Dschungelkind - Sabine Kuegler - E-Book
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Dschungelkind E-Book

Sabine Kuegler

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Beschreibung

Was uns unvorstellbar erscheint – Sabine Kuegler hat es erlebt: Als Tochter deutscher Forscher verbrachte sie ihre Kindheit mitten im Dschungel von West-Papua, bei einem vergessenen Stamm von Kannibalen. Bis sie siebzehn war, kannte sie keine Autos, kein Fernsehen und keine Geschäfte. Sie spielte nicht mit Puppen, sondern schwamm mit Krokodilen im Fluss – und erlebte schon früh die alten Rituale des Tötens. Die Natur war ihr Spielplatz, der Dschungel ihre Heimat, der Himmel ihr Dach. Dschungelkind von Sabine Kuegler im eBook!

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Seitenzahl: 420

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Sabine Kuegler

Dschungelkind

Knaur e-books

Über dieses Buch

Was uns unvorstellbar erscheint - Sabine Kuegler hat es erlebt. Unter archaischen Bedingungen wuchs sie im Dschungel West-Papuas auf. Heute lebt sie in Deutschland. »Angst habe ich erst hier kennen gelernt«, sagt sie. Und sie weiß, dass sie zurückkehren wird. Sabine Kueglers Geschichte beginnt, als sie mit fünf Jahren als Tochter deutscher Sprachforscher und Missionare nach West Papua kommt. Mitten im Urwald lebt die Familie mit dem Fayu-Stamm, der für Kannibalismus und unvorstellbare Brutalität steht und dessen Menschen erst langsam lernen, zu lieben statt zu hassen, zu vergeben statt zu töten. Für die heranwachsende Sabine wird der Stamm jedoch zum Teil ihrer selbst, der Dschungel zur Liebe ihres Lebens: Sie ist keine Deutsche mehr, kein weißes Mädchen aus Europa, sie wird eine Eingeborene, die schwimmt und jagt, fühlt und handelt wie eine Fayu. Mit 17 Jahren wird Sabine auf ein Schweizer Internat geschickt, um ihren Schulabschluss zu machen - ein katastrophaler Einschnitt für sie. »Angst habe ich erst hier gelernt«, sagt sie. Und immer spürt sie Heimweh, eine Sehnsucht, die ständig in ihr brennt. Sie wird zurückkehren in den Dschungel, um für sich herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich, Fayu oder Europäerin?

Inhaltsübersicht

WidmungKartenTeil 1Vor einigen Jahren …Meine GeschichteDas Verlorene TalDie erste BegegnungDer Fayu-StammEin anderes LebenWo alles begannWest-Papua (Irian Jaya), IndonesienDie Entdeckung der FayuEinladung in die SteinzeitTeil 2Ein Tag im DschungelNächtliche BesucherDer erste KriegTiersammlung, Teil IPfeil und BogenDie Jahreszeiten des DschungelsDie Spirale des TötensNachrichten von der AußenweltDschungelgefahrenDoris und Doriso BosaNakire, die Frauen und die LiebeBootsfahrtenMein Bruder OhriFledermausflügel und gegrillte WürmerDie Fayu-SpracheTarzan und JaneTiersammlung, Teil IIMalaria und andere KrankheitenVergeben lernenJudith wird erwachsenMeine Freundin FaisaDie Uhr des DschungelsGute Geister, böse GeisterDer entscheidende KriegDie Zeit vergehtTeil 3Urlaub in der »Heimat«Der Dschungel ruftDas Baby ohne NamenDie Schöne und das BiestBisa und BeisaRückwärtsgangEs ist nicht gut, dass der Mensch allein seiEhebruch und andere Wirren des LebensDer Tag, als Ohri starbMein neuer StammChâteau Beau CèdreAlleinWieder am AnfangEpilogDanksagungBildteilLeseprobenJÄGERIN UND GEJAGTEProlog3. KapitelRUF DES DSCHUNGELS3 Rückkehr ins Land der Fayu
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In liebender Erinnerung

für Ohri, meinen Fayu-Bruder.

 

 

Ich widme dieses Buch auch meinen Kindern

Sophia, Lawrence, Julian und Vanessa,

die mein ganzer Stolz und meine Freude sind.

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Karten

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Teil 1

Vor einigen Jahren …

 … fragte mich eine Bekannte, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch über mein Leben zu veröffentlichen. Ich verstand damals nicht recht, was an meinem Leben denn so interessant sein sollte, dass irgendjemand darüber würde lesen wollen.

Ich hatte selten über meine Kindheit gesprochen oder woher ich eigentlich kam. Stattdessen versuchte ich jahrelang, mich anzupassen und so zu werden wie jeder normale Mensch in meinem Umfeld. Eine Kultur und ein Leben anzunehmen, die mir im Grunde fremd sind. Und obwohl es mir äußerlich gut gelingt, finde ich keinen inneren Frieden und nicht die Zugehörigkeit, nach der ich mich so sehne.

Ich bin unglücklich, fühle mich oft sehr verloren, wie ein Geist, der nie zur Ruhe kommt. Ich lebe das Leben eines Vagabunden, ziehe von einem Ort zum anderen und hoffe jedes Mal, an diesem neuen Ort mein Glück und den Frieden zu finden, den ich mir so sehr wünsche. Doch immer wieder werde ich enttäuscht.

Mein Leben vergeht, ich werde älter, und langsam frage ich mich, wohin ich eigentlich gehöre. Immer öfter denke ich an meine Kindheit zurück. Nach fünfzehn Jahren in der modernen Welt müsste ich mich doch perfekt angepasst haben. Kann die Kindheit einen Menschen so prägen? Dann wieder überlege ich mir, was wohl wäre, wenn man ein 17-jähriges deutsches Mädchen in der Welt aussetzen würde, in der ich aufgewachsen bin. Wäre es für sie anders?

All diese Fragen gehen mir durch den Kopf. Ich habe das Gefühl, nicht richtig zu leben, sondern nur zu existieren. In mir brennt eine Sehnsucht, die ich nicht genau beschreiben kann, ein Heimweh nach etwas, das verloren scheint. Es ist, als wäre ich irgendwann oder irgendwo stehen geblieben, als hätte ich irgendetwas nicht beendet.

 

So habe ich mich entschieden, meine Geschichte aufzuschreiben – in der Hoffnung, mich selbst zu finden und zu akzeptieren, dass ich anders bin, immer anders sein werde. Und um vielleicht zu erkennen, wo ich wirklich hingehöre.

Meine Geschichte

Ich möchte eine Geschichte erzählen, die Geschichte eines Mädchens, das in einem anderen Zeitalter aufwuchs … eine Geschichte von Liebe, Hass, Vergebung, Brutalität, und von der Schönheit des Lebens. Es ist eine wahre Geschichte … es ist meine Geschichte.

 

Es muss Anfang Oktober gewesen sein. Ich bin 17 Jahre alt, trage eine dunkle Hose, die mir zu groß ist, einen gestreiften Pullover und Halbschuhe, die überall drücken und mir das Gefühl geben, meine Füße werden zerquetscht. Sie tun weh, weil ich bis zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben ganz selten Schuhe getragen habe. Meine Jacke sieht aus wie aus dem vorigen Jahrhundert (und das ist sie wahrscheinlich auch). Dunkelblau mit einer Kapuze, die mir, als ich sie aufsetze, über die Augen fällt. Es sind Kleider, die ich geschenkt bekommen habe.

Mir ist eiskalt, ich zittere, meine Hände und Ohren kann ich kaum noch spüren. Ich trage weder ein Unterhemd noch Handschuhe, Schal oder eine Mütze. Ich habe mich nicht mehr daran erinnert, wie man sich im Winter anzieht. Ich kenne den Winter kaum.

Ich stehe auf dem Hauptbahnhof in Hamburg. Eisiger Wind pfeift über den Bahnsteig. Es ist kurz nach neun oder zehn, ich weiß es nicht mehr genau. Man hatte mich am Bahnhof abgesetzt und mir erklärt, wie ich den richtigen Zug finde … alles mit vielen Zahlen verbunden. Nach einiger Zeit bin ich tatsächlich auf dem richtigen Bahnsteig angekommen; es ist die Nummer 14.

Sabine Kuegler 2004

Ich trage eine Tasche bei mir, die ich ganz fest an mich drücke, und einen Koffer, der das Wenige enthält, das ich mitnehmen konnte. In meiner Hand der Fahrschein, auf den ich zum hundertsten Mal schaue, um mir noch einmal die Nummer meines Waggons einzuprägen.

Ich bin nervös, all meine Sinne sind auf Hochtouren. Ich beobachte misstrauisch die Menschen um mich herum und bin bereit zuzuschlagen, sollte mich jemand angreifen. Aber niemand scheint mich zu beachten.

Es ist alles so neu für mich, so fremd, dunkel und bedrohlich. Ich schaue die Gleise entlang, als ich eine Durchsage höre. Nur zum Teil verstehe ich, was gesagt wird, so viel Lärm ist um mich herum! Ich beobachte, wie sich das Gefährt nähert, das mich in mein neues Leben bringen soll. Meine Augen werden immer größer, denn heute, mit 17 Jahren, sehe ich zum ersten Mal einen richtigen Zug.

Er kommt mit so hoher Geschwindigkeit auf mich zu, dass ich vor Schreck ein paar Schritte zurückweiche. Dieser Zug sieht anders aus als die Züge, die ich in Büchern gesehen habe. Er ist nicht mit Blumen geschmückt, es kommt kein Rauch aus einem Schornstein, und die Farbe ist auch anders. Dieser Zug ist so groß und unheimlich wie ein langer weißer Wurm, der aus einem schwarzen Loch hervorkriecht.

Als er schließlich zum Stehen kommt, beginnen die Menschen wie besessen einzusteigen. Ich verharre noch einige Sekunden unbeweglich, vergesse für einen Moment die Kälte und schaue dieses riesige Fahrzeug vor mir an. Neugier und Angst befallen mich gleichzeitig. Da bemerke ich eine Nummer an der Seite des Waggons vor mir. Ich vergleiche sie mit der auf meinem Fahrschein und sehe, dass sie nicht übereinstimmen. Ich wende mich nach rechts und nach links, der Zug scheint unendlich lang. Kopflos beginne ich zum hinteren Teil des Zuges zu laufen. Die Nummern der Waggons haben nichts mit denen auf meiner Fahrkarte zu tun. Plötzlich höre ich einen lauten Pfiff. Ich schrecke zusammen und schaue mich um.

Ein Mann in Uniform hält einen eigenartigen Stab nach oben. Panik kommt in mir hoch, als ich merke, dass es etwas mit der Abfahrt zu tun hat, und schnell springe ich durch die nächste Tür ins Innere. Gerade rechtzeitig, denn schon beginnt der Zug sich zu bewegen.

Ich stehe einen Augenblick da und weiß nicht, was ich machen soll. Mein Herz klopft so stark, als wolle es zerspringen. Da bemerke ich, dass es Türen gibt, die es ermöglichen, durch die einzelnen Wagen zu gehen. Ich laufe los nach vorn. Ich fange an zu schwitzen und sorge dafür, dass ich bloß keinen Augenkontakt mit Fremden aufnehme. Die Waggons scheinen niemals aufzuhören, es geht weiter und weiter. Plötzlich stehe ich in einem Abteil, das schöner aussieht als die, die ich gerade durchlaufen habe – es ist die Erste Klasse. Es gibt keinen Durchgang mehr. Ratlos bleibe ich stehen. Meine Augen füllen sich mit Tränen.

In diesem Moment taucht ein Mann aus einem Abteil auf und sieht mich. Ich wende mich schnell ab, aber er kommt auf mich zu. Er fragt, ob er mir helfen kann. Ich sehe ihn an, er scheint Ende dreißig zu sein, dunkler Anzug, braune Haare und hellblaue Augen. Ich zeige ihm meine Fahrkarte und frage ihn nach dem Waggon mit dieser Nummer. Gerade kommt auch ein Mann in Uniform den Gang herunter. Nach einem Blick auf meinen Fahrschein teilt er mir gleichgültig mit, dass ich im falschen Zug sei. Mein Herz steht still, ich werde ganz blass im Gesicht. Der Schaffner muss meine Angst gesehen haben, weil er mich schnell beruhigt und mir erklärt, dass es ausnahmsweise zwei Züge gibt, die beide zum selben Zielort fahren.

Ich frage ihn, was ich jetzt machen soll, während ich mit immer größerer Panik kämpfe. Er erklärt mir, dass wir bald anhalten werden und ich dann in den nächsten Zug auf demselben Gleis einsteigen kann.

Nachdem er die Fahrkarte des Mannes mit den blauen Augen kontrolliert hat, der noch immer neben uns steht, verabschiedet sich der Schaffner und geht weiter. Ich schaue ihm nach, spüre einen großen Knoten im Hals und fühle mich sofort wieder völlig hilflos und ausgeliefert. Ich stehe allein mit einem fremden weißen Mann in einem halbdunklen Waggon, in einem fremden Land. Der Gedanke, dass er mich vergewaltigen könnte oder sogar töten, um mich zu bestehlen, schießt durch meinen Kopf. All die Geschichten, die ich über die Gefahren der modernen Welt gehört habe, scheinen Realität zu werden. Wie kann ich mich schützen? Ich habe weder Pfeil und Bogen noch ein Messer bei mir.

Der fremde Mann fragt mich mit einem mitleidigen Lächeln, ob ich nicht in sein Abteil kommen möchte, um dort auf meine Haltestelle zu warten. Ich schüttle den Kopf und antworte, dass ich lieber hier im Gang warte. Er versucht es noch einmal mit der Bemerkung, dass es im Abteil aber viel bequemer sei. Jetzt bin ich mir sicher, dass er mir etwas antun will. Ich sage nein, nehme meinen Koffer und fliehe in den kleinen Freiraum zwischen den Waggons. Er folgt mir und fragt, woher ich komme. Aus Hamburg, antworte ich mit zitternder Stimme.

Zu meiner großen Erleichterung verlangsamt der Zug in diesem Moment seine Geschwindigkeit. Ich stehe vor der Tür, der fremde Mann noch immer hinter mir. Ich bete, dass er wieder weggehen möge. Als der Zug zum Stehen kommt, will ich aussteigen, aber die Tür öffnet sich nicht. Was jetzt? Muss ich irgendwo drücken oder schieben? Ich rüttle an den Griffen, aber es passiert nichts. Da drängt sich der Fremde an mir vorbei, dreht einen roten Hebel, und die Zugtür öffnet sich.

Was für eine Erleichterung, als ich endlich den Bahnsteig vor mir sehe! Noch ein Schritt, und ich bin außer Gefahr. Ich bedanke mich schnell und trete ins Freie.

Die Türen schließen sich hinter mir, und ich sehe noch die dunkle Gestalt des Fremden am Fenster des abfahrenden Zuges. Ich schaue mich um, ich bin allein, kein anderer Mensch auf dem Bahnsteig. Es ist dunkel außer ein paar vereinzelten Lichtern über mir. Die Kälte holt mich wieder ein. Ich fange zu zittern an, ein Schmerz, den ich vorher nicht kannte. Meine Zähne klappern, ich sehne mich nach der schwülen Hitze des Tropenwaldes und der heißen Sonne. Ich weiß nicht, wo ich bin oder was ich tun soll, wenn der nächste Zug nicht kommt. Werde ich hier erfrieren?

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, doch dann hält er vor mir. Zu meiner Erleichterung finde ich diesmal sogar den richtigen Waggon. Ich steige ein, sehe einen freien Platz und vermute, dass ich meinen Koffer in dem großen Fach an der Seite des Ganges abstellen muss, wo auch alle anderen stehen. Ich lasse mein Hab und Gut zurück in der Gewissheit, dass es gestohlen wird, weil ich von meinem Sitz aus kein Auge darauf haben kann. Doch das ist mir in diesem Moment völlig egal. Meine Beine sind so schwach, meine Füße schmerzen, ich bin müde und verzweifelt.

Als ich endlich sitze, suche ich die Gurte, um mich anzuschnallen. Ich finde nichts und suche auf dem Sitz neben mir, aber auch dort ist nichts. Da bemerke ich, dass keiner der Fahrgäste einen Gurt trägt. Das scheint mir sehr unsicher und gefährlich, aber es muss wohl so sein. Dies hier ist ein fremdes Land … ein Land, dem ich nur auf dem Papier angehöre.

Die Bewegung des Zuges wirkt beruhigend auf mich. Ich ziehe meine Schuhe aus und setze mich auf meine Füße, um sie zu wärmen. Die Jacke fest um mich geschlungen, schaue ich aus dem Fenster und betrachte den Mond, der hier so dunkel und klein wirkt, so ärmlich, als sei er am Ausblühen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, die an meinen kalten Wangen herunterlaufen. Ich sehne mich nach dem Mond, den ich kenne, einem stolzen Mond voller Kraft und Leben, der mit so großer Helligkeit leuchtet, dass ich nachts meinen eigenen Schatten sehen kann. Ich lehne meinen Kopf zurück und schließe die Augen.

Der Zug fährt immer schneller, meine Gedanken rasen mit ihm. Im Geiste verlasse ich diesen dunklen, kalten Ort. Ich fliege zurück in die Vergangenheit. Blaue, weiße und grüne Farben ziehen vor meinem inneren Auge vorüber. Ich fliege in die Wärme, die Sonne lacht, ihre Strahlen fliegen mit mir, fangen mich ein, tanzen um mich herum und umhüllen meinen Körper mit wohliger Glut. Ich sehe grüne Felder, bunte Städte voller Menschen, tiefe, dunkle Täler, durchschnitten von schmalen Flüssen, und gewaltige, dichte Wälder.

Dann das große Meer, das sich in seiner Unendlichkeit bis zum Horizont erstreckt. Jetzt sehe ich meinen über alles geliebten Urwald vor mir: grüne, stolze Bäume, so weit das Auge reicht; ein wunderschön ausgebreiteter smaragdfarbener Teppich, sanft und doch mächtig, grün und doch voll von Farben jeder Art. Ein Anblick, der sich mir schon Hunderte Male bot, der mich aber jedes Mal wieder mit Bewunderung und Staunen erfüllt. Der mächtige Dschungel von Irian Jaya … mein Zuhause, das Verlorene Tal.

Das Verlorene Tal

Als Kind hatte ich immer davon geträumt, wie ein Vogel zu fliegen, der hoch über den Bäumen gleitet und sich mit dem Wind treiben lässt. Und dann, eines Tages, bin ich geflogen. Es war im Januar 1980, als wir uns auf eine Reise begaben, die mein Leben für immer verändern sollte.

 

Unsere Familie lebte schon seit zirka einem Jahr auf einer kleinen Dschungelbasis in West-Papua, dem westlichen Teil der Insel Neuguinea. Die Hauptbasis befand sich zwar in der Hauptstadt Jayapura an der Küste, um aber in das Innere der Insel zu gelangen, waren lange und kostspielige Flüge erforderlich, und so schlossen sich mehrere Familien zusammen und bauten gemeinsam eine kleine Siedlung mitten im Dschungel, die sie Danau Bira nannten.

Die Männer und Frauen der Gruppe waren Sprachforscher, Anthropologen, Piloten, Missionare und so weiter, die sich allesamt für Projekte im Dschungel rüsteten. Wir Kinder kümmerten uns nicht darum – für uns war Danau Bira schlicht und einfach das Paradies. Auf ungefähr drei Kilometern gerodeter Lichtung befanden sich etliche Wohnhäuser, ein winziger Flugplatz, ein kleines Postamt, ein Versammlungsgebäude, ein Gasthaus und eine sehr kleine Schule. Wir hatten sogar einen Generator, der uns für ein paar Stunden am Tag mit Elektrizität versorgte. Durch die ganze Siedlung lief ein schmaler Hauptpfad, der aus nichts als kleinen Steinen bestand.

Unser Holzhaus thronte auf einem Hügel mit einem wunderschönen Ausblick über den Danau Bira-See. Dort lebten wir, abgeschnitten von der Zivilisation, und schafften uns eine fast perfekte Welt. Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade sieben Jahre alt, hatte kurze blonde Haare, blaue Augen und war spindeldürr. Als die Mittlere von uns drei Geschwistern war ich auch als die Wildeste bekannt, immer nur im Freien unterwegs und mit einer lebhaften Fantasie begabt. Meine Schwester Judith, zwei Jahre älter als ich, war die Ruhige, ein Künstlertyp. Sie saß lieber draußen auf einem Baum und malte, als mit den anderen herumzutoben. Mein Bruder Christian schließlich, zwei Jahre jünger als ich und mein treuester Anhänger, machte jede Verrücktheit mit und war als Werkzeug für all meine Ideen gut zu gebrauchen. Sein größter Vorteil war sein gutes Gedächtnis, was sich für mich allerdings oft nachteilig auswirkte – denn bei unseren häufigen Streitereien glaubte Mama ihm mehr als mir.

Und meine Eltern? Sie hatten dieses ungewöhnliche Leben auf sich genommen, weil sie sich als Sprachforscher und Missionare auf eine neue, nie dagewesene Aufgabe vorbereiteten: auf das Leben mit einem gerade erst entdeckten Eingeborenenstamm.

In unmittelbarer Umgebung von Danau Bira lebten zwei Stämme, die Dani und die Bauzi, die bereits seit längerer Zeit Kontakt zur so genannten Außenwelt hatten. Meinem Vater jedoch war es ein Jahr zuvor gelungen, auf einer seiner Expeditionen einen Stamm zu finden, den man bisher nur aus Legenden und Gerüchten kannte: die Fayu. Die Geschichte dieser Entdeckung ist unglaublich spannend – ich werde sie später ausführlicher erzählen. Mein Vater jedenfalls hielt sich seither immer wieder für einige Zeit bei den Fayu auf, in einer Gegend, die man nicht zu Unrecht das »Verlorene Tal« genannt hat.

Und nun, an jenem Morgen im Januar 1980, war es so weit: Heute sollten wir Kinder und unsere Mutter diesen neuen Stamm kennen lernen.

 

Schon am Morgen, als ich aufwachte, war es draußen heiß und stickig schwül. Die Sonne sandte ohne Mitleid ihre Strahlen auf uns herab. Keine Wolke war zu sehen, nur ein unendlicher hellblauer Himmel, der sich über den Horizont spannte. Die Vögel hatten sich im Buschwerk verkrochen, um der Hitze des Tages zu entgehen. Nur ein paar mutige Insekten zirpten Lieder aus ihren Verstecken im Wald.

Ich war aufgeregt und hatte meine persönlichen Sachen schon in einem Rucksack verstaut. Am Abend zuvor hatte meine Mutter uns eine ausführliche Liste gegeben, die in zwei Spalten gegliedert war: »Einzupacken« stand über der einen, »Darf nicht mitgenommen werden« über der anderen. Ich habe bis heute niemanden kennen gelernt, der praktischer packen kann als meine Mutter.

Nun fing Mama an, unsere Taschen noch einmal zu überprüfen. »Sabine«, fragte sie, »hast du auch alles so gepackt, wie wir es besprochen haben?«

Ich schaute sie mit großen, unschuldigen Kulleraugen an. »Aber natürlich, Mama!«

»Na, dann lass mal sehen«, sagte sie, und ich wusste schon, was dabei herauskommen würde.

Seufzend öffnete ich den Rucksack, und Mama zog kopfschüttelnd die zwei Gläser mit meinen Lieblingsspinnen heraus.

»Aber Mama«, sagte ich ganz verzweifelt, »die brauchen mich doch, ich bin doch ihre Mutter!«

»Dann müssen sie eben eine neue Mutter finden«, wurde mir mitleidslos entgegnet.

Wütend murrte ich: »Aber Judith hat auch Sachen eingepackt, die sie nicht mitnehmen darf!«

Judith schaute mich entsetzt an. Aus ihrem Rucksack quollen schließlich Kunstbücher und ihr neues Kleid aus Deutschland.

Minius, ein junger Mann vom Stamm der Dani, den wir aufgenommen hatten, half meiner Mutter, das Gepäck nach draußen zu schaffen. Mehrere Dani-Männer warteten darauf, unser Gepäck auf dem Boot zu verstauen, das uns zu dem kleinen Dschungelflughafen bringen sollte. Zu Fuß wäre der Weg zu beschwerlich gewesen. Ich trug eine lange Hose, ein kurzes Hemd und hatte, auf Befehl von Mama, auch eine Jacke dabei, verstand aber nicht, warum. Es war ja so heiß draußen! Kälte konnte ich mir in diesem Moment einfach nicht vorstellen.

»Möchtest du mit dem ersten oder mit dem zweiten Boot fahren?«, wollte Mama von mir wissen.

Ich entschied mich für das erste und ging nach draußen, wo Christian schon auf mich wartete. Judith wollte mit Mama im zweiten Boot nachkommen.

Wir sprangen den schmalen Steinpfad hinunter, bis wir zu einer kleinen Holzbrücke kamen. Dort fiel mein Blick nach unten, und ich sah unter der Brücke einen bunten Salamander. Auf der Stelle ließ ich meinen Rucksack und den Kanister auf den Boden fallen, um ihn zu fangen.

Christian, der mir vorausgeeilt war, rannte zurück und rief: »Sabine, beeil dich, sonst fährt das Boot ohne uns! Du darfst den Salamander sowieso nicht behalten!«

Schnell wandte ich mich um zum Haus und bemerkte Mamas warnenden Blick. Ich verstehe bis heute nicht, wie es ihr immer gelang, meine Pläne zu durchschauen. Enttäuscht, dass ich nun doch keinen Ersatz für meine Spinnen gefunden hatte, riss ich mich schließlich los, kletterte wieder auf die Brücke, hob meine Sachen auf und rannte hinter Christian her.

Nach ein paar Metern führte der Pfad nach unten zum Dock. Die Anlegestelle war aus Holzbrettern gebaut, die wie eine Plattform hinaus aufs Wasser liefen. Wir sprangen in das Boot und setzten uns auf kleine Bretter, die als Sitzplätze dienten.

Ein Dani-Mann startete den Motor und fuhr auf den See hinaus. Der Wind fühlte sich herrlich an, ich tauchte meine Hand ins Wasser und bespritzte mein Gesicht und meine Haare, um noch mehr Abkühlung zu bekommen. Wir fuhren an einigen Holzhäusern und Docks vorbei, danach kam eine längere Strecke undurchdringlicher Urwald, bis wir auf eine Öffnung stießen, die wie ein langer, breiter Pfad aus Gras aussah: Die Landebahn … Sie begann auf der Kuppe eines Hügels und endete im Wasser. Krass ausgedrückt, wenn der Pilot das Flugzeug nicht rechtzeitig in die Luft bekam, ging man baden.

Wir legten an, sprangen aus dem Boot, nahmen das, was wir tragen konnten, und machten uns auf den Weg zum Flugplatz. Als ich dort ankam, waren die Vorbereitungen für den Abflug bereits in vollem Gange. Der Pilot ging um den Hubschrauber herum und untersuchte noch einmal das Triebwerk, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung war. Die Dani-Männer hielten Ausschau nach Wildschweinen oder Hühnern, die frei herumliefen und möglicherweise später den Abflug gefährden könnten.

Unser Gepäck lag im Gras, und mein Bruder saß auf einer Kiste und passte darauf auf. Aufgeregt betrachtete ich den Hubschrauber und konnte es kaum glauben, dass wir in Kürze damit fliegen würden. Es war ein Hubschrauber vom Modell Bell 47, mit einer Windschutzscheibe, die wie eine durchsichtige Halbkugel geformt war. Auf beiden Längsseiten befanden sich schmale Tragflächen, an denen das Gepäck befestigt wurde. Der Helikopter glich einer bepackten Libelle.

Der Pilot drehte sich zu mir und fragte mich auf Englisch: »Na, Sabine, bist du bereit für dein neues Zuhause?«

Ich strahlte ihn an und antwortete ihm, dass ich sehr wohl bereit wäre und mich riesig darauf freute.

»Hast du auch deine Jacke dabei?«

Schon wieder. Ich bejahte und fragte, warum ich denn eine brauchen würde. Er erklärte mir, dass es während des Fluges in der Höhe sehr kalt sei.

Plötzlich hörte ich Christian schreien. Ich lief hinüber zu ihm, und als ich ihn sah, fing ich an zu lachen. Er hatte den Dani-Männern helfen wollen, ein Schwein vom Landeplatz zu verjagen. Doch dabei war er in einen großen Haufen Schweinemist hineingerutscht, lag immer noch mittendrin und schrie: »Hilfe, ich tinke!«

»Nein, Christian«, lachte ich, »du tinkst nicht, du stinkst, und zwar ziemlich.«

»Nein«, erwiderte er wütend, »das tu ich nicht!«

»Doch, tust du, und weil du so stinkst, müssen wir dich jetzt an einem Seil unter den Helikopter binden, um dich mitzunehmen.«

»Nein!«, schrie er jetzt lauter. »Das stimmst nicht!« Er nahm eine Hand voll Schweinemist und bewarf mich damit. Ich schrie auf und warf mich auf ihn. Wir prügelten uns im Dreck, in der Mitte der Landebahn, umringt von amüsierten Dani-Männern. In diesem Moment kam Mama, gefolgt von Judith, um die Ecke gerannt. Sie hatte das Geschrei schon von weitem gehört. Der Pilot grinste sie an; er wusste, dass nur sie allein die Ordnung wiederherstellen konnte.

Judith schaute uns mitleidig an und sagte mit melodramatischer Stimme: »Ich habe schon immer gewusst, dass ich nicht zu dieser Familie gehöre.«

Mama schüttelte streng den Kopf. Da standen wir, von oben bis unten mit Schweinemist bedeckt, und die Fliegen fingen schon an, uns zu umschwärmen. Sie nahm uns mit zum See, wo wir uns ausziehen und unter ihrer Aufsicht waschen mussten. Die verschmutzte Kleidung packte sie in eine leere Tasche, und Minius suchte uns frische Sachen aus unserem Gepäck.

Judith blieb zurück und erzählte einem sehr belustigten Piloten, wie es dazu kommen konnte, dass sie in dieser Familie lebte, obwohl sie ja eigentlich eine Prinzessin war.

 

Endlich war es dann so weit: Der Pilot forderte uns zum Einsteigen auf!

Die Sitzfläche im Hubschrauber bestand lediglich aus einer langen Bank. Christian durfte sich neben den Piloten setzen, der seine Geräte noch einmal überprüfte, dann stiegen Judith und Mama zu und zuletzt ich. Ich hatte Mama nämlich angefleht, ganz außen sitzen zu dürfen, und nach langem Überlegen und Absprache mit dem Piloten erlaubte sie es mir schließlich. Die Sache war die: Um Gewicht zu sparen, hatte man die Türen des Hubschraubers abgenommen, und so saß ich nun direkt an der Öffnung und konnte ungehindert nach unten schauen.

Ein amerikanischer Mechaniker kam zu uns, schnallte uns an und versicherte sich noch einmal, dass die Gurte auch wirklich fest saßen. Ich hatte zuvor noch meine Jacke angezogen und kämpfte mit dem Gefühl, gleich zu ersticken.

Der Mechaniker verabschiedete sich und gab dem Piloten ein Handzeichen. Plötzlich ein lautes Geräusch – und der große Propeller fing an, sich zu drehen. Er verursachte eine so starke Druckwelle, dass alles in der Nähe wegflog. Die Aufregung wuchs immer mehr in mir; ich schaute hinaus und spürte, wie wir langsam vom Boden abhoben.

Immer höher und höher stiegen wir, dann kippte das Vorderteil des Hubschraubers ein wenig nach vorne, und wir flogen geradeaus weiter, über den See hinaus, bis wir den Rand des Urwalds erreichten. Plötzlich, mit einem Schub, schwenkte der Hubschrauber nach oben und flog knapp über die mächtigen Urwaldbäume hinweg. Ein grandioser Anblick: So weit das Auge reichte, breitete sich unter uns einer der größten Regenwälder der Welt aus!

Hubschrauberlandung in Foida

Ich flog! Adrenalin überschwemmte mein Gehirn und verursachte ein unglaubliches Hochgefühl in meinem ganzen Körper. Die Bäume unter mir schienen so nah, ich hatte das Gefühl, ich bräuchte nur meine Hand auszustrecken und könnte sie berühren. Grün, Braun und Orange vermischten sich unter uns zu einer herrlichen Farbpalette.

Ich hielt den Atem an, schloss die Augen und spürte den kalten Wind, der wie eine große Welle über meinen Körper hereinbrach. So einen extremen Temperaturunterschied hatte ich mir nicht vorstellen können. Ich öffnete meine Augen wieder, schaute nach unten und sah zwei weiße Vögel unter uns fliegen. Ihnen schien der Lärm des Hubschraubers überhaupt nichts auszumachen. Was für ein Erlebnis! Wie schön wäre es jetzt, die Arme auszubreiten und wie so ein Vogel hinaus in die Welt zu fliegen. Der Wind blies mit solcher Wucht an uns vorüber, dass ich mich fest an meinem Gurt hielt und das Gefühl hatte, wenn ich jetzt losließe, würde der Wind mich mit sich nehmen.

 

Der Flug dauerte ungefähr eine Stunde, doch es kam mir wie nur wenige atemberaubende Minuten vor, bis wir das Dorf Kordesi unter uns sahen. Wir flogen über die kleine Siedlung hinweg, ich sah die Eingeborenen vom Stamm der Dou, die unten auf der Erde standen und uns zuwinkten. Der Helikopter bog nach links und folgte einem gewaltigen Flusslauf, der in einem Farbgemisch von mattem Braun und glitzerndem Blau schillerte. Wir folgten ihm etwa eine halbe Stunde lang, bis der Fluss eine enge Kurve machte und wir eine Lichtung erreichten.

Unser Landeplatz war nichts anderes als eine breite Grasfläche. Links entdeckte ich mit Palmblättern ummantelte Holzhütten, die vereinzelt unter den Bäumen hervorlugten. Rechts von der Grasfläche sah ich ein helles Holzhaus schimmern, das zum Teil mit Aluminium bedeckt war. Das Holzhaus umringten mehrere große Bäume. Ich sah viele dunkle Gestalten in den Urwald laufen, bis keiner mehr zu sehen war. Nur einer blieb übrig: Mein Vater stand am Rande der Grasfläche und winkte uns zu. Der Hubschrauber verlangsamte sich und sank.

Es entstand ein Vakuum um uns herum, außerhalb wurde alles weggeblasen, die Sträucher und das Gras bogen sich unter dem Wind, den der Propeller verursachte. Dann fühlte ich einen Ruck. Wir waren gelandet.

Die erste Begegnung

Der Pilot schaltete den Motor ab. Es dauerte noch einige Zeit, bis der Propeller sich verlangsamte und schließlich zum Stehen kam. Dann war es plötzlich ganz still … kein Vogelgesang, keine Stimmen, kein Motorengeräusch. Sekunden später schlug uns die Hitze wie eine Faust ins Gesicht. Ich atmete vor Schreck tief ein und löste den Gurt, um meine Jacke auszuziehen. Neugierig schaute ich mich um – kein Mensch oder Tier war zu sehen, es sah alles ganz verlassen aus.

In diesem Moment kam Papa um den Hubschrauber herum und hob mich heraus, küsste mich und sagte, ich solle am Rand des Platzes warten. Meine Beine fühlten sich schwach und wackelig an. Mama kletterte als Nächste aus dem Hubschrauber. Judith streckte, in ihrer eleganten Art, ihre Hand nach Papa aus. Er küsste sie und half ihr auszusteigen.

»Papa, du stinkst, du brauchst ein Bad!«, rief sie. Papa lachte und hob Christian auf.

»Nein, Papa«, sagte der, »du riechst ganz gut, und ich bin happy, dass wir bei dir sind.«

»Na also«, erwiderte er, »endlich jemand, der sich freut, mich zu sehen!«

Daraufhin antwortete Mama diplomatisch, dass sie sich auch freue, ihn zu sehen, dass ihm ein Bad aber trotzdem nicht schaden würde. Papa sah wirklich etwas ungewöhnlich aus. Ich hatte ihn nie zuvor mit Bart gesehen, und seine Haare hingen ihm in wilden Locken ins Gesicht. Er trug ein schweißnasses Halstuch und einen großen Sonnenhut. Spaßeshalber nannten wir ihn später »Moses«, wenn er sich wieder längere Zeit im Urwald aufgehalten hatte. Aber wir merkten schon jetzt: Im Urwald fühlte er sich wirklich wohl. Hier war er in seinem Element!

Ich torkelte hinter Judith her. Kurz danach kam auch Christian zu uns. Wir standen und warteten, wussten nicht so recht, was wir machen sollten. Da hörte ich Papa in einer unbekannten Sprache Richtung Urwald rufen. Wir Kinder hielten gespannt Ausschau, was nun kam.

Und kurze Zeit später sahen wir, wie mehrere Männer langsam aus dem Wald traten. Sie näherten sich uns leise, mit fast unhörbaren Schritten. Meine Geschwister und ich rückten vor Angst enger aneinander. Wir hatten noch nie solch wilde Menschen gesehen. Größer als die Eingeborenen der anderen Stämme, die wir bis jetzt kennen gelernt hatten, dunkelhäutig, mit krausem schwarzem Haar und vollkommen nackt. Teilweise bedeckten schwarze Straußenfedern ihren Kopf, lange, dünne Knochen zogen sich durch die Nasen; zwei davon zeigten nach oben, und einer ging quer durch die Nasenflügel. Über den Augenbrauen hatten sie zwei flache Knochen mit Baumrinde festgebunden. Sie trugen Pfeil und Bogen in einer Hand und Steinäxte in der anderen. Die Unbekannten umzingelten uns, starrten uns mit schwarzen, undurchdringlichen Augen an.

Ihre Gesichter kamen mir gespenstisch und finster vor. Judith drückte meine Hand ganz fest, Christian versteckte sich hinter uns. Ich fühlte, dass meine große Schwester bald in Panik geraten würde, ihr Atem ging immer schneller. Mit ihren langen hellblonden Haaren zog sie die ganze Aufmerksamkeit der Krieger auf sich. Sie zuckte zurück, als einer von ihnen ihr Haar anfassen wollte.

Ängstlich rief ich nach Papa. Als die Eingeborenen meine Stimme hörten, sprangen sie alle zurück. Da tauchte auch schon unser Retter auf. Papa redete mit den Männern wieder in jener Sprache, die ich nie zuvor gehört hatte. Danach wandte er sich zu uns und erklärte uns, dass dies Fayu-Männer seien, von der Stammesgruppe der Iyarike, und dass wir keine Angst zu haben brauchten. Sie seien nur neugierig, weil sie noch nie in ihrem Leben weiße Kinder gesehen hätten. Dann nahm Papa meine Hand und ging mit mir zu einem älteren Fayu-Mann. Er legte meine Hand in die des Fayu und sagte zu mir: »Das ist Häuptling Baou, der uns die Erlaubnis gegeben hat, hier zu wohnen.«

Fayu vom Iyarike-Stamm kommen uns besuchen

Häuptling Baou bückte sich plötzlich zu mir herunter, nahm mein Gesicht in seine Hände und kam mit seinem Kopf immer näher. Ich erschrak, weil ich dachte, er wolle mich jetzt auf den Mund küssen. Aber stattdessen drückte er seine verschwitzte Stirn auf die meine und rieb sie mehrmals. Papa lachte, als er meinen verblüfften Gesichtsausdruck sah. Er erklärte uns, dass die Fayu die Stirnen aneinander reiben, um sich zu begrüßen – ungefähr so, wie wir Europäer einander die Hand schütteln.

Dasselbe taten die Fayu nun auch mit meinen Geschwistern. Wir hatten den Rest des Tages eine dunkle Stirn, einen Abdruck aus Schweiß und Schmutz in unserem Gesicht.

Nun begannen die Fayu-Männer, unsere Haare anzufassen, dann unsere Haut und unsere Gesichter. Sie fingen zu reden an, ihre Stimmen wurden immer lauter vor Aufregung. Die Angst vor ihnen verschwand und machte unserer kindlichen Neugier Platz.

Nach einigen Minuten kämpften wir uns aus der Menge heraus und liefen zum Hubschrauber. Da bemerkte ich, dass einige nackte Frauen am Rande des Urwalds standen. Sie hatten kleine Kinder auf dem Arm und sahen nicht so wild aus wie die Männer. Langsam ging ich auf sie zu. Doch als ich mich näherte, fingen die Kinder an zu schreien, und die Frauen rannten zurück in den dunklen Wald. Ich schaute ihnen einen Augenblick nach, ging dann aber zum Hubschrauber zurück, wo Papa und der Pilot unser Gepäck abluden. Die Stammeskrieger halfen ihnen, die Last zu unserem Holzhaus zu bringen.

 

Mein neues Zuhause lag auf einer kleinen Lichtung, gesäumt rechts vom Klihi-Fluss und links vom Urwald. Weil dieses Gebiet regelmäßig überschwemmt wurde, stand das Haus auf mehreren hohen Holzbalken.

Das ganze Gebäude war mit grünem Draht umwickelt, um Insekten und sonstiges Getier fern zu halten. Dies wäre eine gute Idee gewesen, wenn sie denn funktioniert hätte. Wir hatten nämlich trotz allem immer wieder ungebetene nächtliche Besucher in unserem Haus. Mama ist die ganzen Jahre hindurch oft des Nachts aufgestanden, um auf Ratten- oder Insektenjagd zu gehen. Wer Freude daran hatte, waren die Fayu, weil sie die Beute am nächsten Morgen zum Frühstück essen konnten.

Ein geschmückter Fayu-Krieger

Das Innere des Hauses war in zwei große Zimmer aufgeteilt, eines zum Kochen, Essen und Wohnen, das andere zum Schlafen. An das Schlafzimmer grenzte ein kleines Bad. Es gab keine Türen, sondern Tücher, die wir an der Decke befestigt hatten. Wenn eines der Tücher aufgeschlagen war, bedeutete dies, dass wir den Raum betreten konnten, hing das Tuch vor der Öffnung, war der Raum besetzt.

Zu den wenigen »Luxus-Artikeln«, die Papa eingebaut hatte, gehörten zwei Waschbecken, eines im Bad, das andere in der Küche. Regenwasser wurde aus mehreren Metalltonnen ins Innere des Hauses geleitet, und wir benutzten es zum Trinken und Kochen. Während der Trockenperiode wurde es aber oft problematisch. Dann mussten wir Wasser aus dem Fluss holen und abkochen.

In der Küche stand ein kleiner Kerosinofen mit zwei Brennern, auf dem wir kochten. Gegenüber an der Wand hatte Papa einfache Bretter befestigt, die als Regale für Pfannen, Töpfe, Teller, Becher und so weiter dienten. Ganz hinten an den Wohnraum grenzte noch ein kleines Zimmer mit einem Tisch und Regalen an der Wand, wo wir unsere Lebensmittel aufbewahrten.

Auf diesem kleinen Tisch stand ein Kurzwellen-Funk(sprech)gerät, und jeden Morgen, pünktlich um acht Uhr, mussten wir uns mit der Basis in Danau Bira in Verbindung setzen. Da wir keinen Strom hatten, sondern nur eine Batterie und Danau Bira auch nur begrenzt mit Elektrizität versorgt wurde, war dieser Zeitpunkt vereinbart worden, zu dem sich alle, die sich im Urwald aufhielten, täglich melden mussten – aus Sicherheitsgründen. Meldete sich eine Basis oder Station nicht innerhalb von drei Tagen, so wurde ein Hubschrauber losgeschickt, um nachzusehen, ob etwas passiert war.

Das Schlafzimmer war durch ein langes Tuch in zwei Hälften geteilt; eine Hälfte für meine Schwester und mich, die andere, in der meine Eltern gemeinsam mit meinem Bruder schliefen. Die Betten waren aus langen zusammengenagelten Brettern gebaut, auf denen dünne Schaumstoffmatratzen lagen. Über den Betten waren Moskitonetze befestigt, die wir nachts unter die Matratzen klemmten, um uns vor Mücken und anderen Insekten zu schützen.

Papa hatte mein Bett und das meiner Schwester Judith genau unter das Fenster genagelt. Er hatte sich wahrscheinlich dabei gedacht, dass es für uns so kühler sein würde, weil das Fenster nur aus grünem Draht bestand. Es war kühler … besonders wenn es regnete. Denn wenn es in den Tropen regnet, dann in Strömen, und so wurden wir öfter nachts wach und waren bis auf die Haut durchnässt. Also standen wir auf, zogen unsere nassen Sachen aus und schlichen uns zur anderen Hälfte des Zimmers zu meinen Eltern. Die dann morgens oft mit drei Kindern in ihrem Bett erwachten anstatt mit nur einem.

Das »Bad« bestand lediglich aus einem kleinen Waschbecken, einer Fläche aus Zement, auf der wir vor dem Schlafengehen unsere Füße wuschen. Wir hatten auch eine Toilette, die wir wegen des hohen Wasserverbrauchs aber selten spülen durften. Stattdessen holte Papa einen Eimer Wasser vom Fluss, den er neben die Toilette stellte.

 

Als wir gerade dabei waren, unser neues Zuhause zu inspizieren, entdeckte Christian etwas Unheimliches an der Wand: eine riesige schwarze Spinne! Sie war so groß wie ein Steak. Wir starrten sie voller Faszination an. Papa rief, wir sollten uns nicht bewegen, und rannte, um ein Parang (ein langes Buschmesser) zu holen. Er kam zurück und ging auf die Spinne zu.

»Nein, Papa«, schrie ich entsetzt, »ich will die Spinne behalten!« Aber es war zu spät – mit einem Hieb traf er das Tier und zerquetschte es an der Wand.

»Oh, cool«, bemerkte Christian, »kuck mal, die Beine bewegen sich noch.«

Die anderen waren angeekelt von diesem Anblick, und ich vergoss inzwischen Tränen darüber, dass ein so schönes Exemplar für meine Sammlung verloren war. Mama nahm uns kurzerhand wieder mit nach draußen, um den Abflug des Hubschraubers zu beobachten. Papa blieb im Haus und reinigte die verschmierte Wand.

Die Sache mit der Spinne war schnell vergessen, es gab so viel Neues zu sehen und zu entdecken in dieser an Abenteuern überreichen Welt, in der ich von nun an leben würde. Draußen machte sich der Helikopter auf den Rückflug nach Danau Bira. Ich stand dort, bis ich den Motor nicht mehr hören konnte. Dann sah ich mich um, sah den breiten, kühlen Fluss, der an mir vorbeiströmte, die einzelnen Hütten der Fayu, den dunklen, dichten Urwald und schließlich unser neues Zuhause. Ich sah mich nach den Fayu-Männern um, die mich noch immer mit der gleichen Neugierde betrachteten, die auch ich ihnen gegenüber empfand.

Links Papas Arbeitshütte, rechts das »Gästehaus«

 

Ich weiß nicht mehr, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, aber es muss mit Sicherheit etwas Schönes gewesen sein. Wie könnte auch eine so wunderbare Umgebung, ein so atemberaubendes, aufregendes Leben in Geborgenheit und Freiheit etwas Schlechtes mit sich bringen? Ich fühlte mich hier wohl, es war mein neues Zuhause.

Noch Jahre danach hielt dieses Glücksgefühl an, auch in den schweren Zeiten, als ich mit dem Tod kämpfte. Es war das Leben, für das ich geboren war, ein Leben, das zu mir passte, ein Leben ohne Regeln und Stress, von dem ich heute noch träume.

Und hier, bei dem erst vor kurzem entdeckten Fayu-Stamm, der für Kannibalismus und eine unvorstellbare Brutalität stand, einem Stamm, der noch in der Steinzeit lebte und der eines Tages lernen würde zu lieben, statt zu hassen, zu vergeben, statt zu töten; bei diesem Stamm, der ein Teil von mir wurde, wie ich ein Teil von ihm – hier änderte sich mein Leben. Ich war keine Deutsche mehr, war nicht mehr das weiße Mädchen aus Europa. Ich wurde eine Eingeborene, ein Fayu-Mädchen vom Stamm der Iyarike.

 

An diesem Abend, als ich in meinem Bett lag, kam Papa zu mir, und zusammen sprachen wir ein Gebet, das ich noch heute gemeinsam mit meinen Kindern abends vor dem Schlafengehen bete. Ein Gebet, das mich durch all die Jahre begleitete und mir heute noch ein unvorstellbares Sicherheitsgefühl gibt:

»Denn wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem HERRN: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, dem ich vertraue. Der mich errettet von der Schlinge des Jägers und von der verderblichen Pest. Er wird mich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht werde ich haben unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, dass ich nicht erschrecke vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt. Tausende fallen zu meiner Linken und Zehntausende zu meiner Rechten, so wird es doch mich nicht treffen.

Es wird mir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich meinem Hause nähern. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie mich behüten auf all meinen Wegen.«

Psalm 91

Der Fayu-Stamm

Die erste Nacht verlief ruhig. Ich erwachte am nächsten Morgen in meinem Bett und konnte vom Fenster aus die Bäume am Rande des Urwalds sehen. Sie waren riesig und ragten weit über unser Haus hinaus. Ich lauschte den Vögeln, ihrem schönen Morgengesang, der geheimnisvoll klang und meiner Fantasie Flügel verlieh.

Judith schlief noch. Es war ganz still im Haus. Nach einiger Zeit wurde es mir zu langweilig, und ich sprang aus dem Bett und sah nach, ob meine Eltern schon wach waren. Natürlich war ich aufgeregt und wollte unbedingt nach draußen, um meinen neuen Wohnort zu erforschen. Da sich auch bei meinen Eltern noch nichts rührte, ging ich hinaus auf die kleine Veranda, die unsere Vordertür von der Treppe nach unten trennte, und ließ zum ersten Mal die Umgebung tief auf mich wirken.

Links sah ich den Klihi-Fluss, und schon jetzt sehnte ich mich danach hineinzuspringen! Die Hitze war bereits in vollem Anmarsch, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne die Macht übernahm und auch ihre treuesten Freunde in den Schatten zwang. Direkt vor mir wuchsen vereinzelte Bäume aus braunem Lehm hervor. Ungefähr zehn Meter rechts von mir, am Rand des Urwalds, stand ein zweites Holzhaus, das, wie ich später erfuhr, für Gäste gebaut worden war – aber weil wir so gut wie nie Gäste hatten, stand es fast immer leer. Ein paar Meter weiter befand sich noch eine kleinere Hütte, die mein Vater als Arbeitszimmer benutzte. In den nächsten Jahren sollte er viel Zeit dort verbringen, um die Fayu-Sprache zu lernen und zu analysieren.

Fayu-Frauen

Inzwischen hatte ich bemerkt, dass langsam Leben in das Dorf der Fayu kam. Man hatte mich gesehen, und die Bewohner schienen mindestens ebenso erpicht darauf, mich zu erforschen, wie umgekehrt. Schon bald kamen sie näher heran und beobachteten mich und jede meiner Bewegungen.

Zum ersten Mal traten jetzt auch Frauen und Kinder hinzu und versammelten sich in kleinen Gruppen. Die Kinder waren vollkommen nackt, manche hatten einen extrem dicken Bauch – es war Wurmbefall im Darm, wie ich später erfuhr. Andere hatten rötliche Haare, eine Krankheit, die durch Vitaminmangel verursacht wird. Was mich jedoch am meisten interessierte, waren die Frauen. Sie waren kleiner als die Männer, wirkten zum Teil aber sehr maskulin. Auch sie waren nackt, mit der einzigen Ausnahme, dass sie zwischen ihren Beinen eine aus Baumrinde geflochtene Bedeckung trugen. Heute würde ich sagen, sie glich den modernen String-Tangas aufs Haar. Vor allem aber gaben mir ihre Brüste zu denken. Sie hingen extrem nach unten, teils bis zum Bauchnabel. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich hoffte inständig, dass ich nicht eines Tages, wenn ich erwachsen war, auch solche Brüste haben würde.

Als ich diese Bedenken einmal Mama gegenüber äußerte, beruhigte sie mich mit der Erklärung, das sei nur deshalb so, weil die Fayu-Frauen keine BHs trügen …

Ich konnte natürlich nicht verstehen, was die Fayu sagten. Eines aber war gewiss: Ich war an diesem Morgen das Gesprächsthema Nummer eins. Die Sprache klang so ungewöhnlich, glich in keiner Weise dem europäischen Reden, sondern ähnelte eher einem geheimnisvollen Singsang. Ich war begeistert von diesem Klang, denn ich hatte vorher noch nie etwas Ähnliches gehört. So stand ich und schaute und lächelte, aber niemand lächelte zurück. Nach einiger Zeit ging ich wieder zurück ins Haus.

Meine Familie war von dem Lärm, den die Fayu in ihrer Aufregung verursacht hatten, endlich wach geworden. Mama war schon dabei, Kaffee zu kochen, während Papa sich zum hundertsten Mal über das Funkgerät ärgerte, das wieder einmal streikte. Papas handwerkliche Begabung hatte sich stets in Grenzen gehalten, und heute versuchte er sein Glück, indem er das Gerät mit einem Hammer mal hier, mal dort bearbeitete. Plötzlich und ohne Vorwarnung funktionierte es wieder. Stolz drehte er sich zu uns: »Ich habe das Radio repariert!«

Lächelnd reichte ihm Mama einen Teller: »Na, nach so viel Anstrengung brauchst du sicherlich etwas zu essen …«

Und so begann unser erstes gemeinsames Frühstück in unserem neuen Zuhause.

Wie der Rest des Tages verlief, weiß ich nicht mehr genau. Ich kann mich nur noch an Bruchstücke erinnern. Sehr gut im Gedächtnis geblieben ist mir allerdings, dass wir Kinder viel im Fluss spielten und dass wir nicht verstehen konnten, warum die Fayu-Kinder nur an einen Baum gelehnt dasaßen oder sich dicht an ihre Eltern drängten und nie lachten. Sie schienen Angst zu haben, wir wussten aber nicht, vor wem oder was. Es war doch alles so friedlich hier.

Wir versuchten sie mit Handzeichen zu überreden, mit uns zu spielen, aber niemand rührte sich. Schließlich gaben wir es auf und blieben unter uns.

 

Die ersten Tage vergingen wie im Flug. Wir standen mit der Sonne auf und gingen bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett. Morgens frühstückten wir zusammen, meist Haferflocken, gemischt mit Milchpulver und Wasser, oder Pfannkuchen. Öfters entdeckten wir kleine Käfer oder Insekten in unserem Frühstück, die sich irgendwie durch die Verpackung geknabbert hatten. Nach einiger Zeit störte uns das nicht mehr – es gab ja doch nichts anderes zu essen. »Eure Extraportion Protein« nannte es Mama, und wir glaubten ihr.

Eines Morgens aber, kurz nach unserer Ankunft, brachten uns die Fayu ein paar riesige Eier. Es waren Königstaubeneier. Papa hatte ein Tauschsystem eingeführt: Wenn die Dorfbewohner uns Essen oder interessante Gegenstände anboten, tauschten wir sie gegen Messer, Fischhaken oder Seile. Und so waren wir an jenem Tag an sechs leckere, gigantische Eier gekommen, die Papa für irgendetwas eingehandelt hatte. Wir freuten uns riesig über die Abwechslung zum Frühstück. Pfannkuchen und Haferflocken werden nach einiger Zeit langweilig.

Am nächsten Morgen, wir saßen schon alle am Tisch, erhitzte Mama ein wenig Öl und nahm eines der Eier. Es war so groß, dass sie es mit beiden Händen halten musste. Dann zerbrach sie es über der Pfanne. Aber anstatt des lang ersehnten Weiß und Gelb flutschte ein kleines angebrütetes Küken heraus, fiel ins Öl und fing an zu brutzeln. Uns wurde bei diesem Anblick sofort schlecht. Der Hunger war wie weggeblasen. Mein Herz sank, als ich das kleine Küken in der Pfanne sah: Wie traumhaft wäre es gewesen, ihm beim Schlüpfen zuzuschauen und es großzuziehen!

Von diesem Tag an öffnete Mama jedes Ei vorsichtig erst einmal draußen, und wenn es bereits mit einem Küken belegt war, gab sie es den Fayu, die es mit Begeisterung verspeisten und nicht verstanden, warum wir es weggegeben hatten. Wir aber brauchten eine ganze Weile, bis wir wieder mit »Genuss« Königstaubeneier essen konnten.

Ein paar Tage später, ich spielte gerade mit Christian vor dem Haus, bemerkte ich einen kleinen Jungen, der uns schon mehrere Tage lang aus sicherer Distanz beobachtet hatte und alles aufmerksam verfolgte, was wir taten. Er schien weniger Angst vor uns zu haben als die anderen Kinder. Ich schätzte, dass wir im gleichen Alter waren.

Heute aber interessierte mich vor allem, was er in der Hand hielt: einen kleinen Bogen mit mehreren Pfeilen. Ich ging langsam auf ihn zu, und o Wunder, er rannte nicht weg und fing auch nicht an zu weinen, wie die meisten anderen Kinder es getan hätten. Als ich dann vor ihm stand, streckte ich meine Hand nach dem Bogen aus. Zu meiner Freude gab er ihn mir sofort.

Christian sah das und gesellte sich zu uns, und gemeinsam untersuchten wir dieses handwerkliche Meisterwerk. Nach einigen Minuten wollte ich dem Fayu-Jungen Pfeile und Bogen zurückgeben. Aber er schüttelte nur den Kopf und schob mir alles wieder zu. Christian verstand als Erster, dass er es mir schenken wollte – und ich war überglücklich. Mit Handzeichen gab ich dem Fayu-Jungen zu verstehen, er solle kurz warten. Ich rannte ins Haus und kippte meinen Rucksack auf dem Bett aus, auf der Suche nach einer Gegengabe. Da sah ich einen kleinen roten Spiegel, den ich in der Hauptstadt Jayapura geschenkt bekommen hatte. Zufrieden sauste ich wieder nach draußen und reichte ihn dem Jungen.

Mit solch einer Reaktion aber hatten wir nicht gerechnet: Als der Junge sich selbst im Spiegel sah, schrie er auf und ließ ihn sofort fallen. Wir lachten, und Christian hob das kleine Ding vom Boden auf und zeigte dem erschrockenen Jungen sein eigenes Spiegelbild. Dann hielt er den Spiegel wieder dem Jungen entgegen. Inzwischen hatten sich auch andere Fayu genähert, um zu sehen, was vorging.

Der Junge nahm den Spiegel vorsichtig zurück. Seine Augen wurden immer größer. Er bewegte seinen Kopf hin und her, schnitt Grimassen, berührte sein eigenes gespiegeltes Ich mit den Fingern. Bald entstand große Aufregung unter den versammelten Fayu: Alle wollten einmal ihr Gesicht betrachten. Christian und ich amüsierten uns köstlich bei dem Anblick und konnten damals noch nicht nachfühlen, wie es sein musste, zum ersten Mal im Leben das eigene Spiegelbild zu sehen. Wir verließen die Menschenmenge, um uns Interessanterem zu widmen: dem neuen Pfeil und Bogen.

Nach einiger Zeit kam der Fayu-Junge, der den Spiegel wie eine Trophäe in seiner Hand hielt, wieder auf uns zu. Er zeigte mit dem Finger auf sich selbst und sagte: »Tuare.«

Ich zeigte auf mich und sagte: »Sabine.«

Er wiederholte meinen Namen mühelos.