Dreisbach-Lesebuch 1 - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Dreisbach-Lesebuch 1 E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Aus Anlass des 90. Geburtstages von Elisabeth Dreisbach legt der Verlag diesen Sonderband mit einigen Erzählungen der Schriftstellerin vor: Die Aussiedler, Der Kläff, Winifred, Wege im Schatten, Bückling und die Krummhölzer u. a. Sie sind beste Lektüre für einen stillen Abend oder für die Ferienzeit. Sie wollen unterhalten, gehen aber auch auf Fragen und Probleme des Lebens ein. Die Gestalten der Erzählungen sind nicht erfunden. Es hat sie gegeben: die Verachteten, die Stolzen, Menschen, die Schuld auf sich geladen haben. Ihnen wird auf eine Weise Hilfe zuteil - oft unerwartet -, die ihrer göttlichen Bestimmung entspricht. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Dreisbach-Lesebuch 1

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-155-8

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Vorwort

Wort zum Geleit

Die Aussiedler

Bückling und die Krummhölzer

Die geheimnisvolle Truhe

Der Kläff

Winifred

Wege im Schatten

»Unsere Ehe wird geschieden…«

Ev-Marie

Unsere Empfehlungen

Vorwort

Am 20. April 1994 vollendet Elisabeth Dreisbach ihr 90. Lebensjahr. Doch nicht nur sie selbst, sondern auch ihre schriftstellerische Tätigkeit hat ein Jubiläum: 1934, genau vor 60 Jahren, erschien ihr erstes Buch im Christlichen Verlagshaus in Stuttgart, das in diesen sechs Jahrzehnten ihre Bücher veröffentlicht hat.

Elisabeth Dreisbach schreibt Geschichten für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen, Geschichten, die dem Leben nacherzählt sind. Es geht ihr nicht darum, ihre Leser zu unterhalten. Wie ihr ganzes Leben, so wollen auch ihre Bücher den Missionsauftrag Jesu weitertragen. Viele haben durch ihre Bücher Lebenshilfe erfahren; vielen sind sie Anstoß zum Glauben geworden.

Mit ihren noch heute 42 lieferbaren Titeln zählt sie zu den bekanntesten und herausragendsten christlichen Erzählerinnen unserer Zeit.

Im vorliegenden Dreisbach-Lesebuch sind einige ältere, doch nach wie vor gehaltvolle Erzählungen enthalten. Sie sollen damit wieder einer großen Leserschaft verfügbar gemacht werden.

Der Verlag

Wort zum Geleit

»Schreiben Sie immer noch?« Wie oft ist mir in den letzten Jahren diese Frage gestellt worden. Und bis jetzt konnte ich sie immer mit einem freudigen Ja beantworten. Wenn ich neuerdings aber hinzufüge, ich arbeite augenblicklich an meinem achtzigsten Buch, und danach will ich endgültig aufhören, kann es Vorkommen, dass man mich ungläubig ansieht.

»Haben Sie das nicht schon vor zehn Jahren gesagt? Ich meine mich zu erinnern, dass Sie nach Ihrem 70. Geburtstag der festen Überzeugung waren, jetzt sei es Zeit, mit der schriftstellerischen Tätigkeit aufzuhören.«

Ich senke schuldbewusst die Augen. »Ja, Sie haben recht. Man sollte so etwas nicht äußern und danach doch weitermachen.«

Lachend erwidert mein Gegenüber: »Wir haben es damals nicht geglaubt und glauben es Ihnen auch heute nicht. Wie können Sie aufhören? Schreiben ist doch Ihr Lebenselement.«

Ja, so ist es. In den 52 Jahren, in denen ich schriftstellerisch tätig bin, habe ich dies mit wachsender Freude getan; und je länger desto mehr wurde mir bewusst, welch eine große Verantwortung ein christlicher Autor gegenüber seinen Lesern hat.

»Sie schreiben in erster Linie über Frauenschicksale«, meinen viele. Ja, das stimmt. Aber nicht nur, auch Jugend- und Kinderbücher habe ich verfasst. Natürlich habe ich viele Frauenschicksale geschildert und tat es besonders für die im Lebenskampf stehende Frau, die am Abend oder wann auch immer eine freie Stunde erübrigen kann – und dann oft zu müde und abgekämpft ist, um sich mit großen Problemen zu befassen.

Aus diesem Grund war es mir wichtig, einfach und allgemein verständlich zu schreiben, um meinen Lesern Hilfe, Trost und Ermutigung weiterzugeben. Viele Leserbriefe bestätigen mir, dass ich verstanden worden bin. Weil meine Bücher ihren Ursprung im wirklichen Leben haben, werden sie auch von vielen bejaht. Nicht nur Frauen, auch Männer lesen sie.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie alles, was Sie schreiben, selbst erlebt haben?« Nein, das kann gar nicht sein. Aber irgendein Erlebnis liegt jedem Buch zugrunde. Viele Menschen, deren Schicksale ich schildere, sind mir begegnet. Natürlich musste ich in der Darstellung Veränderungen vornehmen, indem ich ihnen einen anderen Namen gab, sie an einen anderen Ort versetzte, den Ablauf der Ereignisse veränderte und manches wegließ oder anderes hinzufügte. Ich darf nicht so schreiben, dass der Betreffende sich in meiner Schilderung wiedererkennt und dadurch möglicherweise schockiert wird.

»Empfindet man deshalb Ihre Bücher so wirklichkeitsnah, weil sie letztlich dem Leben entnommen sind?« Ja, ich glaube, dass es so ist.

Aus: … aber die Freude bleibt.

Die Aussiedler

»Ich zünd' ihm das Haus an! Es ist mein Ernst, Hede, ich tu's.«

Groß und breitschultrig stand der junge Knecht vor dem schmächtigen blonden Mädchen, das mit traurigem Blick zu dem Bruder aufsah. Er lehnte wie ein Bild urwüchsiger Kraft an der moos- und efeubewachsenen Steinmauer, die den Lindenhof umgab. Sein Gesicht war gerötet, das volle, braune Haar fiel ihm in die schweißbedeckte Stirne. Seine Brust wogte, der Atem ging keuchend. Er musste eilig gelaufen sein.

Die kleine Schwester war das Gegenstück des Burschen, der in all seinen Bewegungen wuchtig und kraftvoll wirkte. Schmalgliedrig und zart, mit blassem Gesicht, aus dem ein Paar Rehaugen immer ein wenig ängstlich blickten, hob sie in diesem Augenblick bittend die Hände zu ihm empor.

»So darfst du nicht sprechen, Gustel, und noch weniger darfst du so etwas Grässliches sagen. Denk doch, sie würden dich einsperren.«

»Es wär' mir gleich«, grollte der Bursche, »erst müssten sie mich aber haben.«

»Dann wäre ich ja ganz allein.« Die Stimme des Mädchens klang wie ein zersprungenes Glöckchen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Flehend blickte sie zu ihm empor.

»Gustel, das darfst du mir nicht antun.«

Da strich er mit einer scheuen Bewegung über ihren blonden Scheitel. »Wenn ich nicht an dich dächte, hätt's schon lang ein Unglück gegeben.«

Aus dem Gehöft, hinter dem die beiden von Weißdornhecken verdeckt standen, hallte eine gellende Stimme: »Hede! Hede!«

Das Mädchen schrak zusammen. »Hörst du's, sie ruft! Ich muss gehen.« Sie streckte dem Bruder die Hand entgegen, die er fast zärtlich mit seiner breiten, ausgearbeiteten umfasste.

»Ich komme morgen wieder, Hede.«

Dann huschte sie davon und war gleich zwischen den Bäumen des Lindenhofes verschwunden. Gustav, der Bursche, aber ging mit gesenktem Haupt und grimmig gefurchter Stirne davon.

Es war wie ein Verhängnis über dem Leben der Geschwister. »Aussiedler«, sagten die Dorfleute und wandten sich achselzuckend ab. »Sie gehören nicht hierher.«

Das war ihr gewöhnliches Urteil solchen gegenüber, die sich in ihrer Ortschaft, von anderen Gegenden kommend, niederließen. Aussiedler hatten es immer schwer, zwischen ihnen heimisch zu werden und manche zogen es vor, das Dorf wieder zu verlassen und sich anderswo eine Heimat zu suchen, wo man sie nicht bis an ihr Lebensende als Fremde betrachtete. Der neue Bürgermeister versuchte allerdings, diese ungesunde Einstellung der Dorfleute zu bekämpfen. Er sprach von Volksverbundenheit und Volksgemeinschaft und stellte glücklicherweise auch wachsendes Verständnis für diese gemeinnützigen Ideen fest. Besonders die jüngeren Leute stellten sich darauf ein. Bei manchen der Alten hielt es aber schwerer. So galten die Geschwister Höster da und dort noch immer als Aussiedler, obgleich sie schon mehr als zehn Jahre am Orte wohnten.

Fritz Höster, der Vater, war Maurer gewesen. Als man damals die neue Kirche baute, war er aus irgend einer Gegend Deutschlands mit anderen Arbeitern gekommen. Da er tüchtig und fleißig war, fand er nach Beendigung des Kirchenbaues Anstellung bei dem einzigen Maurermeister des Dorfes und ließ sich dort nieder. Nach einiger Zeit ließ er seine Frau mit beiden Kindern, dem damals siebenjährigen Gustav und der fünfjährigen Hede, nachkommen. Neugierig standen die Frauen des Dorfes hinter den Geranienstöcken ihrer Fenster und zogen die Gardinen ein Spältchen zur Seite, um so viel wie möglich von dem Einzug der »Aussiedler« zu erleben. Der war allerdings so armselig wie nur irgend möglich. Auf einem gewöhnlichen Ziehkarren war Hösters ganzes Hab und Gut untergebracht. – Während der Mann in verlegener Scham nicht aufzublicken wagte und mit gesenktem Haupt den Wagen mit dem alten Gerümpel hinter sich herzog, ging die Frau auf ihren niedergetretenen Schuhen mit wirren Haarsträhnen, die unter ihrem Kopftuch vorwitzig hervorguckten, neugierig und herausfordernd um sich blickend, hinter ihm her durch das Dorf, an dessen äußeren Ende Fritz Höster eine baufällige Hütte gemietet hatte. Bald war das Urteil der Börnsdorfer fertig. Mit »ihm« ging es noch, aber »sie« wurde einstimmig abgelehnt. Solch eine Schlampe, die ihren Haushalt vernachlässigt, die Kinder schlecht versorgt und ihre Zeit mit Anhören und Verbreiten von Klatschgeschichten vergeudet, das konnte eben nur ein »Aussiedler« sein, und eben darum – nein, man verzichtet. Solche Leute brauchten nicht damit zu rechnen, je Heimatrecht in Börnsdorf genießen zu dürfen. Sie hatten von vornherein das Vertrauen der Dorfleute verwirkt.

Fritz Höster war ein stiller, fleißiger Mensch. Hätte er eine andere Frau gehabt, seine Tage hätten sich gewiss weniger auf der Schattenseite des Lebens bewegt. Was er aufbaute durch saubere und gewissenhafte Arbeit, das riss sie durch ihre Liederlichkeit nieder. So kam es, dass der Mann sich in der stets ungeordneten Häuslichkeit nicht mehr wohlfühlte und gerne Zugriff, wenn sich ihm außerhalb des Ortes Arbeit bot und er so wenig wie möglich zu Hause sein musste. Gustav und Hedwig wuchsen in diesen verwahrlosten Verhältnissen ohne eigentliche Erziehung auf. Der Junge wurde ein echter Dorfbub, der sich mit seinen Schulkameraden herumbalgte und bei allen Schlägereien in der vordersten Linie stand. Hedwig, die in ihrer stillen Art dem Vater glich, stand während ihrer ganzen Kinderzeit ziemlich abseits und fand mit den robusten und kernigen Dorfmädchen keine rechte Verbindung. In der Schule war sie aufmerksam und fleißig und daher vom Lehrer wohl gelitten. Es bedeutete für die Mitschülerinnen aber eine Kränkung ihrer Ehre, dass er sie ihnen manchmal als Vorbild hinstellte. Das war doch unerhört, diese Aussiedlerin aus der zerfallenen Hütte am Dorfende. Sie rächten sich, indem sie sich kaum um sie kümmerten. Hedwig litt darunter, noch mehr aber unter den häuslichen Verhältnissen, in denen sie leben musste. Sie empfand es beschämend, dass die Mutter nichts unternahm, um den Zerfall der Häuslichkeit aufzuhalten; es war ihr schrecklich, in zerlumpten Kleidern herumzulaufen, und sie versuchte, ihre und des Bruders Sachen notdürftig zusammenzuflicken. Weil ihr aber die rechte Anleitung fehlte, gelangen solche Versuche nur kläglich. Gustav begegnete der feindseligen Einstellung der Dorfgenossen ganz anders als die schüchterne Schwester. Er gebrauchte seine Fäuste, gewann jedoch dadurch keine Freunde. Rührend war seine Anhänglichkeit an die kleine Schwester, die er stets ritterlich beschützte. Sie hingegen versuchte ihn immer in seiner aufbrausenden jähzornigen Art zu besänftigen. So wuchsen die Kinder heran und waren nur auf sich selbst angewiesen. Der Vater arbeitete meistens auswärts, die Mutter kümmerte sich so wenig wie möglich um sie.

Als Gustav im letzten Schuljahr war, kam eines Tages die Nachricht aus dem benachbarten Städtchen, wo der Vater Arbeit gefunden hatte, dass dieser bei einem Bau schwer verunglückt und ins Krankenhaus gebracht worden sei. Frau Höster fuhr mit den Kindern zu ihm. Sie fanden ihn jedoch bereits in den letzten Zügen liegen. Mit brechendem Auge blickte er noch einmal seine Kinder an, griff nach Hedwigs Hand und bewegte die Lippen, als wollte er ein Abschiedswort sagen. Dann war er tot.

Aufschluchzend stand das Mädchen am Totenbett des Vaters, den sie innig geliebt hatte. Frau Höster fing an, laut zu jammern und wollte als nächstes wissen, wer sie und ihre Kinder jetzt ernähren solle. Gustav aber stand mit zuckendem Gesicht daneben und streichelte mit unbeholfener Zärtlichkeit über den Arm der weinenden Schwester. In diesem Augenblick nahm er sich vor, sie nie zu verlassen.

Einige Wochen später stellte sich ein Besuch in Hösters alter Hütte ein: Johann Mölker, ein berüchtigter Trunkenbold, im ganzen Dorf als Faulenzer und Tagedieb bekannt. Mit Entsetzen sahen die Kinder, wie sich zwischen ihm und der Mutter ein Verhältnis anbahnte. Eines Tages erklärte letztere ihnen, sie gedächte Mölker zu heiraten. Kein Wort erwiderten die Geschwister. Stumm verließen sie die Hütte. Gustav warf krachend die wurmstichige Türe zu, so dass sie in Gefahr war, aus den rostigen Angeln zu springen. Hedwig aber setzte sich auf den Holzklotz hinter dem Haus und weinte in ihr zerrissenes Schürzchen. Da spürte sie plötzlich die Hand des Bruders auf ihrer Schulter.

»Lass sie«, sagte er in rauem Ton. »Ich sage nicht Vater zu ihm. Und hab nur keine Angst, ich verlasse dich nicht.«

Wenige Tage später war Frau Höster mit ihrem Genossen verschwunden. Auf einem aus Hedwigs Schreibheft gerissenen Blatt, das sie auf den Tisch gelegt hatte, war die letzte Nachricht an ihre Kinder geschrieben.

»Er kann euch nicht auch noch ernähren. Ihr seid jetzt alt genug, um für euch selbst zu sorgen. Wir ziehen in eine große Stadt. Mutter.«

»Und so etwas schimpft sich Mutter«, entrüsteten sich die Dorfleute und sahen wieder einmal, dass ihr Urteil über die Aussiedler zutreffend war.

Die Kinder wurden im Gemeindehaus untergebracht. Es ging ihnen dort nicht schlechter, als es ihnen bei ihrer Mutter gegangen war, im Gegenteil, sie lebten in weit geordneteren Verhältnissen als vorher, aber sie empfanden es beide beschämend, von der Gemeinde versorgt zu werden, und die spitzen Bemerkungen mancher Dorfleute über die Handlungsweise ihrer Mutter trieb ihnen die Röte ins Gesicht. Gustav, der nun aus der Schule entlassen war, wurde bei den Bauern zu allerlei Arbeiten herangezogen und verdiente sich auf diese Weise wenigstens das Essen. Hedwig nahm gemeinsam mit den beiden alten Frauen, die im Gemeindehaus wohnten, die Mahlzeiten ein. Die Geschwister waren aber froh, dass sie nicht voneinander getrennt wurden und sich wenigstens am Abend einer gemeinsamen Feierstunde erfreuen durften. Dann saßen sie in der sinkenden Abendsonne zusammen in der Wiese am Bächlein hinter dem Gemeindehaus und besprachen die Erlebnisse des Tages. Von der Mutter war bisher keine Nachricht gekommen.

Aber auch diese Feierabendstunden nahmen ein Ende. Das Gemeindehaus, das schon alt und baufällig war, sollte abgerissen und durch ein neues ersetzt werden. Die beiden alten Frauen wurden irgendwo im Dorf untergebracht, und den Geschwistern Stellen zugewiesen. Gustav wurde als Knecht auf dem einsamen Hof des Waldbauern, der weit draußen hinter dem Dorf am Waldesrand lag, verdingt, während seine Schwester Hedwig als Kindermädchen beim Lindenhofbauern ihren Platz fand. – »Das gibt es nicht«, brauste der junge Bursche auf, »sie dürfen uns nicht trennen. Wir bleiben zusammen.« Und er war aufs Amt gelaufen, hatte gebeten und gefordert, aber es blieb bei der Abmachung. Zuletzt war er zum Waldbauern, der ihn als Knecht angestellt hatte, gegangen und hatte diesen flehend gebeten, seine Schwester auch auf den Hof zu nehmen.

»Ich will auch ohne Lohn arbeiten, nur fürs Essen, aber lasst Hede mit mir kommen. Sie kann der Bäuerin im Hause helfen.«

Doch der Bauer war unzugänglich gewesen. »Wir haben die Liese schon zwanzig Jahre, die ist meiner Frau eine gute Hilfe. Ich selbst hätte nichts dagegen, aber ich kann das der Frau nicht antun.«

Da hatte Gustav die Fäuste geballt und war wütend davongegangen. Am liebsten hätte er dem Bauern ins Gesicht geschrien: »Dann komme ich auch nicht zu euch.« Aber er wusste, das wäre zwecklos gewesen; so lange er nicht mündig war, wurde über ihn bestimmt.

»Ein feiger Hund ist er«, sagte er zu seiner Schwester. »Er kann das seiner Frau nicht antun, dich anzustellen? Zu geizig ist er, der – der –«

Noch ehe das Schimpfwort ausgesprochen war, hatte ihm die kleine Schwester die Hand auf den Mund gelegt.

»Still, Gustel, du verdirbst dir alles. Wir können jetzt halt nichts anderes tun, als uns fügen. Einmal wird doch die Zeit kommen, wo wir beieinander bleiben können.« Dann aber war doch das Weh mit Macht über sie gekommen. Aufschluchzend hatte sie den Bruder umschlungen.

»Gustel, Gustel, warum sind wir heimatlos?« Der Kummer seiner Schwester steigerte in ihm nur noch die Rachegedanken. Am liebsten hätte er ihnen allen, von denen er glaubte, dass sie ungerecht an ihnen handelten, ein Leid angetan. So wogte und wütete es in ihm. – Sie mussten ihren Dienst antreten, Hede auf dem Lindenhof und Gustav beim Waldbauern. Gewiss hieß es, Hede sei nur für die Kinder da. So war anzunehmen, dass die Arbeit ihren schwachen Kräften angepasst war. Aber im Lindenhof wuchsen zehn Kinder heran. Das älteste war im letzten Schuljahr und das jüngste wenige Wochen alt. Es stimmte, Hede war nur für die Kinder da. Aber das bedeutete, dass sie für sie die Wäsche wusch, die Kleider flickte, die Schuhe putzte, die Kleinen fütterte, sie versorgte und betreute, denn die Frau musste ständig auf dem Felde und im Garten mitarbeiten. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht war das schwache Mädchen auf den Füßen. Die Arbeit ging weit über ihre Kraft. – Gustel konnte den Anforderungen, die auf dem Waldhof an ihn gestellt wurden, schon besser genügen. Er war ein starker, kräftiger Bursche, der schon jetzt wie ein erfahrener Bauer hinter dem Pflug herging, das Vieh versorgte und alle auf dem Hofe vorkommenden Arbeiten zur Zufriedenheit des Waldbauern verrichtete. Aber er tat es freudlos und mit mürrischem Gesicht. Er trug es dem Bauer nach, dass er seine Schwester nicht ins Haus nahm. Arbeit wäre genug auch für das junge Mädchen gewesen, aber so wie auf dem Lindenhof hätte sie hier nicht schaffen müssen. Der Bauer gönnte es ihnen nicht, er freute sich an dem Kummer der Geschwister, die unter der Trennung litten. So dachte wenigstens Gustav, und er grollte seinem Arbeitgeber und steigerte sich in diesen Empfindungen, dass sie beinahe zum Hass wurden. So oft er es machen konnte, stahl er sich vom Hof fort, um wenigstens ein paar Minuten bei der Schwester sein zu können.

»Ich möchte nur wissen, wo der Bursch steckt«, sagte an einem der ersten Tage der Waldbauer. »Ohne ein Wort zu sagen, verschwindet er und taucht erst nach einer Stunde wieder auf. So etwas kann man doch nicht dulden.«

Als ihn aber die Bäuerin eines Tages vom Dorfe her keuchend über das Feld laufen sah, dachte sie sich ihr Teil und verwandte sich für ihn bei ihrem Manne. »Ich glaube, er schaut nach seiner Schwester. Gewöhnlich tut er es ja zu einer Zeit, wo die Hauptarbeit bereits geschehen ist. So lass ihn halt gehen.« – »Aber fragen könnte er doch wenigstens«, erwiderte der Bauer, doch er ließ ihn gewähren, zumal Gustav nur dann ging, wenn keine dringliche Arbeit zu tun war.

Eines Abends war er wieder davongelaufen. Schweißbedeckt und abgehetzt kam er an der Lindenhofmauer an. Hinter den Weißdornsträuchern versteckt, pfiff er. Aber seine Schwester erschien nicht. Er wartete und pfiff wieder. Sicher konnte sie sich nicht freimachen, wie schon einige Male. Gustav war enttäuscht. Jetzt hatte er sich vergeblich abgehetzt. Aber dort hinten aus dem Waschhaus kroch Rauch aus dem Kamin. Vielleicht war Hede dort. Wie aber sollte er dahin gelangen ohne gesehen zu werden? Er wartete noch eine Weile, pfiff ein drittes Mal, aber Hede ließ sich nicht sehen. Kurz entschlossen sprang er über die Mauer und behände von einem Baum zum andern, sich immer hinter den Stämmen so gut wie möglich verbergend. An der Waschhaustüre lauschte er einen Augenblick. Er hörte nur das Plätschern mit der Wäsche.

Leise öffnete er die Türe und stand gleich darauf vor seiner Schwester, die in einer Dampfwolke stehend ihn nicht einmal gleich erkannte.

»Du, Gustel?« rief sie dann aus. »Wie froh bin ich, dass du kommst, aber hat dich auch niemand gesehen?«

»Hede, du weinst ja?«

Das schmächtige, blasse Mädchen beugte sich über den großen, bis an den Rand gefüllten Wäschezuber, um dem Bruder die Tränen zu verbergen, die nun unaufhaltsam wie eilige Bächlein über ihre schmalen Wangen liefen.

»Hede, was hast du? Kannst du nicht mehr? Hast du schon den ganzen Tag waschen müssen? Deine Finger bluten ja.« Und nun polterte er los: »So eine Schinderei, so eine Ausnutzerei, und kein Mensch hilft dir bei der schweren Arbeit?«

Sie sah ihn aus schwimmenden Augen flehend an.

»Gustel, schrei doch nicht so, ich bitte dich, wenn es die Bäuerin hört!«

Er schrie nur noch lauter: »Es ist mir gleich. Ich sag ihr's ins Gesicht, es ist eine Lumperei, sie richten dich hier zugrunde. Dem Bürgermeister sag ich's auch. Das ist ein Rechter, der will so etwas nicht. Oder ich zünd' ihnen auch den Hof an, und den meinen dazu, dem ganzen Lumpengesindel werd' ich's zeigen.«

»Gustel, Gustel«, bat das Mädchen. »So sei doch still!« Aber er musste seiner Empörung Luft machen und schimpfte noch eine ganze Weile vor sich hin, während die kleine Schwester wieder nach den Wäschestücken griff.

»So will ich dir wenigstens helfen«, sagte er endlich und zog aus der Seifenbrühe ein Kinderhemd. Da musste Hedwig unter Tränen lachen.

»Du kannst doch nicht waschen.«

»Warum sollte ich das nicht können? Meinst du, ich lasse dich die ganze Nacht hier stehen? Ich gehe nicht eher, als bis du fertig bist.«

»Der Waldbauer wird dich schön schelten.«

»Das ist mir gleich.«

»Und wenn meine Frau kommt?«

»Das ist mir nur recht, dann kann ich ihr einmal die Meinung sagen. Sieh mich nur nicht so ängstlich an. Ich fürchte mich nicht vor ihr.«

So standen die Geschwister nebeneinander am Waschzuber und rieben die Wäschestücke der zehn Lindenhofkinder. Es wurde Nachtessenszeit. Die Lindenhofbäuerin gab ihrer ältesten Tochter den Auftrag, Hedwig zum Essen zu rufen. Das Kind kam in wichtigtuender Aufregung zurück.

»Mutter, Mutter, die Hede hat einen Kerl bei sich im Waschhaus.«

»Was? Du träumst wohl?«

»Nein, nein, ich hab's ganz deutlich durch's Fenster gesehen und ganz nah steht er bei ihr.«

»Da soll doch – geh, sag's dem Vater, er ist im Stall, er wird da schon Ordnung schaffen. Wer hätte das von dem stillen Mädel gedacht! So eine Heimtückische. Ja, ja, die Aussiedler!«

Ein paar Minuten später schlichen der Lindenhofbauer und seine Frau dem Waschhaus zu. Warum ersterer die Mistgabel mitgenommen hatte, wusste er wohl selbst nicht zu sagen. Hinter den Eltern bewegten sich die sechs ältesten Kinder auf den Zehenspitzen herbei. Mit einem energischen Ruck riss der Lindenhofbauer die Tür auf und stand im nächsten Augenblick in dem dampfgefüllten Raum. Wirklich. – Hedwig war nicht allein, das Mädchen hatte recht berichtet, ein Kerl war bei ihr. »Was soll das heißen?« schrie der Lindenhofbauer mit Donnerstimme. Seine Frau aber rief ganz enttäuscht: »Ach, es ist ja nur der Gustel.« Dann aber zeigten sich beide entrüstet.

»Was, waschen hilft der? Da sieh nur einer das faule Ding an. Muss ihren Bruder zu Hilfe rufen, als ob sie mit dem bisschen Arbeit nicht fertig wird. Und wie kommst du hierher? Wir wollen doch mal hören, was der Waldbauer dazu sagt, wenn sein Knecht sich als Waschfrau verdingt.«

Hedwig war beim Öffnen der Türe erschrocken zusammengefahren und zitterte vor Angst am ganzen Körper,

als sie die Lindenhofbäuerin und ihren Mann vor sich sah, so dass sie kein Wort hervorbrachte. Gustav aber wusch in verhaltenem Grimm weiter und überlegte ernstlich, ob er dem Bauer nicht den ganzen Kübel Wäsche vor die Füße schütten solle. Dann aber polterte er los: »Meine Schwester hat mich nicht zu Hilfe gerufen, ich bin ganz unverhofft dazugekommen und finde sie hier mit blutenden Händen. Der Rücken tut ihr weh, dass sie nicht mehr gerade stehen kann. Ist das eine Art, ein fünfzehnjähriges Mädchen vor eine solche Wäsche zu stellen? Seit heute morgen um fünf quält sie sich hier im Waschhaus ab und keiner fragt danach, ob sie es auch leisten kann. Das ist eine …«

Er kam nicht weiter. Wie ein Wildgewordener stürzte sich der Lindenhofbauer auf den Burschen, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn hin und her.

»Du unverschämter Kerl, du hergelaufener Tagedieb, du zugezogener Landstreicher, du wagst es, anständige Leute zu beschimpfen? Scher dich zum Loch hinaus!«

Und ehe Gustav sich versah, war er in gröbster Weise aus dem Waschhaus geworfen.

Dann ging es über Hedwig her. »Du faules Ding, ist das der Dank, dass man dich hier duldet und füttert? Du willst dich über zu viel Arbeit beklagen? Hast du bei uns schon einmal mit aufs Feld oder in den Stall müssen? Aber du bist wohl zu vornehm, als Kindermädchen Wäsche zu waschen? Du hast wohl vergessen, woher du gekommen bist? Geh doch zu deiner sauberen Mutter, wenn du es hier nicht aushalten kannst. Dem Bürgermeister wird man die Sache melden, der wird dir schon beibringen, wie du dich zu benehmen hast.«

Wie Hagelkörner prasselte es auf das arme Mädchen nieder, das kein Wort erwiderte und nur leise vor sich hin weinte. Allerdings wagte der Lindenhofbauer nicht zum Bürgermeister zu gehen. Er wusste, der hätte es nicht geduldet, dass man dem Mädchen derartig viel Arbeit auflud, aber er hatte doch erreicht, was er wollte, nämlich dass Hedwig in unbeschreibliche Angst geriet.

Größer aber als die Angst um sich selbst war die um den Bruder. Als der Lindenhofbauer ihn hinausgeworfen hatte, war Gustav in derartige Wut geraten, dass er einen mächtigen Stein aufgegriffen und an die Waschhaustüre geworfen hatte. Dabei schrie er: »Ich zünd' euch noch den Hof über dem Kopf an, ihr werdet's erleben.«

Nun fand Hedwig keine Ruhe mehr. Sie kannte die jähzornige Art des Bruders und wusste, dass er in Augenblicken sinnloser Wut schon manches getan hatte, was er später bereute. Wenn er sich nun tatsächlich zu einer solch entsetzlichen Handlung hinreißen ließ? Die Angst um ihn verzehrte das junge Mädchen schier. Sie lag nachts stundenlang schlaflos, verlor den Appetit und wurde zusehends elender. Seit dem Erlebnis im Waschhaus hatte sie den Bruder nicht mehr gesehen. Der Lindenhofbauer war misstrauisch geworden und passte mit rachedurstigem Spürsinn auf. Gustav war schon einige Male in der Nähe des Hofes gewesen, aber es war nicht möglich, die Schwester unbeobachtet zu sprechen. Einmal hatte er sie von ferne gesehen und war erschrocken über ihr blasses, verhärmtes Aussehen. Tränen drängten sich in seine Augen, aber es waren Tränen des Zornes und der Empörung. Rachegedanken stiegen wie lodernde Flammen in seinem Innern hoch, besonders gegen seinen Arbeitgeber, den Waldbauern. Er war der Überzeugung, dass es diesem eine Kleinigkeit sei, dem Elend seiner Schwester eine Ende zu machen, indem er sie auf den Hof nähme.

Die Sorge um den Bruder wurde unerträglich. Hedwig hielt die Ungewissheit nicht mehr aus. Sie schrieb einen Zettel.

»Lieber Gustel, ich frage am Sonntag, ob ich in die Kirche gehen darf, frage du auch, dann können wir uns treffen. Ich halte es nicht mehr aus. Die Angst um dich tötet mich noch. Ich flehe dich an, tue nichts Unrechtes, du bringst dich und mich ins Unglück, wenn du deine entsetzlichen Drohungen wahr machst. Denke an unseren Vater, der so redlich war, und bezähme um meinetwillen deinen Zorn. Deine Schwester Hede.«

Dieses Brieflein legte sie auf die Mauer hinter der Weißdornhecke und beschwerte es mit einem Stein, dass es der Wind nicht forttragen konnte. Und wirklich, Gustav fand es. Die Sehnsucht, seine Schwester zu sehen, hatte ihn wieder in die Nähe des Lindenhofes getrieben. Als er ihre Zeilen gelesen hatte, riss er ein Blatt aus seinem Notizbüchlein und schrieb darauf:

»Liebe Hede! Ich kann am Sonntag leider nicht kommen, ich muss mit dem Waldbauern in die Stadt, aber ich komme acht Tage später. Dann sprechen wir über alles. Wundern brauchst du dich aber nicht, wenn was passiert. Ich ertrage die Ungerechtigkeit nicht länger. Viele Grüße! Gustel.«

Er versuchte, Hede zu sprechen, pfiff einige Male aus dem Winkel hinter der Mauer, aber Hedwig konnte sich nicht freimachen. Sie hörte wohl den bekannten Pfiff und wäre zu gerne zu dem Bruder geeilt, aber die Bäuerin war mit ihr im selben Raum beschäftigt, so dass sie es nicht wagen konnte, ihn zu verlassen.

Gustavs Zeilen aber kamen nie in ihre Hände. Der Lindenhofbauer hatte, hinter einem Baum stehend, den jungen Knecht beobachtet. Als Gustel traurig und enttäuscht, weil auch dieser Gang wieder vergeblich war, davonging, schlich er aus seinem Lauscherwinkel hervor und bemächtigte sich des Briefes. »Ha«, lachte er schadenfroh, als er ihn gelesen hatte, »das ist mir ein geglückter Fang. Jetzt, Bürschlein, bist du in meiner Hand. Ich warte nur den rechten Augenblick ab.«

Als Gustav am darauffolgenden Sonntag beim Kirchgang nach seiner Schwester Umschau hielt, wartete seiner aufs neue eine Enttäuschung. Hede kam nicht.

Hoch oben am Waldeshügel, auf dem sonnigsten Platz über dem Dorfe, war ein schönes, kleines Haus gebaut worden. »Die Villa« nannten es die Dorfleute und blickten größtenteils mit ablehnendem Gesichtsausdruck hinaus. Es war nicht zu verwundern, denn die Besitzerin der »Villa« war ebenfalls eine Aussiedlerin. Frau Ullmann war Witwe. Ihre sehr glückliche Ehe hatte ein jähes Ende gefunden durch ein schreckliches Autounglück, bei dem nicht nur ihr Mann, sondern auch die beiden Söhne, Knaben von zehn und zwölf Jahren, ums Leben gekommen waren. Nun stand sie, die noch nicht vierzig Jahre alt war, allein da. Sie hatte einige Male mit ihrer Familie glückliche Ferienzeiten in dieser Gegend verbracht. Dieser Gedanke mochte sie leiten, als sie sich das Häuschen an den Waldesrand, oberhalb Börnsdorf, bauen ließ, das sie mit einer treuen Magd bewohnte. In der Stille suchte sie Genesung von den schweren Wunden, die ihr das Leid geschlagen hatte. Aber sie war nicht haltlos in ihrem Schmerz, denn sie war eine Christin. Oft saß sie in dem sonnigen Gärtchen oder auf der breiten Terrasse vor dem Haus. Rosen und Nelken blühten duftend in ihrer nächsten Umgebung, und aus dem Steingarten, den sie mit besonderer Liebe pflegte, leuchtete es in allen Farben zu ihr empor. Dann blickte sie wohl in das Tal zu ihren Füßen und in die Weite hinter den Bergen, und ihre Sehnsucht suchte ihre von ihr gegangenen Lieben. Gerne unternahm sie auch ausgedehnte Spaziergänge. Da war ihr die Schönheit der sie umgebenden Landschaft wie Balsam für ihr verwundetes Herz. Bei einem solchen Wege gewahrte sie eines Tages ein junges Mädchen, das sich bemühte, einen Kinderwagen, in dem sich zwei Kinder befanden, den Berg hinaufzuschieben. Ein drittes hing ihr am Rock, während ein viertes plärrend hinterhertrottete. Frau Ullmann betrachtete die nahende Gruppe. Die kleineren Kinder mussten einer Bauernfamilie angehören. Das größere Mädchen mit dem blassen, schmalen Gesicht, den eingefallenen Schultern und den tiefen Schatten um die Augen war gewiss nicht von hier. Übrigens ein liebliches Mädchen. Zwei lange, blonde Zöpfe fielen ihr über den Rücken, freundlich blickte sie aus ihren großen braunen Augen die Kinder an und versuchte den kleinen Murrer, dem der Berg zu steil war, zu ermutigen. Die Stirne des jungen Mädchens war schweißbedeckt, so hatte es sich angestrengt. Aufatmend blieb es auf einer Steinhalde stehen und blickte in die Tiefe. Frau Ullmann trat zu der Gruppe.

»Das war ein schwerer Aufstieg«, sprach sie das junge Mädchen freundlich an. Hedwig – sie war es – fuhr erschrocken zusammen. Sie hatte erst jetzt die Fremde gesehen. Dann grüßte sie scheu.

»Musstest du unbedingt mit den Kindern hier herauf?« fragte Frau Ullmann. Hedwig errötete verlegen. Dann stotterte sie: »Ich – ich wollte nur mal sehen, ob ich – von hier aus was sehen kann.«

»Was hättest du denn gerne gesehen?«

Hede blickte die Dame, die in so freundlichem Ton mit ihr sprach, forschend an. Ob sie es sagen sollte? Schließlich kam es leise von ihren Lippen: »Meinen Bruder, der ist da unten auf dem Waldhof.«

Die Kinder spielten auf der Wiese, das Kleinste war im Wagen eingeschlafen, und Frau Ullmann saß neben dem blassen Mädchen im roten Röckchen und tat ungewollt einen Blick in ein verängstetes, zitterndes Kinderherz.

War es die freundliche Art der Fremden, die dem Mädchen den Mund öffnete oder geschah es aus dem unerträglichen Empfinden heraus, dass sie mit der Angst und der Not ihres Inneren nicht länger allein fertig würde, kurz, Hede hatte noch nie im Leben ein so starkes Vertrauen einem anderen Menschen gegenüber empfunden. Wenn auch mit großer Schüchternheit kämpfend und oft ängstlich und stockend nach passenden Worten suchend, gestand sie Frau Ullmann die ganze Not vergangener Tage, sprach vom Sterben des Vaters, von der Sorge um den Bruder, den sie so liebte, und erzählte schamvoll errötend von dem Fortgehen der Mutter. Es war kein Erzählen aus einem Geltungsbedürfnis hervorgehend, das empfand die feinfühlende Frau sofort, es war einfach das Überlaufen eines bis zum Rand gefülltes Gefäßes. Das Kind trug die Last nicht länger allein. Sie ging über seine Kraft. Mit inniger Teilnahme blickte Frau Ullmann in die angstvollen, leiderfüllten Augen, die trotz allem noch rechte Kinderaugen waren, und sie wünschte, etwas für das Mädchen tun zu können.

Staunend und fragend sah Hede die Fremde an, die in einfachen und doch so bewussten Worten davon sprach, dass man all seine Not dem lieben Gott anvertrauen dürfe. Ganz unbegreiflich schien es ihr, dass auch sie damit gemeint sei, wenn der Herr Jesus sagt: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.« – Wunderbar verstand es Frau Ullmann, die selbst durch so unendlich viel Leid gegangen war, dem Mädchen an ihrer Seite das Verständnis für die Liebesabsichten Gottes zu wecken.

Und dann falteten sie beide die Hände und staunend hörte Hede, wie die Fremde mit dem lieben Gott sprach, gerade so, als säße er hier neben ihnen. Das war ihr etwas ganz Neues. Niemand hatte ihr je derartiges gesagt. Die Religionsstunde in der Schule war ihr immer interessant gewesen, aber dass dabei ihr etwas persönlich gelten könne, war ihr vollkommen fremd. Als Frau Ullmann betete, der liebe Gott möge sich auch Gustavs annehmen, da fasste das Mädchen sie ganz erregt am Arm, deutete mit der anderen Hand hinunter ins Tal, wo der Waldhof lag und sagte: »Ja, o ja, dort unten wohnt er.« – Lange hatte Frau Ullmann neben diesem Mädchen gesessen. Endlich erinnerte sie Hede daran, dass sie jetzt gewiss mit den Kindern den Heimweg antreten müsse, damit man sie nicht schelte. Da ging es wie ein Schatten über deren Gesicht. Sie hatte die Wirklichkeit vollkommen vergessen.

»Wage es nur und sage dem Herrn Jesus alles, was dich bedrückt. Sei gewiss, er hört dich und wird zur rechten Zeit helfen.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich Frau Ullmann von Hedwig Höster. Diese aber nahm sich vor, den Worten der gütigen Frau Folge zu leisten.

An diesem Abend war es den Geschwistern nach langer Zeit wieder einmal möglich, sich zu treffen. Mit finsterem Gesicht stand Gustav hinter der Weißdornhecke.

»Hede, wie siehst du nur aus? Ich ertrage das nicht länger. Wenn das so weiter geht, lebst du nicht mehr lange.« Da streichelte die Schwester ihn über das sonnenverbrannte Gesicht und lächelte ihn zuversichtlich an.

»Gustel, jetzt brauchen wir keine Angst mehr zu haben. Ich weiß was dagegen.« Und dann erzählte sie ihm mit begeisterten Worten von ihrem heutigen Erlebnis und der Begegnung mit der Fremden. Gustav war ganz erstaunt über die lebhafte Art, in der sie sprach. Aber dann schüttelte er den Kopf.

»Hede, so was gibt's nicht. Beten hat keinen Zweck.«

»Aber Gustel, sie hat's doch gesagt, und sie ist so klug, sie weiß es bestimmt.« Er aber sah wieder finster vor sich hin.

»Ich glaub' nicht dran.«

»Aber ich versuch's.«

Sie schmiegte sich an den großen Bruder.

»Probier's doch auch einmal, Gustel. Vielleicht wird doch noch alles gut.«

In dieser Nacht lag Frau Ullmann lange schlaflos. War es die tragische Geschichte des Mädchens, das sie heute getroffen hatte, oder ihr eigenes Geschick, das ihr, wie schon so oft, den Frieden der Nacht störte? Sie stand schließlich auf, kleidete sich an und trat vor das Haus. Sternenklar war die Nacht. Der herbe und doch angenehme Duft des Waldes wehte zu ihr herüber. Alles sah so friedlich aus.

Plötzlich stutzte sie. Was war das? Unten im Tal züngelten Flammen aus dem nächtlichen Dunkel und breiteten sich blitzschnell aus. Kurze Zeit später fuhr bereits eine leuchtende Feuergarbe zum Himmel. Der klagende wimmernde Ton der Feuerglocke tönte zu ihr herauf. Einzelheiten konnte sie nicht erkennen. Dazu war die Entfernung zu groß. Gewiss waren die Dorfbewohner bereits zu Lösch- und Hilfeleistungen zusammengeströmt.

Von hier oben gesehen war es eigentlich ein schaurigschöner Anblick, aber Frau Ullmann dachte mitfühlend an die Betroffenen. Plötzlich durchzuckte sie ein Erschrecken. Lag nicht dort in dieser Richtung der Hof des Waldbauern? Sie meinte die Stimme des Mädchens zu hören, glaubte die ängstlichen Augen vor sich zu sehen. Ach, der junge Knecht würde doch nicht etwa ein Unglück angerichtet haben? Sie hatte genügend aus dem Bericht seiner Schwester entnommen, um Zusammenhänge finden zu können.

Nach etwa einer Stunde ließ der Feuerschein nach. Gewiss war aber doch mancher Schaden angerichtet worden. Frau Ullmann begann zu frösteln und wandte sich, um ins Haus zu gehen.

Da schrak sie zusammen. Ein röchelnder Ton drang an ihr Ohr, jetzt vernahm sie auch Schritte, hastend, stolpernd. Und nun schluchzende Laute. Frau Ullmann war nicht ängstlich, aber unwillkürlich trat sie doch mehr in den Schatten eines Baumes. Wer mochte zu solcher Nachtstunde hier heraufkommen? Im nächsten Augenblick stieß sie einen leichten Schrei aus. Nur notdürftig bekleidet, mit aufgelöstem Haar, auf bloßen Füßen, hastete Hedwig Höster den Berg zu ihr empor. Jetzt bog sie in den schmalen Weg ein, der zur Villa führt. Frau Ullmann trat hervor.

»Kind, was tust du mitten in der Nacht hier oben?«

Da warf sich das Mädchen ihr entgegen und weinte laut auf. »Es hat nichts genützt, ich habe gebetet, aber es war wohl schon zu spät. Jetzt ist das Unglück geschehen. O helfen Sie mir, helfen Sie mir, man soll ihn nicht einsperren!«

Zitternd umklammerte sie die Fremde. Der Atem des Mädchens keuchte, die Lippen waren schneeweiß, zwei fieberheiße Flecken brannten auf den schmalen Wangen.

»Kind, Kind, beruhige dich! Du darfst jetzt nicht verzweifeln! Es wird sicher noch alles gut.«

Sie führte das junge Mädchen, das am Zusammenbrechen zu sein schien, in ihr Haus.

»Nicht einsperren, nicht einsperren!« wimmerte es noch einige Male, dann wurde es in den Armen der Fremden besinnungslos.

»Armes Ding«, flüsterte diese, »hast du niemand gehabt, dem du deine Angst bringen konntest! Musstest du mitten in der Einsamkeit der Nacht den Berg hinauf, um einen Menschen zu finden, dem du glaubtest vertrauen zu können?«

Sie bettete Hede mit Hilfe ihrer Magd behutsam, wie Mutterhände es tun, in ihrem Hause und wachte bei ihr bis zum Morgen.

Inzwischen war im Dorfe der reinste Aufruhr entstanden. Des Lindenhofbauern Stunde war gekommen. Triumphierend eilte er mit seinem Beweismaterial zum Bürgermeisteramt. Es war kein Zweifel, Gustav war der Brandstifter. Seine Frau und sechs seiner Kinder waren Zeugen, dass er selbst gesagt habe, auch ihren Hof würde er anzünden. Und der an seine Schwester gerichtete Brief war der letzte Beweis.

Etwas später führte man einen jungen Menschen gefesselt durchs Dorf. Obgleich es Nacht war, standen die Dorfbewohner gruppenweise auf der Straße und sahen dem seltenen Schauspiel neugierig zu. Manch hämisches Wort drang an das Ohr des Burschen. – »Das hat man kommen sehen. Von einem solchen ist nichts Besseres zu erwarten.«

»So jung noch und so verdorben!«

»Seht nur, wie herausfordernd er um sich blickt, kein bisschen Schuldbewusstsein und Reue, wie es sich gehören würde!«

»Na, hinter den Eisenstäben wird ihm schon die Frechheit vergehen.«

»'s ja kein Wunder, 's ist eben einer von den Aussiedlern. Wer weiß, was die schon alles hinter sich haben!«

Mit erhobenem Haupte und zusammengepresstem Munde schritt Gustav, geführt von zwei Landjägern, dem Rathaus zu. Als er aber allein in der Zelle saß, da verging ihm die zur Schau getragene Gleichgültigkeit: Gebrochen lehnte er an der kahlen Wand. Sein Hauptgedanke war: Hede!

Ganz wirr war es ihm im Kopfe. Wie war denn das alles gekommen? Feuer auf dem Waldhofe. Man würde es ihm nicht glauben, des war er sich klar, aber er war unschuldig an diesem Brand. Eine furchtbare Nacht verbrachte Gustav in der Einsamkeit der Zelle. Jetzt war es Tatsache geworden, was seine kleine Schwester schon lange befürchtet hatte, er war eingesperrt, und man betrachtete ihn als Brandstifter. Wie merkwürdig war das alles! Er selbst hatte oft diese schreckliche Drohung ausgesprochen, und wer weiß, wahrscheinlich wäre er in seinem Jähzorn auch zu solcher Tat fähig gewesen. Nun bricht ohne sein Zutun auf dem Gehöft Feuer aus. Er erlebt die Schreckensszenen und erschaudert. Sollte Hede doch recht gehabt haben, als sie zu ihm von Gott sprach? Sollte Gott eingegriffen haben, sollte er den Ausbruch des Feuers zugelassen haben, um ihn vor der grässlichen Tat zu bewahren?

Dass er hier eingesperrt war, schien ihm in diesen Augenblicken nicht einmal das Furchtbarste. Es musste sich ja heraussteilen, dass er unschuldig war, wenn vielleicht auch erst nach langer Zeit. Aber dass er an dem Entsetzlichen vorübergegangen war, dass nicht er die Ursache zu sein brauchte, das wurde ihm plötzlich unsagbar groß. Und während man in den Dorfhäusern nicht zur Ruhe kommen konnte und ein hartes Urteil über den vermeintlichen Brandstifter fällte, beugte dieser sich zum ersten Mal in seinem Leben vor Gott und stammelte ungeschickte, aber aufrichtige Worte des Dankes. Dann aber erkannte er auch im Lichte Gottes, an welchem Abgrund er gestanden war und in welche unbeschreiblichen Gefahren er geraten konnte, wenn er nicht von seinem Jähzorn befreit würde. Niemand war da, der ihm den Weg zeigte, aber er ließ sich leiten von dem, das in ihm selbst zur Wahrheit strebte. Er bat Gott um Vergebung seiner Schuld und um Kraft, ein neues Leben anzufangen, und schließlich legte er ihm auch die Sorge um seine kleine Schwester hin. Endlich schlief er ein.

Am nächsten Morgen – es war noch sehr früh – wurde er durch Schlüsselgerassel geweckt. Schlaftrunken richtete er sich auf und glaubte sich zuerst im Waldhof zu befinden und das Zerren der Kühe an den Eisenketten zu vernehmen.

Dann aber kam es ihm zum Bewusstsein, wo er war. Das schreckliche Erlebnis der Nacht stand wieder vor seinen Augen, und nun wollte die Angst auch über ihn wie unheilschweres Gewölk kommen.

Man führte ihn in das Sitzungszimmer. Dort waren der Bürgermeister, einige Beamte und – der Waldhofbauer versammelt.

»Ich bin gekommen«, begann letzterer mit fester Stimme, »um zu sagen, dass mein Knecht, Gustav Höster, an dem Brandunglück auf meinem Hofe unschuldig ist. Die von ihm im Jähzorn gemachten Äußerungen gehen mich nichts an. Ich traue ihm eine schlechte Tat nicht zu. Das Brandunglück aber ist so geschehen: Meine Frau, die herzleidend ist, fühlte in der vergangenen Nacht eine Schwäche über sich kommen. Sie wollte mich nicht wecken und ging mit einer brennenden Kerze ins Nebenzimmer, weil dort am Abend vorher die elektrische Birne ausgebrannt war. Während sie nach den Tropfen, die ihr der Arzt verschrieben hat, suchte, wurde sie ohnmächtig und sank mit dem offenen Licht in der Hand zur Erde. Die Gardinen fingen Feuer, und so ist der Brand entstanden. Ich habe wohl allerlei Schaden erlitten, Gott sei Dank ist aber kein Menschenleben umgekommen. Vor allem aber bin ich froh, dass mir meine Frau geblieben ist. Uns beiden aber war es das Wichtigste, unserem unschuldig verdächtigten Knecht wieder zur Freiheit zu verhelfen. Ich denke, Sie haben nichts dagegen, Herr Bürgermeister, wenn ich ihn jetzt gleich wieder mitnehme. Wir haben nach dem Brande mächtig zu tun, bis alles wieder geordnet ist.«

Gustav bekam noch einige gute Lehren, dann durfte er mit dem Waldhofbauern gehen.

Diesmal aber trug er das Haupt nicht hocherhoben. Er war tief bewegt über den wunderbaren Ausgang der Sache, aber auch beschämt über die edle Handlungsweise seines Arbeitgebers. Der reichte ihm die Hand.

»Komm, Gustav, schlag ein! Wir wollen uns gegenseitig volles Vertrauen entgegenbringen. Du kannst dir gar nicht denken, wie dankbar ich bin, dass ich meine Frau noch nicht hergeben musste. Als wir vor 15 Jahren unsere einzige Tochter durch den Tod verloren, da habe ich mir gelobt, sie auf Händen zu tragen. Sie hat das Sterben unserer Tochter nie ganz verwinden können. Das ist auch der Grund, dass sie kein junges Mädchen um sich herum ertragen kann. Sie müsste dann Tag und Nacht weinen. Glaube mir, wenn dem nicht so wäre, dann hätte ich deine Hede längst schon auf den Hof geholt.« Der Bauer schwieg. Gustav aber senkte sein Haupt noch tiefer. Schließlich stammelte er: »Das habe ich alles nicht gewusst, verzeiht mir, dass ich Euch für hart und ungerecht gehalten habe.«

Der Waldhofbauer, der wusste, wie schwer dem Burschen dieses Geständnis fiel, winkte ab.

»Lass gut sein, Gustel, von heute an steht volles Vertrauen zwischen uns. Aber jetzt wirst du gewiss gerne zuerst auf den Lindenhof gehen wollen. So troll dich. Zum Mittagessen erwarte ich dich zu Hause.«

Gustav eilte davon. Diesmal aber wollte er nicht hinter der Weißdornhecke auf seine Schwester warten, sondern direkt durch das große Tor in den Lindenhof treten. Der Lindenhofbauer sollte als erster sehen, dass man ihn wieder freigelassen hatte. Ganz verstört trat ihm die Bäuerin entgegen.

»Was willst du?«

»Ich will zu meiner Schwester.«

»Ja, Gustav, ich – ich weiß nicht, wo sie ist.«

Der Bursche ging noch einen Schritt näher. Angst und Schrecken sprachen aus seinen Zügen.

»Wie meint Ihr das?«

»Sie ist seit dieser Nacht verschwunden. Kein Mensch weiß, wo sie ist.«

»Lindenhofbäuerin!« Gustav schrie auf. »Wo habt ihr meine Hede?« Ganz weiß war er im Gesicht. Ein Zittern ging durch die starke Gestalt. In diesem Augenblick knarrte aufs neue das Hoftor. Eine große vornehme Frau kam auf das Haus zu. Es war Frau Ullmann.

»Sind Sie die Lindenhofbäuerin?«

»Ja, die bin ich.« Misstrauisch sah die Frau die Fremde an.

»Ich bringe Ihnen Nachricht von Hedwig Höster.«

Da war der Bursche mit einem Satz bei ihr, zog die Mütze vom Kopf und stammelte: »Ich – ich bin der Gustel, der Bruder von der Hede. Wo ist sie? Sagt, was Ihr wisst von meiner kleinen Schwester?«

»Sie sind der Gustel? O das ist gut, dass ich Sie hier treffe. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Sie wandte sich der Bäuerin zu: »Ihnen aber habe ich zu sagen, dass das Kind nicht mehr zu Ihnen zurückkehrt. Das weitere werden Sie durch das Bürgermeisteramt erfahren. Hedwig bleibt bei mir.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie der Frau den Rücken zu und verließ den Hof, gefolgt von Gustav Höster.

Die Lindenhofbäuerin warf die Türe krachend zu. Sie ärgerte sich maßlos, dass sie die Arbeitskraft verlor.

»Das passt ja«, brummte sie vor sich hin, »da ist die Clique der Aussiedler beieinander.« Als der Lindenhofbauer nach Hause kam, winkte er seiner Frau, die ihm die Neuigkeit brühwarm erzählen wollte, ungeduldig ab. Er wusste bereits alles.

»Wir haben eine Dummheit gemacht«, brummte er. »Der Gustel war gar nicht der Brandstifter, und der Bürgermeister hat mir schwer die Meinung gesagt, auch wegen der Hede. Es ist alles rausgekommen. Die Neue aus der Villa da oben hat sich mächtig für die beiden eingesetzt, und was meinst du – der Bürgermeister hat ihr recht gegeben. Er sagt, das sei wahre Volksverbundenheit und ich soll mir ein Beispiel nehmen.«

Da ging die Lindenhofbäuerin hinaus und hatte einen ganz roten Kopf.

Frau Ullmann aber stieg mit Gustav Höster den Berg hinauf, der Villa zu. Sie hatte eine lange Unterredung mit ihm. Er fand es für selbstverständlich, dass sie ihn dabei mit dem vertrauten »Du« anredete. Eine Welle innigen Dankes wogte ihr aus seinem ungestümen Jünglingsherzen entgegen. Durch's Feuer wäre er für sie gegangen, die sich der kleinen Schwester in höchster Not so liebevoll angenommen hatte und er war zu den größten Opfern bereit.

Frau Ullmann aber erkannte schon nach den ersten Worten, die sie mit dem jungen Knecht an ihrer Seite wechselte, dass es sich hier niemals um einen rohen, gewalttätigen Menschen handeln konnte, der in leichtsinniger Weise zum Brandstifter wurde. Hier lag edles Gut verborgen, wohl ziemlich verschüttet von allerlei Geröll, vielleicht auch von mancherlei Unkraut überwuchert; aber es lohnte sich an diesen beiden jungen Menschen, die ihr auf so eigenartige Weise in den Weg gestellt waren, zu arbeiten. Ob es sich hier wohl um eine neue Aufgabe handelte, die ihr Gott in die Hände legte, ihr, die gemeint hatte, sich von allem Getriebe zurückziehen zu wollen und nur noch ihrem Schmerz und der Erinnerung an die Vergangenheit zu leben? Sie meinte, die ängstlichen Kinderaugen des schmächtigen Mädchens vor sich zu sehen, die kleinen, fleißigen Hände flehend erhoben, und hörte ihre Stimme. »O helfen Sie, helfen Sie, man soll ihn nicht einsperren.« Angst und Sorge um den geliebten Bruder hatten ohnehin schon beinahe die schwachen Kräfte aufgezehrt. Ja, hier musste geholfen werden, und zwar beiden, dem Mädchen sowie dem Burschen. Und sie wiederholte diesem noch einmal ihren Entschluss, den sie der Lindenhofbäuerin bereits mitgeteilt hatte: »Hedwig bleibt bei mir.«

Da blieb Gustel mitten auf der Straße stehen und griff nach der Hand der gütigen Frau. Plötzlich aber stieg aus seinem Innern ein krampfhaftes Schluchzen empor. In grenzenloser Verlegenheit wandte er sich ab. Es war ihm, der sich sonst nur von der rauen Seite zeigte, unsagbar peinlich, dass es jetzt so über ihn kam. Aber Frau Ullmann, die mütterliche Frau an seiner Seite, verstand die Regungen seines so lange gequälten Herzens. Gütig streichelte sie ihm über das widerspenstige Haar und sagte: »Du brauchst dich nicht zu schämen, Gustel, ich weiß gut, wie schwer das alles war, aber jetzt darfst du ganz getrost in die Zukunft blicken. Es wird gewiss noch alles gut.«

Und plötzlich kam ihr der Wunsch, auch ihm eine Heimat zu bieten. Ihr Haus hatte Raum genug. Er konnte den Garten besorgen und die verschiedenen Arbeiten, die eine männliche Kraft erforderten, übernehmen. Vielleicht konnte man ihn auch noch etwas schulen. Er machte den Eindruck eines aufgeweckten Jungen. Gewiss war in seinem Wissen manche Lücke zu füllen und Versäumtes nachzuholen. Ganz froh und leicht wurde es ihr bei diesem Planen ums Herz. Ach ja, für diese Armen, Hemmgestoßenen da zu sein, das war doch ein Lebenswerk.

»Gustel«, sagte sie, während sie nun gemeinsam bergauf stiegen, »ich will nicht nur deiner Schwester ein Heim bieten, sondern auch dir. Sieh, auch ich bin fremd hier, eine Aussiedlerin, wie die Dorfleute sagen. Vielleicht hast du schon davon gehört, wie hart mich das Leben angefasst hat. An einem Tag verlor ich meinen Mann und meine beiden Kinder und wurde ganz einsam. Jetzt aber scheint es mir, als habe Gott selbst mir noch eine Aufgabe zugeteilt. Mein Häuschen ist groß genug für uns alle. Komm auch du zu mir auf den Berg und lass mich an euch beiden Mutterstelle vertreten. Wir drei Aussiedler wollen zusammenstehen und den Leuten unten im Dorf beweisen, dass auch wir imstande sind, etwas Rechtes zu leisten. Wohl kenne ich deine Schwester erst seit gestern und auch dich habe ich heute zum ersten Mal gesehen, aber es gibt Stunden im menschlichen Leben, die sind voll gewaltigen Inhaltes und können ausschlaggebend für das weitere Dasein eines Menschen sein. Solche bedeutungsvolle Stunden verlebte ich in dieser Nacht am Bette deiner Schwester, und jetzt sehe ich meine Zukunftsaufgabe deutlich vor mir.«

Gustel hatte Frau Ullmann mit keinem Wort unterbrochen. Ihr Vorschlag überwältigte ihn schier. War es nicht gerade wie ein Märchen oder gar wie ein Wunder? – Diese Nacht noch im Gefängnis, von Dunkelheit erfüllt und umgeben, heute solche Zukunftsmöglichkeiten? – Er konnte es kaum fassen. Die Verwirklichung dieses Planes bedeutete ja, eine Heimat zu besitzen, und zwar eine solche, wie weder Hede noch er sie je gekannt hatten. Man würde wissen, wohin man gehörte, die kleine Schwester würde nicht mehr ausgenützt werden und über ihre Kräfte arbeiten müssen. Man konnte beieinander bleiben und würde nicht mehr unter dem Bewusstsein leiden, nur geduldet zu sein und Almosen zu empfangen.

Während Gustel sich dies alles mit den schönsten Farben ausmalte, stand plötzlich ein »Aber« vor ihm. Im gleichen Augenblick erkannte er, dass es ihm nicht möglich war, Frau Ullmanns gütiges Anerbieten anzunehmen.

Sie waren beinahe oben, als er aufs neue stehenblieb.

Treuherzig blickte er Frau Ullmann an und sagte: »Dass Sie meine Hede bei sich behalten und als Ihr Kind betrachten wollen, das ist das größte Glück, das ihr begegnen kann, und ich danke Ihnen vielmals dafür; dass Sie aber auch mir anbieten, zu Ihnen zu kommen und den Garten und was sonst noch zum Hause gehört, zu besorgen, das ist, – ja – das ist beinahe zu viel. Nun seien Sie mir aber nicht böse, wenn ich Ihnen absage, aber Sie werden das verstehen. Ich kann den Waldbauern nicht verlassen, besonders jetzt nach dem Brande geht das nicht. Außerdem habe ich auch noch etwas bei ihm gutzumachen. Ich muss also wirklich dort bleiben. Wenn Sie mir aber erlauben wollen, sooft wie möglich nach meiner Schwester zu sehen, dann bin ich recht froh und dann mach' ich Ihnen den Garten und was drum und dran hängt noch nebenbei.«

Einesteils bedauerte Frau Ullmann es sehr, dass der Bursche nicht ein willigte, zu ihr zu ziehen, gleichzeitig aber freute sie sich über seine bewusste, männliche Art. Wahrlich, sie hatte sich nicht in ihm getäuscht, er war das, was sie von ihm gehalten hatte, ein aufrechter, ehrlicher junger Mensch, der bestrebt war, seine Pflicht in Treue zu erfüllen. Sie reichte ihm die Hand.

»Du hast recht, Gustav, und es wäre verkehrt von mir, dich überreden zu wollen. Eines aber sollst du wissen: Mein Haus wird immer für dich offen sein. Wie deine Schwester sollst auch du es von jetzt an als deine Heimat betrachten. Hede aber soll mir ein liebes Töchterchen werden. Ich will dafür sorgen, dass sie noch manches Brauchbare lernt, und auch du sollst neben der Arbeit beim Waldbauern Gelegenheit finden, dich weiterzubilden.«

Jetzt waren sie vor der Villa angelangt. Hede, der es nicht erlaubt worden war, aufzustehen, lag in dem sauberen Gastzimmer und sehnte Frau Ullmanns baldige Rückkehr herbei. Wenn sie nur endlich Nachricht von Gustel bekäme! Bange klopfte ihr Herz, wenn sie an den Bruder dachte und doch versuchte sie sich an den tröstenden Worten Frau Ullmanns aufzurichten.

»Du darfst es dem lieben Gott Zutrauen«, so hatte sie heute morgen, bevor sie ins Dorf hinuntergestiegen war, gesagt, »dass er auch jetzt noch, wo du vielleicht keinen Ausweg mehr siehst, in wunderbarer Weise eingreifen und helfen kann.«

Jetzt hörte Hedwig Schritte und nun Stimmen. Erwartungsvoll richtete sie sich auf. Nun wurde die Tür geöffnet.

»Gustel, mein Gustel!« Mit einem Aufschrei sank sie zurück in die weißen Kissen. Ein Tränenstrom machte ihrem angstgequälten Herzen Luft. Da saß nun der junge Knecht am Bett seiner Schwester und streichelte in unbeholfener Zärtlichkeit ihre kleine Hand.

»Hede, liebe Hede, weine doch nicht so, ich bin doch nun da, und ich habe es nicht getan, du darfst es mir glauben, ich bin unschuldig an dem Brand. Gott hat mich wunderbar bewahrt. Ja, jetzt glaube ich es auch, dass seine Hand über mir war. In dieser Nacht, als sie mich eingesperrt hatten, habe ich es ganz deutlich erkannt. O Hede, ich bin so dankbar!«

Kein Wort konnte die Schwester erwidern. Es war zu viel des Glückes. Die furchtbare Angst und Not der letzten Stunden und vergangenen Wochen fiel von ihr ab. Ganz regungslos lag sie da und ließ des Bruders Hand nicht los. Aus ihren Augen aber strahlte die unbeschreibliche Freude über diese wunderbare Fügung.

Gustav hatte sich inzwischen staunend im Zimmer umgesehen. »Hede, wie hast du's fein!« wunderte er sich. »Gerade wie eine Prinzessin, und hier, hier darfst du bleiben?«

Sie sah ihn fragend an. »Hier bleiben?« wiederholte sie. »Ich muss doch wieder auf den Lindenhof.« Bei diesen Worten glitt ein Schatten über ihr Gesicht, die Lichtlein in ihren Augen schienen verlöschen zu wollen.

»Ja, weißt du es noch nicht?« fragte Gustel, »hat Frau Ullmann dir nicht gesagt, dass du für immer bei ihr bleiben darfst?«

»Gustel!«

Jubelnde Freude über solche Aussicht und gleichzeitig Zweifel, ob so etwas Wunderbares wirklich möglich sei, klangen aus ihrem Schrei. Frau Ullmann, die soeben ins Zimmer getreten war, hatte Gustavs letzte Worte gehört. Sie beugte sich liebevoll über das Mädchen, hob ihr den Kopf und fragte: »Möchtest du bei mir bleiben, Hede?«

Da warf diese sich wortlos an die Brust der mütterlichen Freundin und umschlang sie mit beiden Armen. Auch jetzt vermochte sie kein Wort zu erwidern. Frau Ullmann aber spürte, wie der ganze Körper des Kindes in Erregung bebte. Wie ein Sturm war die Freude über sie gekommen. Eine Mutter, eine wahre, liebevolle Mutter zu haben, nicht mehr heimatlos zu sein! – Plötzlich blickte sie fragend den Bruder und dann Frau Ullmann an.

»Und Gustel?« flüsterte sie.

Da drückte diese ihr einen Kuss auf die Stirn. »Auch Gustel soll bei mir sein Zuhause haben. Jederzeit darf er kommen und muss sich jetzt nicht länger um seine kleine Schwester bangen. – Willst du nun mein Töchterlein sein, Hede?«

Da schluchzte diese auf in Seligkeit und Glück: »Mutter!« und nichts als »Mutter!«

»Jetzt musst du aber wieder etwas ruhen«, bestimmte Frau Ullmann, die mit Besorgnis sah, wie das Mädchen erschreckend blass geworden war. Ihre Lippen färbten sich blau, und schwer ging der Atem. Das arme, leidgequälte Herz schien nicht fähig zu sein, Glück zu ertragen. Jetzt lag sie ganz still, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht.

»Gustel«, flüsterte sie nach einer Weile, »es hat doch genützt.«

»Was meinst du, Hede?« fragte er.

»Das Beten.«

Da verstand er sie und nickte ihr froh und überzeugt zu. »Ja, du hast recht gehabt, das Beten hat genützt.«

Gustav Höster war wieder auf dem Waldhof. Dass er ein tüchtiger, leistungsfähiger Arbeiter war, hatte der Bauer schon längst, gleich in den ersten Tagen, entdeckt, was er aber in Wirklichkeit zu schaffen vermochte, bewies er jetzt, da er mit Freudigkeit und Eifer an die Arbeit ging.

»Was für ein froher, angenehmer Mensch ist doch der Gustel geworden!« sagte die Waldbäuerin, die nach dem Brandunglück noch recht schonungsbedürftig war und meistens im Liegestuhl ruhte, zu ihrem Mann.

»Ja, seit jener unvergesslichen Nacht«, erwiderte er. »Da hat er eine Lektion für sein ganzes Leben gelernt, aber nicht allein er, sondern auch ich. Wie leicht kann man doch einem Menschen Unrecht tun und ihn falsch beurteilen, wenn man sich nicht Zeit nimmt, sein Inneres kennenzulernen! Wir glaubten immer, Gustav sei ein unzufriedener, mürrischer Bursche. Im Grunde war es nur die Sorge um die Schwester, die sich auf diese Art äußerte. Jetzt, wo das Mädchen versorgt ist, scheint er ein anderer Mensch zu sein. Alles Mürrische ist von ihm abgefallen, und aus der rauen, harten Schale hebt sich ein guter Kern. So geht man an der Not eines Menschen vorüber und könnte ihm vielleicht ohne große Mühe zurechthelfen und ihn von seiner Sorgenlast befreien.«

»Ja«, stimmte die Kranke ihm zu, »ich habe mir auch schon Vorwürfe gemacht. Ich hätte dir damals, als er dich so flehentlich bat, seine Schwester ins Haus zu nehmen, Zureden sollen. Dass er so für das Mädchen eintrat, zeugte nur von seinem guten Charakter. Ich aber meinte es nicht ertragen zu können, ein junges Mädchen um mich zu haben, nachdem ich unsere Hanni in diesem Alter hatte hergeben müssen. Heute glaube ich, es wäre richtiger gewesen, ich hätte mich überwunden und Gustel seinen Wunsch erfüllt.«

»Lass gut sein«, tröstete der Bauer, »die Hede ist jetzt am rechten Platz. Für die schwere Arbeit auf dem Land hätte das schwache Ding nie recht getaugt. Bei der Frau Ullmann aber ist sie gut versorgt, und nun ist ihnen beiden geholfen. Die junge Witwe ist auch noch nicht alt genug, um die Hände in den Schoß zu legen. Wir aber wollen in unserem Teil versuchen, dem Gustav das Elternhaus zu ersetzen. Der arme Mensch hat ja noch nie eine rechte Heimat gehabt.«

Gustav spürte das Wohlwollen, das ihm die beiden Leute entgegenbrachten, und es tat ihm wohl. Durch fleißiges und gewissenhaftes Schaffen versuchte er sie seinerseits zu erfreuen, und so entstand ein gegenseitiges Verhältnis vollkommener Harmonie.

Seitdem sich der wahre Sachverhalt jener Nacht, da das Feuer auf dem Waldhof ausgebrochen war, im Ort herumgesprochen hat, begegneten manche der Dorfleute Gustav Höster freundlicher als bisher. Sie mochten einsehen, dass man dem jungen Menschen unrecht getan hatte, und schämte sich ihres lieblosen Redens. Ob sie ahnten, wie es ihm Wohltat, hoffen zu dürfen, dass die Zeit wohl auch einmal kommen würde, wo er und seine Schwester nicht mehr als die »Aussiedler« betrachtet, sondern ihresgleichen sein würden?

Nur einer hatte es nicht vergessen, dass ihm durch diese »Hergelaufenen«, wie der Lindenhofbauer die Geschwister noch immer nannte, solche Schmach geschehen war. Als eine solche betrachtete er es, dass der Bürgermeister ihm damals ernst ins Gewissen geredet hatte.

»Ein Getue haben sie mit diesem Armenhäusler«, grollte er. »Es fehlt nur noch, dass sie ihm eine Belohnung dafür geben, dass er so freundlich war und dem Waldbauern seinen Hof nicht angezündet hat. Aber das ist mal gewiss, sie werden noch ihre blauen Wunder erleben an dem Strolch, dem elenden.«

»Schrei doch nicht so laut«, ermahnte ihn seine Frau. »Es braucht dich nur einer beim Bürgermeister anzukreiden, dann kannst du sehen, was daraus wird. Der lässt nicht mit sich spaßen. Meinst du vielleicht, mir passt die ganze Sache? Ich wollte, wir hätten wieder jemand für die Kinder. Es mag gewesen sein, wie es will, die Hede war auf jeden Fall zuverlässig. Wir werden lange suchen können, bis wir wieder so eine bekommen, wie sie war.«

»Ach, hör mir auf mit der«, schimpfte der Bauer. »Die ist genau von derselben Sorte wie ihr sauberer Bruder.«

Da schwieg die Frau verdrossen und dachte sich ihren Teil. Als ob es so einfach wäre, ein Mädchen zu zehn Kindern zu bekommen.

Beide sollten es noch erfahren, wie dankbar sie eines Tages für die »Aussiedler« sein würden.