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Warum hegt ein Mann SM-Neigung? Warum scheitert eine zunächst aussichtsreiche Karriere? C. - A. Rebaf versucht sich in verschiedenen einzelnen Geschichten darauf antworten zu geben. Ein Leben in der Post-68-Ära. In West-Berlin, Oberbayern und der Kurpfalz, mit beruflichen Abstechern in die USA. Verpasste Chancen einer Liebe, schlechte Noten im Diplomzeugnis und deren unerwartete Ursachen. Eine erste frühe Erfahrung mit einem Luftgewehr und zu Beginn eine historische Fantasie-Geschichte. Viele Kollegen und jetzt die Vorbereitung auf das Ende. All das vereinigt C. - A. Rebaf in diesem Band.
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2024
C. - A. Rebaf
Drei Kormorane über der Weschnitz
und andere Erzählungen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Danke!
Widmung
Drei Kormorane über der Weschnitz
Eine Tracht Prügel auf Verlangen
Der Sonntagskuchen oder die Geschichte vom Bäcker Müller
Jagdzeit
Horrido auf der Lichtwiese
Nazenzahl oder Mikroumgebung II
Erwartung
Das trialistische Prinzip
Das große Kotzen
Das Bauhaus und die Trialisten
Falafel in Berlin-West
Theater am Schiffbauerdamm
'Schwefelgasig'
Eine steile Karriere
Das Manager-Lebensprogramm
on tour_California
Sprite bei Gloriamontanus
Ersatzväter und Karriere
Erkenntnisse in der Gruppendynamik
Cheddar mit Portwein in tief hängenden Wolken von Londons Bankenviertel
Die Zweifel Walts in der internationalen Firma
Der Pfau am großen Tag
Wiederauferstehung einer Calla
Gigot in Nègre
Balkonraucher
Eine Zigarette spaziert durch den Wald
Die Dämonen der Hopi
Felix im Hospiz
Der plötzliche Tod von Walt dem Manager
Die Bank am Burgenweg
Impressum neobooks
Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Alle namentlich genannten Personen sind frei erfunden.
Buchumschlag: Collage von C.-A. Rebaf auf der Basis einer Tuschezeichnung von Reinhard Bienhaus († 2012) ‚Alte Peterskirche Weinheim‘.
Alle Rechte bei C.-A. Rebaf 2024
Für eine erste umfassende Überarbeitung lektorierte meine Tochter Lea meinen ersten Rohentwurf. Ich bin hier zu grossem Dank verpflichtet.
Ralf Rabemann hat mir durch die Diskussion über die Gedichte sehr geholfen. Ebenfalls danke!
Dem Kellers Hoinds gewidmet
Ich kam mit der Dampfeisenbahn aus Frankfurt an. Aus meiner Heimatstadt Battenberg musste ich dort umsteigen, um in Richtung Süden weiterzureisen.
Wir – meine Reisebegleiterin, die Zofe, und ich – sie wissen doch, ‚Frau‘ reist nicht alleine in meinen Zeiten – also wir hatten ausreichend Zeit und konnten noch einen Tee mit Gebäck im vornehmen Restaurant im Bahnhof Frankfurt nehmen, bevor die Rhein-Neckar-Bahn zwei Stunden später losfuhr. Ich hasse Eile, die beim Reisen immer mehr um sich greift und freute mich immer auf zeitlich vernünftige Anschlüsse.
Auf dem Perron in einem winzigen Städtchen mit Namen ‚Weinheim‘ stiegen wir dann aus dem Zug. Ich hatte von einem ‚Wunderwasser‘ dort gehört, dass das Städtchen binnen kurzem zur Kurstadt ‚Bad Weinheim in der Kurpfalz‘ machen sollte.
Wir hatten Mühe, einen Träger zu finden, aber meine Begleiterin, Fräulein Gunda, kann so wunderbar herrlich durch die Finger pfeifen. Ich würde das auch gerne, aber einer Baronesse geziemt sich das nicht. Gut, dass sie mich begleitet.
Beim Umschauen gen Osten sah ich einen Gebirgszug, der den Aufstieg zum Odenwald markierte. Meine geologischen Studien lehrten mich, dass der hintere Odenwald aus lang-gezogenen Buntsandsteinhügeln besteht. Aber hier vorne, wo der Rheintal-Graben einmal eingebrochen war, da hat der Regen den Buntsandstein abgeschwemmt und der harte Granit schaut hervor. Meinem geübten Augen sprangen sofort die drei Tal-Einbuchtungen am Berg auf, die, gleichsam wie Sammelschüsseln, das Regenwasser aufnahmen und es an ihrem Grunde als Quellen oder Brunnen abgaben.
„Baronesse von Reymont-Bafier, Baronesse von Reymont-Bafier!“, rief ein Träger meinen Namen. Meine Begleitung winkte ihm und erledigte die Details. Er zog einen Gepäckwagen hinter sich und lud alles auf: mehrere Schrankkoffer, leichte Ledertaschen wie von Luis Vuiton, alles was ein Fräulein meines Standes auf Reisen benötigt. Auf der Mütze des Trägers stand in goldenen Lettern 'Kurhotel Pfälzer Hof'.
Der Zug hatte nur einen kurzen Aufenthalt und schnaufte nach schrillen Signalen aus der Trillerpfeife des Schaffners in seiner preussisch-blauen Uniform mit Goldknöpfen weiter.
Erst jetzt konnten wir die Gleise überqueren. An der Bahnhofstrasse wartete eine Kutsche – ebenfalls mit der gleichen Aufschrift. Wir fuhren nur wenige Meter einem Flüsschen entlang, das wie meine Begleitung in Erfahrung bringen konnte 'Weschnitz' hiess.
Ich war erschöpft von der langen Reise und zog mich sofort in meine gemietete Suite zurück. Für die Formalitäten hatte ich ja mein Personal.
Die Fenster meines Zimmers gingen auf der Seite, die der Strasse abgewandt war, nach Osten und gaben einen schönen Blick in einen quadratisch angelegten Garten des Hotels frei. In der Mitte stand ein Brunnen, aus dem ständig Wasser aus Rohren sprudelte, die nach meinem Dafürhalten genau in die vier Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. Ich sah elegante Herrschaften mit Trinkgläsern, die in kleinen Schlucken das Wasser genossen. Ich musste lächeln, rief aber dann erst einmal meine Begleitung Gunda, um mich für ein Mittagsschläfchen etwas zu entkleiden. Mein neuestes Reisekostüme sollte doch geschont bleiben und nicht zerknittert werden!
Nach dem Nachmittagstee, mit einem herrlichen Mandel-Gebäck des Hauses, schaute ich mir mit meinen 'fachfrauischen' Augen den Brunnen näher an und sah, dass er offensichtlich über ein Wasserleitungsrohr gespeist wurde, das in Richtung eines Hügels ging, der sich später als ‚Hirschkopf‘ herausstellte.
Ich nahm eines der schönen Gläser mit der gravierten Aufschrift des Hotelnamens in edel hinterlegten goldenen Buchstaben und liess ihn von einem Kellner füllen. Dann versuchte ich das Wasser in kleinen Schlucken und musste lauthals aus vollem Herzen lachen. Das geziemt sich nicht für eine Baronesse, aber das ganz strenge spanische Hofzeremoniell hatte ich Gott sei Dank nie leben müssen. Mein Freigeist hätte sich auch heftig dagegen gewehrt.
Der Geschmack des in mehreren Schiefertafeln mit Kreideschrift angepriesenen Heilwassers war für mich eindeutig: reines sauberes Oberflächenwasser, dem ich eine Heilwirkung schon vom ersten Eindruck her vollständig absprach! Woher mag wohl die Wasserleitung kommen, die den Brunnen speist?
Ist es eine Begabung? Ein weiterer Sinn? Meine Geschmacksnerven waren extrem daraufhin ausgeprägt, Wasser zu schmecken. Ich habe sie auch alle schon probiert, die Wässer aus Bad Ems, aus Bad Nauheim und Wiesbaden, aus Marien- und Karlsbad, natürlich Baden-Baden und die speziellen ungarischen aus Hévíz oder die italienischen aus Montegrotto, aber auch Bad Pyrmont, Bad Sulza, Bad Wildungen, Bad Cannstadt und Bad Buchau. Schweflige und moorige Wässer waren schwierig, aber ich habe inzwischen die Nuancen zu unterscheiden gelernt. Ich bin mir sicher, hätte Marie Curie etwas früher gelebt und ihre Entdeckungen gemacht, dann hätte ich auch die Spuren von Radioaktivität schmecken können!
Ja, man hatte auch schon Spässe mit mir gemacht, mir in einer kleinen Gesellschaft die Augen verbunden und verschiedene Wassertypen in Gläsern zum Kosten gegeben. Ich habe alle diese Tests bravourös gemeistert.
Sogar ein Angebot eines Schaustellers habe ich kürzlich in einem Brief erhalten, dass ich mich, als Mann verkleidet, mit einem Pseudonym auf dem Jahrmarkt zur Schau stellen und meine Begabung, ‚Wasser zu schmecken‘ den Menschen vorführen sollte. Wie war doch gleich der Vorschlag für das Pseudonym? ‚Monsieur Rebafier‘, ‚Docteur Rebaf‘ oder so ähnlich? Ein Fräulein aus meinen Kreisen auf dem Jahrmarkt! Dégoûtant! Aber die Gage war riesig! Ein Vermögen! Und ausserdem habe ich eine Schwäche für stutzerhafte Männer. Ich liebe sie alle! Warum nicht eine solche Rolle von der anderen Seite einmal ausleben?
Kürzlich hörte ich von einem Fresenius, Doktor der Chemie, ein Forscher. Seine Wasseranalysen seien wissenschaftlich, sagt man. In einer Klatschspalte der Presse hatte ich sogar gelesen, dass er als Schüler des Benderschen Instituts hier im Ort immer für einen Schabernack mit den Einheimischen gut war! Hatte der Bengel etwa dem hiesigen Kurdirektor den Floh mit dem ‚Heilwasser‘ damals ins Ohr gesetzt?
Ich flüsterte meine Begleitung etwas zu und schon am nächsten Morgen meldete sich daraufhin ein einheimischer Knabe und führte mich entlang der Wasserleitung, die nach Nordosten zum Hirschkopf führte. Sie war sehr professionell aus Holz gearbeitet. An einem ansteigenden Gässchen mit Namen 'Bennweg' fiel mir ein Brunnen auf, der die umliegenden Gehöfte mit Wasser versorgte. Aber die Leitung führte einige Meter an diesem vorbei und ging kerzengerade auf eine der drei Talschneisen des Hirschkopf zu, die mir schon auf dem Bahnsteig bei meiner gestrigen Ankunft aufgefallen waren. Es war Richtung Süden die letzte, vor dem Tal der Weschnitz.
Plötzlich wurde der Anstieg zum Hirschkopf sehr beschwerlich für mich in meinem langen Kleid und der Junge, der die Gegend wie seine Westentasche kannte, zeigte mir einen leichter begehbaren längeren Anstieg in langen Serpentinen, den auch ich schaffte. Er war ziemlich stumm, nach dem er sich auf meine Frage hin, wie er heisse, einsilbig mit ‚Hoinerle‘ gemeldet hatte. Das waren seine einzigen Worte, die ich – des Dialektes noch nicht so richtig mächtig – auch nicht recht verstand.
Plötzlich standen wir vor einer aus Natursteinen gemauerten Brunnenstube. Das Dach war mit Holzbalken geschlossen, sodass es nicht hineinregnen konnte. Dort endete oder besser gesagt startete die Wasserleitung, die sich – oh welch wunderbare Wandlung – auf ihrem kurzen Lauf nach unten zum Brunnen des Hotels ‚Pfälzer Hof‘ zur Kurwasserleitung verwandelte!
Auf dem Rückweg – unten im Ort – an dem Brunnen am Bennweg stand ein kleines blondes Mädchen, etwa zehn Jahre alt und holte Wasser mit zwei grossen Krügen. Sie tat sich schwer mit Tragen und stöhnte:
„Hoinerle, koannscht me ned helfä?“
Der Angesprochene antwortete knapp:
„Koi Zeid, koi Zeid ! Isch muss misch um die Herrschafd kümmre.“
„Kennst du sie?“ fragte ich erstaunt.
„Des is moi Schwestarle, des Everl“, antwortete mein ‚Guide‘ knapp und schon wollte er mit mir weiter laufen.
„Magst du ihr nicht helfen? Sie ist doch noch so klein und die Krüge sind schwer, oder? Ich habe Zeit und kann hier warten.“
Ich hatte ihn jetzt etwas verunsichert und tatsächlich, er nahm ihr einen Krug ab, sie nahmen jeder den seinen auf den Kopf und trugen ihn in die nächste Gasse davon. ‚Bischofsgasse‘ stand da geschrieben. Sie verschwanden an einer Biegung, etwa 300 m von dem Brunnen entfernt, an dem ich wartete.
Ich trat einige Schritte zurück und sah mir die geologische Umgebung näher an. Der Brunnen war genau unterhalb am Fusse der Senke, wo sich weiter oben die Brunnenstube befand. Für mich war klar, dass hier unten das gleiche Wasser entnommen wurde, das sich in der Senke sammelte, wie oben in der Brunnenstube, die ich gerade gesehen hatte. Der Filtereffekt des Bodens sollte hier noch besser und dieses Brunnenwasser noch sauberer sein.
Da hätte er auch eine erheblich kürzere Wasserleitung von diesem Brunnen hier zu seinem Hotel legen lassen können‘, dachte ich in Gedanken bei mir. Aber schon kam das Heinerle wieder zurück und führte mich durch verwinkelte Gassen und dazwischen liegende Felder zum Hotel zurück.
Am nächsten Morgen überfiel mich ein soignierter Herr in schwarzem Frack und gestärkten Hemd mit rot-weiss-getupfter Fliege in der Hotel-Lobby, als ich gerade zum Frühstück gehen wollte.
„Ah Baronesse von Reymont-Bafier, wie schön sie hier in diesem abgelegenen Ort zu treffen!“, rief er aus.
Ich war etwas überrascht, fasst mich allerdings schnell. Ich war kein ‚Promi‘, aber durchaus jemand, der der ‚Gesellschaft‘ angehörte. Sein stutzerhaftes Auftreten gefiel mir irgendwie. Ich gestehe – wie schon gesagt – für solche Männer durchaus in manchen Stimmungen ein Faible zu haben und deswegen liess ich ihn nicht von der Hoteldirektion entfernen, sondern sah ihn erstaunt von oben herab an.
„Kennen wir uns?“, fragte ich gespielt barsch. „Aber ja! Ich darf mich vorstellen? Direktor Roncchioni mit 'ce-ce-ha'. Sie haben sicher von meinen phänomenalen Zirkusvorstellungen schon gehört!“
Ich dachte angestrengt nach: ‚Ja, genau wie ein Zirkusdirektor sieht er aus!‘ Ich setzte eine bewusst verdutzte Miene auf und spielte die Unwissende.
„Direktor helfe er mir auf die Sprünge!“, erwiderte ich nach einiger Zeit.
„Ich hatte ihnen einen lettera geschrieben, excusé, einen Brief!“ kam es aus ihm hervor. „Ich will sie doch engagieren, als Baronesse von Wasser-Fee! Niemand schmeckt Wasser besser als Sie, habe ich mir sagen lassen! Haben Sie übrigens schon das Kurwasser im Hof verkostet? Was meinen sie zur Heilkraft, die überall propagiert wird? ‚Bad Weinheim‘ munkelt man schon, steht unmittelbar vor der Anerkennung! Sie haben sogar zwei Heilbäder: der Brunnen hier und das Stahlbad dort unten.“ Er zeigte mit dem Arm in Richtung Süd-West.
Jetzt fühlte ich mich völlig überrumpelt und spürte meinen leeren Magen.
„Direktor Roncalli ...“ hob ich an.
Er verbesserte mich sofort:
„Nein Roncchioni mit 'ce-ce-ha'!“
„Herrrr Direktor! Ich bin hungrig wie eine Wölfin und halte mich gerade zurück, sie zu verschlingen. Gib er den Weg zum Speisesaal frei!“
Ich erhob mein Haupt und tatsächlich es wirkte, er wich zurück und ich konnte passieren. Mir war klar, dass er wiederkommen würde.
Beim Frühstück angekommen geleitete mich ein einheimischer Kellner zu meinem Tischchen, wo das von meiner Zofe bestellte Frühstück schon bereitstand.
„Ich beglückwünsche ihre Baronesse zu der vortrefflichen Wahl. Die ‚creme fraîche de chèvre‘‚ ist wirklich erst heute Morgen angeliefert worden und sehr zu empfehlen! Eine Spezialität von Bad Weinheim.“
Er bemühte sich ein vortreffliches Hochdeutsch mit einer superben französischen Aussprache zu liefern.
‚Aha!‘, dachte ich bei mir, ‚man ist schon eine Kurstadt in der Kurpfalz hier!‘ Ich setzte mich und probierte den durchaus schon sehr gut fermentierten Ziegenkäse. Er zerging auf meiner Zunge wie ein Èpoisse aus Kuhmilch. Aber der zusätzliche leichte Geschmack nach Ziege machte es wirklich ganz perfekt. Ein absolutes, kulinarisches Highlight am Morgen! Ich liess mir aber mein heimliches Entzücken nicht anmerken. Enttäuscht schwirrte der Kellner ab und dabei rutschte ihm etwas frustriert eine Bemerkung aus dem Munde, die ich mir einprägte:
„Des is halt a bloas Schisselkääs vumm Maarkd. Die Randollä mache'n hald wie schunn imma!“
Er dachte wohl, dass ich den Dialekt eh nicht verstehen würde, aber nach der Begegnung mit dem Hoinerle gestern hatte ich mich durchaus etwas in diese Sprache hineingehört und – gefühlt. Hatte dieser nicht auch etwas fallen lassen, dass seine Eltern ‚Randoll‘ hiessen? Ein durchaus ungewöhnlicher Name, der an einen Schottischen ‚Randall‘ erinnerte? War die Familie irgendwann von dort hier eingewandert?
Ich rief meine Zofe und wollte wissen, wie diese ‚Randalls‘ oder ‚Randolle‘ diesen Ziegenkäse fabrizierten. Sie sollte das vor Ort in Erfahrung bringen. Danach wünschte ich den Hoteldirektor zu sprechen, um ihm etwas auf den Zahn zu fühlen, von wegen Heilwasser!
„Aber zuerst müssen wir hier unbemerkt aus dem Speisesaal verschwinden, um dem Direktor ‚ce-ce-ha‘ zu entkommen. Heute Morgen habe ich keine Lust, mit ihm weiterzuverhandeln. Sie werden das mit dem Hotelpersonal schon regeln.“
Schon kam ein junger Bursche und rief: „Woinemer Oazeiger! Des Neieschde aus dä Kurstadt!“ Dann wiederholte er es in einem gebrochenen Hochdeutsch, was mich zum Lachen brachte. Ich wies mein Fräulein Gunda an, ein Exemplar zu besorgen.
Ich schlug das doppelseitig bedruckte Blättchen auf und war befriedigt, meinen Namen als ‚Kurgast der Woche‘ zu finden. Gott sei Dank hatten sie hier noch nichts von meinen Fähigkeiten Wasser zu schmecken berichtet.
Da kam auch schon Gunda mit dem Oberkellner und wir verschwanden durch eine geheime Tür, die über eine Wendeltreppe direkt in den Flur des oberen Geschoss‘ und zu meiner Suite führte. Es war etwas staubig, aber ein nettes Abenteuer.
„Wir sollten vielleicht dem Fresenius telegrafieren, er möge kommen und sich der Heilkraft des hiesigen Wassers annehmen“, trug ich Gunda auf.
„Wenn ich bemerken darf, der Hoteldirektor steht uns jederzeit zur Verfügung.“
„Sehr gut Gunda! Also los, ich erhole mich etwas von dem Frühstück und du gehst in die Bischofsgasse wegen des Ziegenkäses. Vielleicht ist ein Ziegenbauer bei uns in Battenberg froh über ein neues Produkt, das ich ihm regelmäßig abkaufe.“
Ich griff meinen aktuellen Roman, setzte mich auf das Kanapee am Fenster und Gunda begriff sofort, dass sie sich entfernen sollte. Sie war ein Mensch mit grossem Einfühlungsvermögen und verstand mich wortlos.
Das Buch versetzte mich in das Gefängnis, aus dem heraus der Graf von Monte Christo sein Leben erzählte und schmachtete im Stillen mit ihm. Daneben lag ein ganz anderes, brandneues Buch von einem verrückten Sachsen, der die Leser in das Wunderland im Westen weit hinter dem Atlantik in seinem Roman ‚Winnetou‘ entführte. Ich wollte später damit beginnen. Noch war die Spannung von Alexandre Dumas ausreichend ‚thrilling‘ für mich. Ich hatte dieses Wort von einer englischen Hofdame in Bad Pyrmont gehört und sofort in meinen Wortschatz eingegliedert.
Kurz darauf wurde ich bei meiner Lektüre unterbrochen und der Page kam mit einer telegrafischen Depesche. Bis an die Bergstrasse hier war das neue Wort ‚Telegramm‘ offensichtlich noch nicht vorgedrungen:
‚Werte Baronesse, stets zu Diensten. Komme in die alte Heimat, wann immer gewünscht.
C.R. Fresenius‘
Ich musste schmunzeln und nahm mir vor, dieses Papier dramaturgisch geschickt bei der von mir geplanten Unterredung mit dem Hoteldirektor buchstäblich aus dem Ärmel zu zaubern. Wie liebte ich doch solche Auftritte!
Dann schlich Gunda ins Zimmer und machte sich höflich bemerkbar.
„Berichte von den Randolls. Was hast du herausgefunden?“
Sie war rot im Gesicht und ich fühlte, dass sie voller neuer Nachrichten war, die sie gerne loswerden wollte.
„Also die Randolls sind zu acht: Vater Randoll war erfolgreicher Veteran im letzten siegreichen Frankreich-Krieg und die Mutter ist seine zweite Frau. Die erste starb im Kindbett und hatte zwei Söhne. Den einen, das Heinerle, hatte werte Baronesse schon kennengelernt. Ich habe ihm mit Verlaub eine Belohnung für seine Mühen mit ihrer Baronesse gestern zugesteckt. In der jetzigen Ehe hat er vier herzige Mädels: Anna, Elisabeth, Eva und Marie. Das Everl war die am Brunnen. Es sind rechtschaffene, fleissige Leute und verdienen ihr täglich Brot im Transport-Wesen. Mit einem Wagen und vier schweren Pferden fahren sie Getreidesäcke vom Hafen in Mannheim zur hiesigen Mühle.“
Gunda ging ans Fenster und fuhr fort: „Dort hinten sehen Baronesse den Schornstein vor dem Tal dort? Da ist die Mühle an der Weschnitz.“ Sie zeigt mit der Hand in Richtung Odenwald.
„Weiter, was ist mit dem Käse?“ drängte ich ungeduldig.
„Ja, ja, die Mutter betreibt eine kleine Landwirtschaft mit den Töchtern. Futter für die Pferde müssen sie ja sowieso anbauen und dann laufen ein paar Ziegen und ein Schwein nebenbei mit. Die Ziegen sind eh den lieben langen Tag auf den Bergweiden ganz oben am Hirschkopf und müssen nur zum Melken in den Stall getrieben werden. Aus der Milch machen sie den ‚Schisselkääs‘, wie sie sagen. Die Milch wird stehen lassen, bis sie von selbst gerinnt; die Molke mit einem feinen Baumwolltuch abgetrennt und dem Schwein verfüttert. Dann formen sie kleine Käseleibe und stapeln sie in einen blauen irdenen Topf. Ich war übrigens gerade dabei, als sie das für den neuen Käse machten. Jetzt kommt der Trick! Der Topf wird mit einem Tuch verschlossen, der mit Essig-Wasser getränkt ist. Täglich wird es damit wieder befeuchtet. Der Topf steht dann an einer ganz bestimmten Stelle vor einer Öffnung nach Draussen im kühlen Kellergewölbe des Hauses.“
„Das klingt einfach, aber das Einfache mag zum Besten werden! Das hast du sehr gut gemacht! Wir werden es unserem Bauern daheim sagen“, lobte ich meine Zofe. „Und übrigens, das mit der Belohnung für das Heinerle war ganz in meinem Sinne. Wenn ich dich nicht hätte!“ Ich machte eine Pause.
„Dann wenden wir uns dem amüsanten Teil des Tages und dem Kurdirektor zu.“
Gunda wusste sofort Bescheid, was ich meinte.
„Soll ich ihn herbitten?“
„Nein, ich denke, ich brauche erste ein anderes Kleid. Was meinst du, was wählen wir? Karmesinrot mit Gold? Im Hinblick auf meinen diabolischen Plan vielleicht angemessen, oder?“
Zur gleichen Zeit liess sich Direktor Roncchioni beim Kurdirektor melden. Er hatte bei dem Herrn an der Rezeption eine Beschwerde über das Heilwasser angedeutet, die er nur mit dem Chef persönlich besprechen könne. Nach einer angemessenen Wartezeit – im Antichambrieren hatte der Mann im Frack, mit heute blau-getupfter Fliege, Erfahrung – wurde er von dem Angestellten ins Büro der Kurleitung geführt.
„Verehrter Zirkusdirektor – wie war doch ihr Name Roncalli? – wurde er begrüsst.“
„Zu viel der Ehre werter Kurdirektor Reiffel, meine Name ist Roncchioni – mit ce-ce-ha –, dass sie mich empfangen. Aber ich habe unter uns ‚Direttori‘ eine äusserst delikates ‚Sujet‘ zu besprechen.“
Sein Gegenüber runzelte die Stirn und seine Augen verfinsterten sich.
„Bitte doch, setzten sie sich!“
Roncchioni setzte sich am Schreibtisch auf der gegenüberliegenden Seite stehenden Ohrensessel für Besucher. Er wusste, dass er die bequeme Lehne nicht nutzen, sondern nur ganz vorne kerzengerade mit einem kleinen Teil der Sitzfläche vorliebnehmen durfte.
„Es ist eine heikle Angelegenheit mit der Baronesse ...“ begann er vorsichtig.
„Mit der Baronesse, dem Fräulein von Reymont-Bafier?“
„Ja genau selbiger! Wie gut kennen Sie diese? Kennen Sie auch ihre heimlichen Fähigkeiten?“
Roncchioni machte eine Pause, um sich der vollständigen Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu versichern.
„Heimliche Fähigkeiten?“, stammelte dieser und hatte sicher hinter seiner hohen Stirn irgendwelche wirren Vorstellungen von okkulten Riten inklusive wilden Ausschweifungen und Orgien vorgestellt, die er in seinem Etablissement schon gar nicht dulden hätte können. Natürlich erregte ihn allein der Gedanke daran, schliesslich war er auch nur ein Mann.
„Herr Kurdirektor dem Fräulein eilt ein Ruf voraus!“ heizte Roncchioni ihm weiter ein und wartete wieder.
„Bitte erklären Sie sich!“ wurde sein Gegenüber jetzt ungeduldig.
„Kurz gesagt: Sie kann Wasser schmecken.“
Der Kurdirektor brach in erleichtertes Lachen aus.
„Was sie kann Wasser schmecken? Tun wir das nicht alle?“
„Ja schon, aber nicht so differenziert wie das Fräulein! Sie war schon in einigen angehenden ‚Kurorten‘, kostete das Heilwasser, befand es als nutzlos und bezichtigte die Kurdirektoren als Scharlatane! Wussten Sie das nicht?“