Dreisbach-Lesebuch 4 - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Dreisbach-Lesebuch 4 E-Book

Elisabeth Dreisbach

0,0

Beschreibung

Was muss man zu Elisabeth Dreisbach noch schreiben? In großen Auflagen haben ihre Erzählungen und Romane die Herzen vieler Leser im Sturm erobert. Mit dem Dreisbach Lesebuch 4 werden noch einmal bekannte und beliebte Geschichten der großen christlichen Erzählerin neu aufgelegt, darunter ”Das letzte Licht”, ”Ilse Mack und ihre Mädchen”, ”Das Kreuz der Patin” und ”Wie Hannelore klein wurde”. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 446

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dreisbach-Lesebuch 4

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Eduard Rempel, Düren

ISBN: 978-3-95893-158-9

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Vorwort

Das letzte Licht

Ilse Mack und ihre Mädchen

Das Silberfädchen

Das Kreuz der Patin

Das Mädchen aus dem Hinterhaus

Wie Hannelore klein wurde

Unsere Empfehlungen

Vorwort

Elisabeth Dreisbach, 1904 in Hamburg geboren, ist durch ein gläubiges Elternhaus entscheidend geprägt worden. Hier wurden auch die Grundlagen für ihren schriftstellerisch-missionarischen Auftrag gelegt. Die Autorin eröffnete nach dem Krieg ein Heim für heimatlose Kinder. Mit ihrem Mann lebte sie bis zu ihrem Tode im Jahr 1996 im Berghaus St. Michael in Oberböhringen, einem christlichen Gästehaus und Kinderheim.

Aufgrund des großen und anhaltenden Erfolgs des Dreisbach-Lesebuchs zum neunzigsten Geburtstag der Autorin hat der Verlag sich entschieden, in 3 weiteren Dreisbach-Lesebüchern ältere, gehaltvolle christliche Erzählungen zusammenzustellen. Auch dieser Band ist beste Lektüre für einen stillen Abend oder für die Ferienzeit. Er will unterhalten, geht aber auch geschickt auf Fragen und Probleme des Lebens ein.

Die Gestalten der Erzählungen sind in dichterischer Freiheit entstanden, wiewohl manche tatsächlich gelebt haben: Menschen, die stolz und unbeugsam nur auf ihren eigenen Vorteil versessen waren und ihre Augen vor der Not der anderen verschlossen haben. Und auf der anderen Seite die Armen, die Mittellosen am Rande der Gesellschaft, deren Leid niemand unberührt lässt.

Elisabeth Dreisbach will in ihren Erzählungen zeigen, dass jede und jeder zu Gott kommen und seine Barmherzigkeit erfahren kann. Ihnen wird auf eine Weise Hilfe zuteil, die oftmals überrascht, weil sie unerwartet kommt.

Dem christlichen Leser, der Leserin eröffnen sich Lebens-Schicksale, die sie selber erlebt haben könnten. Viele werden sagen: Ja, so war es auch bei mir oder in meiner Verwandtschaft! Gott hat uns geholfen und aus einer schwierigen Situation herausgeführt.

Elisabeth Dreisbachs Gestalten sind meist einfache Menschen: auf der einen Seite solche, die durch eigenes oder fremdes Handeln schuldig geworden sind; auf der anderen Seite ist es die aufopfernde Liebe anderer, die zur Umkehr treibt. Immer wird die helfende Hand Gottes – wenn auch zunächst verborgen – als zupackende, glaubensstärkende Hand erfahren. Sie vermag menschliches Elend in Hoffnung und Freude zu verwandeln. Das ist ihre bleibende Botschaft.

Der Verlag

Das letzte Licht

Eis handelt sich hier nicht um eine Weihnachtsgeschichte, doch wollen wir unsern ersten Besuch bei Familie Stecher am Heiligen Abend machen. Da treffen wir sie alle beieinander. Das ist nämlich eine große Seltenheit, denn gewöhnlich geht bei Stechers jeder seinen eigenen Weg, »seine Naht für sich« würde Anne-Katharina sagen. Die Anne-Katharina hatte trotz ihrer Blindheit helle Augen oder, wie Pfarrer Gruber sagte, ein zartes Fingerspitzengefühl und eine feine Seele.

Es war kein Heiliger Abend, wie er in einem frohen, harmonischen Familienkreis üblich ist. Man spürte nichts von der jubelnden Freude der Weihnacht. Man hatte wohl eine Tanne, sogar einen stattlichen Baum geschmückt; auf dem Tisch lagen auch Geschenke, aber es war nicht ein bisschen Weihnachtsstimmung zu spüren. Der jüngste Stecher, der fünfjährige Peter-Paul jedoch kümmerte sich nicht um die freudlosen oder griesgrämigen Gesichter der übrigen Familienmitglieder, er sang mit lauter Stimme »Maikäfer flieg«, während er einen großen, hölzernen Käfer, der seine langen Beine mit erstaunlicher Geschwindigkeit bewegen konnte, auf dem Tisch laufen ließ.

»Wenigstens ein Lied am Heiligen Abend, wenn auch kein Weihnachtslied«, stellte Hasso, der große Bruder, fest und steckte sich eine Zigarette an.

»Aber heute Abend hättest du das Rauchen lassen können, du weißt doch, dass Mutter davon immer Kopfschmerzen bekommt.«. Ein blasses Mädchen von etwa siebzehn Jahren, Gonda Stecher, wandte sich vorwurfsvoll an den Bruder.

Frau Stecher sah mit einem müden Blick den neunzehnjährigen Sohn an, drückte dann die Hand an die Schläfe und verließ das Zimmer, um in der Küche das Abendbrot zu bereiten.

»Ich kann ja zum offenen Fenster hinausrauchen«, antwortete der junge Mann gelassen.

»Das Fenster bleibt zu!« Auf der Ofenecke kam ein Kommando, dem sich niemand zu widersetzen wagte. Dort saß, von Kissen gestützt und in Decken gehüllt, mit mürrischem Gesicht Herr Stecher, ein ehedem wohlansehnlicher Mann, der aber seit zwei Jahren durch ein schmerzhaftes Gichtleiden ans Haus, oft auch ans Bett gefesselt war. Seine Hände und Füße waren schmerzverkrümmt und zeitweise mit Beulen bedeckt. In seinen Augen lag der Ausdruck störrischer Unzufriedenheit, den man oft bei Leidenden findet, die mit ihrem Geschick hadern.

»Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg.« Peter-Paul sang mit Begeisterung.

»Junge, hör auf!« Der Vater winkte gebieterisch mit der Hand. »Es ist nicht zum Aushalten mit dem Geplärr.«

»Warum denn?« Das singfreudige Kind zog ein Schmollmündchen. »Wo sie doch heute überall singen!«

»So'n geistreiches Lied singt heute kein Mensch«, brummte der Vater griesgrämig aus seiner Ecke.

»Na, wenn doch niemand mit mir'n Weihnachtslied singt – und mein Lied passt so gut zu meinem Weihnachtsgeschenk –, sonst hättet ihr mir ja keinen Maikäfer zu schenken brauchen.«

»Hast auch recht«, lachte der große Bruder.

»Der kleine Bengel muss auch schon das letzte Wort haben«, murrte der Vater missgestimmt weiter. »Du wirst in letzter Zeit richtig frech.«

Da nahm die Schwester den Kleinen in Schutz. »Der Peter-Paul will nicht frech sein, Vater, er muss nur immer sagen, was er denkt. Nicht wahr, Spätzchen? – Komm, setzt dich her zu mir, ich zeige dir etwas.«

»Singst du mit mir ein Weihnachtslied?« fragte der Kleine mit sehnsüchtigen Augen.

»Wir beide allein? – Nein, komm, wir gucken miteinander in die Lichtlein. Schau, sie werden immer kleiner, immer kleiner – da – jetzt ist eins ganz erloschen – und da wieder eins –, und noch eins. Nun brennen nur noch ein paar.« Eng aneinandergeschmiegt saßen die beiden im Erker, die blonde Schwester und das kleine, braunlockige Brüderlein, und blickten verträumt in den stillen Schein der sich verzehrenden Kerzen. Nun brannte noch ein einziges Lichtlein.

In Gondas Augen flammte es plötzlich heiß und leidenschaftlich auf. »Das letzte Licht!« flüsterte sie. »In dem Augenblick, da es erlischt, darf man sich etwas wünschen, und das geht in Erfüllung!« Sie hatte ganz vergessen, dass der kleine Bruder neben ihr lehnte. »Ist das wahr, Gonda?« fragte er. »Darf man sich etwas wünschen? Oh, dann wünsche ich mir …«

»Still, nichts sagen!«

Das junge Mädchen hielt schnell dem kleinen Schwätzer den Mund zu. »Man darf den Wunsch nicht vorher verraten, sonst geht er nicht in Erfüllung.»

Gonda Stecher seufzte leise.

»Hast du dir etwas gewünscht?« fragte das Brüderchen in heimlicher Scheu. Das junge Mädchen nickte und drückte schwärmerisch die Hand aufs Herz.

»Wird endlich Licht gemacht?« Aus der Ofenecke kam der grollende Ton. Peter-Paul sprang zum Lichtschalter. Die Mutter trug das Abendessen auf einem Tablett herein. Der Kleine schmiegte sich an sie. »Muttilein, eben ist das letzte Licht verlöscht, und Gonda hat sich ein Geheimnis gewünscht.«

Die Mutter seufzte, und ein müder, beinahe bitterer Ausdruck lag auf ihrem einst schönen Gesicht. »Das letzte Licht ist erloschen, ich weiß es.«

Hasso aber nahm Hut und Mantel. »Ich esse heute Abend auswärts, ihr seid mir zu sentimental gestimmt. Auf Wiedersehn!«

Niemand hielt ihn zurück. Man war gewohnt, dass er seinen eigenen Weg ging. Sie gingen ja alle ihre eigenen Wege, die Stechers.

Und das war Mutters großer Kummer. Wie ganz anders hatte sie sich einst die Ehe, das Familienleben, ja ihr ganzes Dasein vorgestellt! Dass ihre Tage einmal so freudlos würden, hätte sie nie geglaubt, aber es war genau so gekommen, wie die alte Anne-Katharina es vorausgesagt hatte. Sie war die Freundin von Frau Lonika, Frau Stechers Mutter, die nur wenige Jahre verheiratet war, als ihr Mann tödlich verunglückte. Da hatte sie nun mit ihrem Töchterlein Christa allein dagestanden. Es war ein recht schwerer Weg gewesen. Als Christa acht Jahre alt wurde, starb die Mutter. An ihrem Sterbebett saß Anne-Katharina, die Jugendfreundin aus dem Heimatdorf. Sie versprach ihr, für die Kleine zu sorgen und sie zu erziehen. Anne-Katharina hatte nie ein eigenes Kind gehabt, aber sie war eine geborene Mutter, und die kleine, scheue Christa fand eine wirkliche Heimat bei der Freundin der Mutter. Sie bewohnte nur zwei einfache Stübchen, aber in diesen verlebte das Kind ein Stückchen Paradies. Nicht nur für das körperliche Wohlbefinden ihrer Pflegetochter sorgte die Freundin der Mutter, sondern es war ihr ein ebenso wichtiges Anliegen, die ihr anvertraute kleine Seele zu pflegen und zu betreuen. »Auf Gottes Wegen bleiben, nur auf Gottes Wegen bleiben«, das war ihr Wahlspruch.

Christa wuchs heran. Anne-Katharina weckte in ihr den Sinn für alles Schöne, Gute und Reine. Die gemeinsamen Wege in Wald und Feld in der schönen Umgebung des kleinen erzgebirgischen Städtchens waren immer ein Erlebnis. Als Christa aus der Schule kam, war sie ein schönes, großes Mädchen geworden. Wie eine Krone lagen ihre vollen, blonden Zöpfe über ihrer reinen Stirn. Froh und klar blickten ihre blauen Augen. Es war eine schöne Zeit voller Harmonie. Grenzenloses Vertrauen herrschte zwischen dem jungen Mädchen und der Pflegemutter, die längst ihre Freundin geworden war.

Wie hatte Anne-Katharina um die Zukunft der Pflegetochter gebangt! Alle Warnungen waren vergeblich gewesen. Dieser Bruno Stecher schien eine hypnotische Macht auf das unerfahrene junge Mädchen auszuüben. Die achtzehnjährige Christa glaubte den Worten des jungen Kaufmanns, der in einem Geschäft des Städtchens angestellt war. Sie glaubte seinen glückverheißenden Versprechungen, sie glaubte an seinen guten Charakter, an seine Liebe, an ihre Zukunft an seiner Seite und – sie wurde enttäuscht.

»Christa, bedenke, er ist kein Christ!« Mit tränenden Augen hatte Anne-Katharina vor ihr gestanden und die Hände bittend erhoben. »Tu mir das nicht an, mein Kind, es ist dein Unglück!« Christa aber hatte an ihn glauben wollen. »Er ist bestimmt ein guter Mensch, wenn er auch kein Kirchenchrist ist, und – Mutter Anne-Katharina, ich liebe ihn!« Und dabei blieb sie. Sie wusste damals noch nicht, dass Liebe da zerbricht, wo man nicht mehr Achtung haben kann, und sie glaubte auch nicht, dass Bruno sie mit sich hinabziehen könne. Ich will immer eine gute Christin bleiben, nahm sie sich vor. Sie war ehrlich genug, die Ursache ihrer frohen Jugend in der christlichen Gesinnung der Pflegemutter zu suchen. Ja, sie wollte auf dem rechten Wege bleiben! Bruno hatte sie ja so lieb, dass er um ihretwillen diesen Weg mit ihr gehen würde. So hatte Christa ihre Hand vertrauensvoll in die Bruno Stechers gelegt.

Bald darauf erblindete Anne-Katharina vollständig. Ob die heißen Tränen banger, einsamer Nächte ihre ohnehin kranken Augen zerstört hatten? – Aber nicht alleine Anne-Katharina weinte in Not und Bangen, sondern auch die junge Frau Christa lag manche Nacht einsam und verzweifelt in ihrem Bett und lauschte angstvoll in die Nacht hinaus. Ob er heute wieder betrunken heimkehrte? Ach wie schnell war der kurze Traum vom Glück dahingeschwunden! In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte sie noch an seine Redlichkeit und Liebe geglaubt – aber dann waren das große Erwachen und die furchtbare Enttäuschung über sie gekommen.

Es gehörte zu Brunos Lebensbedürfnissen, jeden Abend in die Wirtschaft zu gehen. Schlimm aber war, dass ihm das, was seiner Frau heilig war, lächerlich erschien. »Christa, wie rückständig, zur Kirche zu gehen, wie kindisch, all den religiösen Klimbim mitzumachen!«

Lange Zeit wehrte sich Christa und versuchte ihrem Glauben Treue zu halten, aber es war ein verzweifelter, aussichtsloser Kampf, in dem sie mit der Zeit unterlag. Ja, hätte sie ihrem bedrängten Herzen Luft machen können, hätte sie all ihre heimliche Not und Enttäuschung ins Heimatstübchen zu Anne-Katharina getragen, sie wäre nicht an dieser Last zerbrochen. Aber Christa trug heimlich und allein ihre Bürde – und sie trug sich daran beinahe zu Tode. Sie hatte sich diesen Weg selbst gewählt und musste ihn gehen. Es war genug, dass sie darunter so unsagbar litt. Sollte sie ihrer Pflegemutter klagen, dass Bruno beinahe jeden Abend betrunken nach Hause kam, dass sie schon des Öfteren mit ihrem kleinen Jungen geflüchtet war, wenn er, seiner Sinne nicht mehr mächtig, auf sie losschlug?

Christa hatte auch nicht darüber gesprochen, dass sie einmal dazugekommen war, wie ihr Mann, der wegen seiner Trunksucht aus dem Geschäft entlassen worden war, sich in seiner Verzweiflung erhängen wollte. Da hatte sie sich mit beinahe unmenschlicher Kraft an ihn geklammert und ihn fortgezogen, um das Schreckliche zu verhüten und den Kindern den Vater zu erhalten.

Es wäre nicht nötig gewesen, der Anne-Katharina ihr Leid zu klagen. Sie sah trotz ihrer erblindeten Augen der Pflegetochter noch heute ins Herz und wusste, wie dunkel es darin aussah. Sie hörte es am Klang der Stimme, dass da keine Freudenglocken mehr läuteten.

In Christas Herz war ein Licht nach dem anderen erloschen. Selbst als die beiden Kinder, Hasso und Gonda, Leben und Lachen in das Haus trugen, wollte der Sprung im Herzen der jungen Frau nicht mehr heilen. Was ihr hätte Freude und Lebensinhalt sein können, mied sie nun. Sie glaubte kein Anrecht mehr auf christlichen Trost zu haben. So wurde ihr Leben freudlos und arm.

Ihr Mann fand wieder Arbeit. Er war tüchtig und begabt, aber die Gebundenheit an den Alkohol verdarb ihm das Leben. Nun waren beide müde und hoffnungslos geworden. Die Kinder waren herangewachsen, aber sie suchten die Heimat mehr draußen als in der eigenen Familie. Vor fünf Jahren war Peter-Paul dazugekommen. Mit ihm schien noch ein Licht der Freude in die Häuslichkeit der Familie Stecher gedrungen zu sein – sie liebten alle den kleinen Nachkömmling. Aber es war eben nur ein kleines Lichtlein, mit wenig Leuchtkraft im Vergleich zu der großen Dunkelheit, in die es gestellt war.

Bruno Stecher trank seit einiger Zeit nicht mehr so viel wie vor Jahren. Er hatte wohl erkannt, wenn auch reichlich spät, dass er seine Gesundheit vollständig ruiniert hatte. Dafür aber schien Hasso, sein Ältester, in seine Fußstapfen treten zu wollen. Der junge Mann war sehr begabt, hatte eine gute Stellung, aber war besorgniserregend leichtsinnig.

Die Sorgen und Nöte der Frau Christa wollten kein Ende nehmen. Sie hatte gemeint, in ihrer heranwach- senden Tochter einen guten Kameraden zu finden, aber es war, als entglitte auch Gonda ihr. Wie müde und matt machte doch dieser fortdauernde Kampf! Ja, wenn sie noch hätte beten können, aber sie fand keine Kraft, keinen Mut mehr dazu. Es war alles so dunkel, so unsagbar trostlos um sie her. Nur wenn das Peterlein seine weichen Ärmchen um ihren Hals schlang und sie mit seinen blauen Augen liebevoll ansah, dann war es, als flackere ein kleines Freudenlicht in ihrem Herzen auf.

Vielleicht wäre längst die Verzweiflung über sie gekommen, wenn nicht die Gebete der Anne-Katharina vor ihr eine Mauer gebildet hätten. Pfarrer Gruber hatte recht, wenn er sagte: »Die Gebete einer Mutter sind die Mauer, die das Kind vor dem Abgrund zurückhält.«

»Schenke meinem armen Kind den Frieden seines Herzens wieder«, betet die gute Alte. »Aber wenn du es noch tiefer in das Leid führen musst, dann bringe es wieder auf den rechten Weg.« Sie ahnte nicht, wie schwer und dunkel die Wolken waren, die sich bereits über dem Haupt der Pflegetochter zusammenballten.

Im Rosenhain der städtischen Anlagen schritt an einem Winterabend ein junges Mädchen auf und ab. Es war frostig kalt und einsam. Zur Sommerszeit blühten und dufteten hier die Heckenrosen, vom zartesten Rosa bis zum dunkelsten Purpurrot, und ein Zwitschern und Jubilieren drang aus den Hecken und Lauben, zwischen denen die Menschen in Scharen lustwandelten. Das junge Mädchen spürte weder Kälte noch Einsamkeit. Letztere war ihr gerade recht. Ihr junges Glück war noch so zart, so neu. Es ertrug noch nicht die neugierigen Augen und gehässigen Klatschmäuler der lieben Nächsten.

Eben schlug es acht Uhr vom Kirchturm. Ein leiser Schneeflockenreigen schwebte anmutig vom Himmel, ein weißer Kragen legte sich auf das schwarze Samtjäckchen und schmückte die gleichartige Mütze des jungen Mädchens.

Gonda ging einige Schritte weiter in den Hain. Jetzt musste Werner gleich kommen. Ihr Herz klopfte, als sei es die erste heimliche Zusammenkunft dieser Art. Dabei traf sie sich mit ihm nun schon seit Wochen in den Abendstunden. Gestern waren sie zusammen im Helden Wäldchen gewesen. Nie im Leben hätte sich die zaghafte Gonda allein in diesen stillen Park gewagt, selbst am helllichten Tage flößten ihr die Kriegergräber Furcht ein. Aber jetzt, mit Werner, war jede Angst verflogen. Wie sicher hatte sie sich gefühlt, als er seinen Arm um sie gelegt und sie geführt hatte. Bis ans Ende der Welt hätte sie so mit ihm gehen mögen. Ein Gefühl der Freude und unaussprechlichen Glückes wollte ihr fast das Herz zersprengen, wenn sie an ihn dachte.

»Kleine Gonda, wie du zitterst«, hatte er gesagt und sie fester an sich gezogen. »Fürchtest du dich?«

Sie hatte den Kopf geschüttelt. Das Glück hatte ihr den Mund verschlossen. Und dann hatte er sie in seine Arme gepresst, ihr Worte von Liebe und Treue ins Ohr geflüstert und ihr so manchen zärtlichen Namen gegeben.

Noch immer ging Gonda auf und ab. Es schlug viertel neun Uhr. Warum kam er nicht? Sicher war etwas Unvorhergesehenes im Geschäft zu tun. Er war ja sonst immer pünktlich. Nun, sie hatte Zeit zu warten.

Auf und ab – auf und ab –, ihre Gedanken gingen den Weg ihrer jungen Liebe. Was würden die Eltern sagen, wenn sie es erfuhren, und Hasso, der sie immer so hochmütig behandelte, wie würden sie alle staunen, und erst die Freundinnen? Sie, die kleine, ängstliche Gonda Stecher, und Werner Baumann, der einzige Sohn des reichen Schuhfabrikanten!

Halb neun Uhr. Gonda zog das Jäckchen fester um die Schulter. Sie schien jetzt doch zu merken, dass nicht die Zeit der Rosenblüte war. Auf und ab – auf und ab.

Ein Geheimnis sollte es sein. Werner wollte vorläufig nicht, dass sie von ihrem Verhältnis sprach. »Wir können ja erst in ein paar Jahren ans Heiraten denken«, hatte er gesagt. Der kleinen Gonda war es recht. Sie war glücklich.

Aber wo blieb er nur heute? Er war doch nicht etwa krank geworden? Es würde doch kein Unglück geschehen sein? So lange hatte er sie noch nie warten lassen. Ihr liebendes Herz war voller Unruhe.

Neun Uhr! – Auf und ab – auf und ab. Um halb zehn verließ Gonda traurig und enttäuscht den Rosenhain. Sie wollte zu Baumanns Villa gehen. Vielleicht, dass sie etwas erfahren konnte. Am Marktplatz begegnete ihr Maria Born, eine Schulkameradin. Redelustig und aufgeräumt nahm sie Gondas Arm und wusste gleich einen Sack voller Neuigkeiten auszupacken. Gonda Stecher aber war unglücklich. Wenn sie nur die aufdringliche Schwätzerin los wäre! – Werner würde doch nicht etwa auf einem anderen Weg in den Rosenhain gekommen sein und dort auf sie warten?

»Du hörst mir überhaupt nicht zu«, beklagte sich die Schulkameradin. »Übrigens habe ich eben Werner Baumann gesehen. Er stieg mit einer reizenden jungen Dame im eleganten Abendkleid vor dem Hotel Adlon aus dem Auto. Offenbar nehmen sie an dem Ball teil.«

Mitten auf der Straße blieb Gonda stehen mit totenblassem Gesicht, am ganzen Körper zitternd.

»Nanu, was ist denn mit dir los?« fragte Maria in ihrer derben Art. »Du kriegst ja geradezu einen Schüttelfrost.«

»Ich – ich will sofort nach Hause, mir ist so – ich friere entsetzlich.« Gonda wankte davon. Bunte Kreise tanzten vor ihren Augen. Werner ließ sie im Rosenhain warten und saß währenddessen im Hotel mit einer fremden jungen Dame. Gonda fror, dass ihr die Zähne aufeinanderschlugen.

»Du musst dich sofort zu Bett legen«, sagte Frau Stecher, als ihre Tochter totenblass ins Zimmer wankte. »Du wirst doch nicht krank werden? Zu allem auch das noch!« Und sie hüllte das zitternde Mädchen fürsorglich ein, während in ihren Augen die Angst vor einem neuen Unheil stand.

»Soll ich das Licht brennen lassen?«

»Nein«, hauchte Gonda, »kein Licht, nur kein Licht!« Nun war auch ihr Licht verlöscht, nun war es auch um sie dunkel geworden.

Acht Tage später las man in der Zeitung:

Elvira Steinheim – Werner Baumann

Verlobte.

Zwei kleine Füßchen tappten die Treppe hinauf zu Anne-Katharinas Wohnung. Ein kleiner Finger klopfte an die Türe, ein Lockenköpfchen schob sich ins Zimmer.

»Tag, Oma Rina, kann ich'n bisschen bei dir bleiben?« Uber Anne-Katharinas Gesicht zog ein heller Schein der Freude.

»Ei, da kommt ja mein Allerbester. Aber natürlich darfst du bei mir bleiben. Du weißt doch, wie ich mich über deine Besuche freue.« Zwei weiche Kinderärmchen legten sich um den Hals der guten Alten. »Oma Rina, ich hab' dich so lieb.«

Und dann gab es ein schönes Plauderstündchen. Anne-Katharina und Peter-Paul waren zwei Unzertrennliche. Das Bübchen war noch klein, als diese Freundschaft geschlossen wurde. Zwei der ersten Worte, die er sprechen lernte, waren »Oma Rina«, und jetzt, da er eigentlich längst ihren Namen richtig aussprechen konnte, blieb es dabei. Oma Rina liebte den kleinen Enkel, wie sie ihn auch ohne Verwandschaftsnachweis nannte, innig. Seit einem Jahr war sie nicht mehr in der Wohnung ihrer Pflegetochter gewesen. Bruno Stecher hatte ihr die Tür gewiesen, als sie gewagt hatte, ihm wieder einmal die Wahrheit zu sagen. Den Peter-Paul focht dieses Verbot weiter nicht an. Wenn die Oma Rina nicht mehr zu ihnen kam, so ging er eben zu ihr. Und es verging kaum ein Tag, da er nicht seinen Besuch in der Maiengasse machte. Da saß er jeden Tag auf dem kleinen Stühlchen am Fenster neben dem Sessel der Anne-Katharina und hatte eine ganze Menge neuer Fragen, mit denen er die Oma Rina bestürmte. Wie sie überall Bescheid wusste und dem kleinen Fragekasten Auskunft geben konnte! Geradezu köstlich war es, wenn die beiden anfingen, vom Himmel und von den Engeln und vom lieben Gott zu sprechen. Dann war es, als sei das Stübchen in der Maiengasse voll strahlenden Himmelsglanzes. Und wenn man bei Stechers in den Weihnachtsfeiertagen kein einziges Lied gesungen hatte – im Stübchen der Anne-Katharina hatten die beiden voller Jubel und Begeisterung angestimmt:

»Christ ist erschienen, uns zu versühnen, freue dich, o Christenheit!«

Noch etwas bewegte heute Peter-Paul.

»Oma Rina, kannst du gar nichts sehen?«

»Nein, Liebling, gar nichts.«

»Oh«, ein Seufzen drang aus dem mitfühlenden Kinderherzen. Sekundenlang drückte der Kleine die Augen zu, um die unfassliche Auswirkung des Leidens der Blinden mitzuerleben.

»Oh, Oma, schrecklich! Wie kommt es aber, dass du dich nicht an dem Tisch oder Schrank stößt?«

»Das kommt daher, dass ich meinen Weg kenne.«

»Und du kannst nie die Sonne sehen, nie die Blümchen, nie den feinen glitzernden Schnee, keinen Weihnachtsbaum, auch nicht meinen Maikäfer, auch mich nicht, auch nicht unsere Mutti? Oh, Oma Rina!«

Immer trauriger war die Stimme geworden. Plötzlich rutschte das kleine Kerlchen vom Stühlchen, zog den Kopf der Anne-Katharina zu sich herab und drückte ihr auf jedes Auge einen warmen Kuss.

Da hob die Oma Rina den Kleinen auf ihren Schoß. »Du musst nicht traurig sein, Herzkind. Wenngleich ich all das Schöne und auch euch nicht sehen kann, so hat mir der liebe Gott doch ein helles, frohes Licht ins Herz gestellt. Ein Lichtlein vom Himmel, so dass ich gar nicht traurig und verzagt sein muss. Mit diesem Licht habe ich vieles sehen gelernt, was ich früher nie gesehen habe und was mich so froh macht. Denk dir, dieses Lichtlein leuchtet direkt in den Himmel hinein.«

Nun waren sie wieder an ihrem Himmelsthema angekommen. Peter-Paul hatte wieder so viel zu fragen, dass beide gar nicht merkten, wie schnell der Abend hereinbrach. Aber nun musste noch ein Lied gesungen werden.

»In der Welt ist's dunkel, leuchten müssen wir, du in deiner Ecke, ich in meiner hier.«

So schallte es durch das Haus, als Frau Stecher mit müden Schritten zu ihrem Heimatstübchen emporstieg, um ihren Jüngsten zu holen. »Ihr Glücklichen, die ihr noch singen mögt!«

Anne-Katharina freute sich, dass ihre Christa kam. »Ich wollte nur den Kleinen holen, anscheinend habt ihr beide nicht gemerkt, dass es Abend geworden ist.«

»Ist es schon dunkel draußen?« fragte Anne-Katharina und wandte den Kopf zum Fenster. »Ja, es ist ganz dunkel geworden«, antwortete Frau Christa. Da vernahm der Pflegemutter feines Ohr den herben Klang in der Stimme der Tochter. Ihr schien, als hätte die Antwort einen Doppelsinn.

»Ist es wieder einmal ganz dunkel?« fragte sie leise und suchte Frau Stechers Hand.

»O Mutter, mehr als dunkel! Mit Gonda ist es noch immer das gleiche. Sie isst nicht, und nachts höre ich sie in ihrem Zimmer auf und ab gehen und leise weinen. Sie ist schon ganz elend. Wenn ich nur wüsste, was ihr fehlt. Das Furchtbare ist, dass sie mir, ihrer Mutter, nicht vertraut. Sie ist meinen Händen entglitten. Womit habe ich das verdient?« Aus Christas Worten sprach Bitterkeit.

»Wann hast du zum letzten Mal mit deiner Tochter gebetet, Christa?«

Frau Stecher antwortete mit einer müden Handbewegung. »Gebetet? – Mutter, das verstehst du nicht. – Komm, Peter-Paul, sag der Oma gute Nacht! Wir müssen gehen!«

Als sie mit dem Knaben an der Hand ihrem Hause zuschritt, musste sie unwillkürlich den Faden weiterspinnen. Mit Gonda beten? – Wie kann ich ihr geben, was ich längst selbst nicht mehr besitze?

Am nächsten Tage war das Furchtbare geschehen. Während die Mutter im Hause beschäftigt war, hatte Gonda einen Selbstmordversuch unternommen. Sie hatte sich still und heimlich fortgeschlichen und in den See, der in der Nähe des Rosenhains lag, gestürzt. Die beiden Forstbeamten, die im angrenzenden Walde beschäftigt waren, hatte sie offenbar nicht bemerkt.

Dem sofortigen Eingreifen dieser beiden Männer war ihre Rettung zu verdanken.

Mitten in ihrer Arbeit wurde Frau Stecher plötzlich von einer unbegreiflichen Unruhe befallen. Was war es nur, das ihr so schmerzhaft nach dem Herzen griff? Dann hatte man ihr die entsetzliche Nachricht gebracht – und ihr Aufschrei gellte durch das Haus:

»Gott, mein Heiland!«

Wie lange hatte sie nicht gebetet! War das nun ein Gebet? Unwillkürlich hatte sie in der Angst ihres Herzens, in dem jähen Entsetzen, das sie befiel, den Namen des einzigen Retters angerufen.

»Gott, mein Heiland!«

Man hatte Gonda ins Krankenhaus gebracht. Ihre Mutter beugte sich schluchzend über sie. Da lag ihr Kind. Die prachtvolle Haarkrone war gelöst, die schweren Zöpfe umrahmten das totenblasse Gesicht. War sie gar tot? War es ihr gelungen, das Leben von sich zu werfen? – Wie erschlagen sank die Mutter an der Seite ihrer Tochter nieder. Sie kannte in diesem Augenblick nur einen Wunsch: auch sterben zu dürfen. Und als sie weinend ihr blasses Kind umschlang, spürte sie das leise Klopfen des lebensmüden Herzens. Gonda lebte noch! Die Mutter atmete befreit auf.

Zu Hause gab es einen furchtbaren Auftritt. Bruno Stecher tobte: »Diese Schande, dieser Skandal!« Christa sah ihn aus todesmatten Augen an. »Willst du nicht dankbar sein, dass Gonda lebt? Wäre es nicht entsetzlich, wenn wir das Kind verloren hätten?«

Aber er rumorte weiter. »Man kann sich nicht mehr auf der Straße sehen lassen, unerhört von diesem Mädchen!« Frau Christa aber musste daran denken, wie sie ihn vor Jahren vor dem Selbstmord bewahrt hatte.

Hatte er das vergessen? Hatte er vergessen, wie oft er auf den Plätzen und Straßen sinnlos betrunken umhergewankt war? Schande – Skandal! In seinem eigenen Leben sah er solches nicht, nur in dem der andern.

Frau Stecher saß manchen Tag am Bett ihrer Tochter. Aber wie sehr sie sich auch bemühte – Gonda erschloss ihr Herz nicht der Mutter. Verzweifelt schlug sie die Hände vor das Gesicht und stöhnte. Warum hatte man sie nicht sterben lassen, warum zwang man sie zurück in dieses unerträgliche Leben? Frau Stecher stand mit schmerzverkrampften Händen am Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Wie war es nur gekommen, dass sie das Vertrauen ihrer einzigen Tochter verloren hatte? Hatte sie es überhaupt besessen? Und wie kam es, dass sie so wenig Fühlung mit ihrem Kinde hatte, so dass ihr die Ursache einer solchen Verzweiflungstat entgehen konnte? Christa rang die Hände. Hatte sie etwas versäumt? Und nun wollte die Verzweiflung die Hände nach der Mutter ausstrecken. War ihr Leben nicht vollständig verfehlt? Anne-Katharina, wie recht hattest du vor Jahren, als du unter Tränen warntest: »Kind, Kind, sorge dafür, dass dein Weg einmal nicht im Dunkel endet!« Ja, nun war es dunkel, ganz dunkel geworden.

Gonda wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Aber sie konnte sich nicht erholen. Wie eine unheimliche Schwermutswolke lag es über ihr. Bruno Stecher sprach nicht anders als in Vorwürfen zu seiner Tochter und peinigte sie auf diese Weise grenzenlos. Hasso zuckte die Achseln. »Affektierte Liebestragödie!« Dabei wäre es ihm nicht gleichgültig gewesen, wenn man seine blonde Schwester zum Friedhof getragen hätte.

Im Hause Stecher fand keiner den Weg zum Herzen des andern. Frau Christa sah, dass es so nicht weitergehen konnte. Wenn ihr Kind genesen sollte, musste Abhilfe geschaffen werden. So kam es, dass man eines Abends das junge Mädchen ins stille Stübchen zu Anne-Katharina trug. Frau Stecher wusste: wenn irgendwo Hilfe und Besserung für Gonda zu erwarten war, dann fand sie diese in der Maiengasse bei Oma Rina. Und damit hatte sie recht. Die Blinde sah wieder einmal tiefer und klarer als alle andern. Ohne das Mädchen mit aufdringlichen Fragen zu quälen, umgab sie die Kranke mit fürsorglicher Liebe und pflegte sie, wie es die eigene Mutter nicht besser konnte. Und im Schein ihres Lichtes, des Himmelslichtes, von dem bereits Peter-Paul wusste, erleichterte Gonda ihr beschwertes Herz ganz von selbst, indem sie der Anne-Katharina von der schmerzlichen Enttäuschung ihres Lebens sprach. Waren es nicht Mutterhände, die sich über ihr falteten?

Sanfte Geigentöne drangen aus dem Weinlokal am Marktplatz. Sie erfüllten den vollbesetzten Raum und schienen den jungen Paaren, die in den weichen Polstern der schwachbeleuchteten Nischen des Restaurants saßen, die Melodie ihrer Liebe zu singen. Sie drangen hinaus und weckten da und dort Sehnsucht und Träumerei.

»Er spielt gut«, sagte der Apotheker, der mit seinen Freunden seinen allabendlichen Platz am Stammtisch einnahm, und wies mit dem Weinglas hinüber zum Podium, wo der junge, schmächtige Geiger mit den blassen Händen und den traurigen Augen stand. »Wer ist er denn eigentlich?« erkundigte sich der Tierarzt.

»Na, irgendein armer, verlorener Sohn!« Herr Baumann, der Schuhfabrikant, hatte diese Auskunft gegeben, die jetzt von der ganzen Stammtischrunde als prächtiger Witz belacht wurde. Der »verlorene Sohn« aber spielte weiter. Er legte sein ganzes, tieftrauriges Herz in die Melodie seines Liedes. Er hatte daheim in weiter Ferne eine kranke, tuberkulöse Frau. Ob er je so viel Geld zusammenspielte, dass er ihr den Aufenthalt in einem Sanatorium ermöglichen konnte? Oder ob sie schon tot war, bis er nach Hause kam?

»Er spielt wunderbar!« Elvira Steinheim lehnte sich an ihren Verlobten und blickte versonnen in die Weite. Die sanften Töne füllten ihr Herz mit großen Zukunftsplänen. Sie sah ihr Glück vor sich, das Glück, das sie an der Seite des geliebten Mannes zu erwarten hatte – an der Seite des Mannes, der kaltblütig über das zertretene Herz eines vertrauenden jungen Mädchens hinweggeschritten war.

Hasso Stecher saß mit seinen Freunden ebenfalls in diesem Weinlokal. An seinem Tisch ging es meistens lebhaft zu. Er war stets einer der ausgelassensten, voll sprühenden Witzes und lustiger Einfälle. Heute aber schien ihn ein Problem zu beschäftigen.

»Hasso, alter Junge, was ist nur in dich gefahren?« Sein Freund Harry Golder schlug ihm derb auf die Schulter. »Sollte Amor …?« Hasso unterbrach ihn ärgerlich. »Hör auf mit diesem Unsinn!« Und seine Stimme dämpfend fuhr er fort: »Meinst du, es sei mir vielleicht gleichgültig, was du vorhin gesagt hast?«

»Was denn? Etwa die Sache mit Baumann? – Mensch Hasso, das ist nun einmal so im Leben! Aber dass die Sache stimmt, das kannst du mir glauben. Meine Schwester hat die beiden des Öfteren zusammen gesehen.«

»Und da drüben sitzt der Kerl mit seiner Braut!«

»Hör mal, Hasso, du benimmst dich lächerlich. Willst du dich mit ihm vielleicht duellieren? Es wird noch mancher ein kleines Mädchen sitzenlassen, weil ihm ein neuer Stern am Himmel seiner Liebe auf gegangen ist.«

»Schweig«, donnerte Hasso ihn an, so dass die Gäste an den anderen Tischen auf ihn aufmerksam wurden. Der Freund zuckte mit den Achseln und wandte sich den anderen zu. »Man muss ihn gehenlassen, er scheint nicht gut aufgelegt zu sein.«

Hasso Stecher saß vor seinem Weinglas und starrte hinüber zu dem Tisch, an dem Werner Baumann mit seiner Braut saß.

Wie hatte doch Harry Golder gesagt? »… Es wird noch mancher ein kleines Mädchen sitzenlassen!« Wie ein Ekel stieg es plötzlich in dem jungen Stecher hoch. War so das Leben? Er war bestimmt kein Tugendheld und hasste jede Sentimentalität, von Frömmigkeit ganz zu schweigen, aber es war merkwürdig: seit die kleine Schwester so totenblass im Krankenhaus gelegen hatte, packte es ihn oft mit unheimlicher Gewalt, obgleich er immer wieder versuchte, es von sich abzuschütteln. Wenn er auch die Handlung der kleinen Gonda grob und unfein kritisiert hatte, war es ihm doch furchtbar, daran zu denken, wie es hätte enden können. Und merkwürdigerweise fielen ihm jetzt auch die traurigen Augen seiner Mutter auf. Was hatte die Frau eigentlich von ihrem Leben? Ihr Los an der Seite des Vaters war gewiss nicht leicht. Er wusste sich sehr wohl mancher Schreckensszenen aus seiner Kinderzeit zu erinnern. Wie oft war der Vater sinnlos betrunken gewesen. Und er selbst, war er nicht auf dem besten Wege, in die gleiche Knechtschaft zu geraten? Saß er nicht beinahe jeden Abend hier im Weinlokal?

Hasso Stecher fuhr sich mit der Hand über die Augen, als könne er etwas Lästiges wegwischen. Was war denn heute nur mit ihm los? Auch er schien auf dem besten Wege, sentimental zu werden. Lächerlich, daran war nur dieser Baumann schuld, der da drüben mit seinem Mädchen schäkerte und sich nicht im geringsten darum kümmerte, dass er seine Schwester beinahe in den Tod getrieben hatte. Nein, er konnte seinen Anblick nicht länger ertragen. Er hätte ihn sonst zur Rechenschaft ziehen müssen. Es hätte einen Skandal gegeben. Hasso zahlte und verließ das Lokal. Der »verlorene Sohn« aber spielte immer noch seine Weisen.

Hasso Stecher kannte sich selbst nicht mehr. In seinem Innern schien etwas aufgewühlt worden zu sein. Das Leben erschien ihm sinn- und zwecklos. »Er hat einen moralischen Katzenjammer«, hätte Harry Golder gesagt, »der vergeht wieder.« Aber so hatte er noch nie gefühlt. Aus einer Kirche drang leises Orgelspiel. Ein Organist schien sich noch in später Abendstunde für den morgigen Sonntag vorzubereiten. Die Klänge drangen dem jungen Stecher ins Herz, und plötzlich kam eine große, ganz neue Sehnsucht über ihn. Sehnsucht nach etwas Schönem, Reinem. Und das war nicht moralischer Katzenjammer, sondern das war einfach Heimweh nach Gott. Vielleicht war ihm ein Lichtschein von Anne-Katharinas Himmelslicht ins Herz gedrungen. Eben schritt er nämlich durch die Maiengasse. In den kleinen Häusern war es längst dunkel geworden, nur oben aus Anne-Katharinas Stübchen drang noch ein Lichtschein in die Nacht. Wehmütig lächelte Hasso hinauf. Da oben wohnte jetzt seine blonde Schwester, die in der Unruhe und Angst ihres Herzens bei der Blinden Heimat gefunden hatte. – Ach Heimat, Frieden, Ruhe! Wie konnte nur ein solches Sehnen über einen kommen!

Ganz gewiss war es ein Lichtstrahl aus Anne-Katharinas Kammer. Da saßen sie in diesem Augenblick zusammen. Gonda musste der Oma Rina aus der Bibel vorlesen. Und dann faltete Anne-Katharina die Hände und betete. An alle dachte sie dabei, auch an Hasso Stecher, der jetzt in der ihm selbst unbegreiflichen Unruhe seines Herzens durch die Straßen lief und auch ein verlorener Sohn war. Es war das Licht der Anne-Katharina, das ihm ins Herz gedrungen war.

Wie ist es möglich, dass man bei hellem Sonnenschein friert, dass man bei strahlendblauem Himmel das Empfinden hat, es sei ein trüber Wintertag, und dass man besorgt zum Himmel emporblickt, als sei er mit dunklen, unheilschweren Wolken bedeckt? Über dem kleinen, erzgebirgischen Städtchen lag eine so eigentümliche Schwüle. Mitten im Sommer war es. Der kleine Ort glich einem einzigen Blumenbeet. In den Gärten und Anlagen, auf den Wiesen, in den umliegenden Wäldern blühte und grünte es, als ob die Welt sich zu einem Fest rüsten wollte. Der Rosenhain war in ein duftendes Prachtgewand gekleidet. Schmetterlinge gaukelten in frohem Spiel über die Fülle von Rosenknospen und Blüten. Die Vögel jubilierten, als seien sie von einem Freudenrausch befallen. Niemand im Städtchen aber schien diese feierliche Stimmung wahrzunehmen. Erlaubte sich ein junges Menschenkind, sehnsüchtig hinaus in die freudeverheißende Weite zu blicken, so senkte es gewiss rasch wieder die Augen, als hätte es ein Unrecht begangen – denn wie konnte man an Freude denken, wo der Tod durch die Stadt schritt? Ja, der Tod schritt durch das erzgebirgische Städtchen, und das Furchtbare war, dass er die zartesten Blumen knickte, die Frühlingshoffnung des Lebens zerstörte. Wie mancher alte, lebensmüde Mensch streckte die welken, zitternden Hände über die kleinen Leidenden und flehte: »Nimm mich mit, nimm mich! Das Leben liegt hinter mir, ich habe nichts mehr zu erwarten noch zu verlieren, nimm mich und schone die zarten Pflänzchen, die ja erst ins Leben hineinwachsen und ihre Aufgaben erfüllen sollen!« Aber der Tod fragt nicht danach. Er schob die flehend erhobenen Hände zur Seite. Er übersah die heißen Tränen der Mütter und raffte eine kleine Blume nach der andern hinweg.

Diphtherie, die schreckliche Kinderkrankheit, herrschte seit Wochen in dem Städtchen. Kaum ein Tag, da man nicht einen oder mehrere weiße Särge hinaustrug. Es gab Mütter, die nicht nur ein Kind, sondern mehrere, sogar alle Kinder verloren hatten. Ein großes Weinen erfüllte das Städtchen. Dunkel war es mitten in der Sonne des strahlenden Sommertages.

Gonda Stecher saß mit einer Handarbeit am Fenster. Aber ihre Hände ruhten. Aus dem gegenüberliegenden Haus trug man soeben einen Kindersarg, den zweiten in einer Woche, und oben saß die Mutter am Bett ihres letzten Kindes, das mit dem Tode rang. Gonda seufzte in Mitleid und ehrlicher Trauer. Wir furchtbar war doch das! Bisher hatte sie gemeint, ihre eigene, große Enttäuschung sei das Schlimmste, was einen treffen könnte, aber gab es ein tieferes Leid als das Herzeleid einer Mutter, die alle ihre Kinder verlor? – Anne-Katharina setzte sich zu ihr in den Sessel. »Gerade wird die Kleine von drüben hinausgetragen«, berichtete Gonda. »Man kann es nicht verstehen, warum Gott so viel Leid zulässt.«

»Du hast recht«, antwortete Anne-Katharina. »Verstehen kann man es nicht, aber glauben bedeutet auch nicht verstehen, sondern vertrauen. Wenn Gott all die kleinen, zarten Blümchen in seinen Himmelsgarten verpflanzt, dann weiß er, warum. Wohl kostet es jetzt das Herzblut der Mütter. Einmal aber werden sie alle begreifen, dass es Liebe und nicht Härte oder gar Zorn war. Gottes Auge sieht weiter als unser menschliches und …« In diesem Augenblick wurde sie von Gonda unterbrochen. »Mutter kommt! – aber wie sieht sie aus! Ganz blass und verstört, ohne Hut.«

Das junge Mädchen sprang auf, um die Türe zu öffnen. Da hastete die Mutter schon die Treppe herauf. Grußlos trat sie ins Zimmer. Neben Anne-Katharinas Sessel sank sie auf den Stuhl, von dem Gonda soeben aufgesprungen war. Wie nach Hilfe suchend, umklammerte sie die Hände der Blinden, deren feine Seele sofort die zitternde Angst verspürte. Es klang wie ein Aufschrei:

»Mutter, unser Bübchen ist krank, es ist bestimmt Diphtherie.« Ein heißes Schluchzen erschütterte die bebende Gestalt. »Mutter, du musst beten, ich wage es nicht. Aber er darf nicht sterben, er darf nicht!« Und nun schien ein Sturm die Frauengestalt zu schütteln.

»Mutter, nicht auch das noch, nicht auch das noch!«

»Anne-Katharina zog die Pflegetochter an sich und streichelte mit weicher Hand über deren Haar, immer wieder, immer wieder.

»Christa, glauben heißt vertrauen. Ja, ich will beten, dass Gott auch dir gegenüber die Liebe bleibt.«

Gonda hatte ratlos dem Schmerzensausbruch der Mutter beigewohnt. Dann war sie schweigend ins Nebenzimmer gegangen. Als Frau Stecher ein paar Minuten später aufsprang, weil sie glaubte, das kranke Kind nicht länger mit dem Vater allein lassen zu können, stand die Tochter zum Mitgehen bereit an ihrer Seite.

»Mutter, ich komme mit nach Hause.«

»Du – Gonda?«

Seit ihrer Übersiedlung in die Maiengasse hatte Gonda es nicht mehr gewagt, die elterliche Wohnung zu betreten, aus Furcht vor dem Vater, der ihr die Handlungsweise an jenem Schreckenstage nicht verzeihen konnte. Die Zeit im Stübchen der Anne-Katharina war jedoch nicht vergeblich gewesen. Nun wusste sie, dass die Mutter sie brauchte, und dieses Bewusstsein füllte ihr Herz mit Kraft und Freude, trotz des Leides, das wieder über ihre Familie hereinzubrechen drohte. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und das würde ihr helfen, auch dem Vater gegenüber die rechte Stellung einzunehmen.

»Komm, Mutter ich führe den Haushalt, während du den Kleinen pflegst.« Und sie stützte die Mutter, die, unter der neuen Bürde wankend, zusammenzubrechen drohte.

Tage vergingen, bange Tage voller Not und Sorge, Tage und Nächte voll heißer Angst. Und eines Tages stürmte wieder jemand die Treppe zu Anne-Katharina hinauf.

»Oma, Oma, Peter-Paul stirbt!« Gonda umklammerte die Blinde, als wäre von ihr allein Hilfe zu erwarten.

»Der Kleine stirbt, und Mutter hat einen Nervenzusammenbruch erlitten. Was soll ich nur tun, Oma, was soll ich nur tun? Vater hat auch wieder so schreckliche Schmerzen, den ganzen Tag flucht er und schimpft auf den Doktor, dass er dem Kleinen nicht hilft. Oma, was soll ich nur tun?« Das Mädchen schien am Ende seiner Kraft. Anne-Katharina war einen Augenblick ganz stille, so als horchte sie nach innen, dann stand sie auf, ging zum Schrank und zur Kommode und packte einige Sachen in eine große Tasche. »Komm«, sagte sie und wandte sich zur Türe.

Gonda verstand nicht gleich, was gemeint war.

»Komm«, wiederholte die Blinde, »ich gehe mit dir, ich helfe dir!«

»Oma Rina«, Gonda merkte nicht, dass sie Peter-Pauls Anrede benützte, »Oma Rina, du willst mitgehen? Wenn du nur am Bett des Kleinen sitzt und der Mutter ein wenig Trost zusprichst, will ich für das übrige sorgen. Aber der Vater –« Wie würde er ihr Kommen aufnehmen?

»Ich fürchte mich nicht vor deinem Vater, mein Platz ist jetzt bei meinem Kind. Komm!« Meinte sie nun Frau Christa oder Peter-Paul? Gonda wusste es nicht, aber ihr angstgepeinigtes Herz wurde ruhig und zuversichtlich. Wenn Anne-Katharina mitkommen würde, so konnte man getrost sein. Obgleich es nicht in ihrer Macht lag, die Krankheit aufzuhalten, so ging doch von ihr eine Ruhe aus, dass man sich in ihrer Nähe geborgen fühlte. Gonda atmete auf. Oma Rina kam, und mit ihr das Licht, das man in ihrer Familie umsonst suchte!

Bruno Stecher saß am Bettchen seines Jüngsten und hielt dessen fieberheißes Händchen. Angst und Grauen spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Unfasslich, dass das wimmernde Kind, das da so hilflos lag, sein kleiner froher Bub sein sollte – Herrgott!

Bruno Stecher deine Lippen flüstern den Namen des Allmächtigen? Wer gibt dir das Recht dazu, da du doch nicht an ihn glaubst? Oder kommt es dir in diesen Augenblicken, da dein Kind mit schmerzverzerrtem Gesicht vor dir liegt, zum Bewusstsein, dass du ihm machtlos gegenüberstehst? – Bruno Stecher verharrte in schweigender Angst vor dem Bette des Kindes, auch als Gonda mit Anne-Katharina eintrat. Er ließ es zu, dass sie sich über seine kranke Frau beugte und ihr sagte: »Ich bleibe bei dir, Christa, bis es nicht mehr dunkel ist«, aber er bot ihr nicht die Hand zum Willkommensgruß.

»Nicht mehr dunkel?« Die blasse Frau, die vollständig erschöpft in den weißen Kissen lag, widerholte flüsternd dieses Wort.

»Nicht mehr dunkel? Mutter, es wird nie, nie mehr hell werden!« Und wieder streichelte die Mutterhand beruhigend über die heiße Stirne.

»Christa, mein Kind, oft ist gerade das, was wir als Dunkelheit ansehen, unser größtes Licht. Denke an meine Erblindung.«

»Ach, Mutter, dich und mich – uns trennen Welten.« Und dann konnte die Kranke, die unter den Lasten ihres Lebens zusammengebrochen war, vor Weinen nicht mehr sprechen. Sie war am Ende ihrer Kraft, jetzt, da sie mit dem Tod ihres Jüngsten rechnen musste.

Anne-Katharina blieb und erfüllte in ruhiger, selbstverständlicher Art ihre Pflicht. Es war erstaunlich, wie rasch die Blinde sich zurechtfand. Den Haushalt besorgte Gonda, während Anne-Katharina sich um die Kranken kümmerte. Peter-Pauls Zustand wurde immer bedenklicher. Der kleine Körper schien sich vergeblich gegen die unheimliche Gewalt der Krankheit aufzulehnen. Das Kind litt unsäglich. Frau Christ versuchte jeden Tag aufzustehen und die Pflege ihres Lieblings selbst zu übernehmen, aber es war vergeblich. Die Füße trugen sie einfach nicht. Anne-Katharina hatte keine leichte Aufgabe zu erfüllen. Die Pflege der drei Kran- ken, Bruno Stecher war ja ebenfalls Patient, bedingte nicht nur körperliche, sondern vor allem seelische Kraft. Da lag die verzweifelte Frau, drüben saß der gichtkranke, unzufriedene, sich gegen alles auflehnende Mann, und hier kämpfte das Kind seinen letzten Kampf.

Dann kam eine furchtbare Nacht. Spät am Abend war der Arzt noch einmal dagewesen. Was von seiner Seite geschehen konnte, war getan worden. Er hatte nur wenig Hoffnung, denn er kannte die Symptome. Anne- Katharina und Gonda geleiteten ihn zur Türe.

»Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst!« Mit diesen Worten verabschiedete er sich. Gonda schluchzte laut auf. Die Blinde faltete schweigend die Hände und hob die erloschenen Augen zum Himmel. Ihre Seele aber flehte um Kraft für die nächste Wegstrecke. Als sie das Schlafzimmer betrat, saß Frau Christa in ihrem Bett, die Augen angstvoll geöffnet, die Hände in der Decke verkrampft. »Was hat er gesagt? Was hat er gesagt? Muss Peter-Paul sterben?« Anne-Katharina gab keine Antwort. Da sank die Kranke mit einem Aufschrei in die Kissen zurück.

Im nächsten Augenblick versuchte sie das Bett zu verlassen. »Ich muss bei ihm sein bis zuletzt, ich, seine Mutter!« Bei den ersten Schritten aber brach sie kraftlos zusammen. Hasso und Gonda trugen sie zurück in ihr Bett. Nun kamen Stunden, wo man nicht wusste, ob man mehr um das Leben des Kindes oder um das der Mutter bangen müsse. »Tragt ihn zu mir, nah an mein Bett.« hauchte Frau Christa, »er soll bis zuletzt meine Hand fühlen.«

Sie trugen das weiße Gitterbettchen an ihre Seite. Man sah es dem Kinde an: es ging ums Letzte. Alle hatten sich am Schmerzenslager des Kiemen versammelt. Bruno Stecher, der in seinem Leben immer geglaubt hatte, durch eigene Macht alles erzwingen zu können, musste an sich selbst zuschanden werden, er, der so groß von sich dachte, war unter der Knechtschaft des Alkohols ein elender Sklave geworden, und jetzt, in den gewaltigen Stunden dieser unheimlichen Nacht, kam es ihm zum Bewusstsein, dass er hilflos, aber auch erbärmlich hilflos war der Gewalt gegenüber, die da am Bette seines Kindes herrschte. Er sank in sich zusammen, begrub den Kopf in den Händen und stöhnte wie ein verwundetes Tier.

Hasso stand am Kopfende des Bettchens. Auch ihm begegnete zum ersten Mal in seinem Leben die Majestät des Todes, und er zitterte vor ihr. Wie hatte er so leichtsinnig drauflos leben können, ohne sich je einmal über den Ernst des Lebens und des Sterbens Rechenschaft zu geben? Wenn nun er, statt des kleinen Bruders, hier liegen würde? »Gott im Himmel!«

Christa Stecher, hörst du es? Die Seele deines Sohnes schreit nach Gott. Du bis verzweifelt, weil du glaubst, kein Anrecht mehr an Gott und seinem Reich zu haben, du und deine Familie, weil du den rechten Weg verloren hast und so den Deinen kein Wegweiser zu ihm sein konntest. Hörst du es, Christa Stecher? Man ruft in deinem Hause nach Gott! An der Schwelle der Ewigkeit wird jedes stolze Haupt gebeugt. Und du selbst, Christa?

Frau Stecher aber sah nichts als Dunkelheit. »Mein Kind!« schrie sie auf, »mein Kind, meine einzige Freude, meine einzige Lebenshoffnung, mein letztes Licht in der Dunkelheit meines Daseins! Anne-Katharina, Mutter, warum betest du nicht?«

»Ich bete, Christa!«

»Gott wird dich nicht hören, Mutter, er kann dich nicht hören. Er hat sich von uns abgewandt, weil wir nicht mehr nach ihm fragten.« Und nun schrie sie auf, dass es durch das Haus gellte. »Er wird es mir nehmen, er lässt mein Kind sterben. Dort, dort steht er, der Tod!« Alle waren erschüttert, und ihre Seelen erbebten vor diesem Verzweiflungsausbruch. Bruno Stecher aber fühlte den Schlag. Schweißtropfen standen auf seiner Stirne. Er wagte nicht, sein Angesicht aus den Händen zu erheben. Er erkannte wohl in diesem Augenblick, was er auf sich geladen hatte, als er seiner Frau den Kinderglauben zertrat.

Anne-Katharina saß zwischen dem Bett des Kindes und dem der Mutter. Jetzt sucht sie nach der Hand der Pflegetochter, und klar und bestimmt sprach sie: »Christa – Gott ist die Liebe.«

»Aber nicht für uns«, begehrte diese auf. »Wir haben ihn verlassen, und nun nimmt er uns das Kind, unsere einzige Freude.«

Peter-Paul, der vor Schwäche eingeschlummert war, erwachte durch die entstandene Unruhe. Röchelnd ging sein Atem. Leise begann er zu weinen. Die Blinde beugte sich über ihn. »Kennst du mich, mein Liebling?«

»Oma Rina«, hauchte das Kind, »es tut so weh, und es ist so dunkel. Mach doch Licht, Oma Rina, mach schnell Licht! Oh, mein Hals, mein Kopf!«

Immer kürzer gingen die Atemzüge, immer unruhiger wurde das Kind. Die Kräfte ließen sichtlich nach. Plötzlich flüsterte es, und die Angst zitterte in seiner Stimme: »Warum lasst ihr mich alle allein? Warum geht niemand mit? Es ist so schrecklich dunkel, und ich fürchte mich.«

»Der Heiland ist bei dir«, antwortete Anne-Katharina.

»Der Heiland?« wiederholte flüsternd das Kind. »O ja, der Heiland.«

»Er stirbt!« schluchzte die Mutter, »mein Kind stirbt! Peter-Paul, nimm mich mit!«

Und wieder flüsterte der kleine Mund etwas, es war aber kaum zu verstehen. Nur die Blinde hatte es vernommen.

»Oma Rina, sing: Leuchten müssen wir!«

Da saß nun die Blinde zwischen den beiden Kranken. In einer Hand hielt sie das fieberheiße Händchen des Kindes und mit der anderen hatte sie die zuckenden Finger der kranken Frau umfasst. Hasso hatte den Arm um seine Schwester gelegt, über deren Gesicht unaufhaltsam Tränen rannen. Sie alle erwarteten den Tod des Kleinen. Anne-Katharina aber sang mit leiser Stimme:

»In der Welt ist's dunkel, leuchten müssen wir; du in deiner Ecke, ich in meiner hier.

Halte rein dein Herze, halt die Sünde fern, dann wirst du einst schauen Jesum, deinen Herrn.«

Es war wundersam. Über die erregten Gemüter senkte sich eine unerklärliche, fast überirdische Ruhe.

Als die Blinde ihr Lied beendet hatte, faltete Frau Christa plötzlich die Hände. Sie, die eben noch haltlos und verzweifelt gewesen war, sagte laut und allen vernehmlich: »Lieber Gott, wenn du ihn lieber hast als ich, dann nimm ihn! Vielleicht ist er bei dir glücklicher, als er bei uns sein kann.«

War es der Eindruck des schlichten Liedes gewesen, oder hatte sie in diesem Augenblick an der Schwelle der Ewigkeit die Nähe Gottes empfunden, dass sie zu solchem Ausspruch fähig war?

Niemand wagte ein Wort zu erwidern. Als Gonda sich über das Bettchen des Brüderleins beugte, war er eingeschlummert. Sie erwarteten alle nichts anderes, als dass er nicht mehr erwachen würde, aber Stunde um Stunde verrann, und noch immer hörte man die röchelnden Atemzüge. Hasso und Gonda begaben sich schließlich zur Ruhe. Anne-Katharina hatte versprochen, sie zu wecken, wenn eine Veränderung einträte. Bruno Stecher aber blieb am Bett seiner Frau und dem des Kindes sitzen. Er sprach nie darüber, was er in jener Nacht erlebte, aber eins war sicher: es war die Nacht, da Gott ihm begegnete.

Seltsamerweise wurden die Atemzüge des Kindes gegen Morgen ruhiger. Um sieben Uhr kam der Arzt. Ein eigentümlicher Ausdruck des Staunens legte sich auf sein Gesicht. »Hier ist ein Wunder geschehen«, sagte er. »Ich habe nicht gewagt zu glauben, dass ich den Kleinen noch lebend antreffe. Ihr Kind ist gerettet!«

Ja, das war nun wirklich ein Wunder, für alle überwältigend und beinahe unfasslich. Der Blinden fiel unwillkürlich der Predigtext vom letzten Sonntag ein. Der Pfarrer hatte über 1. Mose 28,16 gesprochen: »Gewiss ist der Herr an diesem Ort, und ich wusste es nicht.« Ja, der Herr, der Gott der Liebe, war in dieser Nacht dagewesen und hatte leuchtende Spuren hinterlassen.

Bei Christa aber war es so: Hatte das Leid sie vorher zu Boden geworfen, so brachte die Freude sie jetzt an den Rand des Grabes. Als es mit Peter-Paul, wenn auch nur langsam, der Besserung zuging, bangte man tagelang um ihr Leben. Anne-Katharina saß unermüdlich an ihrem Bett. Es war unbegreiflich, woher die Blinde die Kraft nahm zu dieser langen und schweren Pflege. Aber alle waren froh für ihr stilles Wirken. Selbst Bruno Stecher hatte sich überwunden. An jenem Morgen, als der Arzt das Kind für gerettet erklärt hatte, war er aufgestanden und hatte die Hand der Anne-Katharina ergriffen und sie wortlos gedrückt. Das war viel! Anne- Katharinas Herz aber wurde erfüllt von einer stillen und tiefen Freude. Ihr Licht strahlte hell. Sie wusste, sie konnte sich auf Gott verlassen.

Es dauerte nun allerdings noch Wochen, bis Peter- Paul die schwere Krankheit überwunden hatte, und noch länger, bis Frau Christa über die größte Gefahr hinweg war. Aber nun, da alle wieder Hoffnung schöpfen durften, war es, als ob ein ganzes neues Verhältnis zwischen den Familiengliedern zustand käme. Jetzt, da der Tod an ihrer Schwelle haltgemacht hatte, spürten sie, dass sie zusammengehörten. Und nicht nur das, sie hatten alle im Vorraum der Ewigkeit gestanden, und über sie alle war ein Erkennen der Nichtigkeit dieses Erdenlebens und der Heiligkeit der Ewigkeit gekommen. Natürlich waren sie nicht plötzlich neue Menschen geworden, aber sie waren doch von der verkehrten Richtung ihres Weges überführt worden, und in allen regte sich die Sehnsucht nach Höherem und Besserem, als sie es bisher gekannt hatten.

Frau Christa aber hatte den Heimweg gefunden. Als das Schwerste ihrer Krankheit hinter ihr lag, verlebte sie mit Anne-Katharina eine Stunde der inneren Einkehr, der Umkehr, der Heimkehr. Nein, nicht mit Anne- Katharina allein, es war der bei ihnen, der gesagt hat: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«

»Mutter, jetzt ist es wieder licht geworden«, sagte Frau Christa. »Nach all den Jahren undurchdringlicher Dunkelheit wieder licht.«