Duddits - Dreamcatcher - Stephen King - E-Book
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Duddits - Dreamcatcher E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Vier Männer planen einen harmlosen Jagdausflug in die Wälder von Maine, der schließlich in einer bizarren tödlichen Bedrohung endet. Kann ihr alter Freund Duddits mit seinen telepathischen Fähigkeiten sie aus dem nicht enden wollenden Albtraum retten?

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Seitenzahl: 1136

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Das Buch

Wie jedes Jahr im Herbst brechen die vier Freunde Pete, Henry, Jonesy und Biber zu ihrem gemeinsamen Jagdausflug in die Wälder von Maine auf. Wenn sie nur gewusst hätten, dass nach ihrem Trip nichts mehr so sein würde wie vorher … Denn kurz nachdem sie in ihrer Jagdhütte angekommen sind, läuft ihnen der Jäger Richard McCarthy über den Weg, der ziellos durch die Gegend irrt. Alles an ihm ist merkwürdig: er wirkt eigenartig verwirrt, benimmt sich wie ein kleines Kind und leidet zugleich unter qualvollen Schmerzen. Als Richard sich dann im Bad einschließt und von dort unmenschliche Laute nach außen dringen, brechen die vier Freunde die Tür auf und blicken dem Grauen ins Gesicht. Außer sich vor Entsetzen wollen sie fliehen – aber das Militär hat die gesamte Region unter Quarantäne gestellt. In der Jagdhütte eingeschlossen, müssen sich die Freunde nun einer tödlichen Bedrohung stellen, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint – doch da fällt ihnen Duddits ein, ihr alter Freund mit seinen hellseherischen Fähigkeiten …

Der Autor

Stephen King, geboren 1947, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Er hat weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft und erhielt den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk.

DUDDITS

»DREAMCATCHER«

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Jochen Schwarzer

Wilhelm Heyne Verlag

München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe DREAMCATCHER erschien 2001 bei Scribner, New York

Copyright © 2001 by Stephen King Copyright © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München Copyright © 2013 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie

Covermotiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (RMMPPhotography, KatrinkaG)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-12317-8V004

www.heyne.de

Für

Susan Moldow und

Nan Graham

Zunächst: die Nachrichten

Aus dem East Oregonian, 25. Juni 1947:

FEUERLEITOFFIZIER SIEHT »FLIEGENDE UNTERTASSEN«

Kenneth Arnold meldet 9 scheibenförmige Objekte

»Silbrig schimmernd, flogen unglaublich schnell«

Aus dem Daily Record, Roswell, 8. Juli 1947:

LUFTWAFFE FINDET »FLIEGENDE UNTERTASSE« AUF RANCH IM BEZIRK ROSWELL

Geheimdienst birgt abgestürzte Scheibe

Aus dem Daily Record, Roswell, 9. Juli 1947:

»UNTERTASSE« LAUT LUFTWAFFE

EIN WETTERBALLON

Aus der Chicago Tribune, 1. August 1947:

LUFTWAFFE KANN SICH ARNOLDS SICHTUNG »NICHT ERKLÄREN«

850 weitere Sichtungen seit erster Meldung

Aus dem Daily Record, Roswell, 19. Oktober 1947:

ANGEBLICHER »WEIZEN AUS DEM WELTALL« BETRUG, BEHAUPTET WÜTENDER FARMER

Andrew Hoxon bestreitet

»außerirdischen Zusammenhang«

Rot gefärbter Weizen »nur ein Ulk«, erklärt er

Aus dem Courier-Journal (Kentucky), 8. Januar 1948:

AIR-FORCE-CAPTAIN BEI JAGD NACH UFO UMGEKOMMEN

Mantells letzter Funkspruch: »Metallisch, riesengroß«

Luftwaffe: »Kein Kommentar«

Aus dem Nacional, Brasilien, 8. März 1957:

FREMDES RINGFÖRMIGES FLUGOBJEKT IN MATO GROSSO ABGESTÜRZT!

BEIPONTOPORAN 2 FRAUENBEDROHT!

»Wir hörten es darin kreischen«, berichten sie

Aus dem Nacional, Brasilien, 12. März 1957:

HORROR IN MATO GROSSO!

Berichte über graue Männer mit schwarzen Riesenaugen

Wissenschaftler spotten! Immer neue Berichte!

DÖRFERINANGSTUNDSCHRECKEN!

Aus dem Oklahoman, 12. Mai 1965:

POLIZIST SCHIESST AUF UFO

Fliegende Untertasse schwebte angeblich 15 Meter über dem Highway 9

Radar der Luftwaffenbasis Tinker bestätigt Sichtungen

Aus dem Oklahoman, 2. Juni 1965:

»AUSSERIRDISCHE PFLANZEN«

EIN SCHÜLERSTREICH, ERKLÄRT VERTRETER DER LANDWIRTSCHAFTSBEHÖRDE

»Rotes Kraut« angeblich Werk aus der Sprühpistole

Aus dem Press-Herald, Portland (Maine), 14. September 1965:

IMMER MEHR UFO-SICHTUNGEN IN NEW HAMPSHIRE

Die meisten Sichtungen in der Gegend um Exeter

Anwohner äußern Angst vor Invasion aus dem All

Aus dem Union-Leader, Manchester (New Hampshire), 19. September 1965:

RIESIGES OBJEKT, DAS NAHE EXETER GESICHTET WURDE, WAR

OPTISCHE TÄUSCHUNG

Ermittler der Luftwaffe widerlegen

Sichtung der State Police

Officer Cleland beharrt:

»Ich weiß, was ich gesehen habe«

Aus dem Union-Leader, Manchester (New Hampshire), 30. September 1965:

EPIDEMISCHE LEBENSMITTELVERGIFTUNGEN IN PLAISTOW WEITER UNGEKLÄRT

Über 300 Opfer, die meisten auf dem Wege der Besserung

FDA: Vergiftete Brunnen möglicherweise

die Ursache

Aus dem Michigan Journal, 9. Oktober 1965:

GERALD FORD FORDERT UFO-ERMITTLUNG

Republikanischer Oppositionsführer sagt,

»Michigan-Lichter« könnten

außerirdischen Ursprungs sein

Aus der Los Angeles Times, 19. November 1978:

CALTECH-FORSCHER SAHEN

RIESIGES SCHEIBENFÖRMIGES OBJEKT

ÜBER MOJAWE-WÜSTE

Tickman: »War von kleinen hellen Lichtern umgeben«

Morales: »Rote Fasern wie Engelshaar«

Aus der Los Angeles Times, 24. November 1978:

ERMITTLER VON STATE POLICE UND

LUFTWAFFE FINDEN KEIN

»ENGELSHAAR« IN MOJAWE-WÜSTE

Tickman und Morales bestehen Lügendetektortest

Betrug kaum möglich

Aus der New York Times, 16. August 1980:

WEITERHIN DAVON ÜBERZEUGT,

DASS SIE VON AUSSERIRDISCHEN

ENTFÜHRT WURDEN

Psychologen stellen Zeichnungen

sogenannter »Grauer Männer« infrage

Aus dem Wall Street Journal, 9. Februar 1985:

CARL SAGAN: »WIR SIND NICHT ALLEIN«

Prominenter Wissenschaftler bestätigt Glaube an Außerirdische

»Höchstwahrscheinlich gibt es

intelligente Lebensformen«

Aus der Sun, Phoenix, 14. März 1997:

RIESIGES UFO NAHE PRESCOTT GESICHTET

DUTZENDEZEUGENBERICHTEN

VON »BUMERANGFÖRMIGEM« FLUGOBJEKT

Telefonzentrale der Luftwaffenbasis

Luke mit Meldungen überhäuft

Aus der Sun, Phoenix, 20. März 1997:

»PHOENIX-LICHTER«

WEITERHIN UNGEKLÄRT

Fotos nach Expertenmeinung nicht manipuliert

Luftwaffenermittler schweigen

Aus dem Paulden Weekly (Arizona), 9. April 1997:

RÄTSELHAFTE LEBENSMITTELVERGIFTUNG

BERICHTE ÜBER »ROTES GRAS«

ALS SCHERZ ABGETAN

Aus den Daily News, Derry (Maine), 15. Mai 2000:

WIEDER BERICHTE ÜBER GEHEIMNISVOLLE LICHTER IN JEFFERSON TRACT

Bürgermeister von Kineo: »Ich weiß nicht, was es ist. Es kommt immer wieder.«

SSAT

Das wurde ihr Motto, und Jonesy wusste beim besten Willen nicht mehr, wer das aufgebracht hatte. Rache ist Blutwurst– das war von ihm. Arschkrass und Kackorama und ein halbes Dutzend ähnlicher Obszönitäten stammten von Biber. Henry hatte ihnen beigebracht Es kommt alles, wie es kommen muss zu sagen; auf solchen Zen-Quatsch stand Henry schon, als sie noch Kinder waren. Aber SSAT – was war mit SSAT? Wer hatte sich das ausgedacht?

Na, egal. Es zählte nur, dass sie die erste Hälfte davon glaubten, als sie zu viert waren, dass sie es ganz glaubten, als sie zu fünft waren, und dann die zweite Hälfte, als sie wieder zu viert waren.

Als sie wieder nur zu viert waren, wurden die Tage düsterer. Es kamen mehr arschkrasser Kackorama-Tage. Sie wussten das, nur nicht, warum. Sie wussten, dass etwas mit ihnen nicht stimmte – dass zumindest etwas anders war als früher –, wussten aber nicht, was. Sie wussten, sie waren gefangen, wussten aber nicht, inwiefern. Und das alles lange vor den Lichtern am Himmel. Vor McCarthy und Becky Shue.

SSAT: Manchmal sagt man das nur so dahin. Und manchmal glaubt man nur noch an die Dunkelheit. Und wie soll man dann weitermachen?

1988: Selbst Biber kriegt den Blues

Wer sagt, Bibers Ehe hätte nicht funktioniert, der könnte auch behaupten, beim Start der Raumfähre Challenger sei ein klein bisschen was schiefgelaufen. Joe »Biber« Clarendon und Laurie Sue Kenopensky schaffen es acht Monate lang, und dann: Rums! Und ab dafür! Und kann mir mal einer helfen, die Scherben einzusammeln?

Der Biber ist im Grunde ein fröhlicher Typ, das würde einem jeder seiner Kneipenkumpels bestätigen, aber er macht gerade eine schwere Zeit durch. Er trifft seine alten Freunde nicht mehr (seine wahren Freunde, wie er meint), nur noch in der einen Woche im November, die sie alljährlich zusammen verbringen; und im vergangenen November war er noch mit Laurie Sue zusammen gewesen. Nur gerade mal so, klar, aber immerhin zusammen. Jetzt verbringt er viel Zeit – zu viel Zeit, das weiß er – in den Kneipen am alten Hafen von Portland, im Porthole und Seaman’s Club und Free Street Pub. Er trinkt zu viel und kifft zu viel, und morgens mag er sich im Badezimmerspiegel meistens nicht sehen; seine rot geränderten Augen weichen dem Spiegelbild aus, und er sagt sich: Ich muss mit den Klubs Schluss machen. Bald hab ich genauso ein Problem wie Pete. Heilige Filzlaus!

Hör mit den Klubs auf, keine durchzechten Nächte mehr, echt ’ne super Idee, und dann zieht er doch wieder los, knutsch mir die Kimme, wie geht’s denn so? An diesem Donnerstag ist er im Free Street, und Mann, wenn das kein Bier ist da in seiner Hand und kein Joint in seiner Tasche, und irgendein altes Instrumentalstück, das ein bisschen nach den Ventures klingt, kommt aus der Jukebox. Er kann sich an den Titel des Stücks nicht recht erinnern. Das war vor seiner Zeit. Aber er kennt es durchaus; seit seiner Scheidung hört er oft die Oldiesender von Portland. Oldies sind so schön beruhigend. Das meiste neue Zeug … Laurie Sue kannte und mochte das fast alles, aber für Biber ist das nichts.

Im Free Street ist nicht viel los, vielleicht ein halbes Dutzend Typen am Tresen und noch ein halbes Dutzend, die hinten Pool spielen. Biber hockt mit drei Kumpels in einer Sitznische. Sie trinken Miller vom Fass und spielen mit einem siffigen Blatt Abheben, um zu bestimmen, wer die nächste Runde zahlt. Wie heißt dieses Instrumental noch, mit den schwubbernden Gitarren? Out of Limits von den Mar-Kets? Telstar? Nee, da ist ein Synthesizer dabei und hier nicht. Ist ja auch scheißegal. Die anderen unterhalten sich über Jackson Browne, der am Vorabend im Civic Center aufgetreten ist und, laut George Pelsen, der dabei war, eine mordsmäßig geile Bühnenshow hingelegt hat.

»Und jetzt erzähle ich euch noch was mordsmäßig Geiles«, sagt George und schaut sie dabei vielversprechend an. Er hebt sein fliehendes Kinn und deutet auf einen roten Fleck seitlich an seinem Hals. »Wisst ihr, was das ist?«

»Ein Knutschfleck, oder?«, fragt Kent Astor ein wenig schüchtern.

»Gut erkannt!«, sagt George. »Nach dem Konzert stand ich mit ’n paar anderen Typen hinten am Bühneneingang und wollte ein Autogramm von Jackson. Oder vielleicht auch von David Lindley. Der ist cool.«

Kent und Sean Robideau pflichten bei, dass Lindley cool sei – zwar auf keinen Fall ein Gitarrengott (Mark Knopfler von Dire Straits ist ein Gitarrengott, und Angus Young von AC/DC, und – natürlich – Clapton), aber trotzdem doch schon sehr cool. Lindley hat geile Riffs drauf, und dann hat er auch noch diese Wahnsinnsdreads. Bis auf die Schultern.

Biber mischt sich nicht ins Gespräch ein. Ganz plötzlich will er hier raus, weg aus dieser muffigen Kneipe, wo sich alles ewig nur im Kreise dreht, und ein bisschen frische Luft schnappen. Er weiß, worauf George hinauswill, und es ist alles gelogen.

Sie hieß nicht Chantay, du kennst ihren Namen gar nicht, und sie ist einfach an dir vorbeigerauscht, du warst Luft für sie, was wärst du auch sonst für so ein Mädchen, doch nur noch so ein langhaariger Proll aus noch so einer Prollstadt in Neuengland, sie ist in den Bandbus geflitzt und aus deinem Leben verschwunden, aus deinem beschissenen, uninteressanten Leben. The Chantays ist der Name der Band, die wir gerade hören, nicht die Mar-Kets oder BarKays, nein, die Chantays; das ist »Pipeline« von den Chantays, und das Ding an deinem Hals da ist kein Knutschfleck, sondern Rasierbrand.

Das denkt er, und dann hört er jemand weinen. Nicht in der Kneipe, sondern in der Erinnerung. Lange zurückliegendes Weinen. Es dringt ihm direkt in den Kopf, dieses Weinen, marternd wie Glassplitter, und Scheiße noch eins, das ist ja arschkrass, sorg doch mal einer dafür, dass der aufhört zu weinen!

Ich war es, der ihn getröstet hat, denkt Biber. Ich war das. Ich war der, bei dem er aufgehört hat zu weinen. Ich habe ihn in die Arme genommen und ihm was vorgesungen.

Währenddessen erzählt George Pelsen, wie die Tür des Bühneneingangs endlich aufging und dann weder Jackson Browne noch David Lindley herauskam, sondern die drei Sängerinnen. Eine hieß Randi, eine Susi und eine Chantay. Scharfe Weiber, echt zum Anbeißen.

»Mann«, sagt Sean und verdreht die Augen. Er ist ein rundlicher, kleiner Typ, dessen sexuelle Abenteuer aus gelegentlichen Expeditionen nach Boston bestehen, wo er dann im Foxy Lady die Stripperinnen und im Hooters die Kellnerinnen begafft. »O Mann, Chantay.« Er deutet Wichsbewegungen an. Zumindest dabei, findet Biber, sieht er wie ein Profi aus.

»Ich hab also mit denen gequatscht … na, größtenteils mit Chantay, und hab sie gefragt, ob sie nicht ein wenig das Nachtleben von Portland kennenlernen möchte. Und dann …«

Der Biber zieht einen Zahnstocher aus der Tasche, steckt ihn sich in den Mund und blendet alles andere aus. Ganz plötzlich ist der Zahnstocher das Einzige, was er will. Nicht das Bier vor ihm, nicht der Joint in seiner Tasche und ganz bestimmt nicht George Pelsens Geschwafel, wie er es mit dieser Chantay aus dem Märchenland hinten auf seinem Pick-up getrieben hat, Gott sei gedankt für die Wohnkabine, wenn Georgie-Boy die Ramme schwingt, die Alte gleich Juchheißa singt.

Alles heiße Luft, denkt Biber, und mit einem Mal ist er fürchterlich deprimiert, noch deprimierter als damals, als Laurie Sue ihre Sachen packte und zurück zu ihrer Mutter zog. Das passt überhaupt nicht zu ihm, und plötzlich will er nur noch raus hier, will sich die Lunge vollsaugen mit der kühlen, salzigen Seeluft und ein Telefon finden. Das will er tun, und dann will er Jonesy oder Henry anrufen, ganz egal, einen von beiden; er will sagen: He, Mann, wie läuft’s denn, und hören, wie einer von ihnen erwidert: Ach, weißt du, Biber, SSAT. Kein Prall, kein Spiel.

Er steht auf.

»He, Mann«, sagt George. Biber ist mit George aufs Westbrook Junior College gegangen, und damals war er cool gewesen, aber das war nun viele, viele Biere her. »Wo willst du hin?«

»Pissen«, sagt Biber und dreht sich den Zahnstocher vom einen Mundwinkel in den anderen.

»Na, dann mach aber schnell; gleich kommt das Beste«, sagt George, und Biber denkt: String-Tanga. O Mann, heute sind diese alten, schrägen Vibrations aber stark, liegt vielleicht am Luftdruck oder so.

Mit gesenkter Stimme sagt George: »Als ich ihren Rock hochschob …«

»Ich weiß: hatte sie einen String-Tanga an«, sagt Biber. Er bemerkt den verblüfften, fast entsetzten Blick in Georges Augen, geht aber nicht darauf ein. »Also das will ich unbedingt hören.«

Er geht am Männerklo vorbei, mit dem gelb-rosa Gestank nach Pisse und Spülsteinen, geht an der Damentoilette vorbei, der Tür mit der Aufschrift Büro und hinaus in die Gasse. Es ist bedeckt und regnerisch, aber die Luft tut gut. Sehr gut. Er holt tief Luft und denkt wieder: Kein Prall, kein Spiel. Er grinst ein wenig.

Er geht zehn Minuten, kaut an seinem Zahnstocher und bekommt allmählich einen klaren Kopf. Irgendwann, wann genau, weiß er hinterher nicht mehr, wirft er den Joint weg, den er in der Tasche hatte. Und dann ruft er Henry vom Münzfernsprecher in Joe’s Smoke Shop aus an, drüben am Monument Square. Er rechnet mit dem Anrufbeantworter – Henry ist noch in der Uni, macht gerade Examen –, aber Henry ist tatsächlich zu Hause und nimmt nach dem zweiten Läuten ab.

»Wie geht’s dir, Mann?«, fragt Biber.

»Ach, weißt du«, sagt Henry. »Selbe Scheiße, anderer Tag. Und dir, Biber?«

Biber schließt die Augen. Für einen Moment ist wieder alles gut; so gut jedenfalls, wie es in so einer Kackwelt sein kann.

»Genauso, Alter«, erwidert er. »Genauso.«

1993: Pete hilft einer Dame aus der Patsche

Pete sitzt an seinem Schreibtisch hinter dem Ausstellungsraum von Macdonald Motors in Bridgton und zwirbelt an seiner Schlüsselkette herum. Der Anhänger besteht aus vier Buchstaben aus blauem Email: NASA.

Träume altern schneller als Träumer – das hat Pete im Laufe der Jahre feststellen müssen. Doch die letzten Träume sind oft erstaunlich hartnäckig, melden sich immer wieder mit leisen, jämmerlichen Stimmen aus dem Hinterkopf. Es ist lange her, dass Pete in einem Zimmer schlief, dessen Wände mit Bildern von Apollo- und Saturn-Raketen gepflastert waren, von Astronauten und Weltraumspaziergängen (EVAs für Eingeweihte), von Raumkapseln, deren Schutzschild in der sagenhaften Wiedereintrittshitze fast geschmolzen wäre, von Mondautos und Voyager-Sonden und mit dem Foto einer schimmernden Scheibe über dem Interstate Highway 80 – die Leute stehen auf dem Standstreifen und schauen mit der Hand über den Augen zu ihr hoch, und unter dem Bild stand: dieses objekt, 1971 in der nähe von arvada, colorado, fotografiert, ist nie erklärt worden. es ist ein echtes ufo.

Verdammt lange her.

Doch trotzdem hat er eine seiner zwei Wochen Urlaub dieses Jahr in Washington DC verbracht, ist dort jeden Tag ins Smithsonian Institute gegangen und mit einem verwunderten Lächeln auf den Lippen durch die Raumfahrtausstellung gewandert. Und lange stand er vor dem Mondgestein und dachte: Diese Steine kommen von einem Ort, wo der Himmel immer schwarz ist und die Stille ewig währt. NeilArmstrong und Buzz Aldrin haben zwanzig Kilo einer anderen Welt mitgebracht, und jetzt ist es hier.

Und da ist er jetzt und sitzt an seinem Schreibtisch, an einem Tag, an dem er noch kein einziges Auto verkauft hat (die Leute kaufen ungern Autos, wenn es regnet, und in Petes Weltgegend nieselt es seit dem Morgengrauen), zwirbelt an seinem NASA-Schlüsselanhänger herum und schaut hinauf zur Uhr. Die Zeit vergeht nachmittags langsam, und umso langsamer, je mehr es auf fünf Uhr zugeht. Um fünf ist es dann Zeit für das erste Bier. Nicht vor fünf, das auf keinen Fall. Wenn man tagsüber trinkt, muss man aufpassen, dass man nicht überhaupt zu viel trinkt, denn so was machen nur Alkoholiker. Wenn man aber warten kann … einfach am Schlüsselanhänger herumzwirbeln und warten …

Ebenso wie auf das erste Bier des Tages freut sich Pete auf den November. Es ist zwar schön gewesen, im April nach Washington zu reisen, und das Mondgestein hatte ihn sprachlos gemacht (er findet es immer noch überwältigend, wenn er daran denkt), aber er war allein gewesen. Es war nicht schön, allein zu sein. Im November, wenn er seine zweite Woche Urlaub nimmt, wird er mit Henry und Jonesy und dem Biber zusammen sein. Dann wird er es sich gestatten, tagsüber zu trinken. Wenn man im Wald ist und mit seinen Freunden auf der Jagd, spricht nichts dagegen, tagsüber zu trinken. Das gehört praktisch dazu. Das ist –

Die Tür geht auf, und eine attraktive Rothaarige kommt herein. Knapp ein Meter siebenundsiebzig groß (Pete steht auf große Frauen) und etwa dreißig Jahre alt. Sie lässt den Blick kurz über die ausgestellten Autos schweifen (der neue Thunderbird in dunklem Burgunderrot ist das Prachtstück, aber der Explorer ist auch nicht schlecht), aber nicht so, als hätte sie irgendein Kaufinteresse. Dann entdeckt sie Pete und geht auf ihn zu.

Pete steht auf, wirft den NASA-Schlüsselanhänger auf seine Schreibtischunterlage und kommt ihr bis zur Tür seines Büros entgegen. Mittlerweile hat er sein bestes Verkäuferlächeln aufgesetzt – zweihundert Watt, Baby, kannste glauben – und streckt ihr die Hand entgegen. Ihre Hand fühlt sich kühl an, und sie greift fest zu, ist aber nicht ganz bei der Sache.

»Das geht wahrscheinlich sowieso nicht«, sagt sie.

»Also, so sollten Sie einen Autoverkäufer nicht ansprechen«, sagt er. »Wir lieben Herausforderungen. Mein Name ist Pete Moore.«

»Hallo«, sagt sie, nennt ihren Namen aber nicht, der Trish lautet. »Ich habe in Fryeburg einen Termin in genau …« Sie schaut auf die Uhr, die Pete während des so langsam verrinnenden Nachmittags genau beobachtet. »… in genau fünfundvierzig Minuten. Mit einem Kunden, der ein Haus kaufen möchte. Ich glaube, ich habe genau das Richtige für ihn, und es geht um eine beträchtliche Provision, und …« Jetzt ist sie den Tränen nah und muss schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden. »Und ich habe meine verdammten Schlüssel verloren! Meine verdammten Autoschlüssel!«

Sie macht ihre Handtasche auf und wühlt darin herum.

»Aber ich habe die Zulassung … und noch ein paar andere Papiere … Da stehen alle möglichen Nummern drin, und ich dachte, vielleicht könnten Sie mir neue Schlüssel machen, damit ich los kann. Das ist für mich wahrscheinlich das Geschäft des Jahres, Mr. …« Sie hat seinen Namen vergessen. Er ist nicht beleidigt. Moore ist fast so gewöhnlich wie Smith oder Jones. Und außerdem ist sie aufgeregt. So ist man, wenn man seine Schlüssel verloren hat. Er hat das oft genug miterlebt.

»Moore. Aber ich höre genauso gut auf Pete.«

»Können Sie mir helfen, Mr. Moore? Oder kann mir in Ihrer Werkstatt jemand helfen?«

Der alte Johnny Damon ist in der Werkstatt, und der würde ihr bestimmt gern helfen, aber ihren Termin in Fryeburg könnte sie dann vergessen, das ist mal klar.

»Wir können Ihnen neue Autoschlüssel besorgen, aber das dauert mindestens vierundzwanzig Stunden und wahrscheinlich eher achtundvierzig«, sagt er.

Sie schaut ihn aus Augen an, die in Tränen schwimmen, samtbraunen Augen, und stößt einen bestürzten Schrei aus. »Mist! Mist!«

Da kommt Pete ein merkwürdiger Gedanke: Sie sieht aus wie ein Mädchen, das er vor langer Zeit gekannt hat. Nicht sehr gut, sie hatten sie nicht sehr gut gekannt, aber gut genug, um ihr das Leben zu retten. Josie Rinkenhauer hatte sie geheißen.

»Ich wusste es!«, sagt Trish und gibt sich keine Mühe mehr, das heisere Beben ihrer Stimme zu zügeln. »O Mann, ich hab’s einfach gewusst!« Sie wendet sich von ihm ab und bricht in Tränen aus.

Pete geht ihr nach und nimmt sie sacht an der Schulter. »Warten Sie, Trish. Nur einen Augenblick.«

Es ist ein Patzer, ihren Namen auszusprechen, den sie ihm gar nicht genannt hat, aber sie ist zu außer sich, um zu bemerken, dass sie sich einander gar nicht richtig vorgestellt haben, und insofern ist es nicht so schlimm.

»Wo kommen Sie her?«, fragt er. »Ich meine, Sie sind doch nicht aus Bridgton, oder?«

»Nein«, sagt sie. »Unser Büro ist in Westbrook. Dennison Real Estate. Wir sind die mit dem Leuchtturm.«

Pete nickt, als würde ihm das irgendwas sagen.

»Von da komme ich. Ich habe hier nur kurz an der Apotheke gehalten, um Aspirin zu kaufen, weil ich vor so einer großen Präsentation immer Kopfschmerzen bekomme … Das ist der Stress, und Junge, Junge, das pocht wie mit einem Hammer …«

Pete nickt mitfühlend. Mit Kopfschmerzen kennt er sich aus. Seine werden natürlich meist eher durch Bier als durch Stress ausgelöst, aber trotzdem.

»Ich hatte noch etwas Zeit, also habe ich in dem kleinen Laden nebenan noch schnell einen Kaffee getrunken … Das Koffein, wissen Sie, wenn man Kopfschmerzen hat, hilft Koffein manchmal …«

Pete nickt wieder. Henry ist bei ihnen zwar der Seelenklempner, aber wie Pete ihm mehr als einmal gesagt hat, muss man schon eine ganze Menge von der Funktionsweise des menschlichen Hirns verstehen, will man es als Verkäufer zu etwas bringen. Es freut ihn zu sehen, dass sich seine neue Freundin ein wenig beruhigt. Das ist gut so. Er hat so ein Gefühl, dass er ihr helfen kann, wenn sie ihn nur lässt. Er spürt, dass es gleich leise Klick machen wird. Er mag diesen leisen Klick. Es ist nichts Großartiges und wird ihn nie reich machen, aber er mag es.

»Und dann bin ich noch über die Straße zu Renny’s gegangen. Ich habe mir ein Kopftuch gekauft … weil es doch regnet, verstehen Sie …« Sie berührt ihr Haar. »Dann bin ich zurück zu meinem Auto … und da waren meine verdammten Autoschlüssel weg! Ich bin meinen Weg zurückgegangen … bin von Renny’s in den Laden und die Apotheke, aber sie waren nirgendwo! Und jetzt verpasse ich meinen Termin!«

Verzweiflung schleicht sich wieder in ihre Stimme. Erneut schaut sie hoch zur Uhr. Für ihn kriechen die Zeiger, für sie rasen sie. Das ist der Unterschied zwischen Menschen, denkt Pete. Na ja, ein Unterschied.

»Beruhigen Sie sich«, sagt er. »Beruhigen Sie sich nur ganz kurz, und hören Sie mir zu. Wir gehen jetzt zurück in die Apotheke, Sie und ich, und suchen Ihre Autoschlüssel.«

»Da sind sie nicht! Ich habe überall auf dem Boden nachgesehen und auf dem Bord, von dem ich das Aspirin genommen habe. Ich habe die Verkäuferin gefragt …«

»Es schadet nicht, noch mal nachzusehen«, sagt er. Er führt sie jetzt zur Tür, eine Hand sacht auf ihr Kreuz gelegt. Er mag den Duft ihres Parfüms, und ihr Haar gefällt ihm sogar noch besser, o ja. Wenn es an einem regnerischen Tag schon so hübsch aussieht, wie sieht es dann erst aus, wenn die Sonne scheint?

»Mein Termin …«

»Sie haben noch vierzig Minuten«, sagt er. »Die Sommertouristen sind weg, und die Straßen sind frei. Die Fahrt nach Fryeburg dauert nur zwanzig Minuten. Wir versuchen zehn Minuten lang, Ihre Schlüssel zu finden, und wenn wir sie nicht finden, fahre ich Sie hin.«

Sie schaut ihn unsicher an.

Er schaut an ihr vorbei in eines der Büros. »Dick!«, ruft er. »He! Dickie M.!«

Dick Macdonald schaut von einem Stoß Rechnungen und Lieferscheine hoch.

»Sag dieser Dame, dass sie ruhig mit mir nach Fryeburg fahren kann, falls es nötig ist.«

»Oh, da können Sie ganz beruhigt sein, Ma’am«, sagt Dick. »Der ist kein Triebtäter oder Raser. Er wird nur versuchen, Ihnen ein neues Auto zu verkaufen.«

»Da beißt er bei mir auf Granit«, sagt sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Also gut, einverstanden.«

»Geh für mich ans Telefon, Dick, ja?«, bittet ihn Pete.

»Na, dann komm ich ja zu sonst nichts mehr. Bei dem Wetter werd ich die Kundschaft mit einem Stock vom Hof scheuchen müssen.«

Pete und die rothaarige Frau – Trish – gehen hinaus, über die Einfahrt und die paar Schritte zurück zur Hauptstraße. Die Bridgton-Apotheke ist das zweite Gebäude links. Das Nieseln ist nun in einen feinen Regen übergegangen. Die Frau bindet sich ihr neues Kopftuch um und schaut Pete kurz an, der keine Kopfbedeckung trägt. »Sie werden ja klitschnass«, sagt sie.

»Ich komme aus dem Norden«, sagt er. »Jungs aus dem Norden sind nicht aus Zucker.«

»Und Sie meinen, Sie können sie finden?«, fragt sie.

Pete zuckt mit den Achseln. »Vielleicht. Ich kann gut Dinge finden. Konnte ich immer schon.«

»Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?«, fragt sie.

Kein Prall, kein Spiel, denkt er. Das weiß ich durchaus, Ma’am.

»Nein«, sagt er. »Noch nicht.«

Sie betreten die Apotheke, und das Glöckchen über der Tür schellt. Das Mädchen hinter dem Tresen schaut von einer Zeitschrift hoch. Um zwanzig nach drei an diesem regnerischen Septembernachmittag sind die drei in der Apotheke allein, abgesehen von Mr. Yates hinter dem Tresen für verschreibungspflichtige Medikamente.

»Hi, Pete«, sagt die Verkäuferin.

»Hi, Cathy, wie läuft’s denn so?«

»Na ja, eher lau.« Sie schaut die Rothaarige an. »Tut mir leid, Ma’am. Ich habe noch mal überall nachgesehen, aber ich habe sie nicht gefunden.«

»Schon gut«, sagt Trish matt lächelnd. »Dieser Gentleman hat angeboten, mich zu meinem Termin zu fahren.«

»Also, Pete ist schon ganz in Ordnung«, sagt Cathy. »Aber ich würde nicht so weit gehen, ihn als Gentleman zu bezeichnen.«

»Pass auf, was du sagst, Kleine«, sagt Pete mit einem Grinsen. »In Naples gibt’s am 302 auch eine Apotheke.« Dann schaut er hoch zur Uhr. Auch für ihn vergeht die Zeit jetzt schneller. Zur Abwechslung ist das mal ganz nett.

Pete sieht wieder die Rothaarige an. »Zuerst sind Sie hier reingegangen. Sie wollten Aspirin kaufen.«

»Stimmt. Ich habe eine Flasche Kopfschmerztabletten gekauft. Dann hatte ich noch etwas Zeit, und …«

»Ich weiß: Sie haben nebenan bei Christie’s einen Kaffee getrunken und waren dann gegenüber bei Renny’s.«

»Ja.«

»Sie haben das Aspirin doch nicht etwa mit heißem Kaffee eingenommen, oder?«

»Nein, ich hatte eine Flasche Mineralwasser im Wagen.« Sie zeigt aus dem Fenster auf einen grünen Taurus. »Damit habe ich sie eingenommen. Aber ich habe auch unter dem Sitz nachgesehen, Mr. … Pete. Ich habe auch im Zündschloss nachgesehen.« Sie wirft ihm einen ungeduldigen Blick zu, der besagt: Ich weiß, was Sie denken: So blöde kann sich nur eine Frau anstellen.

»Nur eine Frage noch«, sagt er. »Wenn ich Ihre Autoschlüssel finde, gehen Sie dann heute Abend mit mir essen? Wir könnten uns im West Wharf treffen. Das ist an der Straße nach …«

»Ich kenne das West Wharf«, sagt sie trotz ihrer zunehmenden Verzweiflung amüsiert. Cathy am Tresen tut nicht mal mehr so, als würde sie ihre Zeitschrift lesen. Das ist viel besser als Redbook. »Woher wissen Sie denn, dass ich nicht verheiratet bin oder so?«

»Sie tragen keinen Ehering«, erwidert er prompt, obwohl er ihre Hände noch gar nicht angeschaut hat, jedenfalls nicht genau. »Und außerdem dachte ich auch mehr an gedämpfte Venusmuscheln mit Krautsalat und Erdbeertörtchen zum Nachtisch als an einen Bund fürs Leben.«

Sie schaut auf die Uhr. »Pete … Mr. Moore … Es tut mir leid, aber ich habe gegenwärtig überhaupt kein Interesse an einem Flirt. Wenn Sie mich fahren, gehe ich sehr gern mit Ihnen essen. Aber …«

»Mehr verlange ich gar nicht«, sagt er. »Aber Sie werden mit Ihrem eigenen Wagen fahren, glaube ich, und deshalb sollten wir uns verabreden. Wäre Ihnen halb sechs recht?«

»Ja, gut, aber …«

»Okay.« Pete ist glücklich. Das ist schön. Es ist schön, glücklich zu sein. An vielen Tagen der vergangenen paar Jahre war er nicht einmal in Rufweite des Glücks, und er weiß nicht, woran das liegt. Zu viele versumpfte Nächte in den Kneipen am Highway 302, von hier bis North Conway? Na gut, aber ist das alles? Vielleicht nicht, aber jetzt ist auch nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Die Dame hat einen Termin einzuhalten. Wenn sie pünktlich kommt und das Haus verkauft – wer weiß, was Pete Moore dann noch alles bevorsteht? Und selbst wenn nicht, wird er ihr doch helfen können. Das spürt er.

»Ich werde jetzt etwas Seltsames tun«, sagt er. »Lassen Sie sich davon nicht beunruhigen, ja? Das ist nur ein kleiner Trick, so wie man sich einen Finger unter die Nase hält, um ein Niesen aufzuhalten, oder sich an die Stirn klopft, wenn man sich an einen Namen erinnern will. Okay?«

»Klar«, sagt sie, völlig baff.

Pete schließt die Augen, hebt sich seine lose geballte Faust vors Gesicht und streckt dann den Zeigefinger aus. Er bewegt ihn vor und zurück.

Trish schaut zu Cathy, der Verkäuferin, hinüber. Cathy zuckt mit den Achseln, wie um zu sagen: Wer weiß.

»Mr. Moore?« Jetzt klingt Trish beunruhigt. »Mr. Moore, vielleicht sollte ich besser …«

Pete schlägt die Augen auf, atmet tief durch und lässt seine Hand sinken. Er schaut an ihr vorbei zur Tür.

»Also gut«, sagt er. »Sie sind reingekommen …« Seine

Augen bewegen sich, als würde er ihr beim Hereinkommen zusehen. »Und sind hier an den Tresen gegangen …« Sein Blick schweift dorthin. »Sie haben wahrscheinlich gefragt: ›Wo steht denn das Aspirin?‹ Irgendwas in der Richtung.«

»Ja, ich …«

»Nur dass Sie sich noch etwas genommen haben.« Er kann es jetzt am Süßigkeitenständer sehen: eine leuchtend gelbe Spur wie ein Handabdruck. »Ein Snickers?«

»Ein Mounds.« Sie hat große Augen bekommen. »Woher wissen Sie das?«

»Sie nahmen den Schokoriegel, und dann erst gingen Sie das Aspirin holen …« Er schaut jetzt hinüber zu Gang zwei. »Anschließend haben Sie bezahlt und sind rausgegangen … Gehen wir doch kurz nach draußen. Tschüs, Cathy.«

Cathy nickt nur und schaut ihn aus großen Augen an.

Pete geht hinaus, achtet nicht auf das Bimmeln des Glöckchens und nicht auf den Regen, der jetzt wirklich Regen ist. Das Gelbe ist auf dem Bürgersteig, verblasst aber. Der Regen spült es fort. Aber er kann es noch sehen und freut sich, dass er es sieht. Dieser Klick. Köstlich. Es ist die Linie. Es ist lange her, dass er sie so deutlich gesehen hat.

»Zurück zu Ihrem Wagen«, sagt er, jetzt ins Selbstgespräch vertieft. »Um mit Ihrem Wasser ein paar Aspirintabletten einzunehmen …«

Er geht über den Bürgersteig langsam auf den Taurus zu. Die Frau folgt ihm und schaut jetzt noch besorgter. Fast verängstigt.

»Sie machten die Tür auf. Sie hatten Ihre Handtasche … Ihre Schlüssel … Ihr Aspirin … Ihren Schokoriegel … die ganzen Sachen … und haben sie von einer Hand in die andere getan … und in diesem Moment …«

Er bückt sich, steckt die Hand bis zur Manschette in das im Rinnstein fließende Wasser und zieht etwas daraus hervor. Er reicht es ihr mit einer schwungvollen Bewegung wie ein Zauberer. Die Schlüssel blinken silbern vor dem Regenhimmel.

»… sind Ihnen die Schlüssel heruntergefallen.«

Sie nimmt sie nicht sofort entgegen. Sie starrt ihn nur mit offenem Mund an, als hätte er vor ihren Augen schwarze Magie zelebriert.

»Nur zu«, sagt er, und sein Lächeln schwindet ein wenig. »Nehmen Sie. Das war nun wirklich nicht unheimlich. Das ist größtenteils eine Frage der richtigen Schlussfolgerungen. So was kann ich gut. He, Sie sollten mich dabeihaben, wenn Sie sich mal verfahren. Ich finde immer den Weg.«

Da nimmt sie die Schlüssel, ganz hastig, und achtet darauf, seine Finger nicht zu berühren, und in diesem Moment weiß er, dass sie sich später nicht mit ihm treffen wird. Man braucht keine übersinnlichen Fähigkeiten, um das mitzukriegen; er muss ihr nur in die Augen schauen, die nun eher verängstigt als dankbar blicken.

»Danke … vielen Dank«, sagt sie. Mit einem Mal ist sie sehr darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen.

»Gern geschehen. Und denken Sie dran: um halb sechs im West Wharf. Da gibt es die besten Muscheln in dieser Ecke von Maine.« Den Schein wahren. Manchmal muss man den Schein wahren, ganz egal, wie einem dabei zumute ist. Und obwohl einiges vom Glück des Nachmittags verflogen ist, ist etliches doch noch da; er hat die Linie gesehen, und das macht ihn immer froh. Es ist nur ein kleiner Trick, aber es ist gut zu wissen, dass er ihn noch beherrscht.

»Halb sechs«, wiederholt sie, aber als sie ihre Autotür öffnet, schaut sie sich mit einem Blick zu ihm um, als wäre er ein Hund, der vielleicht zuschnappt, wenn man ihn von der Leine lässt. Sie ist heilfroh, nicht mit ihm nach Fryeburg fahren zu müssen. Auch um das zu wissen, muss Pete nicht Gedanken lesen können.

Er steht da im Regen und sieht ihr zu, wie sie aus der schrägen Parkbucht zurücksetzt, und als sie davonfährt, winkt er ihr frohgemut wie ein guter Autoverkäufer nach. Sie antwortet mit einer achtlosen Fingerbewegung, und als er ins West Wharf kommt (um Viertel nach fünf, überpünktlich, nur für alle Fälle), ist sie natürlich nicht da, und auch eine Stunde später ist sie noch nicht gekommen. Er bleibt trotzdem eine ganze Weile, sitzt am Tresen, trinkt Bier und schaut dem Verkehr draußen auf dem 302 zu. Um Viertel vor sechs meint er sie vorbeifahren zu sehen, ohne abzubremsen, ein grüner Taurus braust durch den Regen, der mittlerweile ein Wolkenbruch ist, ein grüner Taurus, der möglicherweise einen hellgelben Nimbus hinter sich herzieht, der sich sofort in der trüben Luft auflöst.

Selbe Scheiße, anderer Tag, denkt er, und jetzt ist ihm die gute Laune vergangen, und die Traurigkeit ist wieder da, diese Traurigkeit, die sich anfühlt, als hätte er sie verdient, als wäre sie die Strafe für einen noch nicht gänzlich vergessenen Verrat. Er steckt sich eine Zigarette an – damals, als kleiner Junge, hat er immer so getan, als würde er rauchen, und jetzt muss er nicht mehr so tun – und bestellt sich noch ein Bier.

Milt bringt es, sagt aber: »Du solltest nicht so viel auf nüchternen Magen trinken, Peter.«

Also bestellt sich Pete einen Teller Muscheln und isst sogar einige, in Sauce Tartare getunkt, und trinkt noch ein paar Bier dazu, und irgendwann, bevor er dann zu einem Laden aufbricht, wo man ihn nicht so gut kennt, versucht er noch bei Jonesy unten in Massachusetts anzurufen. Aber Jonesy und Carla haben einen ihrer seltenen freien Abende, und er bekommt nur die Babysitterin ans Telefon, die ihn fragt, ob er eine Nachricht hinterlassen möchte.

Pete hätte fast verneint, überlegt es sich dann aber anders. »Sagen Sie ihm nur, dass Pete angerufen hat. Richten Sie ihm aus: SSAT.«

»S … S … A … T.« Sie schreibt es auf. »Und er weiß, was das …«

»O ja«, sagt Pete. »Er weiß, was das bedeutet.«

Um Mitternacht hockt er besoffen in irgendeinem Schuppen in New Hampshire, dem Muddy Rudder oder vielleicht auch Ruddy Mother, und versucht einer Tussi, die genauso breit ist, zu verklickern, er hätte wirklich geglaubt, er würde der erste Mensch auf dem Mars sein, und obwohl sie nickt und ja, ja, ja sagt, hat er so ’ne Ahnung, dass sie im Grunde nur noch einen Coffee Brandy spendiert haben möchte, bevor der Laden schließt. Und das ist auch okay. Das macht nichts. Morgen wird er mit Kopfschmerzen aufwachen, trotzdem zur Arbeit gehen und vielleicht ein Auto verkaufen und vielleicht auch nicht, und in jedem Fall geht es dann so weiter. Vielleicht verkauft er den burgunderroten Thunderbird, mach’s gut, Baby. Früher war das alles mal anders, aber jetzt ist es immer dasselbe. Er kann damit leben. Für einen Typ wie ihn lautet die Faustregel immer SSAT – na und? Man ist aufgewachsen, ein Mann geworden, musste sich mit weniger zufriedengeben, als man sich erhofft hatte, und man durfte feststellen, dass an der Traummaschine ein großes Schild mit der Aufschrift defekt hängt.

Im November wird er mit seinen Freunden jagen gehen, und es reicht ihm, sich darauf zu freuen … darauf und vielleicht noch, dass ihm diese besoffene Tussi draußen in seinem Wagen schön langsam und feucht und mit Lippenstift und allem einen bläst. Wer mehr will, handelt sich nur Kummer ein.

Träume sind was für Kinder.

1998: Henry behandelt einen Couchmenschen

Das Zimmer ist schummrig beleuchtet. Dafür sorgt Henry immer, wenn er Patienten empfängt. Er findet es bezeichnend, wie wenigen das anscheinend auffällt. Das liegt wohl daran, denkt er, dass ihr Gemütszustand ähnlich düster ist. Größtenteils behandelt er Neurotiker (die wachsen förmlich auf den Bäumen, wie er einmal zu Jonesy gesagt hat, als sie, har, har, gerade im Wald waren), und seiner – völlig unwissenschaftlichen – Einschätzung nach fungieren ihre Probleme als eine Art Polarisationsfilter zwischen ihnen und dem Rest der Welt. Je schwerwiegender die Neurose, desto tiefer die innere Dunkelheit. Meistens empfindet er für seine Patienten ein distanziertes Mitgefühl, manchmal auch Mitleid, und nur bei ganz wenigen Widerwillen oder Ungeduld. Und zu diesen zählt Barry Newman.

Patienten, die Henrys Praxis zum ersten Mal betreten, werden vor eine Wahl gestellt, die sie meistens nicht als solche bemerken. Wenn sie hereinkommen, sehen sie einen angenehmen (wenn auch recht düsteren) Raum mit einem Kamin linker Hand. Er ist mit einem dieser nie abbrennenden Holzscheite versehen, Birkenholzimitat aus Stahl, mit vier geschickt darunter verborgenen Gasdüsen. Neben dem Kamin befindet sich ein Ohrensessel, in dem Henry immer sitzt, unter einer ausgezeichneten Reproduktion von van Goghs »Ringelblumen«. (Henry sagt manchmal zu Kollegen, jeder Psychiater sollte mindestens einen van Gogh im Sprechzimmer hängen haben.) Gegenüber stehen ein Sessel und eine Couch. Henry ist jedes Mal gespannt, wofür sich ein neuer Patient entscheidet. Er ist natürlich lange genug in der Branche tätig, um zu wissen, dass ein Patient später meistens wieder das wählt, wofür er sich schon beim ersten Mal entschieden hat. Das wäre Stoff für einen Aufsatz. Henry weiß das, kann aber die These nicht herausarbeiten. Und außerdem hat er heutzutage sowieso kaum noch Interesse an Aufsätzen und Zeitschriften und Konferenzen und Kolloquien. Früher war ihm das wichtig, aber das hat sich geändert. Er schläft weniger, isst weniger, lacht auch weniger. Eine Dunkelheit ist auch in sein Leben eingezogen – dieser Polarisationsfilter –, und Henry ertappt sich dabei, dass er nichts dagegen hat. Ist das Licht nicht so grell.

Barry Newman war von Anfang an ein Couchmensch, und bei ihm wäre Henry nie auf den Irrtum verfallen, das hätte irgendwas mit seiner Geistesverfassung zu tun. Die Couch ist für Barry schlicht und einfach bequemer, auch wenn ihm Henry manchmal die Hand reichen und ihm aufhelfen muss, wenn seine fünfzig Minuten um sind. Barry Newman ist ein Meter siebzig groß und wiegt hundertneunzig Kilo. Und deshalb mag er die Couch.

Barry Newmans Sitzungen sind normalerweise ausführliche, monotone Berichte über die gastronomischen Abenteuer der jeweiligen Woche. Nicht dass Barry ein anspruchsvoller Esser wäre, o nein, Barry ist genau das Gegenteil. Barry isst alles, was sich in seine Nähe verirrt. Barry ist eine Fressmaschine. Und sein Gedächtnis ist, zumindest was dieses Thema anbelangt, ausgezeichnet.

Henry hat es schon fast aufgegeben, Barry von den Bäumen wegzuzerren, vor denen er den Wald nicht sieht. Teilweise liegt es an Barrys beständigem Verlangen, in aller Ausführlichkeit über Essen zu sprechen, und teilweise daran, dass Henry Barry nicht ausstehen kann und es nie konnte. Barrys Eltern sind tot. Dad starb, als Barry sechzehn war, Mama, als er zweiundzwanzig war. Sie haben ihm einen immensen Besitz hinterlassen, der aber treuhänderisch verwaltet wird, bis Barry dreißig ist. Dann kann er an das Kapital … wenn er in Therapie bleibt. Andernfalls geht das so weiter, bis er fünfzig ist.

Henry bezweifelt, dass Barry Newman die fünfzig erreicht.

Barrys Blutdruck (das hat er Henry nicht ohne Stolz erzählt) liegt bei 190 zu 140.

Barrys Cholesterinspiegel liegt bei 290; er ist eine wahre Goldgrube an Lipiden.

Ich bin ein wandelnder Schlaganfall, ein wandelnder Herzinfarkt, hat er zu Henry gesagt, mit der vergnügten Feierlichkeit eines Menschen, der die harte, ungeschminkte Wahrheit aussprechen kann, weil er im Grunde seines Herzens weiß, dass ihm ein solches Ende nicht bestimmt ist, nein, ihm nicht.

»Zum Mittag habe ich bei Burger King zwei doppelte Cheeseburger gegessen«, erzählt er jetzt. »Die liebe ich, weil der Käse so richtig heiß ist.« Seine wulstigen Lippen – für einen so kräftigen Menschen hat er einen erstaunlich kleinen Mund, ein Karpfenmaul ist es – spannen sich und bibbern, als schmeckten sie den köstlich heißen Käse. »Dann habe ich einen Milkshake getrunken, und auf dem Heimweg habe ich ein paar Mallomars gegessen. Ich habe Mittagsschlaf gehalten, und als ich aufgestanden bin, hab ich mir in der Mikrowelle eine ganze Packung tiefgefrorene Waffeln gemacht. ›Leggo my Eggo!‹«,kräht er und bricht in Gelächter aus. Es ist das Lachen eines Mannes, der sich freudigen Erinnerungen hingibt – an den Anblick eines Sonnenuntergangs oder daran, wie fest sich eine Frauenbrust unter einer zarten Seidenbluse anfühlte (nicht dass Barry, Henrys Einschätzung nach, je so etwas gefühlt hat), oder an die kompakte Wärme eines Sandstrands.

»Die meisten Leute machen ihre Eggo-Waffeln mit dem Toaster, aber ich finde, davon werden sie zu knusprig«, fährt Barry fort. »In der Mikrowelle werden sie einfach nur heiß und weich. Heiß … und weich.« Er schmatzt mit seinem Karpfenmaul. »Ich hatte Gewissensbisse, weil ich die ganze Packung gegessen habe.« Das wirft er jetzt als Randbemerkung ein, wie um Henry an seine Arbeit zu erinnern. Solche kleinen Gefälligkeiten teilt er vier-, fünfmal pro Sitzung aus … und dann geht es wieder ums Essen.

Barry ist mittlerweile bei Dienstagabend angelangt. Da es Freitag ist, stehen noch zahlreiche Haupt- und Zwischenmahlzeiten aus. Henry lässt seine Gedanken schweifen. Barry ist heute sein letzter Patient. Wenn Barry seine Kalorieninventur abgeschlossen hat, wird Henry nach Hause gehen und packen. Morgen früh wird er um sechs aufstehen, und irgendwann zwischen sieben und acht wird Jonesy bei ihm vorfahren. Sie werden ihre Sachen in Henrys alten Scout laden, den er nur noch für diese herbstlichen Jagdausflüge behalten hat, und um halb neun werden die beiden dann nach Norden aufbrechen. Unterwegs holen sie Pete in Bridgton ab und fahren dann beim Biber vorbei, der immer noch in der Nähe von Derry wohnt. Abends sind sie dann in ihrer Hütte oben in Jefferson Tract, spielen im Wohnzimmer Karten und hören zu, wie der Wind schwermütige Lieder um ihr Dach pfeift. Ihre Gewehre stehen in der Küche in der Ecke, und ihre Jagdscheine hängen an einem Haken an der Hintertür.

Er wird mit seinen Freunden zusammen sein, und das kommt ihm immer wie eine Art Heimkehr vor. Für eine Woche hebt sich der Polarisationsfilter vielleicht ein wenig. Sie werden über die alten Zeiten reden, werden über Bibers rüde Sprüche lachen, und wenn der eine oder andere von ihnen tatsächlich einen Hirsch schießt – umso besser. Gemeinsam sind sie immer noch gut. Gemeinsam trotzen sie immer noch der Zeit.

Weit im Hintergrund schwafelt Barry Newman ohne Unterlass. Schweinekoteletts mit Kartoffelpüree und vor Butter triefende, gebratene Maiskolben und Pepperidge-Farm-Schokoladenkuchen und eine Schale Pepsi Cola mit vier Kugeln Chunky-Monkey-Eis von Ben and Jerry’s drin und Spiegeleier, gekochte Eier, pochierte Eier …

Henry nickt an den passenden Stellen und hört sich das alles an, ohne zuzuhören. Das ist ein alter Psychiatertrick.

Henry und seine alten Freunde haben weiß Gott auch ihre Probleme. Biber ist eine Niete, wenn es um Beziehungen geht, Pete trinkt zu viel (viel zu viel, findet Henry), Jonesy und Carla sind nur knapp an einer Scheidung vorbeigeschrammt, und Henry ringt gerade mit einer Depression, die ihm ebenso verführerisch wie unangenehm erscheint. Also: auch sie sind vom Leben gebeutelt. Aber gemeinsam sind sie immer noch gut, fast wie in alten Zeiten, und morgen Abend werden sie zusammen sein. Für acht Tage dieses Jahr. Das ist schön.

»Ich weiß, ich sollte das nicht tun, aber ich verspüre frühmorgens einfach diesen Zwang. Hat vielleicht was mit niedrigem Blutzuckerspiegel zu tun, das wird es wohl sein. Jedenfalls habe ich dann den Rest von dem Obstkuchen gegessen, der im Kühlschrank war, und dann hab ich mich ins Auto gesetzt, bin zu Dunkin’ Donuts gefahren und habe ein Dutzend Dutch Apple und vier …«

Henry, der immer noch an den alljährlichen Jagdurlaub denkt, der morgen beginnt, merkt erst, was er da gesagt hat, als es schon raus ist.

»Dieses zwanghafte Essen, Barry, hat vielleicht etwas damit zu tun, dass Sie glauben, Ihre Mutter umgebracht zu haben. Halten Sie das für möglich?«

Barry verstummt. Henry schaut zu ihm hinüber und sieht, dass ihn Barry Newman mit so großen Augen anstarrt, dass sie tatsächlich sichtbar sind. Henry weiß zwar, dass er damit aufhören sollte – es geht ihn überhaupt nichts an und hat mit der Therapie nicht im Mindesten etwas zu tun –, aber er will nicht damit aufhören. Teilweise mag das damit zusammenhängen, dass er an seine alten Freunde gedacht hat, aber hauptsächlich rührt es von Barrys entsetztem Gesichtsausdruck her und der Blässe auf seinen Wangen. Was Henry an Barry wirklich gegen den Strich geht, so glaubt er, ist Barrys Selbstgefälligkeit, seine Überzeugung, dass es völlig unnötig wäre, sein selbstzerstörerisches Verhalten zu ändern, geschweige denn, nach dessen Ursachen zu forschen.

»Sie glauben doch, dass Sie sie umgebracht haben, nicht wahr?«, fragt Henry. Er sagt das so dahin, fast beiläufig.

»Ich … ich habe nie … Ich protestiere …«

»Sie rief und rief und sagte, sie hätte Schmerzen in der Brust, aber das hat sie natürlich oft gesagt, nicht wahr? Jede zweite Woche. Jeden zweiten Tag, so kam es einem manchmal vor. Sie rief es runter zu Ihnen: ›Barry, ruf Dr. Withers an. Barry, ruf einen Krankenwagen. Barry, ruf den Notarzt.‹«

Sie haben nie über Barrys Eltern gesprochen. Auf seine ebenso weichliche wie zähe Art lässt Barry das nicht zu. Er fängt an, über sie zu reden – es kommt einem jedenfalls so vor –, und: zack, spricht er schon wieder über Lammbraten oder Brathähnchen oder gebratene Ente mit Orangensauce und ist wieder bei seiner Inventur. Daher weiß Henry nichts über Barrys Eltern und schon gar nichts über den Tag, an dem Barrys Mutter starb, aus dem Bett fiel und auf den Teppich pinkelte und schrie und schrie, hundertvierzig Kilo schwer und widerlich fett, und schrie und schrie. Er kann unmöglich davon wissen, denn ihm hat niemand davon erzählt, und trotzdem weiß er es. Und damals war Barry auch noch schlanker. Verhältnismäßig grazile fünfundachtzig Kilo.

Das ist Henrys Version der Linie. Die Linie sehen. Henry hat sie jetzt gut fünf Jahre nicht mehr gesehen (höchstens manchmal im Traum), hatte schon gedacht, all das sei vorbei, und da ist sie wieder.

»Sie haben vor dem Fernseher gesessen und sie schreien gehört«, sagt er. »Sie haben da gesessen und Ricky Lake geguckt und – was? – einen Käsekuchen von Sara Lee gegessen? Eine Schale Eis? Ich weiß es nicht. Jedenfalls haben Sie sie schreien lassen.«

»Hörn Sie auf!«

»Sie haben sie schreien lassen, und warum denn auch nicht? Sie hatte ihr ganzes Leben lang blinden Alarm geschlagen. Sie sind ja nicht dumm, und Sie wussten das. So was kommt schon mal vor. Ich glaube, auch das wissen Sie. Sie haben sich selbst die Hauptrolle in Ihrem eigenen kleinen Tennessee-Williams-Stück ausgesucht, weil Sie gern essen. Und jetzt kommt etwas, was Sie nicht glauben: Es wird Sie wirklich umbringen. Insgeheim glauben Sie das nicht, aber es ist wahr. Ihr Herz pocht ja bereits, wie ein versehentlich Beerdigter mit Fäusten an seinen Sargdeckel pocht. Wie wird das erst, wenn Sie noch vierzig oder fünfzig Kilo zunehmen?«

»Sein Sie …«

»Wenn Sie fallen, Barry, wird es wie der Fall Babels in der Wüste sein. Wer Sie untergehen sieht, Barry, wird noch jahrelang davon sprechen. Mann, Sie werden mit Ihrem Sturz das Geschirr aus den Schränken schlagen …«

»Hörn Sie auf!« Barry sitzt jetzt aufrecht, hat sich diesmal von Henry nicht aufhelfen lassen und ist leichenfahl, bis auf die kleinen roten Flecken auf seinen Wangen.

»Bei diesem Knall schwappt der Kaffee aus den Tassen, und Sie werden sich einnässen, genau wie Ihre Mutter …«

»HÖRNSIEAUF!«, kreischt Barry Newman. »HÖRNSIEAUF! SIEUNMENSCH!«

Aber Henry kann nicht aufhören. Er kann es einfach nicht. Er sieht die Linie, und wenn man die Linie sieht, kann man den Blick nicht mehr davon lösen.

»… es sei denn, Sie erwachen aus diesem Unheil bringenden Traum. Verstehen Sie, Barry …«

Aber Barry will nicht verstehen, will überhaupt nichts verstehen. Er braust zur Tür, mit seinen mächtigen Hinterbacken wackelnd, und dann ist er fort.

Zunächst bleibt Henry reglos sitzen und lauscht dem Davondonnern der Einmannbüffelherde namens Barry Newman. Sein Wartezimmer ist leer, er hat keine Sprechstundenhilfe, und da Barry weg ist, ist seine Arbeitswoche beendet. Was soll’s. Ein schöner Schlamassel. Er geht zur Couch und legt sich hin.

»Doktor, ich habe gerade Mist gebaut«, sagt er.

Inwiefern, Henry?

»Ich habe einem Patienten die Wahrheit gesagt.«

Wenn wir die Wahrheit kennen, Henry, befreit sie uns dann nicht?

»Nein«, antwortet er sich selbst und schaut dabei zur Decke. »Nicht im Mindesten.«

Mach die Augen zu, Henry.

»Gern, Doktor.«

Er schließt die Augen. Der Raum weicht einer Dunkelheit, und das ist gut so. Er hat sich mit der Dunkelheit angefreundet. Morgen trifft er dann seine anderen Freunde (jedenfalls drei von ihnen), und dann wird er auch das Licht wieder ertragen können. Aber heute … jetzt …

»Doktor?«

Ja, Henry.

»Das ist nun wirklich ein Fall von ›selbe Scheiße, anderer Tag‹. Ist Ihnen das klar?«

Was soll das heißen, Henry? Was bedeutet das für Sie?

»Alles«, sagt er mit geschlossenen Augen und fügt dann hinzu: »Nichts.« Doch das ist eine Lüge. Und nicht die erste, die hier je aufgetischt wurde.

Er liegt mit geschlossenen Augen auf seiner Couch, die Hände auf der Brust verschränkt wie ein Leichnam bei einer Totenwache, und irgendwann schläft er ein.

Am Tag darauf fahren sie zu viert auf die Jagd, und es werden fabelhafte acht Tage. Die großen Jagdreisen gehen ihrem Ende entgegen, es kommen nur noch einige wenige, aber das wissen sie natürlich nicht. Die wahre Dunkelheit steht ihnen erst in ein paar Jahren bevor, rückt aber bereits näher.

Die Dunkelheit rückt näher.

2001: Jonesys Schüler-Lehrer-Besprechung

Wir kennen die Tage nicht, die unser Leben ändern werden. Und das ist wahrscheinlich auch gut so. An dem Tag, der seines ändern wird, sitzt Jonesy in seinem Büro im zweiten Stock des Emerson College, schaut hinaus auf seinen kleinen Streifen Boston und denkt, wie unrecht T. S. Eliot damit hatte, den April als grausamsten Monat zu bezeichnen, nur weil ein wandernder Zimmermann aus Nazareth angeblich in diesem Monat wegen Aufwiegelung des Volkes gekreuzigt wurde. Wer in Boston lebt, weiß, dass der März der grausamste Monat ist, wenn er ein paar Tage lang falsche Hoffnungen stiftet, nur um dann mit erneutem Frost zuzuschlagen. Heute ist einer dieser Tage mit launenhaftem Wetter, an denen es so aussieht, als wollte es nun wirklich Frühling werden, und er überlegt, spazieren zu gehen, wenn die unangenehme Kleinigkeit erledigt ist, die ihm bevorsteht. Zu diesem Zeitpunkt hat Jonesy natürlich keine Ahnung, wie unangenehm ein Tag werden kann; keine Ahnung, dass er diesen Tag in einem Krankenhauszimmer beschließen wird, zerschlagen und um sein bloßes Leben kämpfend.

Selbe Scheiße, anderer Tag, denkt er, aber das wird eine gänzlich andere Scheiße sein.

Da klingelt das Telefon, und er nimmt sofort ab, von einer freudigen Erwartung erfüllt: Das wird Defuniak sein, der seinen Termin um elf absagen will. Dem schwant, was ihm blüht, denkt Jonesy, und das ist durchaus möglich. Normalerweise bitten die Collegestudenten beim Professor um einen Termin. Wenn aber ein Student eine Vorladung von einem Professor bekommt … tja, man muss kein Genie sein, um zu wissen, was das bedeutet.

»Hallo, hier Jones«, sagt er.

»He, Jonesy, wie geht’s dir denn?«

Diese Stimme würde er immer auf Anhieb erkennen. »Henry! He! Gut geht’s mir!«

Nun, im Grunde geht es ihm nicht ganz so gut, da ihm in einer Viertelstunde Defuniak bevorsteht, aber das ist ja alles relativ, nicht wahr? Verglichen damit, wie es ihm zwölf Stunden später gehen wird, wenn er an diese ganzen piependen Geräte angeschlossen sein wird, eine Operation hinter sich und noch drei vor sich, pupt Jonesy, wie man so schön sagt, noch in seidene Tücher.

»Freut mich zu hören.«

Jonesy könnte Henry die Niedergeschlagenheit angehört haben, aber wahrscheinlich hat er sie eher gespürt.

»Henry? Was ist denn?«

Schweigen. Jonesy will eben die Frage wiederholen, da antwortet Henry.

»Einer meiner Patienten ist gestern gestorben. Ich habe den Nachruf zufällig in der Zeitung gesehen. Barry Newman hieß er.« Henry hält inne. »Er war ein Couchmensch.«

Jonesy weiß nicht, was das bedeutet, aber dass sein alter Freund leidet, das weiß er.

»Selbstmord?«

»Herzinfarkt. Mit neunundzwanzig Jahren. Hat sich selbst mit Gabel und Löffel sein Grab gegraben.«

»Mein Beileid.«

»Er war seit fast drei Jahren nicht mehr bei mir. Ich habe ihn vertrieben. Ich hatte … na, so was eben. Weißt du, was ich meine?«

Jonesy glaubt schon. »War es die Linie?«

Henry seufzt. Bei Jonesy klingt es nicht bedauernd. Es klingt erleichtert. »Ja. Ich hab ihm richtig einen reingewürgt. Er ist abgehauen, als hätte er Feuer unter dem Hintern gehabt.«

»Deshalb bist du noch lange nicht für seine Herzkranzgefäße verantwortlich.«

»Da hast du vielleicht recht. Aber es fühlt sich anders an.« Schweigen. Dann, mit einem Anflug von Amüsiertheit: »Ist das nicht eine Strophe aus einem Song von Jim Croce? Und du? Geht’s dir gut, Jonesy?«

»Mir? Ja. Wieso fragst du?«

»Ich weiß nicht«, sagt Henry. »Es ist nur … Ich muss an dich denken, seit ich die Zeitung aufgeschlagen und Barrys Bild auf der Seite mit den Nachrufen gesehen habe. Ich möchte, dass du auf dich aufpasst.«

Jonesy spürt eine gewisse Kälte in seine Knochen (von denen viele bald gebrochen sein werden) kriechen. »Was genau meinst du damit?«

»Ich weiß nicht«, sagt Henry. »Vielleicht ist es gar nichts. Aber …«

»Ist es die Linie?« Jonesy ist beunruhigt. Er dreht sich auf seinem Stuhl um und schaut zum Fenster hinaus in den launenhaften Frühlingssonnenschein. Ihm kommt in den Sinn, dass dieser Defuniak vielleicht gestört ist und eine Schusswaffe dabeihat (Packing heat, wie es in den Krimis und Thrillern immer heißt, die Jonesy so gern in seiner Freizeit liest) und Henry das irgendwie mitbekommen hat. »Henry, ist es kein Prall, kein Spiel?«

»Keine Ahnung. Höchstwahrscheinlich ist das nur eine verlagerte Reaktion von mir darauf, dass ich Barrys Bild auf der Seite mit den Nachrufen gesehen habe. Aber pass in nächster Zeit auf dich auf, hörst du?«

»Ja … gut. Mach ich.«

»Schön.«

»Und dir geht’s gut?«

»Mir geht es gut.«

Doch Jonesy glaubt nicht, dass es Henry gut geht. Er will eben noch etwas sagen, als sich hinter ihm jemand räuspert und ihm klar wird, dass Defuniak eingetroffen ist.

»Na, das ist doch schön«, sagt er und dreht sich auf seinem Stuhl um. Ja, da steht sein Elf-Uhr-Termin im Türrahmen und sieht ganz und gar harmlos aus: nur ein Junge in einem dicken, alten Dufflecoat, der zu warm für dieses Wetter ist; er sieht dünn und unterernährt aus, trägt einen Ohrring, und seine irgendwie punkige Frisur ragt stachelig über seine besorgt blickenden Augen. »Henry, ich habe einen Termin. Ich rufe dich zurück …«

»Nein, das ist nicht nötig. Wirklich nicht.«

»Bestimmt nicht?«

»Nein. Aber da ist noch etwas. Hast du noch dreißig Sekunden Zeit?«

»Klar.« Er hält einen Finger hoch, und Defuniak nickt. Er bleibt aber stehen, bis Jonesy auf den, von seinem eigenen abgesehen, einzigen Stuhl in seinem kleinen Büro weist, auf dem keine Bücher aufgestapelt sind. Defuniak geht zögerlich dorthin. Ins Telefon sagt Jonesy: »Schieß los.«

»Ich glaube, wir sollten nach Derry fahren. Nur ein kleiner Ausflug, nur wir beide. Unseren alten Freund besuchen.«

»Du meinst …?« Aber mit einem Fremden im Zimmer will er diesen babyhaft klingenden Namen nicht aussprechen.

Er muss es auch nicht. Henry übernimmt das. Einst waren sie zu viert, dann waren sie für kurze Zeit zu fünft und dann waren sie wieder zu viert. Doch der Fünfte hat sie eigentlich nie verlassen. Henry spricht den Namen aus, den Namen eines Jungen, der auf wundersame Weise immer noch ein Junge ist. Bei ihm sind Henrys Sorgen nicht so vage und lassen sich leichter ausdrücken. Nicht dass er etwas wüsste, erzählt er Jonesy, es ist nur so ein Gefühl, dass sich ihr alter Freund über einen Besuch freuen würde.

»Hast du denn mit seiner Mutter gesprochen?«, fragt Jonesy.

»Ich glaube, es wäre besser, wenn wir einfach … unangemeldet vorbeischauen«, sagt Henry. »Wie sieht’s denn an diesem Wochenende in deinem Terminkalender aus? Oder am nächsten?«

Da muss Jonesy nicht nachschauen. Das Wochenende beginnt übermorgen. Am Samstag hat er noch einen Fakultätstermin, aber den kann er problemlos schwänzen.

»Ich könnte dieses Wochenende an beiden Tagen«, sagt er. »Wenn ich am Samstag kommen würde? Um zehn?«

»Das wäre schön.« Henry klingt erleichtert, schon eher ganz wieder der Alte. Jonesy wird ein wenig lockerer. »Bestimmt?«

»Wenn du meinst, dass wir …« Jonesy zögert. »… Douglas besuchen sollten, dann sollten wir das wahrscheinlich tun. Haben wir viel zu lange nicht mehr gemacht.«

»Du hast jemand im Büro, oder?«

»Mhm.«

»Gut. Wir sehen uns dann am Samstag um zehn. He, vielleicht nehmen wir den Scout. Der braucht mal Auslauf. Wie wäre das?«

»Das wäre toll.«

Henry lacht. »Packt dir Carla immer noch dein Lunchpaket, Jonesy?«

»Ja, das macht sie.« Jonesy schaut zu seiner Aktentasche hinüber.

»Was hast du heute? Thunfisch-Sandwich?«

»Eiersalat.«

»Mmmm. Okay, ich leg jetzt auf. SSAT, klar?«

»SSAT«, pflichtet Jonesy bei. Vor einem Studenten kann er ihren alten Freund nicht bei seinem richtigen Namen nennen, aber SSAT geht in Ordnung. »Wir sprechen uns später.«

»Und pass auf dich auf. Das ist mein Ernst.« Die Ernsthaftigkeit ist nicht zu überhören und ängstigt ihn ein wenig. Doch ehe Jonesy etwas erwidern kann (und was er sagen sollte, da Defuniak in der Ecke sitzt und zusieht und lauscht, weiß er ohnehin nicht), hat Henry schon aufgelegt.

Jonesy betrachtet den Hörer für einen Moment nachdenklich und legt dann ebenfalls auf. Er blättert in seinem Terminkalender, und am Samstag streicht er Drinks bei Dekan Jacobson durch und schreibt Absagen– mit Henry nach Derry, D. besuchen darunter. Doch das ist eine Verabredung, die er nicht einhalten wird. Am Samstag wird er an alles denken, aber nicht an Derry und seine alten Freunde.

Jonesy atmet tief ein und wieder aus und richtet seine Aufmerksamkeit dann auf seinen lästigen Elf-Uhr-Termin. Der Junge rutscht unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Er weiß durchaus, weshalb er hierher zitiert wurde, vermutet Jonesy.

»Also, Mr. Defuniak«, sagt er. »Ihrer Akte nach kommen Sie aus Maine.«

»Äh, ja. Aus Pittsfield. Ich …«

»In Ihrer Akte steht auch, dass Sie Stipendiat sind und sich bisher gut geschlagen haben.«

Der Junge, das sieht er, ist mehr als nur besorgt. Er ist den Tränen nah. Herrgott. Es ist nicht einfach. Jonesy hat noch nie einen Studenten des Schummelns beschuldigen müssen, aber allzu lange unterrichtet er ja auch noch nicht, und deshalb geht er davon aus, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Er hofft nur, dass es nicht zu oft vorkommen wird. Denn es ist hart; Biber würde Kackorama dazu sagen.

»Mr. Defuniak – David –, wissen Sie, was mit einem Stipendium geschieht, wenn der Stipendiat beim Schummeln erwischt wird? Sagen wir mal, bei einer Prüfung in der Mitte des Semesters?«

Der Junge zuckt zusammen, als hätte ihm gerade irgendein unter dem Stuhl verborgener Scherzbold einen leichten Stromschlag in den dürren Arsch gejagt. Jetzt bibbern seine Lippen, und die erste Träne, ach Gott, da läuft sie seine milchbärtige Wange hinab.

»Das kann ich Ihnen verraten«, sagt Jonesy. »Solche Stipendien verfallen. Das passiert mit ihnen. Schwups, und sie lösen sich in Luft auf.«

»Ich … ich …«