Dunkle Pfade, scharfe Zähne - Anne Danck - E-Book

Dunkle Pfade, scharfe Zähne E-Book

Anne Danck

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Beschreibung

Eine schöne Fremde, die ein finsteres Geheimnis verbirgt. Ein schildkrötenartiges Wesen im Fluss, das von zu Hause vertrieben wird. Eine menschengroße Katze mit unstillbarem Appetit auf Rache. Yokai – japanische Geister- und Monsterwesen – existieren in den erstaunlichsten Formen und an allen denkbaren Orten. In zehn fantastischen Geschichten laden sie dich ein, ihnen Auge in Auge gegenüberzutreten. Doch Vorsicht, nicht alle Yokai sind harmlos und gutgesinnt … Wagst du es trotzdem? Irasshaimase – Willkommen! --------------------- Alle Erlöse gehen an den Verein "Deutsch-Japanische Gesellschaft Berlin e.V." --------------------- Mit Illustrationen von Vincent Brosche. --------------------- Geschichten: SCHNEESCHWEIGEN – Anne Danck | WAS DU SÄST … – Stella Delaney | DIE FLUSSNIXE – Claudi Feldhaus | UNTEN IM FLUSS – Anne Zandt | FESTGEFAHREN – Mika M. Krüger | KEIN OPFER – Kristina Schreiber | BEFLECKT – Jane Asayuki | SCHATTENBUND – Luga Faunus | PERFEKT UNPERFEKT – Juliet May | HEIRATSANGEBOT – Saskia Dreßler |

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IMPRESSUM

©2023 Susanne Krüger und Autor*innen

Heringsdorfer Straße 7, 12619 Berlin

1. Auflage 2023

Mit Illustrationen von Vincent Brosche.

Lektorat: Anne Zandt, Mika M. Krüger

Korrektorat: Kristina Schreiber, Anne Zandt

Buchsatz: Luga Faunus, Mika M. Krüger

Cover: Mika M. Krüger

Prüfung der Yokai Texte: Saskia Dreßler

Klappentext: Stella Delaney

Übersetzung »Befleckt«: Aus dem Japanischen ins Deutsche von Mika M.Krüger und Jane Asayuki. Originaltitel: Shimi (シミ).

Diese Anthologie ist in Teamarbeit entstanden. Ich danke allen, die daran mitgewirkt und dieses einzigartige Werk ermöglicht haben.

DUNKLE PFADE, SCHARFE ZÄHNE

Alle Erlöse gehen an den Verein »Deutsch-Japanische Gesellschaft Berlin e.V.«.

INHALTSANGABE

Schneeschweigen: Anne Danck

Was du säst ...: Stella Delaney

Die Flussnixe: Claudia Feldhaus

Unten im Fluss: Anne Zandt

Festgefahren: Mika M. Krüger

Kein Opfer: Kristina Schreiber

Befleckt: Jane Asayuki

Schattenbund: Luga Faunus

Perfekt unperfekt: Juliet May

Heiratsangebot: Saskia Dreßler

Glossar

Triggerwarnungen

Mehr von uns

雪女

SCHNEESCHWEIGEN

Anne Danck

Triggerwarnungen befinden sich am Ende des Buches.

Weiß trieb vor dem knietiefen Fenster ins Tal, bedeckte Boden, knorrige Bäume, Büsche. Wind rüttelte am Dach. Schon das Geräusch ließ Kichi frösteln. Als gäbe es keine Wände zwischen ihm und dem Winter. Oder als wären sie zu dünn, um die Kälte aufzuhalten.

»Es ist zu kalt.«

Der Schnee war ihr Bote, ihr Werk. Wenn er hier war … war sie es dann auch?

Die Frage zerrte an ihm. Voller Angst vor ihr, aber auch vor dem Effekt, den sie auf ihn hatte. Beinahe glaubte er, ihr Flüstern in seinem Ohr zu hören. Ihr Rufen nach ihm.

»Es muss mehr Holz aufgelegt werden«, drängte er, ohne den Blick abzuwenden.

»Natürlich«, antwortete seine Tochter irgendwo hinter ihm. Aber er hörte kein Fußscharren, keine Bewegung. Weil sie ihn in letzter Zeit immer weniger ernst nahm. Weil sie die Kälte nicht so fürchtete wie er.

Er wandte den Kopf, umständlich und steif, ließ den Blick über den hellen Holzboden und dunkle, schwere Möbel streifen –

Er verschluckte sich beinahe an seiner eigenen Spucke. Hinata stand direkt hinter seinem Bodenstuhl, eine Decke in der Hand.

Er hatte sie nicht näher kommen hören. War sein Gehör wieder schlechter geworden?

»Hier.« Sie kniete sich neben ihn, deckte ihn zu wie ein Kleinkind. Breitete das dicke Tuch über seinen Beinen aus und steckte die Ecken zwischen ihm und der Lehne fest, ein zartes Lächeln auf den Lippen. »Das hilft auch.«

»Aber das Holz –«

»Habe ich bereits nachgelegt.«

Dafür war es eigentlich immer noch zu kalt. Aber er hatte keine Möglichkeit, es selbst zu überprüfen, von hier aus sah er den Kamin nicht. Aufzustehen würde ihn mehr Kraft kosten, als er momentan hatte. Seit ein paar Wochen schaffte er es nur noch selten alleine auf die Füße.

Kichi atmete schwer aus, fand sich damit ab. Immerhin hatte Hinata ihm eine Decke gebracht. Es war nicht so, als würde sie sich nicht um ihn sorgen, sie hatte nur ihre eigene Meinung. Sie hatte schon immer eine starke eigene Meinung gehabt, ganz wie ihre Mutter.

Kichi wandte sich wieder der Fensterscheibe zu, sah wieder hinaus. Auf dieses skurrile, widersprüchliche Kunstwerk der Natur. Schnee war so leicht, wenn er im Wind davontrieb, und so schwer, wenn er sich auf dem Dach niederließ. Schnee biss sich mit eiskalten Zähnen in die bloße Haut und wob gleichzeitig eine schützende Decke für die Gräser.

»Vater?«

Er fuhr zusammen, Hinata war direkt neben seinem Bodenstuhl, beugte sich halb zu ihm herab.

Immer noch? Oder schon wieder?

»Möchtest du sonst noch etwas? Tee?«

»Nein. Nein, danke«, antwortete er und versuchte dabei ruhig zu klingen. Er wollte sie nicht wissen lassen, wie zerstreut seine Aufmerksamkeit war. Verweht wie die kristallenen Flocken draußen.

Er hatte sich nie wieder so gefühlt wie damals, während dieses unglaublichen, atemberaubenden Tanzes mit ihr. Die Sehnsucht nach diesem Moment hatte sich zusammen mit der schneekalten Angst in seinen Knochen eingenistet. Sie hatte ihm Leben eingehaucht, auf eine andere, berauschende, gefährliche Weise. Eine, die sich niemals wiederholen durfte. Wenn sie wie jetzt, im Winter ihr Reich vorübergehend ausdehnte, es weiter die Berge hinunterkriechen ließ, dann wartete sie nur auf unvorsichtige Opfer. Dann war ihr Tanz tödlich. Dass er ihn überlebt hatte, war reines Glück gewesen. Denn so war sie: wunderschön und willkürlich und grausam.

»Wer ist wunderschön?«, fragte seine Tochter und schob ein kleines Tischchen zu ihm heran, um den Tee darauf abzustellen.

Hatte er schon wieder gesprochen, ohne es zu merken? Kichi lächelte, versuchte es zu überspielen. »Du, mein Sonnenkind.«

Hinata erwiderte sein Lächeln. »Das stimmt. Aber mich meintest du nicht.« Sie setzte sich neben ihn auf den Boden. »Erzähl«, bat sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe geschworen, niemals von ihr zu reden.«

Sonst muss ich kommen und dich endgültig holen, hatte sie gesagt. Und er hatte ihr geglaubt. Sie war stets beides: Sehnsucht und Schmerz. Bitterkeit und Süße.

Leben und Tod.

Ihn hatte sie leben lassen. Seinen Lehrmeister nicht.

»Würdest du mehr Holz auflegen?«, fragte Kichi. »Es wird kalt.«

»In Ordnung. Wenn du mir erzählst, wen du eigentlich im Sinn hattest.«

»Ich darf nicht –«

»Oder zumindest, wie lange die Begegnung her ist?

Ein paar Wochen? Monate? Noch länger?« »Viele, viele Jahre«, räumte er ein.

»Sie muss beeindruckend gewesen sein, wenn sie dir selbst all die Jahre später nicht aus dem Kopf geht. Geht es um die Frau, die Mutter meinte? Gegen deren Schatten sie nie ankam?«

Er warf Hinata einen bedeutungsschweren, warnenden Blick zu.

Sie lächelte zur Antwort. Ein Lächeln, das fast ein wenig zu verschmitzt war. Es ließ sie wieder wie ein kleines Mädchen aussehen, auch wenn sie selbst längst eigene Kinder hatte. »Es muss furchtbares Wetter gewesen sein. Wenn du ausgerechnet beim Blick nach draußen an sie denken musst.« Sie deutete hinaus aus dem Fenster und Kichi folgte der Bewegung.

Die Schneedecke war inzwischen mehrere Handbreit hoch, doch es wirbelte weiterhin Weiß vom Himmel. Trieb winzige Sterne gegen die Fensterscheibe und zog sie wieder fort. Weiter oben auf dem Berg war das Schneetreiben sicherlich noch dichter. So wie damals.

Manchmal glaubte er fast selbst nicht, dass er sie getroffen hatte. Und manchmal hätte er die Erinnerung gerne verbrannt, weil sie zu heftig war, sich zu sehr in sein Innerstes gebohrt hatte, von dort aus alles beherrschte.

Dabei hatte er ihre Nähe zu Beginn nicht dulden wollen. Er hatte sich dagegen gewehrt, mit den Händen um sich geschlagen und doch nur kalten, schneidenden Wind getroffen.

»Mich bekommst du nicht!«, hatte er geschrien. Eis brannte auf seinen Wangen. Unvergossene Trauer um seinen Schreinermeister; er war sofort gefroren unter ihrer Berührung.

Yuki-Onna. Schneefrau.

Sie bestrafte jeden, der zu tief in ihr Reich vordrang. Sie waren naiv gewesen, es zu versuchen. Zu glauben, die wenigen Nahrungsreserven würden reichen. Zu glauben, sie könnten ein paar der kostbaren Bäume am Rande ihres Herrschaftsgebietes stehlen. Sie hatten nur das seltene Holz gesehen und das Geld, das es ihnen einbringen würde.

Jetzt lag er da, Mosaku – sein Lehrmeister, sein Vorbild, sein Freund. Das Gesicht bleich, die Lippen blau, der Blick glasig. Schnee wehte um sie herum, jede weitere Böe versuchte, sie weiter zuzudecken. Hastig kniete Kichi nieder, wischte den Schnee von Mosakus Mantel. Auch wenn sein Atem in gebrochenen Schluchzern kam, weil er längst wusste, dass es zu spät war. Vor dem Mund seines Lehrmeisters sammelten sich inzwischen keine Nebelwolken mehr.

Trotzdem packte Kichi ihn erneut unter den Achseln, richtete sich mühsam auf und versuchte ihn wegzuschleifen. Fort, nur fort von hier.

Der Schnee stemmte sich gegen ihn. Sie stemmte sich gegen ihn. Eisige Windfinger fanden jede Ritze in seiner Kleidung, trieben die Splitter der Kälte noch tiefer in ihn hinein. Er kämpfte dagegen an, zog Mosaku Meter um Meter, Schritt um Schritt zurück. Kichi fühlte sich beinahe ebenso schwer und starr wie der Körper in seinen Armen. Nur noch mit einem einzigen Faden mit dem Leben verknüpft.

Ich kann dich verschonen, flüsterte eine Stimme in sein Ohr. Kein Versprechen, sondern ein Angebot. Die daran geknüpfte Bedingung hing in der Luft, auch ohne dass sie es aussprach.

Kichi ignorierte sie. Wie hätte er ihr trauen können, nachdem, was sie Mosaku angetan hatte?

Du bist nicht er, säuselte sie. Du bist jung. Du hast genug Leben übrig, um es mit mir zu teilen.

Und dann? Würde danach noch genug Leben übrig sein, um von hier fortzukommen?

Ohne mich wirst du gar nicht fortkommen, wisperte es im Schneetreiben, als könnte sie seine Gedanken hören. Aber vielleicht war das auch die Art, wie man mit Geistern kommunizierte. Vielleicht hörte auch er nur ihre Gedanken, schließlich besaß sie keinen Körper, um zu sprechen. Oder vielleicht doch? Kichi sah sich um, blinzelte, kniff die Augen wegen der beißenden Eiskristalle zusammen.

Flocken schoben sich in den Böen zusammen, bildeten eine Form und zerrissen sie wieder.

Doch. Da war etwas. Da war eine Frau. War sie der Schnee oder war der Schnee Teil von ihr?

Ihre langen Haare peitschten bleich im Wind, sie war größer als Kichi und doch zierlich. Zerbrechlich wie das zarte Gebilde einer Schneeflocke und zugleich mächtig und erschütternd wie eine Lawine. Sie war auf paradoxe Weise beides. Unbeschreiblich, unfassbar.

Sie war … wunderschön.

Mosaku entglitt seinen Armen, er spürte seine Hände kaum noch. Seine Beine gaben unter ihm nach.

Doch seine Knie kamen nie auf der Schneedecke auf. Stattdessen war sie plötzlich da, fing ihn auf, hielt ihn aufrecht. Ihre Arme waren nach wie vor kalt, aber ihre Berührung war es nicht. Er wollte diese Hitze nicht fühlen, die sie in ihm entfachte und doch sehnte er sich danach, brauchte sie zum Überleben.

Als Yuki-Onna ihre Lippen auf seine gefrorene Wange drückte, stieß er sie nicht fort. Er seufzte auf. Er lehnte sich ihr entgegen. Wob seine steifen Finger in ihr Haar, zog sie näher. Bis er das Gefühl hatte, dass da tatsächlich ein echter Körper war, den er hielt. Ein Mund, den er küsste. Atem, der sich mit seinem vermischte. Heiß. Gierig.

Sie streifte ihm den Mantel von den Schultern, öffnete sein Hemd. Er wusste, es war nicht richtig, er sollte das nicht tun, und doch fühlte es sich in diesem Moment überlebenswichtig an. Halbnackt stand er im Schnee, von weißen Flocken umtanzt wie von Asche. Yuki-Onna umschlang ihn von Kopf bis Fuß, schmiegte ihre berauschende Form an seine. Gänsehaut raste seine Arme hinauf, doch er wusste nicht, ob vor Kälte oder Hitze. In diesem Moment war er alles: erfroren und entflammt. Tot und so lebendig wie noch nie.

Sie zog ihn hinab in den Schnee und er folgte ihr. Ließ sich von ihr leiten. Ihre Körper und Gedanken verschmolzen miteinander, er war selbst halb Geist. Er war sie, und sie er. Diener und Herr, Zerstörer und Schöpfer.

Selbst als sie sich später von ihm löste und ihre feste Gestalt im Wind wieder auseinandertrieb, wusste er, dass sie von jetzt an immer bei ihm sein würde. Wer er auch zuvor gewesen war, jetzt war er ein anderer. Sie hatte ihm etwas Essentielles genommen und etwas anderes geschenkt.

Er war nicht länger derselbe. Aber er lebte.

Ihm war warm, als er sich aufsetzte. Ihre Windfinger spielten mit seinen Haaren, während er sich anzog, Schicht um Schicht. Mit frostüberzogenen Lippen knabberte sie an seinem Ohr, so verspielt, so intim, dass ihm erneut das Blut in die Wangen schoss.

»Ich muss«, widersprach er.

Sie hielt ihn nicht auf. Nur als er erneut nach seinem Meister greifen wollte, um ihn mitzunehmen, schob sie eine kalte Hand in seinen Weg.

Er bleibt, sagte sie. Du gehst.

Kichi nickte. Er konnte ihr nichts abschlagen. Nicht mehr.

Du wirst niemandem von unserer Begegnung erzählen, fügte sie hinzu. Vor seinen Augen setzte sie sich ein letztes Mal zusammen, ihr Blick fuhr direkt in sein Herz.

Sonst muss ich kommen und dich endgültig holen.

Sie würde einen Weg finden. Er zweifelte nicht daran.

»Ich schweige«, wisperte er. Und sie ließ ihn ziehen.

Oder das, was jetzt aus ihm geworden war.

Die Erinnerung an Yuki-Onnas Kälte setzte sich tief in ihm fest, das scharfkantige Flüstern darüber, was er getan hatte, die süße Sehnsucht danach, wie sich ihre hitzigen Küsse, ihr Lebenshunger angefühlt hatten.

Aber über all das sprach er nie. Nicht einmal mit seiner Frau, selbst als sie ihn deswegen verließ. Nicht mit seiner Tochter. Sie würden nicht verstehen. Sie konnten nicht verstehen.

Aber manchmal waren die Bilder übermächtig. So wie jetzt. Es lag an dem Frost, dem Winterwind, der sich ins Haus und Kichis Knochen schlich.

»Es wird zu kalt«, brachte Kichi hervor. »Es muss

Feuerholz nachgelegt werden.«

Hinata neben ihm regte sich nicht.

Steif vor Kälte wandte Kichi den Kopf, um sie anzusehen.

Die Schneefrau saß neben ihm. Bleich und wunderschön. Schnee glitzerte in ihren Augen, Eis auf ihren Wangen, als hätte sie geweint.

Kichis Herz klopfte heftig in seiner Brust. »Du …«, flüsterte er.

War sie hier, um ihn mitzunehmen? Um ihn zu töten? Aber er hatte nicht geredet, er hatte nie etwas verraten.

Oder?

»Das ist also deine Geschichte.« Die Stimme war nur ein Hauch, nur ein Rascheln von Zweigen an der Hauswand. Aber er hörte die Stimme. Sie war kein Wispern in seinem Kopf.

Nein, nein, das hier war nicht die Schneefrau. Er konnte jetzt wieder klarer sehen. Es waren schwarze Haare, keine aus Schnee. Vertraute, ruhige Augen, keine aus Eis. Seine Tochter. Sein Sonnenkind. Doch etwas an ihrem Leuchten flackerte.

Und mit ihrem Blick dämmerte ihm, was er getan hatte.

»Ich … Ich habe sie verraten.« Kichi griff sich an die Brust, dorthin, wo das Herz gegen seine Rippen trommelte. Er hatte geredet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Anscheinend ließ ihn nach seiner Kraft und seinem Gehör nun auch sein Verstand im Stich. »Du hättest das nicht hören sollen!«, entfuhr es ihm. »Ich hätte nicht … Es ist der Winter in meinen Knochen, er verwirrt mich. Ich …«

Hinata wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich habe mich immer gefragt … Mutter hatte so viele Theorien.«

»Du musst gehen!«, drängte er sie. Vor seinem inneren Auge blitzte das Bild seines Meisters auf. Die bleichen Lippen. Die blutleere Haut. Der starre Blick. »Schnell. Bevor sie kommt. Du solltest nicht bei mir sein, du solltest nicht sehen müssen, wenn sie –«

»Vater.« Seine Tochter legte eine Hand auf seine. Warm. Menschlich warm. In dem Moment fühlte es sich falsch an.

Er entzog sie ihr. »Du verstehst nicht!« Yuki-Onna würde ihn holen. Bodenlose Angst breitete sich in ihm aus, sein Ton wurde herrischer. »Ich habe das Versprechen gebrochen! Sie wird nicht gnädig sein. Sie –«

Neue Tränen rollten über die blassen und doch eindeutig rosigen Wangen. »Du bist ihr nie begegnet.«

»Hinata –«

»Es war nicht die Schneefrau.«

Er schüttelte vehement den Kopf. Wie konnte er sie dazu bringen, zu verstehen? Es war nicht nur irgendeine Geschichte, er hatte es tatsächlich erlebt!

»Sie haben ihn gefunden, damals«, sagte Hinata sanft. »Mosaku. Erinnerst du dich? Mutter hat es mir erzählt. Als sich der Schnee Monate später zurückzog, haben sie ihn gefunden. Ihm fehlte sein Mantel, die gesamte Kleidung. Sein Fleisch war angenagt von wilden

Tieren und –«

»Yuki-Onna hat seine Kleidung genommen. Nachdem ich gegangen bin.«

»Was sollte sie mit seinen Kleidern?«

»Was wollte sie mit mir?«, fuhr er auf. »Ich weiß es nicht! Wir haben keine Zeit dafür. Hinata, du musst mich sofort verlassen. Du musst –«

Sie lächelte schwach. »Es waren andere Umstände, du hast ums Überleben gekämpft. Hier besteht keine

Gefahr.«

»Hörst du mir nicht zu?«, fragte er ungeduldig, gereizt.

»Sehr genau sogar. Kurz bevor man erfriert, wird einem warm, sagt man. Vielleicht hat es sich für dich angefühlt wie die Umarmung einer Frau?«

»Nein, so war das nicht. Es …« Aber etwas in ihren Worten schlug Wellen in seinen Gedanken, löste ein Echo aus, das die Oberfläche seiner Erinnerungen kräuselte, verzerrte.

Wieder sah er Mosaku vor sich. Wie er im weichen Schnee zusammenbrach, sich trotz Kichis Bitten nicht mehr rührte, während die Frostkristalle ihm um die Ohren peitschten.

Kichi hatte es selbst gedacht, in diesem Moment. Ob Mosaku bereits warm war? Ob der Schnee sich anfühlte wie eine Umarmung? Wie die Küsse der Yuki-Onna.

»Mich bekommst du nicht!«, schrie er in den Sturm hinaus und schlug die Fäuste gegen den Wind, als könnte er ihn damit vertreiben. Als könnte er durch die Bewegung genug Wärme erzeugen. Dabei würde er nur bei Mosaku finden, was ihn vor der Kälte schützen konnte: mehr Kleidung.

War es nicht ohnehin zu spät für seinen Meister? Die Atemwolken vor seinen Lippen wurden immer spärlicher. Kichi gelang es kaum, sich selbst voranzuschleppen, geschweige denn Mosaku mitzuschleifen. Der ältere Mann war verloren. Kichi würde es nicht einmal selbst zurückschaffen, wenn er sich nicht beeilte.

Also zog er Mosaku aus. Und sich dann die Sachen über den eigenen Körper.

Kichis Augen stachen vor Tränen, vor Kälte. Sein Herz krampfte. Mosaku wehrte sich kaum, zu wenig Kraft war noch in ihm. Es fühlte sich trotzdem widerlich an. Kichi verlor einen Teil von sich selbst in diesem Moment, ersetzt durch einen Eissplitter, der sich tief in ihn hineinfraß. Aber er tat es trotzdem. Er nahm seinem Freund alles, was ihm selbst das Überleben sicherte. Weil er der Jüngere war. Weil er nicht als Erster zusammengebrochen war.

Er erkämpfte sich sein Leben mit einer Leidenschaft und Skrupellosigkeit, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie besaß.

»Du warst all das«, sagte Hinata und riss ihn hart aus den Bildern heraus. »Nicht die Schneefrau.«

Kichis Herz raste. Er saß auf dem Bodenstuhl, die Decke um sich, seine Tochter neben sich. Seine Tochter mit dem ernsten Blick. Wegen seiner Lügen? Oder seiner Taten? Sein Blick sprang von ihr fort, zum Tee auf dem dunklen Holztisch, zu der Schneeschicht, die sich an die Scheibe schmiegte. Drückte. Als wollte sie hereinbrechen. Als wäre sie gekommen, um Kichi doch noch zu holen. Weil er geredet hatte. Weil er von Yuki-Onna erzählt hatte, obwohl er geschworen hatte zu schweigen.

Weil er sich nach nichts in seinem Leben jemals so sehr gesehnt und gefürchtet hatte, wie erneut ihre Berührung zu spüren. Das Leben, die Hitze, die sie ihm eingehaucht hatte, während er ihr seine gab.

»Es ist kalt«, sagte er. »Legst du mehr Holz auf?«

Hinata entschlüpfte ein Geräusch, das alarmierend nach einem Schluchzen klang. Aber sie sprang auf, kam seiner Bitte so abrupt nach, als wäre sie froh darum, für einen Moment von ihm fortzukommen.

Kichi löste die Decke von seinen Schultern. Kämpfte sich auf die Füße. Das Ziel gab ihm Kraft. Der weiße Tanz vor dem Fenster gab ihm Kraft. Beinahe spürte er seine schmerzenden Gelenke gar nicht mehr, stattdessen fühlte er, wie sie bereits ihre kalten Finger durch die Ritzen und Fugen nach ihm ausstreckte. Ihn zu sich lockte.

Yuki-Onna.

Er fürchtete sie. Aber er fürchtete noch mehr um seine Tochter. Mit einem Ruck riss er die Tür auf. Flocken stürzten sich ihm in stürmischer Begrüßung entgegen, bissen ihm in die Haut, zogen ihn mit dem Wind nach draußen. Sie war überall, umfing ihn mit ihren frostigen Armen, seufzte leise in sein Ohr.

Dieses Mal würde ihr gemeinsamer Tanz unendlich währen. Dieses Mal würde er nicht zurückkehren. So wie es damals schon der Fall hätte sein müssen. Er ließ sich in ihre Nähe fallen.

Doch etwas zog ihn zurück. Etwas Warmes schob sich zwischen sie, trotzte ihnen beiden. Dann war die Tür wieder zu, das Weiß ausgesperrt. Draußen heulte der Wind um den Verlust.

»Bitte, Vater.« Hinatas Hände brannten warm auf Kichis Wangen. In ihren Augen glitzerten noch immer Tränen. Oder noch mehr? »Was auch immer du getan hast, es ist kein Grund, jetzt schon zu gehen. Ich bleibe trotzdem bei dir, hörst du?«

Er hörte sie. Sein wunderbares Sonnenkind.

YUKI-ONNA

雪女

Die »Schneefrau« wird als so zwiespältig beschrieben wie der Schnee selbst. Sie kann freundlich sein und vor Schneestürmen warnen, oder aber auch Menschen in einen Schneesturm locken und ihnen dort das Leben entziehen. Dabei ähnelt die Beschreibung auch manchmal einem Sukkubus, d. h. einem schönen weiblichen Dämon, der Männer verführt. Die Schneefrau gehört zu den bekanntesten Yokai und wird in der japanischen Popkultur immer wieder neu aufgelegt. Sie erfreut sich aber auch außerhalb Japans großer Beliebtheit. Eine bekannte Legende berichtet von eben jener Geschichte, die hier adaptiert und neu interpretiert wurde: Zwei Männer geraten in ein Schneegestöber. Den einen tötet sie, den zweiten verschont sie – solange er verspricht, niemals über den Vorfall zu sprechen. Jahrelang hält er sein Wort. Er heiratet eine Frau und bekommt mehrere Kinder mit ihr. Eines Tages gesteht er ihr jedoch, dass sie ihn an die Schneefrau erinnert und erzählt ihr von dem Vorfall. Daraufhin gibt sich seine Frau als Yuki-Onna zu erkennen und wirft ihm vor, das Versprechen gebrochen zu haben. Zum Wohle ihrer gemeinsamen Kinder sieht sie zwar davon ab, ihn zu töten, doch sie verschwindet für immer.

ANNE DANCK

Anne Danck, geboren 1991 und aufgewachsen in Berlin, war von jeher von zwei Dingen fasziniert: vom Schreiben und von der Biologie. Letzteres führte sie zum Studium aus Berlin fort und anschließend zurück, um dort als begeisterte Verhaltensbiologin zu promovieren. Das Schreiben wiederum ist die tägliche Therapie, die ihr beim Sortieren der Gedanken hilft. Ein wiederkehrendes Thema in ihren Geschichten sind Märchen, auf den Kopf gestellt und aus anderen Blickwinkeln beleuchtet.

Mit fünfzehn Jahren erhielt sie ihre erste Auszeichnung für eine Kurzgeschichte, es folgten diverse Veröffentlichungen in Anthologien, darunter auch die »Anthologie Noir 1«, die mit dem Deutschen Phantastik Preis 2019 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman-Debüt »Spielmannsbraut« erschien 2021, 2022 ihre märchenhafte Anthologie »Wünsche so schwarz wie Ebenholz« und 2023 der Dark Fantasy-Roman »Es war einmal im Dunklen Wald«.

化け猫

WAS DU SÄST …

Stella Delaney

Triggerwarnungen befinden sich am Ende des Buches.

Rot. Dunkles, klebriges Rot.

Seine Finger zuckten. Er kämpfte gegen den Drang, die eine Hand mit der anderen zu umfassen und gegen seine Brust zu drücken wie ein verletztes Tier. Stattdessen ließ er sie hängen, als gehörten sie nicht zu ihm. Und lief weiter.

Um ihn herum herrschte gräulich-fahles Zwielicht. Zwischen hohen, dichten Bäumen kniete er sich auf den weichen Waldboden und tauchte seine Hände ins kalte Wasser eines flachen Stroms. Rote Schlieren bildeten sich, tanzten in der klaren Flüssigkeit wie Tinte in einem Wasserglas. Als er seine Finger wieder hob, waren sie sauber. Makellos. Als wäre nichts geschehen.

Er stand auf, wischte die Hände an seiner Hose ab. Drehte sich um und ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.

Doch irgendwo im Dunklen zwischen den Bäumen waren große, leuchtende Augen, die ihm nachstarrten.

Sie hatten alles gesehen.

***

Ryan zuckte zusammen und war plötzlich hellwach. Der Raum um ihn herum vibrierte. Laute Musik, fröhliche Stimmen, bunte, blinkende Lichter, die sich wie Nadeln in seine Augen bohrten.

Für einen Moment starrte er benommen auf die dunkle, glatte Tischplatte, auf der eben noch sein Kopf gelegen und deren Kante schmerzhaft gegen seine Rippen gedrückt hatte. Zahlreiche leere und halbvolle Gläser mit verschiedenen, leuchtend bunten Flüssigkeiten standen darauf, zwischen Abdrücken und eingetrockneten Flecken. Sein Magen hob sich, rebellierte fast.

Das schwarze Kunstleder der Couch knirschte, als er sein Gewicht verlagerte, um sich aufzurichten. Er befand sich in der Kabine einer Karaoke-Bar, wie ihm der große Bildschirm verriet, auf dem noch der Text des letzten Liedes flackerte.

Aber warum war er ganz allein? Und wie zur Hölle hatte er bei diesem Lärm einschlafen können?

Die Tür der Kabine öffnete sich, und eine kleine, unscheinbare Frau kam in den Raum. Vermutlich eine Angestellte, die die Gläser abräumen und sauber machen wollte. Sie verbeugte sich kurz und sagte dann etwas auf Japanisch, das Ryan nicht verstand. Wahrscheinlich wollte sie ihn höflich darauf hinweisen, dass seine reservierte Zeit um war.

Ryan zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, griff nach seiner schwarzen Lederjacke und stand schwungvoll auf. Zu schwungvoll. Für einen Moment drehte sich der Raum um ihn herum.

Ruhig bleiben. Einen Punkt fixieren. Atmen.

Sein Blick hielt sich am Karaoke-Bildschirm fest. Er versuchte, das Lied anhand der angezeigten Worte zu erkennen. Doch noch bevor es ihm gelang, flimmerte der Bildschirm plötzlich wie ein Fernseher mit schlechtem Empfang. Aus dem Schneesturm der Pixel formten sich vier Kanji, blutrot, auf weißem Hintergrund. 自業自得

Sie pulsierten wie ein schlagendes Herz.

Ryan rieb sich die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der Bildschirm schwarz. Oder war er das schon die ganze Zeit gewesen?

In seinen Gedanken herrschte Chaos. Erinnerungen, Gegenwart, wirre Träume – alles verschwamm miteinander und ließ ihn orientierungslos zurück.

Die Frau sprach ihn erneut an, riss Ryan aus seiner Trance. Oh Gott, sie musste denken, er sei irgendein besoffener Tourist.

»Ich bin schon weg. Einen Moment …«

Sie hielt etwas mit beiden Händen, und streckte es Ryan entgegen. Reklame? Die Rechnung? Ohne sein Zutun griff seine rechte Hand nach dem Papier. Er warf noch einen Geldschein auf den Tisch, bevor er aus dem Raum stürmte. Das Rufen der Frau ignorierte er.

Ja, er wusste es. In Japan gab man kein Trinkgeld. Es war nicht nur unerwünscht, sondern sogar eine Beleidigung, wie ihm sein Bruder schon am ersten Abend erklärt hatte.

Er hatte sich als typischer, ungebildeter Amerikaner erwiesen. Als Gaijin. Wieder einmal. Ein bekanntes Gefühl stieg in ihm auf wie brodelnde Lava. Nichts wie raus hier.

Doch seine Knie waren weich, sein Gang schwankend, als wäre er tatsächlich betrunken. Hatte er vielleicht doch einen Drink zu viel gehabt?

Die Rezeption. Ein freier Kassenautomat. Den angezeigten Geldbetrag nahm er kaum wahr. Stattdessen starrte er auf das Logo der Bar – eine grinsende Comicversion der berühmten Winkekatze, die rechte Pfote erhoben, während die linke ein Mikrofon hielt. Wieder schien sich der Raum um ihn zu drehen und er bekam plötzlich kaum noch Luft. So schnell wie möglich zog er seine Karte durch.

Dann war es endlich geschafft. Ryan lehnte sich einige Schritte vom Eingang der Bar entfernt an eine Hauswand. Stand einfach nur da, im Licht der tausend blinkenden Leuchtreklamen, die einem das Gefühl gaben, in einem Science-Fiction-Film gelandet zu sein. Wie vermutet befand er sich mitten in Shinjuku, dem Viertel von Tokio, das für seine vielen Einkaufsmöglichkeiten genauso bekannt war wie für seine Wolkenkratzer und das ausschweifende Nachtleben.

In der rechten Hand hielt er immer noch das Papier. Er hob es an und betrachtete es zum ersten Mal genauer.

Ein Bogen voller Fotosticker. Aus einem dieser Purikura-Automaten, wie es sie hier an jeder Ecke gab. Zwei Personen, umgeben von Blumenranken und kleinen Herzen und einer Sprechblase mit best friends.

Er selbst, mit einem geradezu peinlichen Grinsen. Und Miyako.

Ein dumpfer Schmerz breitete sich in seiner Brust aus. Aber es war nicht seine Schuld. Es war verdammt nochmal nicht seine Schuld.

Er hatte nie hierher kommen wollen. Nie das Bedürfnis gehabt, diese übergroße Insel, auf die sein älterer Bruder geflüchtet war, näher kennenzulernen.

»Nicht eine Insel. Viele Inseln«, belehrte ihn sein begeisterter Sitznachbar im Flugzeug. »Im Ballungsraum Tokio leben 37 Millionen Menschen. 37 Millionen! Die Metropolregion New York hat gerade mal 20 Millionen.«

Ryan ließ ihn reden. Setzte seine Kopfhörer auf und tat so, als schlafe er. Als sei das alles nur ein komischer Traum, aus dem er wieder aufwachen würde. Zuhause, in seinem Zimmer in Houston.

Doch nur wenige Stunden später stand er hellwach mitten in dieser Millionenstadt, in dem Apartment, das ihm sein Bruder organisiert hatte.

»Ist das ein Witz? Hier bleibe ich keine fünf Minuten. Der reinste Hasenstall.«

Sein Bruder Jason seufzte nur. Erklärte ihm nochmals mit ruhiger Stimme, wie der Wohnungsmarkt in Tokio funktionierte. Als wüsste er das nicht. Als sei er der kleine Bruder, der von nichts eine Ahnung hatte.

Verfluchte winzige Apartments. Verfluchte chaotische Stadt. Wusste der Teufel, warum Tokio der absolute Traum so vieler junger Menschen aus der ganzen Welt war. Seiner war es auf jeden Fall nicht. Es fühlte sich wie eine Strafe an, eine Verbannung. Was in gewisser Weise auch stimmte.

»Nicht mit mir!« Ryan drehte sich um. Wollte aus der Wohnung laufen, theatralisch die Tür zuschlagen – doch Jason hielt ihn zurück. Das sonst so ruhige, freundliche Gesicht seines Bruders wirkte plötzlich hart.

»Es ist ja nicht so, als ob du eine Wahl hättest. Wenn ich Dad richtig verstanden habe, ist es das hier oder der Knast.«

Einen Moment war Ryan sprachlos. Dann zischte er: »Das hier ist ein verdammter Knast.«

Sein Bruder atmete tief ein, dann aus. »Du übertreibst. Ich habe selbst bis vor kurzem hier gewohnt. Die Lage ist ausgezeichnet, um die Stadt zu erkunden. Die Nachbarn sind größtenteils Studenten der Universität von Tokio, sie sprechen fast alle Englisch. Miyako, das Mädchen von gegenüber, ist in deinem Alter und richtig nett. Wenn du

dir nur ein bisschen Mühe gibst …« Miyako.

Der dumpfe Schmerz pochte weiter wie ein entzündeter Zahn. Er zerknüllte mit zitternden Fingern das Foto und ließ es zu Boden fallen.

Ein älterer, gut gekleideter Mann warf ihm im Vorbeilaufen einen bösen Blick zu.

»Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Kram, du …« Ryan konnte sich gerade noch fangen. Die Wut stieg erneut in ihm auf wie zähe, glühende Lava. Aber sie durfte nicht an die Oberfläche. Denn dann geschahen Dinge. Dinge, die ihn in Schwierigkeiten brachten.

Er durfte sich vorstellen, was er jetzt gerne mit dem Mann gemacht hätte, aber er durfte es auf gar keinen Fall tun. Hier in Japan hatte man keine Wutausbrüche. Man sprach höflich, man verneigte sich, zeigte Ehrfurcht. Vielleicht hatten seine Eltern ja darauf gehofft, als sie ihn ausgerechnet hierher geschickt hatten. Aber das konnten sie vergessen.

Der Menschenstrom um ihn herum floss dahin, und er ließ sich mittreiben in Richtung Bahnhof. Ein kleines Teilchen unter vielen. Er fand diesen Gedanken beruhigend und beunruhigend zugleich.

Während er lief, hob er seine Hände. Drehte sie, untersuchte sie. Sie fühlten sich irgendwie leicht feucht und klebrig an, doch keine Spur von Rot. Klar, war ja auch nur ein Traum gewesen. Doch das mulmige Gefühl ließ sich nicht abschütteln. So, als stünde ihm eine Prüfung bevor, für die er nicht gelernt hatte.

Wenigstens hatte er den Bahnhof fast erreicht. Der Strom der Menschen trug ihn über die riesige Kreuzung, als sein Blick an einer der großen 3D Reklametafel hängen blieb. Eine Sehenswürdigkeit, die es sogar in die CBS Morning Show geschafft hatte.

Die gigantische, grau-weiße Katze starrte mit leuchtenden Augen auf ihn herab. Fixierte ihn wie Beute, duckte sich zum Sprung. Obwohl er wusste, dass es sich nur um eine geniale Mischung aus moderner Animation und optischer Illusion handelte, zuckte Ryan zusammen. Lief automatisch schneller.

Sie sieht so verdammt lebendig aus. Und irgendwie … anders?

Letztes Mal war die Katze noch dreifarbig gewesen, dessen war er sich ganz sicher.

Letztes Mal. Als er mit Miyako hier gestanden hatte. Ihr Strahlen, als sie ihm die Tafel zeigte. So voller Stolz, voller ehrlicher Begeisterung.

Er schüttelte den Gedanken ab wie eine lästige Hand auf der Schulter. Hatte er sich nicht ins Nachtleben gestürzt, weil er eben nicht an Miyako denken wollte?

Sein Handy begann zu vibrieren. Als er das Gerät aus der Tasche holte, sah er, dass es bereits mehrere verpasste Anrufe anzeigte. Alle von derselben Nummer.

»Hallo?«

»Verdammt nochmal, was soll das, Ryan?«

»Was soll was? Ich weiß nicht, wovon du redest.« Wenn er etwas jetzt nicht gebrauchen konnte, dann waren es Vorwürfe. Nicht bei den drückenden Kopfschmerzen, die sich bereits abzeichneten.

»Deine angebliche Unwissenheit kannst du dir schenken.« Die Stimme seines großen Bruders klang trotz allem eher besorgt als wütend. »Erklär mir lieber, warum du fast zwei Tage nicht zu erreichen warst.«

Zwei Tage? Er hatte volle zwei Tage verloren? Einfach vergessen?

»Ich … ich war unterwegs. Es war meistens laut. Hab’s wohl nicht gehört.«

»Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist es ein verdammt schlechter. Du weißt doch ganz genau, dass Emi und ich über Obon bei ihrer Familie sind, und dass mir dieser Anlass sehr wichtig ist. Ich hab keine Zeit, stundenlang hinter dir herzutelefonieren. Und außerdem hatten wir eine Abmachung.«

Ja klar. Punkte sammeln bei den zukünftigen Schwiegereltern. Es war ihm wohl irgendwie entfallen, nicht wichtig gewesen – belanglos und uninteressant wie so vieles, was Jason sagte oder tat.

»Kauf mir doch einfach ein Ticket zurück in die Staaten, dann bist du mich und den ganzen Ärger los.«

»Wenn es nur so einfach wäre.« Sein Bruder schwieg eine Weile. Dann meinte er in einem versöhnlichen Ton: »Okay, folgender Vorschlag: Schlaf dich erst mal aus. Morgen fahren Emi und ich zurück nach Tokio, ich setze sie zuhause ab, komme dann direkt zu dir und wir reden in Ruhe. Alles klar?«

»Aye, aye, Sir.«

»Ernsthaft, Ryan. Es reicht. Du hast schon mehr als genug angerichtet. Diesmal hast du dich selbst übertroffen.«

Dieser Ton. Diese verdammte Überheblichkeit, als sei Ryan nur der unwissende kleine Bruder.

»Was meinst du? Verdammt nochmal, Jason, ich kann mich wirklich an nichts …«

Doch sein Bruder hatte bereits aufgelegt.

Für Jason war es ja auch einfach. Er hatte schon immer von einem Leben in Japan geträumt und seinen Plan direkt nach dem College in die Tat umgesetzt. Nun unterrichtete er seit einigen Jahren Englisch an verschiedenen Schulen, sprach die Landessprache fließend, hatte eine japanische Verlobte.

Ryan dagegen hatte seine Zukunft in den USA gesehen. In einem System, in das er einfach perfekt passte. Der gutaussehende Sonnyboy aus bestem Haus. Der Beliebte. Der Sportler. Der Star auf jeder Party.

Eine Gruppe Schüler drängte an ihm vorbei. In Eile, in akkuraten Uniformen.

Ryans Faust zuckte. Elende Streber, genau wie der Typ, der daran schuld war, dass er jetzt hier in einer Masse aus Fremden versank, statt an der Uni ein Sportstipendium zu genießen und eine gute Zeit mit seinen Freunden zu haben.

»Nur vorübergehend«, hatte sein Vater gesagt. »Bis Gras über die Sache gewachsen ist.«