst. Das Nichts-tun-können. Er hätte den Platz liebend gern mit seinem Sohn getauscht und alles, alles ertragen. Aber zuschauen? Nein, das machte ihn fix und fertig.

Finn war mit dem Rettungswagen in die Waldner-Klinik gebracht worden. Hier, im Krankenhaus am Englischen Garten, hatte er einen großen Teil der vergangenen anderthalb Jahre zugebracht.

Eigentlich hatte ich nicht vor, die Klinik so bald schon wieder von innen zu sehen, haderte Julian mit dem Geschehen.

Angespannt warteten sie auf den Arzt, der Finns Testergebnisse auswerten sollte. Es war nicht nur ein großes Blutbild gemacht worden, sondern auch eine Knochenmarkpunktion und ein MRT.

Lena weinte nicht, aber ihre Augen schimmerten verräterisch, als sie ihr Kind ansah und ihm sacht über den Arm strich.

Warum wir?, fragte sich Julian zum x-ten Mal, seitdem sie die Diagnose Leukämie erhalten hatten. Warum hat es ausgerechnet unsere Familie getroffen? Was haben wir falsch gemacht? Wir rauchen nicht, wir trinken nicht, und wir ernähren uns gesund. Meistens jedenfalls. Hin und wieder eine Pizza sollte erlaubt sein, oder?

Habe ich Lena in der Schwangerschaft nicht genug abgenommen? Hätte ich dafür sorgen müssen, dass sie sich mehr schont? Sie war bis zum achten Monat noch arbeiten, weil sie das Unterrichten liebt. Hätte sie früher aufhören müssen? Was haben wir bloß falsch gemacht?

Seine Nerven waren zum Zerreißen angespannt.

Oh, wie er den scharfen Geruch der Desinfektionsmittel verabscheute! Noch mehr jedoch das Gefühl, sich in einer Blase zu befinden. Draußen, vor den hohen Fenstern, ging das Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Hier drinnen jedoch schien die Zeit stillzustehen.

Seine Familie war nicht länger Teil des Alltags, sondern befand sich wie in einer Blase, in die nichts herein- und aus der nichts herausdringen konnte.

Als Finn geboren wurde, hatte Julian sich geschworen, dass sein Kind eine frohe, unbeschwerte Kindheit haben würde. Diesen Schwur hatte er nicht halten können …

Die Tür wurde geöffnet, und ein weiß gekleideter Arzt kam herein. Er wirkte so jung, als hätte er die Uni noch nicht abgeschlossen. Blonde Haare rahmten sein gebräuntes Gesicht ein. Sein Namensschild wies ihn als Henning Mauersberger, Facharzt für Onkologie aus. Zuletzt war Finn von einer jungen Ärztin behandelt worden, die sich nun jedoch in die Babypause verabschiedet hatte.

„Da sind wir also wieder.“ Der Mediziner trug ein Klemmbrett in der Hand und blickte kurz darauf nieder. Julian musste sich zügeln, um ihn nicht um sein Abschlusszeugnis zu bitten. Himmel, wusste dieser Mann wirklich, was er tat? Er sah aus, als hätte er vor Kurzem noch für das Abitur gepaukt!

„Wie sieht es aus, Herr Doktor?“, fragte Lena leise.

„Leider nicht gut“, kam der Kinderarzt gleich zum Punkt. „Finns Werte haben sich signifikant verschlechtert. Wir haben eine vermehrte Zahl von Blasten gefunden.“

„Also bricht die Leukämie wieder durch? Trotz der Behandlungen?“ Lena wurde blass. „Aber er sollte doch endlich in Remission sein!“

„Finns Werte zeigen, dass die Chemotherapie nicht ausreicht. Wir werden beim nächsten Block ein weiteres Medikament verabreichen. Das verschafft uns etwas Zeit. Aber Finn braucht eine Stammzellspende. Das ist unumgänglich.“

„Wir haben uns schon testen lassen“, erwiderte Julian. „Weder meine Frau noch ich kommen als Spender infrage.“

„Haben Sie Geduld. Finn steht auf der Warteliste weit oben.“

„Aber das nutzt nichts, wenn sich kein passender Spender findet. Können Sie denn sonst nichts weiter tun, Herr Doktor?“

„Wir werden Finns Kopf bestrahlen, um zu verhindern, dass der Krebs in sein Gehirn streut. Mehr ist momentan nicht möglich.“

„Also geht alles von vorn los?“ Lena zitterte am ganzen Leib. „Als Finn krank wurde, sagte man uns, die Behandlung würde anderthalb bis zwei Jahre dauern. Diese Zeit ist fast herum.“

„Ich kann mir vorstellen, wie beängstigend das für Sie sein muss“, erwiderte Dr. Mauersberger. „Aber wir tun alles, um Finn zu helfen. Das versichere ich Ihnen.“

„Wird er auch ohne Stammzellspende wieder gesund?“

Der junge Arzt zögerte kurz.

„Das ist schwer zu sagen.“

Lena senkte den Kopf, und ihre zuckenden Schultern verrieten, dass sie weinte.

Julian trat neben sie und wollte tröstend einen Arm um sie legen, aber sie wich aus und schüttelte abwehrend den Kopf. Daraufhin trat er zur Seite und presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es in seinen Ohren knirschte. Mit einem Mal schien die Kluft zwischen ihnen tiefer als der Marianengraben!

„Wie lange noch, Herr Doktor?“, fragte er mit rauer Stimme. „Wie lange hat unser Sohn noch, wenn sich kein Spender findet?“

„Das lässt sich unmöglich genau sagen.“

„Dann schätzen Sie. Bitte. Wie viel Zeit haben wir noch?“

„Nun …“ Dr. Mauersberger zögerte. Er kam nicht zu einer Antwort, weil sich Finn plötzlich aufbäumte. Seine Augen verdrehten sich, und seine Gliedmaßen zuckten. Die Überwachungsgeräte piepten hektisch!

„Er krampft!“ Lena presste eine Hand vor den Mund. „Tun Sie doch etwas. Bitte, helfen Sie ihm!“

***

Julian kannte die Statistik.

Jährlich erkrankten in Deutschland rund sechshundert Kinder an ALL. Von ihnen erlitten etwa neunzig einen Rückfall. Rund jeder siebte Patient schaffte es nicht auf Anhieb, gesund zu werden und es auch zu bleiben. Finn war also nicht der Einzige.

Das war jedoch kein Trost.

Finn hat sämtliche Behandlungen tapfer durchgestanden, grübelte Julian. Anderthalb Jahre lang. Er hat den Dauerkatheter ertragen, die Übelkeit und dass er selten mit seinen Freunden spielen kann. Er muss auf vieles verzichten, das für andere Kinder selbstverständlich ist. Und nun sollte es fast geschafft sein. Die Behandlung war fast abgeschlossen.

Ich dachte, wir wären endlich auf der Zielgeraden. Finn war beinahe durch mit den elenden Infusionen. Und jetzt? Jetzt geht alles wieder von vorn los. Ich weiß nicht, wie der Kleine das schaffen soll. Er war so tapfer, aber irgendwann muss es auch genug sein.

Und die Stammzellspende? Lena und ich haben nicht die passenden Werte. Ohne diese Spende wird Finn den nächsten Frühling nicht mehr erleben. Sein Arzt hat es nicht ausgesprochen, aber ich habe es in seinem Gesicht gelesen. Wir müssen etwas tun, sonst werden wir ihn verlieren. Und ich fürchte, der Einzige, der noch etwas unternehmen kann, bin ich!

Julian hielt die Hand seines Sohnes fest in seiner.

Wie blass der Kleine war! Als hätte er kaum noch Leben in sich. Bis jetzt hatten sie ihre Hoffnung auf die Chemo setzen können. Nun jedoch war klar, dass es ohne eine Stammzellspende nicht gehen würde.

Seine Frau war kurz gegangen, um etwas zu trinken zu holen. Nun kam sie mit zwei Bechern zurück und stellte einen für ihn auf dem Nachttisch ab. Den anderen drehte sie zwischen den Händen und blies hinein. Dampf stieg auf, und der Geruch von Pfefferminz breitete sich im Krankenzimmer aus.

Julian wusste, es war Zeit für sein Geständnis. Er wollte es nicht erzählen, er konnte jedoch auch nicht länger schweigen.

„Lena …“ Seine Stimme klang rau wie das Krächzen eines Raben.

„Ich weiß“, erwiderte sie leise. „Ich habe auch Angst, aber wir werden das durchstehen. Irgendwie. So wie immer.“

„Das ist es nicht. Lena, ich muss dir etwas sagen.“

Seine Frau richtete den Blick auf ihn und lächelte ihn an, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass alles gut werden würde. Sie war so voller Wärme und Liebe, dass ihm die Worte regelrecht im Halse stecken blieben.

„Ich liebe dich“, krächzte er. „Bitte, vergiss das niemals.“

„Das weiß ich doch. Und ich werde es bestimmt nicht vergessen.“

„Womöglich doch. Lena – ich hatte eine Affäre.“

„W-was?!“ Ihr Lächeln erlosch wie das Licht eines Sterns, der verglühte.

„Vor vielen Jahren. Es war nur ein Mal, ein einziges, verdammtes Mal. Das schwöre ich dir.“ Gott, er wagte kaum, sie anzusehen. Er fühlte ihr Entsetzen wie einen körperlichen Schmerz. Was hatte er nur getan? Was?

Lena schwieg und strich sich über die Stirn, als müsste sie ihre Gedanken erst sortieren. Dann schüttelte sie dumpf den Kopf.

„Warum erzählst du mir das jetzt?“

„Weil es notwendig ist. Oh, Lena, dir zu sagen, es würde mir leidtun, trifft es nicht mal ansatzweise. Ich verwünsche mich seitdem selbst und wünschte, ich könnte es ungeschehen machen, aber das kann ich leider nicht.“

„Wer ist sie?“

„Das ist nicht wichtig. Es hatte nichts zu bedeuten.“

„Also hast du unsere Ehe für etwas Unwichtiges aufs Spiel gesetzt?“ Ihre Augen weiteten sich, als hätte er sich vor ihren Augen soeben in ein Ungeheuer verwandelt. Und genau so fühlte er sich auch.

„Das ist noch nicht alles“, brachte er mühsam hervor. Lena wurde kalkweiß, aber er konnte ihr das nicht ersparen.

„Aus der Begegnung ist ein Kind entstanden.“

Rumms! Der Becher entfiel ihren Fingern und polterte auf den Boden. Tee ergoss sich daraus.

„Es ist ein kleines Mädchen“, fuhr er fort. „Ihre Mutter hat mir damals freigestellt, ob ich Kontakt zu ihr haben will, und ich habe abgelehnt. Ich hielt es für das Beste. Nun jedoch könnte die Kleine die Rettung für unseren Sohn bedeuten. Sie ist seine Halbschwester. Es besteht die Möglichkeit, dass sie als Spenderin geeignet ist und …“

„Hör auf!“ Lena stöhnte. „Hör bitte auf. Das kann alles nicht wahr sein. Ich will das nicht glauben. Nicht du. Nicht du!“

„Es tut mir so leid.“ Seine Augen brannten. Er wollte ihre Hand nehmen, aber sie entriss ihm ihre Finger und wich zurück, als hätte sie sich an ihm verbrannt.

„Wann?“, wisperte sie. „Wann war das?“

„Vor sechseinhalb Jahren …“

„Als ich mit unserem Sohn schwanger war?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Du hast mit einer anderen geschlafen, während ich unser Kind ausgetragen habe?“

„Wir hatten damals eine Krise. Ich hatte gerade meinen Job verloren. Uns ging das Geld aus. Das Baby war unterwegs. Und unsere Nerven lagen blank. Wir haben uns wegen jeder Kleinigkeit gezankt. Ich wusste nicht mehr weiter, und da traf ich meine Exfreundin wieder. Bei ihr schien alles so leicht zu sein. Ich kam mir nicht mehr vor wie ein Versager. So ist es passiert. Ich habe es bedauert, kaum dass es vorbei war.“

Lena sah ihren Mann an wie einen Fremden.

Es wäre Julian lieber gewesen, sie hätte geschimpft, getobt oder geweint, aber ihr Schweigen war für ihn kaum zu ertragen.

„Bitte, verzeih mir. Ich habe es seitdem tausendfach bereut.“

Sie öffnete den Mund, klappte ihn jedoch sofort wieder zu und presste eine Faust vor ihre Lippen. Ihr Blick richtete sich auf ihren Sohn, der im Bett lag und schlief, während die Überwachungsgeräte auf ihn aufpassten.

„Und deine Tochter?“, fragte Lena leise. „Hast du sie je getroffen?“

„Nein, noch nie.“

„Bezahlst du für sie?“

„Ihre Mutter wollte kein Geld von mir. Sie kann ziemlich stur sein, deshalb spare ich jeden Monat eine Summe, für den Fall, dass sie es sich anders überlegt und etwas für die Kleine braucht.“

„Also ist das Geld in deinem Schreibtisch nicht für unsere Familie, sondern für sie? Julian, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was ich denken soll. Ich habe das Gefühl, dich überhaupt nicht zu kennen!“

„Doch, das tust du. Ich bin noch derselbe. Es hat sich nichts geändert.“

„Es hat sich einfach alles geändert. Du hast ein Kind mit einer anderen Frau!“

„Das ist wahr. Ich musste es dir jetzt erzählen, weil das Mädchen für Finn eine Wendung bedeuten könnte. Geschwister sind zu fünfundzwanzig Prozent kompatibel. Nun ja, in diesem Fall vielleicht weniger, weil sie Halbgeschwister sind, aber die Chance ist da!“

Lenas Lippen zitterten. Der Schock war ihr ins Gesicht geschrieben.

„Geh“, sagte sie schließlich. „Geh und pack deine Sachen.“

„Wie bitte?“

„Ich will, dass du ausziehst. Wenn ich heimkomme, bist du weg. Hast du gehört?“

„Nein, Lena, tu das nicht“, flehte er.

„Du hast mich betrogen und belogen. All die Jahre … Und du hast deine Tochter im Stich gelassen. Ich erkenne dich nicht wieder. Wenn Finn und ich dir irgendwas bedeuten, dann geh.“

„Lena …“

„Nein!“ Mit Tränen in den Augen sah sie zu ihm hoch. „Verschwinde endlich!“

***

Oh, das hätte ich fast vergessen!

Emma huschte auf Zehenspitzen zum Kühlschrank. Ihre Mutter schlief, und sie mochte es gar nicht, wenn sie dabei gestört wurde, deshalb machte die Sechsjährige keinen Mucks. Ihren Orangensaft musste sie sich aber holen. Mama würde sonst schimpfen, wenn sie die Flasche kontrollierte und nichts fehlte.

Emma zerrte an der Kühlschranktür. Diese schwang auf. Im selben Augenblick klirrte es im Seitenfach hörbar. Die Saftflasche stieß gegen das Ketchup.

„Oh nein!“ Emma zuckte zusammen und wagte kaum zu atmen, aber nebenan blieb alles still. Offenbar hatte ihre Mutter nichts von dem Lärm mitbekommen. Ein Glück!

Leise trug Emma die Flasche zum Tisch und schüttete etwas vom Inhalt in ein Glas. Dann brachte sie den Saft zurück zum Kühlschrank und schloss mit angehaltenem Atem die Tür. Sie leerte das Glas und setzte es aufatmend ab.

Da schrillte unvermittelt die Türglocke! Emmas Herz stockte kurz.

Nebenan erklang ein unwirsches Schnauben. Auweia, nun war ihre Mutter doch wach geworden!

Hastig sauste Emma zur Wohnungstür und öffnete.

Draußen stand Till, der Postbote. Er war ein schlaksiger junger Mann, der beinahe zweimal in seine Uniform gepasst hätte und immer so blass war wie das Gespenst aus ihrem Geschichtenbuch. Ein silberner Ring klemmte an seiner Unterlippe. Emma fand das faszinierend. Ob er sich da manchmal draufbiss?

„Hey, Emma“, sagte er und kritzelte etwas auf eine gelb-weiße Karte. „Könnt ihr ein Päckchen für eure Nachbarin annehmen? Sie ist nicht da.“

„Das darf ich nicht.“

„Geht schon in Ordnung. Du musst nicht unterschreiben. Ich stecke Frau Keller einfach eine Karte in den Briefkasten. Dann weiß sie, wo sie ihr Päckchen abholen kann.“

„Aber ich soll nicht …“ Emma unterbrach sich, als Till ihr das Päckchen neben den Telefonschrank stellte, sich an die Mütze tippte und davoneilte.

Emma schloss die Tür wieder. Als sie sich umdrehte, stand ihre Mutter in der offenen Schlafzimmertür und steckte sich eine Zigarette an.

„Wo ist unser Paket?“

„Till hatte keines für uns. Nur für Frau Keller.“

„Ach, und das lädt er einfach bei uns ab? So geht das aber nicht. Ich hatte einen langen Nachtdienst und brauche meinen Schlaf.“ Ihre Mutter fluchte leise.

Emmas Wangen begannen zu glühen.

„Ich werde mich beschweren. Dieser Postbote glaubt wohl, er könnte sich alles erlauben. Und du machst ihm auch noch auf!“

„Weil er sonst bestimmt noch mal geklingelt und dich geweckt hätte.“ Nervös trat Emma von einem Fuß auf den anderen.

„Nun, geweckt hat er mich auch so. Nicht einmal ein paar Stunden Schlaf werden einem hier gegönnt. Ich hab das alles so satt.“ Ihre Mutter wandte sich ab und steuerte die Küche an. Wenig später war das Rattern der Kaffeemaschine zu hören.

Emma blieb unschlüssig stehen. Ihre Augen brannten. Sie nahm sich einen Apfel aus der Schale neben dem Telefon und biss hinein, aber so richtig schmecken wollte er ihr nicht. Sie kaute, schluckte und ließ die Frucht sinken.

Mami wäre es bestimmt lieber, sie hätte mich nicht bekommen, wirbelte es durch ihren Kopf. Dann würde sie nicht so oft gestört. Sie will mich gar nicht. Papa wollte mich auch nicht, sonst würde er uns bestimmt manchmal besuchen.

Niedergeschlagen schaute Emma vor sich hin.

Die Schale mit Äpfeln war neu. Die hatte ihre Mutter gekauft, als Dr. Frank bei ihr Skurbutt, oder wie das hieß, festgestellt hatte. Seitdem musste Emma jeden Tag einen Apfel essen. Sie mochte die Äpfel. Manchmal nahm sie ihrer Freundin Jette einen mit.

Ob Jette heute auf dem Spielplatz war? Einen Versuch war es wert.

Emma hängte sich ihr Band mit dem Wohnungsschlüssel um den Hals, schlüpfte in ihre Wetterjacke, nahm einen Apfel für Jette und stopfte ihn in ihre Jackentasche. Dann verließ sie die Wohnung.

Ihre Mutter würde ihren Kaffee trinken und sich wieder hinlegen, das wusste sie.

Es nieselte sacht, als sie ins Freie trat.

Emma stiefelte zum Spielplatz hinüber. Doch das Klettergerüst war ebenso verlassen wie die beiden Schaukeln, die traurig im Wind schwangen. Sie setzte sich auf eine nieder, knabberte lustlos an ihrem Apfel und baumelte ein bisschen mit den Beinen, bis die Schaukel stärker schwang.

„Hallo, Emma! Soll ich dich anstoßen?“ Dr. Frank kam den Gehweg entlang und winkte ihr. An diesem Tag trug er keinen weißen Kittel, sondern eine braune Wetterjacke, deshalb erkannte sie ihn erst gar nicht. Aber sein freundliches Lächeln war unverkennbar.

Sie nickte lebhaft.

„Anschubsen wäre schön.“

„Dann halte dich gut fest.“ Er trat hinter sie und stieß sie sacht an.

Emma lehnte sich zurück und hatte das Gefühl, dem Himmel entgegenzufliegen. Ein leises Jauchzen entfuhr ihr. Das war schön!

„Wie geht es dir, Emma?“

„Gut! Ich esse jeden Tag einen Apfel und trinke ein Glas Orangensaft.“

„Das höre ich gern.“ Er gab ihr noch eine Weile Schwung, bis von oben ein Ruf kam.

„Komm rein, Emma! Sofort!“

„Och.“ Emma sprang von der Schaukel und schaute traurig zu, wie diese ausschwang.

„Wir sehen uns, Emma.“ Dr. Frank nickte ihr zu und setzte seinen Weg fort.

Emma sauste zurück nach Hause. Ihre Mutter wartete schon an der Wohnungstür auf sie.

„Was wollte Dr. Frank von dir?“

„Er hat mich nur angeschubst.“

„Und weiter nichts?“

„Und mich gefragt, wie es mir geht.“

„Also doch. Ausgehorcht hat er dich. Er soll sich bloß nicht einfallen lassen, uns in unser Leben reinzureden. Wir brauchen niemanden, der uns sagt, was wir tun oder lassen sollen.“ Ihre Mutter stülpte die Lippen vor.

„Spielst du mit mir?“, bat Emma.

„Später vielleicht.“ Damit verschwand ihre Mutter wieder im Schlafzimmer. Und Emma blieb sich selbst überlassen.

Leise huschte sie in ihr Zimmer, angelte ihr Püppchen vom Bett und begann es zu kämmen.

„Komm, wir spielen verstecken, Liesel“, wisperte sie. „Aber wir müssen leise sein, hörst du?“

***

Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen.

Finn kniff die Lider zusammen und riss sie wieder auf. Es half nichts. Er konnte nicht mehr erkennen, was da in seinem Lehrbuch stand. Dabei hatte er die Rechenaufgaben an diesem Nachmittag noch lösen wollen. Aber daraus würde nichts mehr werden. Seine Augen brannten und tränten.

Traurig legte er das Buch zur Seite.

Diesmal würde er wohl nicht mehr darum herumkommen, die Klasse zu wiederholen. Der Doktor hatte ihn schon darauf vorbereitet, dass seine Behandlung noch etliche weitere Monate beanspruchen würde. Mindestens! Dabei hatte er so hart gelernt, damit er den Anschluss nicht verpasste.

Es war blöd, immer der Junge zu sein, der im Unterricht fehlte, der nicht mit zum Wandertag durfte und bei Klassenfahrten daheimbleiben musste, weil sie zu anstrengend für ihn wären. Auch beim Sport konnte er nur zuschauen.

Er war der Außenseiter, bei dem die anderen Kinder nicht recht wussten, was sie mit ihm anfangen sollten.

Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel. Hastig wischte er sie weg. Bloß nicht weinen! Das half ja alles nichts. Er würde eben die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Wie die beiden Jungen aus den Geschichten, die er so liebte. Huck Finn und Tom Sawyer hießen sie. Seine Mutter hatte ihm ihre Abenteuer so oft vorgelesen, dass die beiden wie seine besten Freunde waren.

Neben seinem Bett stand das silberfarbene Gestell mit dem Infusionsbeutel. Seit einer Stunde tropfte das Zellgift nun schon in seine Vene, und es würde noch dauern, bis die Infusion abgeschlossen war.

Seitdem er wieder mit Chemotherapie behandelt wurde, tat ihm sein ganzer Körper weh. Außerdem war er so schlapp, dass er sich kaum dazu aufraffen konnte, aus dem Bett aufzustehen. Ihm war häufig flau, und am Morgen war sein Urin rötlich verfärbt gewesen, was seine Mutter in helle Aufregung versetzt hatte.

Dr. Mauersberger hatte ihm daraufhin ein Mittel verschrieben. Bis jetzt half es aber nicht. Wenn er zur Toilette musste, war das Wasser in der Schüssel hinterher noch immer rötlich verfärbt.

Das Schlimmste war die Langeweile. Finn konnte nicht lange herumlaufen, nicht lange lesen oder lernen. Er ermüdete schnell, aber schlafen konnte er auch nicht. So blieb ihm nur, herumzuliegen, die Blätter zu zählen, die der Herbststurm vor seinem Fenster vorbeitrieb, und zu hoffen, dass es bald Winter wurde und er den Chemo-Zyklus hinter sich hatte. Leider waren es bis dahin noch mehrere Monate.

Finn schluckte trocken. Autsch. Das tat weh. Sein Hals war rau und trocken von den Medikamenten.

Wenn er wenigstens einen Kumpel mit im Zimmer gehabt hätte! Mit einem anderen Kind hätte er spielen können. Dann wäre es nicht so langweilig gewesen. Aber das zweite Bett war leer, und Finn wusste nicht, ob und wann er einen Zimmergenossen bekommen würde.

Er hatte es satt. Das verriet er jedoch niemandem. Nicht einmal seiner Mutter. Ihr am allerwenigsten. Sie schaute immer traurig, und er mochte sie nicht noch mehr bekümmern. So behielt er für sich, wie elend er sich fühlte.

„Nanu? Da stimmt doch etwas nicht.“ Dr. Mauersberger war hereingekommen und überprüfte die Infusion. „Sie stockt.“ Er stieß mehrfach gegen den Schlauch, drehte an einem Rädchen und nickte zufrieden. „Schon besser. Wie fühlst du dich, Finn?“

„Ich mag nicht mehr“, wisperte Finn.

„Das glaube ich dir. Halte noch eine halbe Stunde durch, dann bist du von dem Tropf erlöst.“

„Er ist böse.“

„Warum glaubst du das?“

„Weil mir davon immer schlecht wird.“

„Ich weiß, das fühlt sich nicht gut an, aber der Tropf ist nicht dein Feind, sondern dein Verbündeter.“

„Das glaub ich nicht.“

„Es stimmt aber. Er kämpft mit dir gegen die kranken Blutzellen.“

„Dann ist er so was wie mein Freund?“

„Allerdings. Echte Freunde sind nicht immer nur angenehm, weißt du? Sie helfen uns manchmal auf ihre eigene Weise durch schwere Zeiten, auch wenn wir das nicht mögen.“

„Hm.“ Finn wäre es lieber gewesen, die Chemotherapie endlich hinter sich zu haben.

Der Kinderarzt untersuchte ihn noch, dann war Finn wieder allein. Jedoch nicht lange.

Unvermittelt wehte Superman zu ihm herein – oder vielmehr sein jüngerer Vertreter. Ein Junge von ungefähr acht Jahren spähte ins Zimmer. Er trug einen rot-blauen Anzug mit einem goldenen S auf der Brust.

„Hey, cool, du hast ja dein Reich ganz für dich alleine.“ Er grinste Finn an, und zahllose Sommersprossen auf seiner Nase schienen zu tanzen. Auf seinem haarlosen Kopf saß eine blau-rote Kappe.

„Hey, Superman“, erwiderte Finn matt.

„Oh, das Kostüm ist nur Tarnung.“ Sein Besucher grinste. „Ich heiße eigentlich Paul.“

„Ich bin Finn. Warum bist du hier, Paul?“

„ALL. Und du?“

„Auch. Ich hab dich hier noch nie gesehen.“

„Das liegt daran, dass meine Eltern erst mit mir hergezogen sind. Wir haben bisher in Berlin gewohnt, aber dann wurde Papa versetzt, und hier sind wir nun.“ Paul sank auf die Bettkante nieder und sah zuerst zu dem Tropf, dann zu Finn. „Wie oft warst du schon dran?“

„Fünf Mal.“

„Ich bin bei Nummer vier.“ Paul deutete auf seinen Hickman-Zugang. „Papa sagt, die Medizin ist gut. Ich bekomme Chemo-Krieger, die gegen die bösen Krebs-Krieger ankämpfen. Aber manchmal, da will ich nicht mehr kämpfen. Da bin ich so müde.“

„Das bin ich auch ganz oft, aber das darf ich nicht sagen, sonst gucken meine Eltern traurig.“

„Das ist nicht schön, oder?“

Sie tauschten einen Blick und verstanden sich wortlos.

„Ist dir auch ständig übel?“, fragte Finn.

„Manchmal. Und dir?“

„Oft. Und mein Mund tut mir weh.“

„Warte mal …“ Paul kramte in der Tasche seines Anzugs und brachte eine Tüte hervor. „Hier, nimm!“

„Lakritze? Mag ich nicht.“

„Die helfen, wenn dir schlecht ist. Probier mal.“

„Echt?“ Finn horchte in sich hinein, entschied, dass es nicht viel schlimmer werden konnte, und langte zu. Er nahm eine der schwarzen Schnecken, zupfte ein Stück ab und lutschte darauf herum. „Schmeckt gar nicht so übel.“

„Sag ich doch.“ Paul nickte zufrieden.

Eine Weile kauten sie schweigend auf ihren Lakritzen herum.

Dann seufzte Finn.

„Streiten deine Eltern auch so oft?“

„Nee, die hassen sich bloß.“

„Warum denn?“

„Weiß ich nicht genau.“ Paul legte die Stirn in bekümmerte Falten. „Mama hat einen neuen Freund, glaube ich. Das findet Papa nicht so prickelnd.“

„Auweia!“

„Hm-m. Sie sagt, sie will noch was vom Leben haben. Nicht bloß Krankenhäuser sehen.“

„Tut mir echt leid.“ Finn wusste gar nicht, was er sagen sollte. „Meine Eltern haben sich schlimm gezankt, als sie dachten, ich würde schlafen. Papa hat noch ein Kind, sagt meine Mami. Ein Mädchen.“

„Du hast also eine Schwester? Cool!“

„Weiß nicht. Ich kenne sie ja nicht. Mama will auch nicht, dass ich sie treffe. Oder nach ihr frage. Sie guckt dann immer so, als würde sie gleich weinen. Da frage ich lieber nicht nach.“

„Eltern sollten nicht streiten“, fand Paul. „Sie sind doch eine Familie.“

„Finde ich auch.“

„Magst du Filme?“

„Klar! Du nicht?“

„Doch. Ich hab ein Tablet mit ganz vielen tollen Filmen drauf. Hat Papa mir geschenkt. Für die Klinik. Alleine gucken ist aber doof. Soll ich es holen? Wir könnten Mulan gucken. Oder Aladdin. “

„Klingt super.“

„Prima! Bin gleich wieder da.“ Paul stemmte sich vom Bett hoch und stapfte aus dem Zimmer.

Finn setzte sich vorsichtig auf. Manchmal wurde ihm schwindlig, wenn er sich schnell bewegte, aber jetzt ging alles gut.

Die Tür wurde wieder geöffnet, aber nicht Paul wirbelte herein, sondern seine Mutter. Sie hatte zwei Papiertüten dabei, die sie nun auf dem Stuhl absetzte.

„Ich habe dir einen CD-Spieler und ein paar Hörspiele besorgt“, erklärte sie und küsste ihn auf die Stirn. „Damit dir die Tage nicht so lang werden.“ Ihre Augen waren gerötet und verrieten, dass sie geweint hatte.

„Danke schön. Das ist toll!“ Finn stöberte in der Tüte und fand viele lustig klingende Hörspiele. „Kommt Papa auch her?“

Seine Mutter schwieg.

„Seid ihr euch gar nicht mehr gut?“

Seine Mutter sagte weiterhin nichts, aber ihr Blick sprach Bände.

Finn wurde ganz flau, und diesmal, das ahnte er, würden auch die Lakritze seines neuen Freundes ihm nicht helfen …

***

Am liebsten wäre Lena auf der Stelle zurück ins Krankenhaus gefahren, aber sie wusste, dass sie ihrem Sohn damit keinen Gefallen tun würde. Finn spürte ihre Angst – und ihren Kummer über den Betrug seines Vaters. Sie bemühte sich nach Kräften, ihn nicht mit ihren Sorgen zu belasten, aber Kinder waren wie sensible Tiere: Sie spürten jede Regung und teilten sie prompt.

Wie konnte Julian das tun?, haderte sie. Wie konnte er mich betrügen, als ich im achten Monat schwanger war? Ich hatte Wasser in den Beinen und Schmerzen im Kreuz, und er … er ist mit seiner Ex ins Bett gegangen? Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.

Sie konnte es nicht fassen. Das war doch nicht ihr Mann! Nicht der Mann, in den sie sich verliebt und dem sie vertraut hatte. Sogar, als die Zeiten schwer gewesen waren und sie nicht gewusst hatten, wie sie die Miete bezahlen sollten, hatten sie immer zusammengehalten. Zumindest hatte Lena das bis jetzt gedacht.

Was hat er mir wohl noch verschwiegen? Schulden? Steuerhinterziehung? Noch mehr Affären?

Sie presste die Fäuste gegen ihre Schläfen und stöhnte.

In ihrem Kopf ging es drunter und drüber. Es war, als wären ihre Gedanken aufgeschreckte Hühner, die aus dem Stall entkommen waren und nun in alle Richtungen davonstoben.

Julian hat mich sieben Jahre lang angelogen. Wie soll ich ihm je wieder ein Wort glauben?

Ihre Augen schwammen in Tränen, aber neben dem Schmerz waren noch andere Emotionen in ihr: Empörung und bittere Enttäuschung.

Er hätte mir nie von der anderen Frau erzählt, wenn es Finn nicht so schlecht gehen würde. Ich ertrage es kaum, Julian anzusehen. Natürlich merkt Finn, dass wir ihn nicht mehr zusammen besuchen. Und er stellt Fragen. Zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.

Lena schlang die Arme um sich selbst. Sie hatte Angst vor dem, was vor ihr lag: vor dem nicht enden wollenden Kampf um das Leben ihres Kindes – und vor dem Ende ihrer Ehe. Sie empfand keinen Hass, nur eine grenzenlose Trauer um das, was zwischen ihrem Mann und ihr zerbrochen war.

Ihr Haus war so leer und still geworden, dass das Ticken der Standuhr im Flur überlaut wirkte. Dunkel war es auch. Ganz anders als das helle, fröhliche Zuhause, das es noch vor zwei Jahren gewesen war, als ihr Leben scheinbar heil gewesen war.

Entschlossen schaltete Lena sämtliche Lichter und das Radio ein. Johannes Oerding sang von „Guten Tagen“. Sie stöhnte und schaltete das Radio wieder aus.

Die fröhliche Melodie war mehr, als sie momentan ertragen konnte. Da hielt sie lieber die Stille aus. Die passte auch zu dem Gefühl in ihrem Inneren. Da war eine Leere, die sie bisher nicht gekannt hatte. Als wären alle guten Empfindungen aus ihr verschwunden.

Und warum das alles? Weil wir damals eine Krise hatten? Julian hat sich lieber in eine Affäre geflüchtet, anstatt die Probleme mit mir zu lösen. Das hätte ich nie erwartet. Warum hat er nicht mit mir geredet? Warum lieber mit ihr?

Nun flossen doch wieder die Tränen.

Bisher wusste sie nichts von der anderen Frau. Wer es war. Wie seine Tochter hieß …

Um sich abzulenken, schaltete sie ihren Laptop ein. Er stand auf dem Küchentisch.

Lena rief die Seite mit ihrem Blog auf. Seitdem ihr Sohn krank war, führte sie ein Online-Tagebuch und berichtete über ihre Sorgen, ihre Gedanken und alles, was mit der Therapie zusammenhing. Oft kamen Antworten von anderen Eltern, sobald ein neuer Beitrag online ging.

Sie hatte nicht einmal geahnt, wie viele andere Familien von der Leukämie-Erkrankung eines Kindes betroffen waren. Es waren mehr, als sie jemals hätte ahnen können.

Ihr Eintrag über Finns Rückfall stand noch aus. Lena starrte auf den Monitor, aber ihre Finger berührten keine einzige Taste. Stattdessen starrte sie die gerahmte Fotografie auf dem Regal an. Darauf plantschten Julian und Finn am Ostseestrand und lachten fröhlich in die Kamera. Das war vor Finns Diagnose gewesen – aber nach Julians Betrug.

Würde es von nun an immer ein Vorher-Nachher geben? Lena wusste nicht, wie sie das ertragen sollte.

Ich muss nachher noch Rechenaufgaben für Finn heraussuchen, ermahnte sie sich. Er soll den Anschluss an den Lernstoff nicht völlig verlieren. Das ist wichtig für seine Zukunft. Er kämpft so sehr, das darf nicht alles umsonst sein.

Sie erwog gerade, sich einen Becher Tee aufzubrühen, als sie den Haustürschlüssel klappern hörte. Wenig später waren Schritte in der Diele zu hören.

Lena sprang auf, als hätte sich eine Sprungfeder in ihren Hintern gebohrt. Ihr Mann kam in die Küche. Er sah elend aus. Schatten zeichneten sich auf seinen Wangen ab, sein Hemd stand offen und war zerknittert, und er schien sich seit zwei Tagen nicht mehr rasiert zu haben.

„Ich will mir nur ein paar Sachen holen“, erklärte er, bevor sie auch nur Luft holen konnte. „Es sei denn, du bist jetzt bereit, mir zuzuhören. Lass uns reden, Lena. Bitte. Wir müssen das klären. Ich möchte nicht ausziehen, und ich glaube auch nicht, dass du das wirklich willst.“

„Doch, genau das will ich.“

„Aber das hier ist auch mein Zuhause.“

„Das ist wahr. Willst du hierbleiben? Dann werde ich ausziehen. Mit Finn.“

„Nein, das will ich nicht.“ Er schüttelte den Kopf, und seine blauen Augen verdunkelten sich, als würde ein Schatten darauf fallen. Von seinem innigen Lächeln, das sie früher so unwiderstehlich gefunden hatte, war keine Spur zu sehen. „Das Haus steht dir zur Verfügung“, sagte er mit rauer Stimme. „Ich will nicht, dass du es verlässt.“

„Dann pack deine Sachen ein. Nimm, was immer du brauchst. Es ist mir gleich.“

„Lena …“

„Nicht“, bat sie ihn. „Ich will nicht mit dir reden. Dich nur anzusehen, bringt mich beinahe um. Verstehst du das nicht?“

Er schwieg sekundenlang.

„Doch. Ich verstehe dich. An deiner Stelle … Himmel, ich weiß nicht, was ich tun würde. Also gut: Ich werde das Nötigste packen, und dann bin ich weg. Wenn du reden willst, wann auch immer – ich bin im Gästezimmer eines Kollegen untergekommen. Die Adresse habe ich hier notiert.“ Er heftete einen Zettel mit einem Magneten an die Kühlschranktür.

Lena erwiderte nichts. Sie war kurz davor, den Zettel abzureißen und zu verbrennen.

Julian wandte sich ab und verließ die Küche. Eine Weile hörte sie ihn nebenan rumoren. Schranktüren wurden geöffnet und geschlossen. Wenig später stand ihr Mann wieder in der Tür.

„Ich denke, ich hab erst mal alles.“ Unschlüssig sah er sie an, als würde er darauf warten, dass sie ihn aufhielt.

Lena schlang die Arme um sich selbst und biss sich auf die Lippen.

„Lena?“ Das Flehen in seinen Augen traf sie wie ein Stich ins Herz.

Sie schüttelte den Kopf, konnte und wollte nicht nachgeben. Es tat so weh, dass sie ihren Schmerz am liebsten herausgeschrien hätte.

„Wie heißt sie?“, fragte sie stattdessen leise.

Er musste nicht fragen, wen sie meinte.

„Emma. Ihr Name ist Emma.“

„Das ist ein süßer Name.“ Es gab Lena einen Stich. Früher hatte sie sich zwei oder drei Kinder gewünscht. Bei Finns Geburt hatte es jedoch Komplikationen gegeben. Sie war beinahe verblutet. Nur eine Operation hatte ihr das Leben gerettet. Damals hatte der Gynäkologe ihr dringend von einer weiteren Schwangerschaft abgeraten. So war Finn ein Einzelkind geblieben.

Eine kleine Emma – das hätte ihr gefallen.

Sie kämpfte mit sich.

„Kannst du mit ihrer Mutter reden?“ Jedes einzelne Wort schien in ihrer Kehle festzustecken und kaum über ihre Lippen zu kommen. „Kannst du sie bitten, Emma als Spenderin testen zu lassen? Für unseren Sohn?“

„Natürlich. Das hatte ich vor. Willst du mitkommen?“

„Etwa zu deiner Geliebten? Nein, auf keinen Fall.“

„Sie ist nicht meine Geliebte. Schon lange nicht mehr. Und es wäre gut, wenn du dabei wärst. Svenja ist … Nun, sie kann manchmal ein wenig schwierig sein. Es wäre mir lieb, wenn du mitkommen würdest und mit ihr redest. Von Mutter zu Mutter. Ich glaube, sie ist eher bereit, dir zuzuhören, als mir.“

Lena kämpfte mit sich. Sie wollte das nicht, aber für ihren Sohn würde sie durchs Feuer gehen. Da konnte sie auch eine Begegnung mit der Geliebten ihres Ehemanns überstehen, oder?

„Also schön“, gab sie nach. „Ich werde dich begleiten. Dieses eine Mal noch …“

***

Lena zitterte am ganzen Leib.

Ob vor Erregung oder Empörung wusste sie selbst nicht. Ihre Nerven flatterten, als stünde ihr eine komplizierte Operation bevor. Ihr graute vor der Begegnung mit der früheren Geliebten ihres Mannes!

Sie wird einwilligen, machte sich Lena selbst Mut. Natürlich wird sie das. Sie ist selbst Mutter und kann nachempfinden, wie man um sein Kind bangt. Sie wird ganz sicher zustimmen, Emma testen zu lassen.

Ungewiss ist nur, ob ihre Tochter als Spenderin überhaupt infrage kommt. Oh, ich hoffe es so sehr. Ich weiß nicht, was wir tun sollen, wenn ihre Werte nicht passen. Finn geht es immer schlechter. Die Chemotherapie reicht nicht aus. Die Krebszellen sind viel stärker als er …

Wieder lief ein Beben durch ihren Körper.

Vor ihrem Wagen passierten zwei Kinder einen Zebrastreifen. Lena bremste automatisch ab und gab Gas, als die beiden vorbeigegangen waren.

„Sie haben Ihr Fahrziel erreicht“ , gab das Navigationsgerät an ihrer Frontscheibe wenig später bekannt.

Lena parkte in einer Lücke am Straßenrand ein und spähte nach draußen. Die Wohngegend war hübsch, das musste sie zugeben. Gepflegte Mehrfamilienhäuser, grüne Gärten und uralte Bäume, die die Straße säumten. Hier in Grünwald schienen die Uhren langsamer zu ticken als in München. Sogar ein Spielplatz befand sich ganz in der Nähe.

Julians frühere Freundin hat sich eine schöne Wohnlage ausgesucht, ging es ihr durch den Kopf. Das gelbe Haus mit den Rosen im Vorgarten wirkt einladend und gepflegt. Hier lebt sie also mit Julians Tochter?

Lena verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Sie hatte sich geweigert, mit ihrem Ehemann zu fahren, und darauf bestanden, ihren eigenen Kleinwagen zu nehmen. Julian hatte protestiert, aber schließlich nachgegeben und ihr die Adresse der Flugbegleiterin gegeben.

Lena krampfte die Hände um das Lenkrad.

Ich will da nicht reingehen. Ich will das nicht. Aber was bleibt mir sonst übrig?