Dreisbach-Lesebuch 3 - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Dreisbach-Lesebuch 3 E-Book

Elisabeth Dreisbach

0,0

Beschreibung

Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählige Leser bezeugen, wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben. Wegen der großen Nachfrage der ersten beiden Lesebücher legt der Verlag ein weiteres vor, das ebenfalls gehaltvolle Erzählungen aus früherer Zeit vereinigt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 419

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dreisbach-Lesebuch 3

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-157-2

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Vorwort

Ein heilsamer Sturz

Onkel Fridolin

Schnabel

Veronikas Auftrag

Jockeli, der Ausreißer

Unsere Empfehlungen

Vorwort

Wegen der großen und anhaltenden Nachfrage nach Büchern von Elisabeth Dreisbach hat der Verlag sich entschlossen, ein drittes Dreisbach-Lesebuch mit gehaltvollen christlichen Erzählungen aus früherer Zeit zusammenzustellen. Der Band bietet beste Unterhaltung. Aber nicht nur das! Die Autorin vermittelt in ihren Christus-bezogenen Geschichten, dass bei Gott niemand vergessen ist und dass er sich gerade der Armen und Ausgegrenzten annimmt, die kaum Chancen im Leben hätten, wären sie nur auf Menschen angewiesen. Sie müssen oft viele Tiefschläge verkraften, die das Leben mit sich bringt, ehe sie durch ein reiches Gebetsleben und ihre aufopferungsvolle Nächstenliebe zum Glück durchdringen, das sie bei Gott finden.

Die Autorin versteht es, existentielle Fragen und Probleme in Ehe, Beruf und Gesellschaft unterhaltsam mit einzubeziehen. Dem christlichen Leser, der christlichen Leserin werden Schicksale vor Augen geführt, die jeden angehen, weil sie überall anzutreffen sind.

Der Verlag

Ein heilsamer Sturz

Elin ohrenbetäubender Lärm schallte aus dem Klassenzimmer. Kopfschüttelnd ging der Hausmeister vorüber. »Die soll man nun mit ›Sie‹ anreden – das wollen angehende Damen sein. Schöne Damen! Denen wollte ich schon den Meister zeigen, wenn ich der Lehrer wäre. – Na, mich geht's nichts an.« Er nahm den neuen Anschlagzettel und heftete ihn an das Schwarze Brett. Dabei konnte er es aber nicht lassen, unverständliche Worte in seinen grauen Bart zu brummen. Er war sehr verärgert über die Zügellosigkeit der heutigen Jugend und behauptete, in den zwanzig Jahren seiner Hausmeisterlaufbahn sei es noch nie so schlimm gewesen wie jetzt.

Herr Boldt, der Klassenlehrer, öffnete die Tür des Schulzimmers. In demselben Augenblick wurde ihm mit voller Wucht der klatschnasse Tafelschwamm mitten ins Gesicht geworfen, so dass er buchstäblich triefte und zuerst kaum aus den Augen sehen konnte. Nun hatte diese nasse Begrüßung in Wirklichkeit nicht dem Lehrer gegolten, sondern einer Mitschülerin, die mit den Klassenkameradinnen durch den Schulraum getollt war und soeben an der Tür Aufstellung genommen hatte. Zum Unglück kam gerade jetzt der Lehrer herein.

Im ersten Augenblick war die ganze Klasse wie erstarrt vor Schreck. Wie würde Herr Boldt diesen Streich auffassen? Als er aber ruhig sein Taschentuch hervorzog und sich das triefende Gesicht und den Anzug abtrocknete, da brach die ganze übermütige Gesellschaft in ein nicht enden wollendes Gelächter aus. Es war aber auch ein zu drolliger Anblick gewesen. Herr Boldt war einer von den verständigen Lehrern, die Scherz und jugendlichen Übermut nicht mit boshaften Handlungen verwechseln. Er fand es auch jetzt richtiger, die feuchte Angelegenheit von der humorvollen Seite zu betrachten, als den gestrengen, hoheitsvollen Pädagogen herauszukehren.

»'s ist euer Glück, dass ich nicht wasserscheu bin«, sagte er, als er die letzten Tropfen abwischte. »Wer hat denn überhaupt den Meisterschuss getan?« – Verlegenes Schweigen in der Klasse. Dann meldete sich endlich ein kleines, schwarzäugiges Ding. »Du, Marietta? Warum wolltest du eigentlich ein solches Attentat begehen?«

Marietta Brunner stand wie mit Blut übergossen da. »Ich wollte Sie ja gar nicht treffen.«

»Also jemand anders?« fragte der Lehrer. »Na, erzähl mir doch einmal den Hergang.«

Vor Verlegenheit stotternd, erzählte die Schülerin von ihrem Tollen und Toben in der Pause.

»Auf jeden Fall scheinst du großes Interesse für unseren Tafelschwamm zu haben. Damit du nächstes Mal ein wenig vorsichtiger damit umgehst, bekommst du eine kleine Strafarbeit zudiktiert. Du wirst bis morgen einen Aufsatz über die Herkunft des Tafelschwammes schreiben.« Marietta Brunner setzte sich. Die Strafe war gelinde. Ein anderer Lehrer hätte den Streich übler aufgenommen. Die Deutschstunde nahm ihren Verlauf.

Auf dem Nachhauseweg sammelten sich gewöhnlich die Mädchen in kleinen Trüppchen, je nachdem, welche Richtung sie einschlagen mussten. Die Schwammgeschichte beschäftigte die Gemüter noch immer.

»Ich könnte mich noch jetzt totlachen, wenn ich mir vorstelle, wie der Boldt aussah, als ihm der nasse Schwamm ins Gesicht flog«, sagte Hanna Minke und bekam mitten auf der Straße beinahe einen Lachkrampf. Die andern stimmten mit ein.

Nur eine schien Grund zur Empörung zu haben. »Ich finde es direkt kleinlich von dem Boldt, so ein Theater daraus zu machen. Ausgerechnet heute am Mittwochnachmittag bei herrlichem Wetter gibt er der Marietta einen solch blöden, langweiligen Aufsatz auf. Ha – ich würde ihn einfach nicht machen. Wir sind doch schließlich keine kleinen Kinder mehr.« Hella Brinkmann machte ihrer Entrüstung stets kräftig Luft, und sie war sehr oft entrüstet.

»Na, das Toben heute in der Pause war schon mehr als kindisch«, versuchte Grete Becker, die sich gewöhnlich nicht in die Streiche der andern hineinziehen ließ, zu überzeugen.

»Ja natürlich, du Tugendspiegel. Du bist ja schon die ausgefranste alte Jungfer«, spottete Hella. »Ich finde den Boldt auf jeden Fall unausstehlich.« Bei diesen Worten war sie an ihrem Elternhaus angelangt. Mit kurzem Gruß verließ sie die andern und stieg die Treppe zu ihrer elterlichen Wohnung hinauf. Herr Brinkmann war Beamter und lebte mit seiner Familie in guten und geordneten Verhältnissen. Die vier Kinder waren nicht unbegabt und versprachen durch Fleiß und Lerneifer einmal ihren Platz im Leben auszufüllen. Nur Hella, die Zweitälteste, jetzt fünfzehnjährige Tochter, machte der Mutter Sorgen. Nicht dass sie weniger tüchtig wie die anderen gewesen wäre: im Gegenteil, sie lernte fast spielend. Je älter sie aber wurde, desto mehr zeigte sich eine hässliche Eigenschaft in ihrem Wesen. Sie wurde entsetzlich eingebildet. Die Mutter, eine prächtige Frau, nahm mit großer Sorge wahr, wie ihre Tochter sich erhaben und von sich selbst eingenommen über ihre Geschwister stellte und über alle Menschen, mit denen sie zusammenkam, wegwerfend und kritisierend sprach. Sie versuchte in Güte und in Strenge Hella zu lenken, musste aber feststellen, wie sich diese hässlichen Neigungen immer mehr ausbreiteten. »Ich fürchte, Gott wird dich noch sehr ernste Wege führen müssen«, hatte sie kürzlich gesagt, aber Hella hatte nur spöttisch die Achseln gezuckt.

Magdalene Harfner gehörte zu den Schülerinnen, die es nicht ganz leicht hatten, mit den anderen Schritt zu halten. Mädchen wie Hella Brinkmann nannten sie faul und unbegabt. Eigentümlich aber war es, dass der Klassenlehrer eine besondere Vorliebe für sie hatte.

»Er zieht sie direkt vor«, behauptete Hella. »Unbegreiflich, was er an der Hervorragendes und Anziehendes findet! – Aber wer weiß!«

Die letzten Worte kamen in so herausfordernd vielsagendem Ton, dass ihre Klassenkameradinnen sie neugierig umringten. »Was weißt du von Magdalene?« Statt einer Antwort hob Hella wieder vielsagend die Schultern. Diese Art, eine Sache totzuschweigen oder zu umgehen, ärgerte die andern unsagbar, aber Hella war eine der Tonangebenden in der Klasse, und man wollte sich nicht gerne mit ihr verfeinden. Wen sie nicht leiden konnte, den schikanierte sie in geradezu empörender Art. Magdalene Harfner hatte ihr nie etwas getan, sie war viel zu schüchtern, um sich an sie heranzuwagen, aber es schien, dass das stille Mädchen im verwaschenen und ausgewachsenen Kleid der Hochmütigen ein Dorn im Auge war.

Es war an einem lauen Sommerabend. In einer schlichten Dachwohnung lag eine blasse, müde Frau im Krankenbett. Auf dem Fußboden der Kammer kniete ein vierzehnjähriges Mädchen und mühte sich, ihn blank zu scheuern.

»O Mutter«, seufzte sie, »die Jungens tragen doch immer einen Haufen Schmutz in die Wohnung. Ich bring' den Boden heute fast nicht sauber.«

Die Kranke lächelte. »Ja, ja, die Buben – und doch, Leni, sind wir beide so froh, dass sie gesund sind. Wenn ich an Nachbars Friedchen denke, die durch die Kinderlähmung nun schon drei Jahre lang hilflos darniederliegt, dann bin ich immer dankbar, wenn ich unsere beiden gesunden kleinen Bengel die Treppe heraufpoltern höre. Schlafen sie eigentlich schon?«

Das junge Mädchen erhob sich und ging in die nebenliegende Kammer. Sie beugte sich über das große Holzbett an der Wand, wo die sechsjährigen Zwillinge schon in tiefem Schlaf lagen.

»Ihr seid ja doch die goldigsten Kerle, die es gibt«, flüsterte Magdalene und konnte es nicht unterlassen, die roten Backen der Brüder zu küssen. Hans öffnete verschlafen die Augen und wehrte der Liebkosung seiner Schwester: »Geh, lass die Schmuserei!« Magdalene lachte laut auf und überbrachte der Mutter den Ausspruch des kleinen Rebellen.

Diese schüttelte den Kopf. »Nein, so ein Bengel – seit er zur Schule geht, bringt er alle möglichen Redensarten mit heim.«

Magdalene hatte den Boden fertiggescheuert. Sie wusch sich die Hände in der winzigen Küche, strich die Haare glatt und setzte sich an den Tisch im Zimmer der Mutter.

»Hast du viele Aufgaben heute?« fragte diese. »Du bist doch gewiss müde.«

»Ach, mit der Müdigkeit geht es«, antwortete das junge Mädchen, »aber weißt du, Mutter, ich bin doch recht froh, wenn ich aus der Schule komme.«

»Nanu, warum denn? Du hattest doch bisher so große Freude am Lernen.«

»Das ist auch heute noch so, Mutter.«

»Aber? Kind, was ist eigentlich los? Ich merke es schon seit Tagen, dich drückt etwas. Komm einmal her zu mir auf den Bettrand. Seit wann vertraust du dich deiner Mutter nicht mehr an?«

Bei den liebevollen Worten der Mutter liefen Tränen über Magdalenes schmale Wangen.

»Ich wollte dir das Herz nicht schwer machen, Mutter, und es ist ja auch dumm von mir, mich darüber zu grämen.«

Magdalene war zum Bett der Kranken getreten und setzte sich jetzt nahe zu ihr. »Es ist nur, Mutter – weißt du, sie können mich nicht leiden in der Klasse – ich weiß nicht warum' – ich habe mit niemand Streit gehabt – und dann – ich weiß es selbst – das Lernen fällt mir schwer. Früher war das nicht so schlimm, als Vater noch lebte, aber jetzt, wo wir die schweren französischen Diktate haben und gar diese komplizierten Rechenaufgaben … Ich habe so Mühe mitzukommen, und das lassen mich manche so fühlen, und da kommt oft in der Schule solch ein Gefühl der Einsamkeit über mich, dass ich gar nicht mehr hingehen möchte.«

Schluchzend hatte Magdalene gesprochen. Die Mutter hatte ihr still zugehört und leise und beruhigend immer wieder das Haar ihres Kindes gestreichelt.

»Als Vater noch lebte« – ach, wie oft rief sie sich selbst diese unvergessliche Zeit ins Gedächtnis! Nie im Leben hatte sie gedacht, dass sie noch einmal solche Tiefen der Einsamkeit und Not durchschreiten müsse. Wie glücklich war ihr Familien- und Eheleben gewesen, bis vor sechs Jahren ihr Mann ganz plötzlich erkrankt und gestorben war. Sie war mit den Kindern allein zurückgeblieben. Die wenigen Spargroschen waren nur zu schnell verbraucht, aber sie hatte sich nicht entmutigen lassen. Noch nie war es eine Schande gewesen zu arbeiten. Frau Harfner hatte Handarbeiten angefertigt und verkauft. Als sie sah, dass diese mühseligen Arbeiten nur wenig Geld einbrachten, hatte sie sich auch nicht gescheut, Wasch- und Putzstellen anzunehmen. Während sie zur Arbeit ging, hatte Magdalene daheim die kleinen Brüder versorgt. Viel zu früh hatte das Kind die schweren Lasten mit der Mutter getragen. Kaum hatte sie Zeit gefunden, mit anderen Kindern im heiteren Spiel zu verkehren. Wohl hatte Frau Harfner versucht, ihren Kindern das Glück einer frohen Kindheit zu geben und zu bewahren – die Zwillinge lebten auch in echt kindlicher Sorglosigkeit in den Tag hinein –, aber mit Leni war es doch anders. So jung sie noch schien, war sie doch schon die Vertraute ihrer Mutter geworden. Seit einem Jahr lag diese nun mit einer schmerzhaften Gichterkrankung darnieder, und die kleine Familie lebte von einer Rente. Es reichte gerade zum Nötigsten, und man musste sehr sparen, um durchzukommen. Vielleicht hätten gutgestellte Verwandte gerne einmal helfend eingegriffen, aber sie waren alle der Meinung, es gehe der Witwe mit ihren Kindern verhältnismäßig gut. Frau Harfner ließ sie auch in diesem Glauben; sie war zu stolz, um Almosen zu erbitten. Seit sie krank war, machte Magdalene neben ihrer Schulzeit sämtliche Hausarbeit, kochte und besorgte die Wäsche. Frau Harfner wusste wohl, warum es ihr seit einiger Zeit schwerfiel, in der Schule mitzukommen. Viel zu große Lasten lagen auf ihren jungen Schultern. Ihre Kräfte reichten einfach nicht aus. Für die Schularbeiten fand sie nicht Zeit, bevor sie den Haushalt besorgt und die wilden Brüder zu Bett gebracht hatte, und bei aller Arbeit war sie immer tapfer und mutig und klagte nie. Nur heute hatte es sie wohl übermannt.

»Armes Kind!« Frau Harfner zog ihre tapfere Tochter an sich. »Ich weiß, es ist nicht leicht, und ich wünschte, ich könnte dir ein wenig mehr Freude verschaffen. Hast du denn in der ganzen Klasse keine Freundin?«

»Ach Mutti, du bist doch meine Freundin.« Magdalene schmiegte sich zärtlich an die Mutter.

»Aber dein Lehrer, Herr Boldt, ist doch freundlich zu dir?«

»Ja, Mutter, besonders seitdem er kürzlich dazukam, als ich gerade große Wäsche hatte. Ich glaube, er drückt manchmal ein Auge zu, wenn ich mich recht ungeschickt anstelle in der Schule.« Magdalenes Augen strahlten. Sie hing an ihrem Lehrer und verehrte ihn. Wie geschickt wusste er die heranwachsenden jungen Mädchen zu behandeln!

Magdalene gewahrte auf dem Gesicht ihrer Mutter einen Schatten. »Mutti, du wirst dir doch keine Gedanken machen wegen meiner dummen Schulsorgen. – Komm, ich erzähle dir etwas Lustiges.« Und sie erzählte der kranken Mutter die Schwammgeschichte und war glücklich, als sie ein Lächeln auf ihrem Gesicht sah.

Dann aber sprang sie auf. »Da sitze ich nun, als ob ich nichts zu tun hätte, dabei muss ich noch eine langweilige französische Übersetzung machen.« Sie begab sich an die Arbeit. Die Kranke schaute ihr von ihrem Bett aus zu. Sie sah wohl, dass dem Kind fast die Augen zufielen, und sie konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. Noch lange dachte sie über Magdalenes Schulerlebnisse nach. Endlich hatte das junge Mädchen seine Schularbeit beendet. Es klappte das Heft zu und ging, um der Mutter den Gutenachtkuss zu geben.

»Jetzt lege dich aber schnell hin, Kind«, sagte die Mutter sorgenvoll, »du siehst erschreckend blass aus. Und noch eins, Leni, wenn deine Mitschülerinnen auch unfreundlich zu dir sind, versuche dennoch Kameradschaft zu pflegen, bringe ihnen Liebe entgegen!«

»Das ist schwer, Mutter.«

»Ich weiß es, mein Kind – das kann man auch nicht aus eigener Kraft. Glaube mir, ich habe so manches lernen müssen, von dem ich meinte, dass es unmöglich sei, aber es gibt eine geheimnisvolle Kraftquelle, das ist die Verbindung mit Gott. Ich wollte, dass auch du lerntest, sie in Anspruch zu nehmen.«

Magdalene ging gleich zu Bett. Sie war todmüde, und kaum lag sie, fielen ihr die Augen schon zu. Frau Harfner aber fand noch lange keine Ruhe. Die Sorge um das Wohl ihrer Kinder erfüllte ihr Mutterherz. »Ich kann's nur dir übergeben, o Gott, denn ich bin hilflos«, betete sie, bis dann endlich auch sie in einen leichten Schlaf fiel.

Beim Mittagstisch der Familie Brinkmann ging es heute lebhaft zu. Besonders Hella war ganz erfüllt von einem Schulereignis. Eine neue Schülerin war in die Klasse eingetreten.

»Etwas Besonderes«, schwärmte sie.

»Woran hast du denn das gemerkt?« fragte der Vater.

»Na, an der Kleidung!«

»So, an der Kleidung?«

Hella war so von ihren Gedanken eingenommen, dass sie gar nicht merkte, dass in Vaters Worten ein versteckter Spott zu hören war. »Stellt euch nur vor, ein Taftkleid für die Schule! Dazu trug sie eine tolle Perlenkette.«

»Denk nur mal, Taftkleid und Perlenkette«, wiederholte spöttisch der ältere Bruder.

»Sag, war die neue Schülerin etwa auch geschminkt?

Und welche Art von Lippenstift benutzt sie?«

»Du brauchst mich gar nicht zu necken, du dummer Bengel«, grollte Hella, »auf jeden Fall ist sie ein bildhübsches Mädchen. Aber wenn du mich auslachst, sage ich überhaupt nichts mehr!«

»Es ist auch besser, wenn du jetzt davon schweigst.« Der Vater sah seine Tochter sehr ernst an. »Wenn du die Menschen, die dir begegnen, immer nur nach ihrem Äußeren einschätzt, dann wirst du noch viele Enttäuschungen erleben. Hinter manch einem eleganten Kleid verbirgt sich eine herzlose Gesinnung, und manches hübsche Gesicht ist nur eine Maske.«

Hella schmollte. – Was verstanden sie alle davon? Eines war sicher: dieses elegante Mädchen musste ihre Freundin werden! Sie gönnte keiner ihrer Klassenkameradinnen den Vorrang. Schade, die Neue war erst in der letzten Schulstunde gekommen, so konnte man gar nicht näher mit ihr bekannt werden. Aber sie wollte sich gleich morgen dieser – dieser – wie hieß sie doch gleich – ach ja, richtig – Elvira May hatte der Lehrer sie genannt – vorstellen. Dieser klangvolle Name passte ganz zu ihr.

Die Neue saß am nächsten Morgen bereits auf ihrem Platz, als Hella Brinkmann das Schulzimmer betrat. Sie machte ihr liebenswürdigstes Gesicht, ging auf die neue Schülerin zu und sagte, indem sie ihr die Hand reichte: »Guten Morgen, Elvira, ich hoffe, dass du dich in unserer Klasse gut einlebst.«

So, der Anfang war gemacht, alles andere würde sich finden. Kaum gab die Glocke das Pausenzeichen, als Hella auch schon bei der neuen Schülerin stand.

»Wollen wir miteinander auf den Schulhof gehen?« Diese hatte nichts einzuwenden – und schon hatte Hella ihren Arm genommen und zog triumphierend mit der neuen Freundin los. In den kurzen Pausen durften die Mädchen auf dem Schulhof nicht frei herumspringen, sondern gingen je zwei und zwei auf dem Schulplatz herum, während sie ihr Frühstücksbrot aßen. Ein diensttuender Lehrer achtete auf Ordnung. Hella Brinkmann begann sofort ein lebhaftes Gespräch. »Wie gefällt es dir hier? Wo habt ihr früher gewohnt? Was hältst du von unserem Lehrer? Ich kann dir nur sagen, hüte dich vor ihm, er ist ein ungerechter Mensch.«

Elvira hatte anscheinend gar nicht hingehört, denn plötzlich blieb sie stehen und deutete auf ein Mädchen in ihrem Alter, die ganz allein und, wie es schien, recht bedrückt hinter den anderen herging.

»Gehört das Mädchen nicht auch zu unserer Klasse?« fragte sie.

»Doch, aber komm, was willst du von ihr?« Hella konnte ihren Unwillen kaum verbergen.

»Warum geht sie denn so verlassen hinter euch her?«

»Warum? Weil wir sie alle nicht leiden können. Sieh doch nur, wie unsauber sie aussieht!«

»Unsauber? Davon sehe ich nichts. Einfach, ja, aber furchtbar traurig kommt sie mir vor.«

»Sie hat auch allen Grund, traurig zu sein«, fuhr Hella lieblos fort, »du wirst ja gehört haben, wie sie sich in der Rechenstunde blamiert hat. Die einfachsten Brüche begreift sie nicht.«

»Sie tut mir leid«, sagte Elvira einfach, und ohne sich um die Empörung Hellas zu kümmern, wandte sie sich zu Magdalene Harfner und sprach sie an. »Du gehörst doch auch zu unserer Klasse, warum gehst du so allein? Komm, wir können hier gut zu dritt laufen.« Und ehe sich die schüchterne Magdalene noch recht besinnen konnte, hatte die vornehme Neue sie schon untergefasst und zog sie mit sich fort.

Einen Augenblick war Hella Brinkmann fast sprachlos. So etwas war noch nicht dagewesen! Nein, diese Neue sollte doch nicht denken, dass sie sich mit einer Magdalene Harfner auf die gleiche Stufe stellte. Nun war Elvira an der Reihe zu staunen, denn mit einem Ruck hatte Hella sich losgerissen und war hochmütig davongegangen. »Nanu – was soll denn das heißen?« fragte Elvira die vor Verlegenheit errötende Magdalene.

»Es ist meinetwegen«, erwiderte diese, »sie kann mich nicht leiden«, und während ihr die Tränen in die Augen traten, versuchte sie ihren Arm aus dem der neuen Schülerin zu ziehen, so, als erwarte sie gar nichts anderes, als dass auch diese sich jetzt von ihr abwende.

Elvira aber lachte und hielt die schüchterne Leni nur um so fester. »Nein, komm nur, wir gehen zusammen.«

Auf dem Heimweg war das Hauptthema: die Neue. »Was haltet ihr von ihr?« fragte die kleine Marietta. »Ich glaube, sie kann ganz lustig sein.«

»Vor allem ist sie klug und begabt. Sie hat die besten Antworten gegeben«, war die Meinung von Grete Becker.

»Sie ist ein eingebildeter Affe.« Mit diesen Worten machte Hella Brinkmann ihrem Arger in gehässiger Weise Luft. Dabei hatte sie nicht bemerkt, dass ihr ältester Bruder schon eine ganze Weile hinter der Mädchengruppe hergegangen und Zeuge ihres Gesprächs geworden war.

Die Mädchen fuhren erschreckt zusammen, als plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund ertönte: »Hella, Hella, was ist aus deinem Ideal mit dem Taftkleid und der Perlenkette geworden?« Auch Hella war zusammengefahren. Jetzt aber ärgerte sie sich fürchterlich, dass ihr Bruder etwas von ihren Schwärmereien am Familientisch verraten hatte, und rief ihm zu: »Das geht dich ja schließlich nichts an – und im übrigen hat Vater ganz recht gehabt, man kann sich schwer in einem Menschen täuschen.«

Magdalene Harfner aber kam heute mit hochroten Wangen und strahlenden Augen heim. »Mutter, Mutter, ich habe eine Freundin gefunden.« Die Mutter freute sich von Herzen mit ihrem Kind. »Erzähle mir von ihr«, bat sie, »beschreibe sie mir doch etwas näher!« Magdalene aber wusste nicht viel mehr zu sagen, als dass sie strahlende, gute Augen habe.

Die Mutter lächelte: »Die Augen, Leni, sind die Fenster der Seele. Bringe mir deine Freundin nur recht bald einmal mit, ich möchte sie kennenlernen.«

Und Elvira May kam. Magdalene strahlte. Zuerst hatte sie ein wenig Angst gehabt, wie die neue Freundin die Bescheidenheit ihrer Dachwohnung aufnehmen würde. Aber Elvira schien eine besondere Begabung zu haben, nur das Schöne zu sehen.

»Oh, diese wundervollen roten Geranien vor den Fenstern! – Sind das die Zwillinge?« Und sie zog die blondlockigen Jungen, die das vornehme Mädchen aus großen Frageaugen ansahen, an sich. Die aber fassten jauchzend die langen blonden Zöpfe Elviras und riefen begeistert aus: »Au du, damit kann man fein Pferdchen spielen!« Und als sie der Kranken die Hand reichte und sagte, dass es ihr furchtbar leid sei, dass sie so viele Schmerzen ertragen müsse, – da fühlte man, dass es nicht nur leere Worte waren, sondern das tiefe Empfinden ihres warmen Herzens.

Eine innige Freundschaft entspann sich zwischen den beiden jungen Mädchen. Es war, als ob Magdalene anfing, aufzuatmen. Wie lange schon hatte Frau Harfner das Kind nicht mehr so herzhaft lachen hören! Jetzt kam Elvira öfters in die Dachwohnung, und mit herzlicher Freude blickte Frau Harfner auf die beiden jungen Mädchen. Es kam Elvira gar nicht darauf an, sich eine große Schürze vorzubinden und ihrer Freundin beim Waschen und Putzen zu helfen. Ja, sie hatte sogar Freude an solchen Arbeiten. Zu Hause war sie das einzige Kind. Für die Arbeit war eine Hausangestellte da, aber Frau May hatte ihre Tochter schon früh dazu erzogen, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und nach Gelegenheiten zu spähen, sich nützlich zu machen. Seitdem sie mit Magdalene befreundet war, half sie ihr auch bei den Schulaufgaben. Und Magdalene, die keineswegs unbegabt war, hielt von dieser Zeit an wieder mit den anderen Schülerinnen Schritt. Sie konnte nicht viele Worte über ihre Empfindungen machen, aber die Mutter sah das stille Leuchten in den Augen ihrer Tochter und wusste, dass in ihrem Herzen ein helles Freudenlicht angezündet war.

Wieder einmal war die Mädchenklasse außer Rand und Band. Diesmal saß der Lehrer selbst zwischen all den Lärmenden und Tobenden und lachte mit. Eine Reise wurde besprochen, und die Freude und Begeisterung der Mädchen kannte keine Grenzen. In die Sächsische Schweiz sollte es gehen, und drei Tage wollte man unterwegs bleiben. Es war ja nicht allzu weit von Dresden, und sie waren fast alle schon dort gewesen; aber drei ganze Tage fort sein und in der Jugendherberge übernachten, das war einfach ein Fest! Der Lehrer hatte soeben das Programm für diese drei Tage durchgesprochen. Nun forderte er die Schülerinnen auf, am nächsten Tag fünfzig Mark mitzubringen. Von diesem Geld sollten die Kosten für die Reise, Verpflegung und Übernachtung beglichen werden. Wie eine Schar Hummeln schwärmten die zweiunddreißig Mädchen los. Eine schrie lauter als die andere, und die Vorfreude war unbeschreiblich.

Der alte Hausmeister schüttelte den Kopf. »Die Welt hat sich sehr verändert«, murmelte er. Lehrer Boldt, der gerade vorüberging und diese Worte eben noch gehört hatte, klopfte dem Alten auf die Schulter und sagte: »Guter Freund, haben wir vergessen, dass wir auch einmal jung waren?«

Elvira May ging mit Magdalene Harfner ein Stück gemeinsam. Auch sie war begeistert über den Reiseplan der Klasse. »Leni«, schwärmte sie, »ich finde den Plan einfach großartig. Das wird ein Fest! Stell dir vor, wenn wir auf die Bastei klettern, und die Überfahrt auf der Elbe, und dann in der Jugendherberge übernachten! Ich freue mich riesig. – Aber warum sagst du denn nichts, Leni? Freust du dich denn gar nicht?«

Magdalene hatte sich nicht an der allgemeinen Begeisterung beteiligt, aber niemand hatte darauf geachtet. Jetzt aber gewahrte Elvira einen Schatten auf dem Gesicht der Freundin. »Was ist mit dir, Leni?« forschte sie besorgt. »Warum freust du dich denn nicht mit?«

Da antwortete die Freundin traurig: »Du denkst doch nicht, dass ich mitgehen kann? Woher sollte meine Mutter fünfzig Mark haben?«

Elvira wurde nachdenklich. Sie hatte um ein paar Mark willen noch nie auf eine Freude verzichten müssen. Aber ehe sie noch weiter auf diese Gedanken eingehen und mit Magdalene darüber reden konnte, waren sie schon an der Gasse, die zu Lenis Haus führte, angelangt.

Diese reichte der Freundin die Hand und versuchte ein freundliches Lächeln. »Auf Wiedersehen, Elvira, mach dir aber keine Gedanken darüber. Ich habe schon manchmal verzichten müssen.« Als sie die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufstieg, nahm sie sich vor, der Mutter gar nichts von der bevorstehenden Ferienreise zu sagen. Sie würde nur darunter leiden, dass ihr Kind wieder wie so oft zurückstehen musste. So versuchte das tapfere Mädchen, ihrer Mutter mit frohem Gesicht entgegenzutreten, obwohl sie die Enttäuschung noch nicht überwunden hatte.

Am nächsten Tag sammelte der Lehrer die Gelder für die Reise ein. Plötzlich gab es in der Klasse eine Aufregung. Hella Brinkmann fuhr mit hochrotem Kopf auf ihrem Platz hin und her, warf ihre Bücher herum, durchsuchte die Schulmappe, kroch unter die Bank und steckte ihre ganze Umgebung mit ihrer Unruhe an. »Was ist denn mit dir los, Hella?« fragte der Lehrer. »Du zappelst ja dort herum, als säßest du in einem Ameisenhaufen.«

»Mein Geld ist fort!« Ganz aufgeregt stieß Hella diese Worte hervor.

»Suche einmal richtig nach, du wirst es schon finden«, beruhigte der Lehrer sie. Dann wandte er sich an Elvira May: »Du könntest diesen Brief schnell in die Wohnung des Rektors, der augenblicklich krank ist, bringen. Du weißt ja, wo er wohnt.« Elvira May ging, um den Auftrag zu erledigen, und Herr Boldt begann die Gelder einzusammeln.

Als er damit fertig war, fragte er Hella, ob sie ihr Geld gefunden habe. Sie hatte es nicht gefunden. »Jemand muss es gestohlen haben«, behauptete sie.

»Sprich eine solche Beschuldigung nicht aus, bevor du sie nicht beweisen kannst«, rügte der Lehrer. »Wir wollen jetzt alle einmal richtig nachsuchen!« Aber vergeblich – das Geld fand sich nicht.

»Und ich sage, dass es gestohlen worden ist«, beharrte Hella trotzig.

»So müssen wir eine Klassenuntersuchung vornehmen«, sagte der Lehrer. »Ich fordere hiermit aber jede Schülerin, die etwas von dem geheimnisvollen Verschwinden des Geldes weiß, noch einmal ernstlich auf, sich zu melden.«

Den Mädchen wurde es unbehaglich zumute. Welch ein Verdacht lag auf ihnen! Nun musste jede Schülerin auf stehen und ihre Taschen und Schulmappe umkehren. Eine nach der andern kam an die Reihe. Einige taten es lachend, andere in großer Verlegenheit. Endlich kam auch die Reihe an Magdalene Harfner. Ruhig stand sie auf. Aber als sie das letzte Buch aus der Tasche nahm, schaute ein Stück Papier hervor. Magdalene zog selbst daran – und hielt einen Fünfzigmarkschein in der Hand!

Die Klasse verharrte einen Augenblick in entsetztem Schweigen. Dann aber brach sich der Unmut Bahn. Wie eine anschwellende Woge brausten die Ausrufe der Empörung heran.

»Pfui, wie gemein. Das ist Diebstahl. –«

»Wer hätte das von der stillen Harfner gedacht?« Am lautesten aber schrie Hella Brinkmann. »Das habe ich mir doch gleich gedacht, ich habe es nur nicht sagen wollen. Da sieht man, wer der Dieb ist. Das muss dem Rektor gemeldet werden.« Ein wahrer Klassentumult entstand. Herr Boldt aber stand mit tief traurigem Gesicht vor der Angeschuldigten.

»Magdalene, warum hast du das getan?«

Das Mädchen war nicht fähig, eine Antwort zu geben. Mit beiden Händen hielt sie sich an der Bank fest; sie zitterte so, dass sie meinte, Umfallen zu müssen. Erst als der Lehrer seine Frage wiederholte, antwortete sie kaum hörbar: »Ich habe es nicht getan.«

Die Erregung der Klasse stieg.

Herr Boldt forderte Ruhe und wandte sich wieder Magdalene zu. »Aber wie kommt denn das Geld in deine Tasche?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Stimme des Lehrers wurde strenger: »Magdalene, sage die Wahrheit, das Geld ist nicht von selbst in deine Tasche gekommen. Du musst es genommen haben.«

Da schaute das Mädchen den Lehrer mit einem Blick an, dass es ihm war, als werde sein Herz durchbohrt. Die Lippen der Angeklagten wurden weiß. Sie wankte. Der Lehrer fing sie in seinen Armen auf und rief nach Wasser.

Das steigerte den Hass der Hella Brinkmann noch mehr. »Sie verstellt sich!« rief sie mit schneidender Stimme durch die Klasse. »Das ist eine elende Komödie, diese Heuchlerin!«

In demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und Elvira May kam von ihrem Auftrag zurück. Im ersten Moment konnte sie sich den Klassentumult nicht erklären. Erst als sie ihre Freundin totenblass in den Armen des Lehrers sah und die zornigen Worte Hella Brinkmanns vernahm, wurde ihr die Sache klar. Da zog es wie ein heißer Schreck durch ihre Glieder. Mit einem Satz war sie bei dem Lehrer, und indem sie seinen Arm fasste, rief sie, so dass alle es hören konnten: »Sie ist unschuldig, sie ist unschuldig, ich selbst habe ihr das Geld heimlich in die Tasche getan! Meine Mutter wollte ihr die Reise zahlen, weil ihre Mutter krank ist und es nicht kann.« Ein entsetztes Schweigen lag über der Klasse.

Aber Hella Brinkmann hatte sich in einen beinahe krankhaften Zustand gesteigert: »Sie lügt auch«, schrie sie, »weil sie mit dieser, dieser Harfner befreundet ist. Sie will sie jetzt herausreißen. Ich weiß genau, sie hat mein Geld gestohlen!«

Jetzt war es dem Lehrer genug. »Schweig!« donnerte er das Mädchen an, dass es entsetzt zusammenfuhr. Dann forderte er Elvira auf, die Freundin nach Hause zu bringen und der Mutter zu sagen, dass er bald nachkäme.

Als er dann selbst an Hella Brinkmanns Platz nachsuchte, fand er das Geld unter der Bank. Herr Boldt war als Gemütsmensch bekannt. So aber hatte seine Klasse ihn noch nie gesehen. Sie zitterten alle vor seinem Zorn. Hella Brinkmann aber musste allein Zurückbleiben.

An diesem Tage aber gingen die beiden Freundinnen Elvira und Magdalene bitterlich weinend nach Hause.

Ein wundervoller Herbsttag war es, als die Mädchen der Klasse sich in Dresden vor dem Hauptbahnhof versammelten, um in die Sächsische Schweiz zu fahren. Sie trugen Rucksäcke mit ihrem Proviant und Bergstöcke, um leichter auf den Felsen herumsteigen zu können. Es war höchste Zeit, auf den Bahnsteig zu gehen – aber Herr Boldt blickte noch immer suchend umher. Seine Klasse war noch nicht vollständig versammelt. Aber jetzt konnte man wirklich nicht länger warten. Eben gab er das Zeichen zum Abmarsch – da bogen noch zwei Schülerinnen um die Ecke. Es waren Elvira May und Magdalene Harfner. Über das Gesicht des Lehrers zog ein Schein der Freude. Er hätte es sehr bedauert, wenn die beiden nicht an dem Ausflug teilgenommen hätten. Er winkte ihnen mit der Hand, sich zu beeilen. Fast sah es aus, als zögere Magdalene Harfner noch immer. Vielleicht wäre sie auch jetzt noch umgekehrt, wenn Elvira May sie nicht festgehalten hätte. Seit diesem schrecklichen Klassenerlebnis war es, als ob in Magdalene jede Freude erloschen sei. Nicht nur wie eine seelische Ermattung, sondern auch wie eine körperliche Schwäche war es über sie gekommen. Sie weigerte sich entschieden, an dem Ausflug teilzunehmen. Die Freundin versuchte sie zu überreden, sie bettelte, ja schließlich weinte sie. »Denkst du vielleicht, dass ich mich dann an der Reise freuen kann, zumal ich ja eigentlich die Hauptschuld an der abscheulichen Geschichte trage? Hätte ich dir den Fünfzigmarkschein nur nicht heimlich in die Tasche gesteckt! Nein, Leni, du darfst mir das nicht antun! Ich müsste während der ganzen Zeit nur an dich denken.«

Herr Boldt war bei Frau Harfner gewesen, hatte ihr die unangenehme Geschichte erklärt und sein tiefes Bedauern darüber ausgesprochen. Auch er bat Magdalene dringend, doch ja an der Reise teilzunehmen, aber sie weigerte sich entschieden. Mit Hella Brinkmann hatte der Lehrer eine Privatunterredung gehabt, über deren Inhalt sie zu keinem Menschen sprach. Am nächsten Tag aber musste sie vor der ganzen Klasse zurücknehmen, was sie gegen Magdalene Harfner gesagt hatte, und diese um Verzeihung bitten. – Das war eine herbe Demütigung. Das Schlimmste aber war, dass sie auch nicht die geringste Reue empfand und somit ihre Bitte um Verzeihung Heuchelei war. Die anderen Schülerinnen versuchten ihr Unrecht an Magdalene durch allerlei Beweise von Freundlichkeit gutzumachen. Das blasse Kind mit den todtraurigen Augen tat den meisten leid.

Der Ausflugstag kam. Magdalene hatte sich vorgenommen, in diesen Tagen sich hinter die Berge zerissener Strümpfe zu machen, für die sie sonst so wenig Zeit fand. Drei schulfreie Tage kamen dem Haushalt gut zustatten. Eben war sie aufgestanden und wollte sich an die Arbeit begeben, da klopfte es, und herein kam mit Rucksack und Bergstock Elvira May.

»So, Leni, hier ist auch ein Rucksack für dich, schon gepackt und mit dem Nötigen versehen. Mutter schickt ihn dir und auch dieses Sommerkleid. Du sollst es annehmen zum Zeichen, dass du mir wegen der hässlichen Geldgeschichte nicht zürnst.« Und sie legte ein entzückendes Kleid auf den Tisch.

Magdalene war sprachlos. »Aber Elvira, du weißt doch, dass ich gar nicht mitkomme.«

»Und du wirst mitkommen, ich gehe einfach nicht eher fort. Und wenn du dich weigerst, bleibe ich hier und mache die Reise auch nicht mit, und du hast mir dann die ganze Freude verdorben.« Sie machte ein sehr ernstes Gesicht.

Magdalene schaute fragend die Mutter an.

»Geh nur«, nickte diese ihr ermutigend zu. »Du willst doch nicht, dass deine Freundin um ihre Freude kommt. Du darfst ihr auch das schöne Kleid nicht abschlagen, sonst beleidigst du ihre Mutter, die schon so freundlich zu uns gewesen ist.«

So kam es, dass Magdalene doch noch am Ausflug teilnahm, und Elvira freute sich wie ein kleiner König, dass es ihr gelungen war.

Die Umgebung Dresdens zeigte sich unbeschreiblich schön. Wie ein breites Silberband glänzte die Elbe im Strahlenschein der Sonne, umgeben von Wiesen und Wäldern. Dann nahten die Hügel der Sächsischen Schweiz, die immer mehr anschwollen, bis sie sich zu wuchtigen, felsigen Bergen erhoben. Die Schülerinnen standen an den Fenstern des Zuges und konnten sich nicht satt sehen an den bunten Farben, die der Herbst Baum und Strauch verliehen hatte. In Wehlen stiegen sie aus und ließen sich von der Fähre über die Elbe setzen. Dann ging's hinein in die Berge. Der Lehrer kannte die Umgebung und führte die Mädchen die schönsten Wege. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, machte sie auf diese oder jene besondere Schönheit aufmerksam und erklärte ihnen manches Unbekannte. Besonders interessant waren die Felsenhöhlen, von denen man sagte, dass sie schon manchen Flüchtenden beherbergt hatten.

Hoch oben auf der Bastei stand dann der Lehrer mit seiner Klasse und freute sich mit ihr an dem märchenhaften Ausblick. Ängstlich besorgt aber war er, dass ja keines der Kinder an den oft nicht ungefährlichen Stellen einen Fehltritt mache.

So ging der erste und auch der zweite Tag dahin. In der Königssteiner Jugendherberge hatte man übernachtet. Für den dritten Tag hatte Herr Boldt noch eine besonders schöne Tour geplant. Frühmorgens zog man los auf den Königstein und noch weiter hinein ins Gebirge. Nur zu schnell nahte der Abend. Eine gewaltige Müdigkeit überfiel sie; einige konnten sich kaum noch vorwärtsschleppen.

»Nun wollen wir alle noch einmal tapfer drauflosmarschieren«, ermutigte der Lehrer, »in etwas mehr als einer Stunde sind wir in der Jugendherberge. Dann legen wir uns schnell aufs Ohr, morgen in aller Frühe geht's mit dem Schiff heimwärts.«

Aber die ungewohnten Strapazen waren doch etwas viel gewesen für die Stadtkinder. Der Abend senkte sich, und noch immer befand man sich im felsigen Wald auf der Höhe des Königsteins. Hinter all den anderen folgten Arm in Arm Elvira May und Magdalene Harfner. Letztere schien am Ende ihrer Kraft. Ihr ohnehin schwacher Körper war den Anforderungen der letzten Tage nicht gewachsen. Wohl hatte auch sie sich an der Schönheit der Natur gefreut, nicht wie die anderen, die ihrer Begeisterung jubelnd Ausdruck gaben, sondern in stiller Ehrfurcht vor der Größe von Gottes Schöpfung. – Jetzt aber konnte sie sich kaum noch vorwärtsschleppen. Elvira stützte die Freundin mit rührender Geduld, aber sie konnte selbst kaum noch weiter. So kam es, dass die beiden immer mehr hinter den anderen zurückblieben.

Hella Brinkmann war während dieser Tage eine der Ausgelassensten gewesen. Es schien, als habe sie an Einfluss verloren, seit sie Magdalene Harfner in so gehässiger Weise beschuldigt hatte. Durch lautes, übermütiges Benehmen versuchte sie sich und die anderen über ihr schlechtes Gewissen hinwegzutäuschen. Pfeifend und singend war sie immer bei den ersten. Waghalsig bestieg sie die gefährlichsten Felsen und gefiel sich in dieser Rolle. Während nun die anderen in der einbrechenden Dunkelheit den Abstieg begannen, gedachte sie zum Schluss des Tages noch ein Glanzstück zu leisten. Sie verließ den Weg, um einen Felsen, der über einem Abgrund emporragte, zu besteigen. Ihren Schulkameradinnen gegenüber prahlte sie: »Ha, ich bin noch gar nicht müde, ich könnte noch die ganze Nacht hindurch marschieren; hier, ich beweise es euch, indem ich auf diesen Felsen klettere.«

Entweder glaubten die Mädchen nicht, dass sie es tun würde, oder sie waren zu müde, ihren törichten Worten Beachtung zu schenken, kurz, es kümmerte sich niemand um sie. Hella aber war zu ehrgeizig, um ihr Vorhaben aufzugeben. Mühevoll begann sie auf dem glatten Felsen emporzuklettern. Die Klasse entfernte sich mit dem Lehrer und verschwand eben in der Dunkelheit des Waldes, da ertönte ein grässlicher Schrei – Hella Brinkmann stürzte kopfüber von dem Felsen herab.

Niemand aber hatte diesen Schrei gehört als Elvira und Magdalene, die weit hinter den anderen zurückgeblieben waren. Mit Entsetzen sahen sie die Schulkameradin mit angstverzerrtem Gesicht und mit ausgestreckten Händen nach einem Halt suchend stürzen.

»Hella«, schrien beide wie aus einem Munde und eilten zum Felsen. Aber so sehr sie auch spähten, sie konnten die Verunglückte nicht entdecken.

»Wir müssen die anderen rufen«, schlug Elvira vor, und angstvoll schallten ihre Stimmen durch den Wald. Aber war es, weil ein Wasserfall die Luft mit seinem Brausen erfüllte, oder war die Klasse mit dem Lehrer schon zu weit entfernt? Man hörte das Rufen der jungen Mädchen nicht. Es wurde dunkler und dunkler, die Schatten des Abends senkten sich über die Berge, und die beiden zitternden Mädchen beratschlagten, was zu tun sei.

»Wir müssen sie suchen«, sagte Magdalene, »und zwar so schnell wie möglich.«

Elvira sah sich ängstlich in dem dunkel werdenden Wald um. »Leni, wir könnten uns verirren, wollen wir nicht lieber hinter den anderen herlaufen und dann gemeinsam suchen?«

»Nein, nein«, antwortete Magdalene und richtete sich mit aller Energie auf, »das könnte zu spät sein, wir müssen sie suchen – komm, Elvira, lass uns keine Zeit versäumen!« Und die eben noch zaghafte Elvira nahm sich ein Beispiel an der mutigen Tatkraft der Freundin, der es plötzlich war, als hätte sie neue Kräfte bekommen. Hand in Hand stiegen sie vorsichtig ab, jeden Schritt mit dem Fuß erst abtastend. Sie riefen vereint den Namen der Verunglückten, suchten mit weit geöffneten Augen die Dunkelheit ab und dachten nicht eine Minute daran, dass sie derjenigen Hilfe bringen wollten, die ihnen Leid zugefügt hatte.

Hella Brinkmann war nach ihrem furchtbaren Sturz eine ganze Weile besinnungslos gelegen. Als sie zu sich kam, konnte sie sich zuerst nicht zurechtfinden. »Wo bin ich?« fragte sie sich. Eine namenlose Angst kam über sie, als sie die Felsenzacken über sich sah und das Rauschen der Bäume um sich her vernahm. Sie versuchte sich zu erheben, sank aber stöhnend zurück. Ein furchtbarer, beinahe unerträglicher Schmerz in Schulter und Bein raubte ihr fast die Besinnung. Dazu kam die Angst, sie könne noch tiefer hinabstürzen. Es schien ihr, dass sie auf einem Felsenvorsprung lag.

Ein Grauen überfiel das Mädchen, wie sie es nie im Leben gekannt hatte. Sie zitterte am ganzen Körper, Kälte und Angst ließen sie mit den Zähnen klappern. »Was soll ich tun? Oh, was soll ich tun?« jammerte sie in ihrer Not.

»Warum bin ich nur auf diesen Felsen geklettert? Wenn man mich in dieser Dunkelheit nicht findet? Sicher muss ich diese Nacht sterben! Hier in dieser Einsamkeit – mutterseelenallein – Mutter, o Mutter!« schrie sie in die Nacht hinein. Die Schmerzen nahmen von Augenblick zu Augenblick zu. Hella meinte vergehen zu müssen. Und wie sie nun so hilflos dalag und ernstlich daran dachte, sterben zu müssen, da war es ihr auf einmal, als rolle ihr Leben wie ein Film vor ihren Augen ab. Sie erkannte plötzlich, wie recht die Mutter gehabt hatte, als sie in Sorge zu ihr von ihren schlechten Charaktereigenschaften sprach, und meinte sie zu hören: »Der liebe Gott muss dich wohl erst sehr ernste Wege führen.« – Jetzt war es gekommen, sie fühlte es genau: das war die Strafe. Und so sollte sie nun sterben? Mit solcher Schuld auf dem Gewissen? »Lieber Gott, lieber Gott«, flüsterten ihre Lippen, dann wieder weinte sie laut auf vor Schmerz. Plötzlich meinte sie sich in der Schulklasse zu befinden, sie erlebte die Geschichte mit dem Geld, sah die weinende Magdalene vor sich, hörte sich selbst in niederträchtiger Weise das Mädchen beschuldigen – alles, alles wurde in diesen Augenblicken der schrecklichen Angst in ihr lebendig, und eine nie dagewesene Selbsterkenntnis kam über sie. Oh, wenn sie noch einmal, nur ein einziges Mal Gelegenheit hätte, wie anders wollte sie werden – oh, sie wollte allen Hochmut und Stolz aufgeben. »Lieber Gott, lieber Gott«, schrie sie laut, während heiße Tränen über ihr Gesicht rannen, »hilf mir noch dieses eine Mal!« – Aber nein, er würde ihr nicht helfen, er hatte ihr ja diese Strafe geschickt. Wie konnte sie auf Erbarmen hoffen? Schier verzweifeln wollte sie.

Jetzt war es ganz dunkel geworden, sie fror entsetzlich – gewiss, das war das Ende. Nicht mehr lange, und sie würde tot sein. Nun kam eine entsetzliche Angst vor dem Sterben über sie, dass sie nicht mehr aus noch ein wusste. Aber plötzlich war es ihr, als höre sie die Stimme ihrer Mutter, die an ihrem Bett oft gebetet hatte: »Deine Gnad und Jesu Blut machen allen Schaden gut.« – »Allen Schaden«, flüsterte sie, »allen Schaden, auch meinen, den schlimmsten – Herr Jesus – auch meinen Schaden!« Dann schwanden ihr die Sinne wieder.

Inzwischen war der Lehrer mit seiner todmüden Schar in der Jugendherberge angekommen. Die Kinder hatten sich durch die hereinbrechende Dunkelheit mit müden Füßen dahingeschleppt und sanken ermattet auf den Bänken der Jugendherberge nieder. Da erst wurde das Fehlen der drei entdeckt. Totenblass wurde der Lehrer. Ein aufregendes Fragen folgte: »Wer hat sie zuletzt gesehen und wo?« – Und nun berichteten auch die müden Kinder von dem törichten Vorhaben Hella Brinkmanns. Niemand aber konnte mit Bestimmtheit sagen, ob sie auf den Felsen gestiegen war. Es musste ein Unglück geschehen sein, darüber waren sich alle klar. Welch ein schreckliches Ende der frohen Ferientage! Man benachrichtigte die Polizei, eine Rettungsmannschaft wurde ausgeschickt. Allen voran aber ging der Lehrer, der die Verantwortung seines Berufes in dieser Stunde in all ihrer Schwere fühlte. Mit Laternen, Stangen und Seilen machte man sich auf den Weg. Der Lehrer aber bezeugte später, nie in seinem Leben so zu Gott geschrien zu haben wie auf jenem nächtlichen Gang.

Als Elvira May und Magdalene Harfner etwa eine halbe Stunde vergeblich nach der Verunglückten gesucht hatten, wollte ihr Mut weichen. Hatte es Zweck, weiter in der unbekannten dunklen Bergwelt herum zu klettern? Brachten sie sich nicht selbst in Gefahr? War es nicht besser, umzukehren? So stritt es in ihnen. Aber immer wenn sie an die unglückliche Schulkameradin dachten, die vielleicht angstvoll auf Hilfe wartete, da war es ihnen, als dürften sie noch nicht nachlassen zu suchen, als müssten sie noch eine Weile Geduld haben. Und wieder riefen sie in die Finsternis: »Hella! Hella!« Sie wussten nicht, wie lange sie schon im Geklüfte der Felsen herumgeklettert waren, ihre Hände waren blutig gerissen, sie stürzten über Wurzeln und Steine – und immer noch suchten sie die Verlorene.

Hella erwachte aus ihrer Ohnmacht und meinte in der Ferne ihren Namen rufen zu hören. Im ersten Augenblick glaubte sie, es sei Gottes Stimme, die sie von dieser Erde rief. Aber das Rufen wiederholte sich und kam näher. Und nun antwortete Hella mit letzter Kraft: »Hier – hier bin ich!« Neue Hoffnung erfüllte ihr Herz. Sollte sie doch gefunden werden?

»Ich höre etwas«, flüsterte Magdalene plötzlich, »still, da wieder. –«

Und tatsächlich: leise, aber doch vernehmbar drang eine Stimme zu ihnen empor, Hellas Stimme.

»Sie ist's, sie ist's, wir haben sie!« jauchzten die beiden, und nun überstürzten sie sich fast. »Wir kommen, wir kommen!« Es war noch eine ziemliche Strecke, und die beiden mussten steil hinabsteigen, bis sie endlich die Stelle fanden, wo die Verunglückte lag.

»Ihr, ausgerechnet ihr?« stammelte Hella in maßlosem Erstaunen, als sie die Stimmen der beiden erkannte. Aber als die Freundinnen versuchten, die Schwerverletzte hochzuheben, da schwanden dieser vor Schmerzen wieder die Sinne.

Zwar hatten sie nun die Vermisste gefunden, aber der zweite Teil ihres Rettungsversuches schien fast undurchführbar zu sein. Wie sollten sie die Ohnmächtige in der Dunkelheit durch all diese Felsenklüfte hinauftragen, zumal diese bei jeder Berührung entsetzlich stöhnte? Die Schmerzen mussten schier unerträglich sein. Und doch versuchten sie es. Schritt für Schritt schleppten sie Hella weiter, und wenn sie auch alle Augenblicke rasten mussten, sie kamen doch vorwärts. Der Schweiß lief den tapferen Mädchen herunter, sie achteten nicht, dass sie sich an Steinen und Dornen blutig rissen, es musste ihnen gelingen. »Hilf uns, lieber Gott, hilf uns!« betete Elvira immer wieder aus angstvollem Herzen. Magdalene meinte wiederholt zusammenbrechen zu müssen, aber es war, als würden ihr überirdische Kräfte verliehen. Sie hielt stand.

Die Rettungskolonne war an der Stelle angelangt, wo nach der Beschreibung der Schülerinnen Hella Brinkmann davon gesprochen hatte, den Felsen erklettern zu wollen. Nun hieß es, in die Tiefe zu steigen. »Das ist ein gewagter Abstieg in dieser Dunkelheit«, sagte einer der Männer. Einige blieben oben, um die Herniedersteigenden durch Seile zu befestigen und von oben beim Heraufziehen zu helfen. Herr Boldt aber wollte unbedingt mit in die Tiefe steigen. Tatsächlich – es war ein schwieriger Abstieg. Langsam und vorsichtig suchten die Männer jeden Stein mit den Taschenlampen ab.

»Möglicherweise haben wir eine ganz verkehrte Richtung eingeschlagen«, sagte einer der Männer. Plötzlich aber stockte der Zug.

»Da unten bewegt sich etwas!« schrie der Lehrer, und wie ein warmer Strom zog die Hoffnung durch sein Herz. »Vielleicht sind sie es.« Und wirklich, es waren die Gesuchten. Man rief sich zu, der Lehrer erkannte die Stimmen der Kinder, und nun dauerte es nicht mehr lange, bis man bei den beiden völlig erschöpften Mädchen angelangt war, die die verunglückte Kameradin mit letzter Kraft trugen. Als man ihnen aber Hella Brinkmann aus den Armen nahm, brachen sie beide zusammen. Man trug alle drei mühsam hinauf. Herr Boldt aber rief aus überströmendem Herzen in die Nacht: »Gott, ich danke dir, ich danke dir!«

Das war eine traurige Heimreise! Hella wurde noch in derselben Nacht mit einem Auto nach Dresden ins Krankenhaus gebracht, wo der Arzt schwere innere Verletzungen feststellte. Es war fraglich, ob sie am Leben bleiben würde. Und doch gelang es den Ärzten, sie zu retten. – Zwar musste sie monatelang liegen und große Schmerzen aushalten, dazu behielt sie ein steifes Bein. Aber wenn ihre Mutter an ihrem Bett saß, dann sagte sie manchmal: »Mutter, das sind die ernsten Wege, von denen du oft gesprochen hast. Ich glaube, sie waren nötig.«

Hella Brinkmann war wirklich eine andere geworden. In jener Nacht auf den kalten Felsen der Sächsischen Schweiz in der Dunkelheit des Waldes, wo sie meinte, der Ewigkeit so nahe zu sein, da hatte sie etwas erlebt, was sie vollständig verändert hatte. Und es hielt stand. Merkwürdigerweise konnte sie sich genau an jeden Gedanken der furchtbaren Augenblicke erinnern, und sie erzählte der Mutter, wie sie sich zuletzt nur noch an den Heiland geklammert hatte. Die Mutter weinte bei diesen Worten, aber obwohl sie unsagbar mit der Tochter litt, als diese die heftigsten Schmerzen durchhalten musste, war sie doch unendlich dankbar, dass im Herzen ihres Kindes eine solche Veränderung vor sich gegangen war.

Zwischen Hella und den beiden Freundinnen Elvira und Magdalene aber war ein wundervolles, inniges Freundschaftsverhältnis zustande gekommen. Es schien der Kranken unbegreiflich, dass sie gerade diesen beiden, denen sie so großes Unrecht zugefügt hatte, ihre Rettung zu verdanken habe. Bitterlich weinend hatte sie um Verzeihung gebeten, aber die Freundinnen hatten gar nichts mehr von der hässlichen Vergangenheit hören wollen. Oft brachten sie Hella die schönsten Blumen und saßen an ihrem Bett. Die Schreckensnacht in der Sächsischen Schweiz hatte sie alle reifer gemacht. In der Schule veranstaltete man eine große Feier zu Ehren der beiden tapferen Mädchen. Sie erhielten ein Geschenk.

Als aber Frau Harfner von der Tat ihrer Tochter hörte, da zog sie das Kind an sich und sagte: »Leni, es war nichts Besonderes, was du tatest, es war nur das, was der Heiland in der Bergpredigt verlangte, als er sagte: ›Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgend«

Onkel Fridolin

Bum – bum – bum – rrrrrrrrr!

»Sind denn die da oben ganz von Sinnen?«

Bum – bum – bum – rrrrrrrrr!

Nein, das war nicht mehr zum Aushalten, das konnte man dem friedfertigsten Menschen nicht zumuten. Herr Mayer suchte mit zorngerötetem Gesicht und gefurchter Stirne nach einem Stock oder einem ähnlichen Gegenstand zum Klopfen. – »Es ist zum Davonlaufen!«

Bum – bum – bum!

»Da, schon wieder! Bis man in dieser Wirtschaft endlich etwas Passendes gefunden hat. – Ah, da steht ein Besen.«

Bum – bum – bum – rrrrrrrrr!

Sämtliche Möbel in Herrn Mayers Wohnung zitterten, und die Lampe klirrte. So konnte es nicht weitergehen. Herr Mayer war mühsam auf den Tisch geklettert, hatte dabei einen Stapel Bücher, ein gefülltes Wasserglas und seine Taschenuhr heruntergeworfen und stand nun keuchend und pustend darauf. Er war nicht mehr jung, dazu ziemlich rundlich. Diese Kletterpartie bedeutete eine Leistung für ihn.

Bum – bum – bum!

»Die sind wahnsinnig da oben«, schimpfte Herr Mayer, und nun setzte er an: Klopf, klopf, klopf!