Dunkles Schicksal - Kresley Cole - E-Book
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Dunkles Schicksal E-Book

Kresley Cole

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Beschreibung

Als Kinder haben sich Thronos, Lord von Skye Hall, und Lanthe, ein keckes Sorceri-Mädchen, ewige Liebe geschworen. Für Lanthe war Thronos bereit, seinen Vrekener-Clan anzuzweifeln. Doch dann gerieten die beiden in den Mittelpunkt einer tödlichen Familienfehde - und seitdem sind sie erbitterte Feinde. Aber selbst jetzt, nachdem Jahrhunderte vergangen sind, kann nichts das Verlangen nach der anmutigen Zauberin stillen, das noch immer in Thronos brodelt ...

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Prolog

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Aus dem Lebendigen Buch des Mythos …

Die Autorin

Die Romane von Kresley Cole bei LYX

Impressum

KRESLEY COLE

Dunkles Schicksal

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Bettina Oder

Zu diesem Buch

Vor fünfhundert Jahren fand der junge Vrkener Thronos in der Sorceri Melanthe seine Seelengefährtin. Sie schworen sich ewige Liebe, doch als Lanthes Eltern eines Nachts von Thronos’ Vater getötet wurden, trennten sich ihre Wege als erbitterte Feinde. Thronos konnte seine Seelengefährtin trotz alldem nie vergessen. Und als sie sich eines Tages wieder gegenüberstehen, wittert er seine Chance, ihre gemeinsame Bestimmung doch noch zu erfüllen. Aber die Vergangenheit hat tiefe Narben an Lanthes Seele hinterlassen, und der Schmerz wegen Thronos’ Verrat bricht erneut über sie herein. Sie versucht zu fliehen, doch Thronos folgt ihr nach Pandämonia. Dort geraten sie augenblicklich zwischen die Fronten eines erbitterten Krieges und müssen zusammenhalten, um den übermächtigen Feinden zu entgehen. Thronos gelingt es nur langsam, Lanthes Vertrauen zurückzugewinnen, doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto sicherer ist sich auch Lanthe, dass selbst die Jahrhunderte des Hasses ihr Verlangen nacheinander nicht zerstören konnten. Aber wird es ihnen gelingen, ihre Völker auszusöhnen und den Krieg zwischen Vrkenern und Sorceri endlich zu beenden?

Prolog

Tief in den Alpen, Reich der Menschen

Vor etwa fünfhundert Jahren

Lanthe kroch auf Händen und Knien durchs Gras, auf der Suche nach Beeren und Löwenzahn – irgendetwas, um den quälenden Hunger zu stillen, denn ihr Magen drohte sich inzwischen schon selbst zu verdauen.

Ihre ältere Schwester Sabine, oder Abie, wie Lanthe sie nannte, sollte bald aus dem nahe gelegenen Dorf der Sterblichen zurück sein, wohin sie sich auf der verzweifelten Suche nach Nahrung begeben hatte. Lanthe hatte sie begleiten wollen, doch ihre Schwester hatte gesagt, dafür sei sie mit neun Jahren noch zu jung.

Also wartete Lanthe auf dieser Wiese auf ihre Rückkehr. Es war Lanthes Lieblingsort, unterhalb der hoch aufragenden Abtei mitten in den Bergen, wo sie mit Sabine und ihren Eltern lebte. Ein Tannenwald umgab die kleine Lichtung, und ein beschaulicher See spiegelte den Himmel wider.

Hier konnte sie Kaninchen dazu verführen, sich Löwenzahn mit ihr zu teilen. Sie gab den Tieren Namen und redete mit ihnen. Manchmal lag sie auch stundenlang einfach nur inmitten der Blumen und blickte zu den bauschigen weißen Wolken auf, um deren Umrisse zu deuten.

Doch heute war der Himmel wolkenlos. Darum runzelte sie verwundert die Stirn, als ein Schatten an der Sonne vorbeiglitt.

Sie beschirmte die Augen, um hinaufzuschauen, und sah … Schwingen. Tödliche Schwingen. Sie gehörten einem Jungen, der genauso fassungslos zu sein schien wie sie. Er war ein Vrekener! Ein Feind ihrer Art.

Als sie sich hastig erhob, trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren so weit aufgerissen wie ihre. Sie starrten einander an – bis er mit dem Kopf voran in eine Tanne flog.

Sobald der Zauber gebrochen war, raffte sie ihre Röcke und rannte um ihr Leben. Doch noch ehe sie die Deckung des Waldes erreichen konnte, landete er direkt vor ihr und spreizte seine Flügel.

Es verschlug ihr den Atem. Die Flügel des Vrekeners waren gezackt – eher wie bei einer Fledermaus als einer Taube – und liefen unten in drei Spitzen aus. Die Spitzen, die dem Körper am nächsten waren, besaßen eine tödliche silberne Kralle.

Sie wandte sich um und wollte in eine andere Richtung fliehen, um nicht in Richtung des Sees zu laufen. Wieder holte er sie ein und versperrte ihr mit seinen Flügeln den Weg. Auf der Innenseite waren sie grau und von verzweigten Linien aus Licht überzogen.

Es war sinnlos zu fliehen, und niemand würde ihre Schreie hören. Ihre Eltern befanden sich oben in der Abtei. Die beiden Eremiten waren vollauf damit beschäftigt, noch mehr Gold herzustellen. Ob Sabine wohl Lanthes verstümmelten Körper hier unten finden würde?

Ich werde kämpfen. Bei dem Gedanken begann sie zu zittern.

»Ich rieche Magie an dir«, sagte der Vrekener und kniff die lebhaften grauen Augen zu Schlitzen zusammen. »Bist du etwa eine kleine Sorcera?«

Es hatte keinen Zweck, ihre Spezies zu verleugnen, also hob sie drohend die Hände. Augenblicklich sammelte sich Energie in ihnen, und Wirbel metallisch blauen Lichts leuchteten in ihren Handflächen.

»Ich bin die Königin der Überzeugungskünste, eine große und schreckliche Zauberin«, verkündete sie in unheilschwangerem Ton, obwohl sie am liebsten auf ihren Fingernägeln gekaut hätte. »Wenn du dich mir auch nur einen Schritt näherst, Vrekener, bin ich gezwungen, dir wehzutun.«

Lanthe wollte ihre Kräfte gar nicht benutzen. Jedes Mal, wenn sie das tat, endete es in einer Katastrophe. Aber gegen einen Vrekener würde sie es tun müssen. Selbst wenn er der hübscheste Junge war, den sie sich vorstellen konnte.

Er wirkte ein, zwei Jahre älter als sie, hatte gebräunte Haut, breite Wangenknochen und sandbraunes Haar, das ihm in die Stirn fiel und seine Hörner umspielte. Diese aus seinem Schädel herausragenden Spitzen waren glatt und silbrig. Außerdem besaß er ebenmäßige weiße Zähne und sogar ein Paar Fangzähne. Sie verspürte das verrückte Verlangen, einen dieser spitzen Zähne mit dem Zeigefinger zu berühren.

Die kleine Demonstration ihrer Zauberkräfte schien ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken. »Oder vielleicht bist du ein kleines Lamm«, sagte er, als ob sie gar nicht gesprochen hätte. »Vom Himmel aus siehst du jedenfalls wie eines aus, wie du da in deinem weißen Kleid herumkrabbelst und Blumen frisst.«

Ihr Kopf zuckte zurück. »Was?«, brachte sie heraus. Scherzte er etwa mit ihr?

Allerdings. Seine Augen funkelten vor Belustigung. Während sie um ihr Leben fürchtete – und das seine bedrohte –, benahm er sich, als ob er gerade eine neue Spielgefährtin gefunden hätte.

Eine Spielgefährtin, die er sich sehnlichst gewünscht hatte.

»Wie lautet dein Name?«

Sie war so verwundert, dass sie unwillkürlich »Melanthe« sagte.

Er probierte den Klang des Namens aus. »Me-lan-the.« Dann presste er sich die Hand auf die Brust. »Ich bin Thronos Talo, Prinz von Skye Hall.« Sein Ton verriet, welche Bedeutung er dieser Tatsache beimaß.

Sie sah ihn blinzelnd an. »Hab noch nie von dir gehört.« Dann warf sie einen Blick über ihre Schulter zurück auf die Abtei. Falls ihre Schwester diesen Vrekenerjungen in Lanthes Nähe entdeckte, würde sie ihn mit ihren fantastischen Kräften umbringen.

Lanthe konnte es gar nicht leiden, wenn Dinge umgebracht wurden, nicht einmal gut aussehende Vrekener.

Als Königin der Illusionen konnte Sabine ihre Opfer alles sehen lassen, was sie wollte, indem sie das Erscheinungsbild ihrer Umgebung veränderte. Außerdem war sie imstande, in den Verstand einer Person einzudringen, deren schlimmsten Albtraum herauszufinden und ihn ihr dann zu präsentieren.

Ihre Mutter hatte dazu einmal fröhlich erklärt: »Wenn dein Gegner mit seinem schlimmsten Albtraum konfrontiert wird, wird er sich höchstwahrscheinlich selbst töten!« Dennoch hatte ihre Mutter Sabine geistesabwesend ein goldenes Schwert gereicht. »Wenn deine Schwester und du eure Kindheit und Jugend überleben wollt, solltest du damit umgehen können …«

»Ist das der Ort, an dem du lebst?«, fragte der Vrekener in ihre Gedanken hinein. War er ihrem Blick auf den Berggipfel gefolgt?

»Nein! Ganz und gar nicht. Wir leben weit von hier entfernt. Ich musste viele Meilen gehen, um zu dieser Wiese zu gelangen.«

»Tatsächlich?« Offensichtlich nahm er ihr das nicht ab, doch ihre Lüge schien ihn nicht zu verärgern. »Seltsam nur, dass ich Zauberei aus dieser Richtung spüre, und zwar eine Menge.«

Vrekener spürten Sorceri anhand ihres Geruchs auf – und durch die Spuren ihrer Energie. Lanthe würde ihre Eltern ermahnen müssen, größere Vorsicht walten zu lassen. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Er verfolgte das Thema nicht weiter. »Was sind Überzeugungskünste?«

Sie blickte auf ihre Handflächen hinab und erschrak über die Menge an Zauberkraft, die sie beschworen hatte. Wollte sie ihm tatsächlich etwas antun? Er wirkte nicht sonderlich bedrohlich.

Sie schürzte die Lippen und rief ihre Kräfte zurück. »Ich kann jeden dazu bringen, das zu tun, was ich will. Das nennt man Überzeugungskraft, aber eigentlich sollte es Befehlsgewalt genannt werden.«

Vor Jahren, als sie ihre Kraft zum ersten Mal eingesetzt hatte, hatte sie Sabine verärgert befohlen, den Mund zu halten. Eine ganze Woche lang konnte niemand begreifen, warum Sabine den Mund nicht öffnen konnte. Ihre Schwester wäre um ein Haar verhungert.

»Das klingt beeindruckend. Dann bist du also genauso mächtig wie hübsch?«

Ihre Wangen glühten heiß. Er fand sie hübsch? Sie blickte auf ihr abgenutztes Kleid hinab. Mittlerweile war es durch wiederholtes Waschen beinahe weiß ausgebleicht, doch früher war es farbig gewesen. Sorceri liebten Farben. Ihre Füße waren nackt, da sie aus ihren Schuhen herausgewachsen war. Sie fühlte sich nicht besonders hübsch.

»Ich bin sicher, das bekommst du dauernd zu hören«, sagte er überzeugt.

Nein. Ganz und gar nicht. Sie traf nur selten jemanden, der nicht zur Familie gehörte. Und wenn Sabine ihr einmal ein Kompliment machte, dann bezog es sich auf Lanthes Kräfte – nicht auf ihr Aussehen. Und ihre Eltern schienen sie manchmal überhaupt nicht wahrzunehmen.

Der Junge schritt langsam auf sie zu.

»Warte mal, was tust du denn?« Sie wich auf unsicheren Füßen zurück, bis sie gegen einen Baum stieß.

»Ich wollte mich nur einer Sache vergewissern.« Er beugte sich vor, bis sich sein Gesicht ganz dicht an ihrem Haar befand, und dann … roch er an ihr! Als er sich wieder zurückzog, grinste er frech, als hätte er gerade einen Preis gewonnen oder ein neues Reich entdeckt.

Dieses Grinsen löste in ihr ein Gefühl aus, als wäre sie den ganzen Weg den Berg hinauf gerannt. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, und sie schien keine Luft mehr zu bekommen.

»Du riechst nach Himmel – und nach zu Hause.« Er sagte dies, als ob es bedeutsam wäre – eine wichtige und unwiderlegbare Wahrheit.

»Was soll das heißen?« Bei den Göttern, dieser Junge brachte sie wirklich durcheinander.

»Für mich riechst du wie niemand sonst auf der ganzen Welt jemals gerochen hat oder riechen wird.« Seine Augen leuchteten silbern, als würden starke Gefühle in ihm aufwallen. »Es bedeutet, dass du und ich beste Freunde sein werden. Wenn wir erwachsen sind, werden wir … mehr sein.«

Sie hatte sich völlig auf die Worte beste Freunde konzentriert, und vor Sehnsucht schmerzte ihr Herz. Sie hatte sich schon immer einen Freund gewünscht! Sie liebte Sabine, aber ihre Schwester war zwölf und hatte meistens Erwachsenenzeug im Kopf, wie zum Beispiel woher man warme Sachen für den kommenden Winter oder genug Essen für vier Personen bekam. Vermutlich musste sich irgendjemand um das Erwachsenenzeug kümmern, da ihre Eltern ja ständig mit anderen Dingen beschäftigt waren.

Aber Lanthe konnte niemals mit einem Vrekener befreundet sein, ganz gleich, wie interessant sie ihn fand …

Ausgerechnet in diesem Moment knurrte ihr Magen, was sie tief beschämte und seine Belustigung noch vergrößerte.

»Du magst ja eine große und schreckliche Zauberin sein, aber von Zauberei wird man nicht satt, oder?« Er spreizte seine faszinierenden Flügel. »Wirst du hier auf mich warten, wenn ich mich auf die Suche nach etwas zu essen mache, Lämmchen?«

»Wieso solltest du mir etwas zu essen holen?«

Er straffte die Schultern, und seine grauen Augen leuchteten stolz. »Das ist ab sofort meine Aufgabe.«

Sie seufzte. »Das versteh ich nicht. Wir sind doch Feinde.«

Er zwinkerte ihr zu. »Ich werd’s nicht weitersagen, wenn du’s nicht tust.«

Vier Monate später

Thronos … sagte es weiter.

Und dann ließ Lanthe ihn dafür büßen.

»Sorceri sind lasterhafte, spielsüchtige, paranoide Hedonisten. Ihre Liebe zum Wein und zu Zechgelagen wird höchstens von ihrem Verlangen zu stehlen übertroffen. Es wäre eine Katastrophe, wenn ihren Kräften nicht Einhalt geboten würde.«

– Thronos Talo, Ritter der Abrechnung, Erbe von Skye Hall

»Wenn du in der Klemme sitzt, lauf!«

– Melanthe von den Deie-Sorceri, Königin der Überzeugungskünste

1

Gegenwart

Irgendwo im Pazifischen Ozean

Lanthe rannte einen bebenden Minenschacht entlang und konzentrierte sich auf die Freundinnen vor ihr: Carrow, eine Hexe, und Carrows vor Kurzem adoptierte, sechsjährige Tochter Ruby. Die Hexe trug das kleine Mädchen in ihren Armen, während sie so schnell sie konnte aus dieser gottverlassenen Mine floh.

Lanthe hielt ihr Schwert so fest gepackt, dass sich die metallenen Klauen ihres Panzerhandschuhs in den Griff gruben. Sie bemühte sich, den dichten Rauch nicht zu tief einzuatmen und Ruby zuliebe zu lächeln, die mit besorgter Miene zu ihr zurückblickte.

Lanthe und Carrow – oder »Crow«, wie Ruby sie nannte – hatten versucht, ihre grauenhafte Flucht wie ein lustiges Abenteuer erscheinen zu lassen. Ruby – rotzfrech und hinreißend – kaufte ihnen das offensichtlich nicht ab.

Sie hatten es für eine hervorragende Idee gehalten, sich in die Mine zu flüchten. Es war der direkte Fluchtweg aus dem gruseligen menschlichen Gefängnis, in dem sie alle gefangen gehalten worden waren, und bot zudem Schutz vor anderen Unsterblichen. Nach den katastrophalen Ereignissen dieser Nacht schlichen Mythianer auf der Jagd nach Beute durch sämtliche Gänge. Auch Carrows Gefährte, von dem niemand wusste, ob er nun böse war oder nicht, war auf der Suche nach ihr.

Ein weiteres Erdbeben erschütterte die Mine, sodass Gesteinsbrocken auf Lanthes wilde schwarze Flechten herabregneten. Unglücklicherweise besaß Lanthe selbst ebenfalls einen Stalker: Thronos, einen durchgeknallten, geflügelten Kriegsherren, der es darauf abgesehen hatte, sie zu vernichten.

Doch seine Art, die Vrekener, fürchtete sich vor geschlossenen Räumen. Alles Unterirdische stellte für sie eine Albtraumlandschaft dar, ganz zu schweigen von einem Tunnel, der jeden Moment einzustürzen drohte. Er würde ihr niemals in diese Mine folgen.

Aus der Ferne drang der Lärm von Explosionen an ihre Ohren, und ein Grollen erfüllte den Schacht. Dabei schien es so eine gute Idee zu sein. Sie wagte es, einen Blick nach oben zu werfen, sah die gewaltigen Deckenstützen, die sich unter ihrer Last bogen. Kein Wunder. Überall auf der Insel wuchsen neue Berge aus der Erde, was sie Lanthes Sorceri-Kolleginnen zu verdanken hatten.

Ein Felsbrocken stürzte direkt vor ihnen zu Boden, und sie verlangsamten ihre Schritte. Felsstaub umhüllte sie wie ein körniger Vorhang, bedeckte ihr Gesicht und ihre Sorceri-Maske. Carrow und Ruby waren durch den dichten Staub kaum noch zu erkennen. Die beiden bogen gerade um eine Ecke und verschwanden aus ihrer Sichtweite.

Während Lanthe ihre Schritte beschleunigte, zerrte sie frustriert an ihrem Halsband – ein Geschenk der Menschen an all ihre unsterblichen Gefangenen. Dieses unzerstörbare Halsband verhinderte, dass sie ihre angeborenen Fähigkeiten einsetzten, und es neutralisierte Kraft, Ausdauer und Selbstheilungskräfte.

Einigen Gefangenen – und zwar den allerbösesten – waren die Halsbänder in dieser Nacht entfernt worden. Lanthe trug ihres immer noch, was in keiner Weise fair war, weil sie beim besten Willen nicht zu den Guten zählte.

Ohne dieses Ding hätte sie ihre Überzeugungskünste nutzen und stärkeren Wesen befehlen können, sie und ihre Freundinnen zu beschützen. Sie hätte so schnell wie die Feyden rennen oder ein Portal erschaffen können, durch das sie überallhin gelangt wäre – weit weg von diesem Inselalbtraum.

Weg von Thronos, der seinem Ziel, sie einzufangen, näher gekommen war als in den letzten fünfhundert Jahren.

Lanthe zog die Brustplatte aus Metall hoch, die ihren Oberkörper schützte – ein unpraktisches Kleidungsstück, wenn man um sein Leben rannte. Ebenso wie ihr Rock aus gewebtem Stahl und die Stilettostiefel, die ihr bis zum Oberschenkel reichten. Dennoch hastete sie weiter und wünschte dabei, ihre Gedanken würden nicht immerfort zu ihrem alten Feind zurückkehren.

Während ihrer Gefangenschaft hatte sie den Schock ihres Lebens erlebt, als die Wachen Thronos an ihrer Zelle vorbeigezerrt hatten. Er hatte sich fangen und zu ihrem Gefängnis verschleppen lassen. Lanthe wusste es. Die pure Bosheit sprach aus seinen Augen, als er ihr mit heiserer Stimme »Bald« zugeraunt hatte.

Als Carrow sie deswegen befragt hatte, hatte Lanthe sich nur äußerst vage über die Einzelheiten ausgelassen: »Würdest du glauben, dass wir als Kinder Freunde waren?«

Später hatte Carrow sie so lange bedrängt, bis Lanthe zugegeben hatte: »Wegen mir ist er so gezeichnet.« Seine Haut war vernarbt und seine Flügel und Knochen einst zerschmettert worden – und das, ehe seine Unsterblichkeit eingesetzt hatte, ehe sein Körper in der Lage gewesen war, sich zu regenerieren. »Ich habe ihn dazu ›überredet‹, sich aus großer Höhe hinabzustürzen – ohne seine Flügel zu benutzen.«

Was konnte Lanthe sonst noch sagen? Wie sollte sie erklären, was Thronos und sie geteilt hatten? Bis er ihr Vertrauen missbraucht hatte …

Also, das war so, Carrow: Thronos führte seinen Clan eines Nachts zum geheimen Versteck meiner Familie. Sein Vater tötete meine Eltern, er schlug ihnen mit einer Vrekener-Feuersichel einfach die Köpfe ab. Meine kämpferische Schwester Sabine übte Vergeltung, indem sie seinen Vater enthauptete. Als sie dem Tode nahe war, fügte ich Thronos Wunden zu, die ihm ein ewiges Leben lang erhalten bleiben würden, und ließ ihn dann zum Sterben zurück.

Ach ja, und seitdem geht’s leider bergab mit uns …

»Die Luft wird frischer!«, rief Carrow irgendwo vor ihr. »Wir sind gleich da!«

Der Rauch verzog sich langsam, also musste Lanthe einen Zahn zulegen. Wer wusste schon, was sie dort draußen in der Nacht erwartete? Tausende von Unsterblichen waren entkommen.

Sie zog ihr Schwert, hielt es bereit. Ob jemals so viele Feinde auf einer verräterischen Insel vereint gewesen waren?

Ihr Fußknöchel schmerzte?

Warum fiel sie nach vorne?

In der einen Sekunde war Lanthe noch gerannt, in der nächsten lag sie mit dem Gesicht nach unten auf der Erde, und ihr Schwert fiel irgendwo vor ihr scheppernd zu Boden. Irgendetwas hielt sie fest! Klauen senkten sich in ihren Knöchel und durchstießen das Leder ihres Stiefels. Sie schrie und trat um sich, aber es zog sie immer weiter in den Rauch zurück.

Ghul? Dämon? Wendigo? Sie stieß ihre metallenen Klauen in den Boden, bemühte sich mit aller Kraft, Halt zu finden, und riskierte einen Blick über die Schulter.

Ihr persönlicher Albtraum. Thronos.

Durch den Dunst hindurch sah sie, dass sein vernarbtes Gesicht blutüberströmt war und sein hoch aufragender Körper unter Hochspannung stand. Ein wahnsinniges Leuchten glomm in seinen silbernen Augen, als sich seine Schwingen öffneten – sie schienen in dem düsteren Tunnel zu flimmern. Eine Sinnestäuschung.

Dieser Mistkerl hatte sich tatsächlich in einen unterirdischen Schacht gewagt. Vrekener lassen ihre Beute niemals davonkommen.

»Lass mich los, du Wichser!« Sie trat mit noch mehr Wucht zu, aber sie war seiner Kraft nicht gewachsen. Augenblick mal, warum trug er denn kein Halsband mehr? Thronos war im Grunde ein Engel, ein Krieger für das Recht.

Sie hatte gewusst, dass aus ihm ein Kriegsherr geworden war. War er etwa im Laufe der Jahrhunderte zu den Bösen übergelaufen?

»Lass sie los, Thronos!«, brüllte Carrow, die in diesem Moment auf sie zugestürmt kam. Sie hatte Ruby irgendwo geparkt und war zurückgekehrt, um es mit einem Vrekener aufzunehmen.

Für Lanthe. Ich wusste doch, dass diese Hexe mir gefällt.

Doch ehe sie Lanthe erreichen konnte, hatte Thronos Carrow einen Schlag ins Gesicht verpasst, sodass sie der Länge nach hinknallte.

Lanthe wehrte sich weiter nach Kräften und beobachtete den Kampf mit Schrecken. Thronos war zu stark, außerdem trug Carrow genau wie Lanthe immer noch ihr Halsband.

Als die Hexe erneut angriff, blitzte einer von Thronos’ Flügeln auf, aber Carrow hatte das Manöver vorausgesehen. Sie duckte sich rasch und glitt darunter durch. In der nächsten Sekunde stieß sie das Schwert nach oben, durchbohrte einen Flügel und ließ die Waffe los, sodass sie wie ein riesiger Splitter darin festhing.

Er stieß einen Schrei aus und ließ Lanthe los, um das Schwert herauszuziehen. Blut strömte aus der Wunde und sammelte sich im Geröll.

Carrow war mit einem Satz bei Lanthe und packte ihre Hand. Doch ehe sie ihre Freundin hochziehen und mit ihr fortrennen konnte, griff Thronos erneut nach Lanthes Bein und zerrte sie zurück. Carrow und Lanthe hielten einander unverwandt an den Händen fest.

Doch ihr Kampf war zum Scheitern verurteilt. Ruby war ohne Carrow verletzlich. Und trotz all des Kummers, des Leids und der Schmerzen, die Thronos und seine Art Lanthe im Laufe der Jahre bereitet hatten, glaubte sie nicht, dass er sie kaltblütig ermorden würde.

Auch wenn er noch so sehr danach aussah, als ob er genau das gleich tun würde.

Sie riskierte einen weiteren Blick zurück. Sein Gesicht war immer noch so grimmig und unerbittlich wie das von Gevatter Tod, seine Augen wechselten die Farbe: von Grau zu überirdischem Silber. Wieder einmal stellte sie sich die uralte Frage: Hatte er vor, sie zu entführen oder umzubringen? Oder wollte er sie erst entführen und dann zu Tode foltern?

Nein, nein, er konnte ihr nicht wehtun. Lanthe war seine ihm vom Schicksal bestimmte Gefährtin. Wenn er ihr wehtat, fügte er sich damit selbst Leid zu.

Der Schacht erbebte wieder. Aus der Ferne rief Ruby: »Crow!«

»Rette Ruby!«, rief Lanthe. Der Rauch wurde dicker, und um sie herum prasselte Geröll herab.

Carrow schüttelte den Kopf und suchte verbissen nach festerem Halt. »Ich werde euch beide retten.«

Mit einem ohrenbetäubendem Poltern stürzten große Felsbrocken aus der Decke herab und türmten sich im Tunnel zwischen Carrow und Ruby auf.

Ruby schrie: »Crow! Wo bist du?«

Carrow schrie zurück: »Ich komme!«

»Rette dein Mädchen!« Lanthe löste sich von Carrows Hand und ließ zu, dass Thronos sie zurückzerrte. »Mir wird schon nichts passieren.«

Carrows verzweifeltes Gesicht verschwand, als Thronos Lanthe in den Rauch zog.

Nach drei Wochen in der Gefangenschaft widerwärtiger Menschen war sie schon wieder gefangen – von jemandem, den sie sogar noch mehr hasste als Menschen, denen es Spaß machte, ihre Gefangenen zu vivisezieren.

»Verdammt noch mal, Thronos!« Lanthe grub ihre Metallklauen in den Boden und hinterließ damit tiefe Furchen. Als vor ihrem Gesicht eine Wolke aus Schutt hervorbrach, bekam sie einen Hustenanfall. »Lass mich los!« Immer noch strömte das Blut aus seinem Flügel und hinterließ neben Lanthes Furchen eine Spur auf dem Boden. »Du gehst in die falsche Richtung!« Carrow und sie hatten gehofft, den Strand erreichen zu können, doch jetzt schienen sie sich eher nach oben zu bewegen. War ja klar, dass es einen Vrekener aufwärts zog.

»Darauf habe ich Jahrhunderte gewartet«, knurrte er, ohne seinen schraubstockartigen Griff um ihren Knöchel zu lockern.

Ein weiteres Beben erschütterte die Mine. Als ein gewaltiger Fels nur Zentimeter von ihrem Kopf entfernt herunterkrachte, hörte sie auf, sich mit ihren Panzerhandschuhen festzukrallen und rief stattdessen: »Schneller, du Idiot!«

Er zerrte noch kraftvoller an ihr. Als wäre sie leicht wie eine Feder, hob er sie mit einem Ruck vom Boden auf. Er war größer gewachsen als jeder andere Vrekener, den sie je gesehen hatte. Er musste über zwei Meter zehn groß sein und überragte sie mit ihren knapp ein Meter siebzig bei Weitem. Sein Blick bohrte sich in ihren, als er sie an seine Brust drückte.

Sein Haar – zu hell, um schwarz zu sein, zu dunkel, um braun zu sein – war voller Asche, dessen mattes Grau zu seinen Augen passte. Doch als er sie betrachtete, wurden seine Augen strahlend hell und silbern wie ein Blitz. So wie seine geisterhaften Schwingen.

»Lass mich los!« Als sie mit ihren Klauen nach ihm schlug, stellte er sie auf die Füße – und schubste sie gegen die Wand.

Er drückte seinen harten Körper gegen ihren, beugte sich vor und legte den Kopf auf unheimliche Art und Weise zur Seite. Wollte er sie etwa küssen?

»Wag es ja nicht!« Sie machte Anstalten, ihn erneut zu schlagen, aber er hielt einfach ihre Handgelenke über ihrem Kopf fest.

Einen Herzschlag später presste er zu ihrer Verblüffung seine Lippen auf ihren Mund. Sie schrie auf, was ihn nur noch aggressiver vorgehen ließ. Als sie ihren Schock überwunden hatte, biss sie ihn in die Unterlippe. Er hörte nicht auf. Sie biss fester zu.

Er drückte ihre Handgelenke zusammen, bis sie fürchtete, er werde ihre Knochen zermalmen. Da ließ sie ihn los, und er zog sich endlich zurück, um sie mit blutigen Fängen anzugrinsen.

Mit der freien Hand fuhr er sich über den blutverschmierten Mund, dann streckte er sie aus und verteilte die karminrote Flüssigkeit auf ihren Lippen. »Dies ist der Anfang.«

Ihr Kopf zuckte zurück. Ihr gütigen Götter, er ist völlig wahnsinnig!

Ein weiteres Beben, und noch mehr Felsen prasselten auf die großen Brocken, die den Weg blockierten, den sie gekommen waren.

»Einfach brillant!« Sie saß mit Thronos in der Falle – ihr Überleben war untrennbar mit seinem verbunden. Sie blickte auf die Felsen zurück. Ob ihre Freundinnen es lebend hinausgeschafft hatten?

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er mit rauer Stimme: »An deiner Stelle würde ich mir lieber um mein eigenes Schicksal Sorgen machen.« Sie drehte sich voller Angst zu ihrem Feind um. »Das endlich besiegelt wurde.«

2

Ich habe sie. Thronos gelang es gerade noch, sich zu beherrschen und seinen Triumph nicht in die Welt hinauszubrüllen. Verdammte Scheiße, ich habe sie!

Er hielt ihre Handgelenke weiterhin fest, als er ihr die Maske abriss. Sein Blick huschte über ihr Gesicht. Ihre großen blauen Augen leuchteten aus dem rußverschmierten Gesicht heraus. Staub bedeckte ihre rabenschwarzen Flechten, die wirr um Wangen und Hals hingen. Sein Blut färbte ihre vollen Lippen. Sogar in diesem Zustand war sie immer noch das schönste Geschöpf, das er je gesehen hatte.

Und das heimtückischste.

Er riss sich von ihrem Anblick los, um sich auf ihr Überleben zu konzentrieren. Diese Mine würde schon bald einstürzen, und draußen in der Nacht lauerten überall Gefahren. Die meisten Spezies auf dieser Insel hassten seine Art.

Er ließ Lanthes Hände los und hob sie mit einem Ruck auf die Arme.

»Hey! Wohin bringst du mich?«

Vorhin hatte Thronos Salzwasser und regenfeuchte Luft gewittert, die ihm aus einem Tunnelausgang entgegenströmten. Ihren bebenden Körper an seine Brust gedrückt, rannte er in diese Richtung, ohne den Schmerz in seinem rechten unteren Bein zu beachten. Den Schmerz, den sie verursacht hatte.

Bring sie in Sicherheit. Halt dich zurück und töte sie nicht.

Nach einer Weile wurde der Rauch schwächer, und es stürzten weniger Felsen herab.

Lanthe blickte sich prüfend um. »Es wird langsam besser. Schneller, Thronos!«

Stattdessen blieb er so abrupt stehen, dass Schutt aufspritzte. Er hatte einen Geruch wahrgenommen. Das kann nicht wahr sein.

Als er sie auf die Füße stellte, fragte sie herrisch: »Was ist denn mit dir los? Der Weg zurück ist blockiert, und wir sind fast draußen!«

Doch die Bedrohung war bereits im Inneren.

Ein unheimliches Heulen hallte durch den Tunnel. Andere stimmten ein.

»Sind das Ghule?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Selbst Unsterbliche fürchten ihren Biss. Diese hirnlosen Kreaturen vermehrten ihre Anzahl durch Ansteckung. Ein einziger Biss oder Kratzer …

Der Boden vibrierte von ihren sich rasch nähernden Schritten. Es müssen Hunderte sein.

Er würde gegen einen ganzen Schwarm von Ghulen kämpfen müssen – unter der Erde. Begriff Lanthe, welche Gefahr ihnen drohte? Hatte er seinen Preis endlich eingefangen, nur um ihn jetzt endgültig zu verlieren?

Niemals. Er schob sie hinter sich und spreizte die Flügel.

»Du hast mich hierhergebracht! Du hast uns dem Tode geweiht!« Oh ja, sie wusste um die Gefahr.

Zu sich selbst sagte sie: »Ich stand so kurz davor, zu entkommen, doch wie gewöhnlich ruiniert Thronos meine Pläne. Mein Leben.« Sie fuhr ihn an: »Einfach ALLES!«

Sein Kopf fuhr herum, und er fletschte die Zähne. »Schweig, Kreatur!« Sein alter, nur allzu vertrauter Zorn schwelte so heiß, dass er ihn innerlich versengte. Angesichts dieses Zorns fragte er sich oft, ob er sie nicht einfach umbringen und sich selbst diese Qualen ersparen sollte.

Melanthe bedeutet Kummer. Das wusste er nur zu gut.

»Mein ganzes Leben lang wollte ich einfach nur in Ruhe gelassen werden«, fuhr sie fort. »Aber du musstest mich ja immer wieder jagen …« Sie verstummte, als ein unheimliches grünes Leuchten den Schacht erhellte – der glühende Schein, den die Haut der sich nähernden Ghule abgab.

»Ich wünschte bei den Göttern, dass ich dich nie getroffen hätte«, sagte sie hinter ihm.

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, versicherte er ihr von ganzem Herzen.

Lanthe hielt sich nicht für eine allzu pessimistische Person, aber es erschien ihr unmöglich, an diesem Pulk vorbeizukommen, ohne eine einzige ansteckende Verletzung davonzutragen.

Thronos hatte keine Waffen und würde in einer Umgebung kämpfen müssen, die ihm nicht den geringsten Vorteil bot. Ihre Kräfte waren neutralisiert, und sie besaß nicht einmal mehr ihr Schwert. Aus reiner Gewohnheit spreizte sie die Finger – um sich einer Fähigkeit zu bedienen, die sie nicht nutzen konnte – und erwartete den unaufhaltsamen Angriff.

In diesen Sekunden fiel ihr Blick auf Thronos, und sie betrachtete ihn, wie sie es schon jahrelang nicht mehr hatte tun können.

Er trug dunkle Stiefel und eine abgetragene schwarze Lederhose, die sich eng an seine muskulösen Beine schmiegte. Trotz seiner Flügel trug er ein weißes Leinenhemd, mit Ausschnitten im Rücken, die über und unter den Flügelwurzeln zugeknöpft wurden.

Sie blickte zu seinen silbrigen Hörnern empor. Auch wenn viele Dämonen zwei hatten, besaßen Vrekener meist vier. Allerdings waren Thronos zwei entfernt worden, vermutlich weil sie bei seinem »Sturz« zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die beiden übrig gebliebenen waren größer als gewöhnlich und bogen sich seitlich um seinen Kopf, wodurch sie denen eines Volardämons glichen.

Er senkte die Hände, seine schwarzen Klauen bogen sich über seine Fingerspitzen hinaus. Während sich jeder Muskel in seinem Körper für den Kampf anspannte, brachte er die Flügel dicht an seinen Körper.

Als Junge hatte er sie noch so eng an seinen Körper anlegen können, dass sie unter einem dicken Hemd nicht zu sehen waren. Jetzt ragten die Flügel aufgrund seiner Verletzungen zu beiden Seiten über seinen Körper hinaus.

Nur wenige ihrer Art kamen je nahe genug an einen Vrekener heran, um zu wissen, wie diese Flügel wirklich aussahen. Lanthe wusste noch genau, wie verwundert sie gewesen war, als sie entdeckt hatte, was sich tatsächlich auf ihrer Rückseite befand …

Wie ein Tsunami rauschte eine Welle bösartiger, ansteckender Mörder auf sie zu … In ihren wässrigen gelben Augen brannte Wut. Sie kletterten die Wände empor und krabbelten übereinander hinweg, um an ihre Beute zu gelangen.

Die Kreaturen waren noch dreißig Meter entfernt. Zwanzig.

Lanthes letzter Anblick auf Erden würden möglicherweise die Schwingen eines Vrekeners sein. Wenn es so sein sollte … war es jedenfalls keine große Überraschung.

Noch fünfzehn Meter. Zehn … dann … waren sie in unmittelbarer Nähe.

Thronos’ Hand fuhr blitzartig hervor, zu schnell, als dass ihre Augen hätten folgen können. Geköpfte Ghule brachen zusammen. Aus mehr als einem Dutzend klaffender Hälse quoll Blut heraus, eine schleimige grüne Masse.

Ihr Mund öffnete sich. »Was zur Hölle war das denn?« Grüner Glibber tropfte von den Krallen an Thronos’ Flügeln herab. Sie hatten die Ghulkehlen wie Rasierklingen durchtrennt.

Wie die Feuersense seines Vaters.

Mit weit aufgerissenen Augen schlich sie sich an die Wand gedrückt ein wenig weiter vor, um ihn besser sehen zu können. Sie hatte nicht gewusst, dass Thronos so schnell war – oder dass seine Flügel so tödlich sein konnten.

Der Geruch von Ghulblut vergiftete die Luft und ließ die nächste Reihe von ihnen zögern. Ohne ihr Geheul zu unterbrechen, starrten sie auf die zuckenden Leichen ihrer Artgenossen hinab und dann wieder zu Thronos. Die Verwirrung auf ihren Gesichtern war nicht zu übersehen.

Als eine zweite Welle nach vorne drängte, setzte er erneut seine Flügel ein. Schleim bespritzte die Wände und die gefallenen Leichen. Seine Flügel verursachten nicht das kleinste Geräusch und bewegten sich so schnell, dass sie sie kaum sehen konnte. Sie spürte lediglich einen Luftzug auf ihrem Gesicht. Kopflose Leichen türmten sich allmählich vor ihr auf, und Lanthe verspürte … Hoffnung.

Als sie noch zur Pravus-Armee gehört hatte, hatte sie Soldaten bei Übungskämpfen beobachtet: Vampire, Zentauren, Feuerdämonen und andere. Sie hatten immer Grunzlaute oder Schreie ausgestoßen, wenn sie zuschlugen. Thronos hingegen war geradezu unheimlich leise. Ein Mann gegen eine Horde brüllender, heulender Monster.

Bei den Göttern, er war stark. Im Grunde genommen war er ein Dämonenengel, auch wenn Vrekener vehement leugneten, dass in ihrer Abstammungslinie auch nur ein Tropfen Dämonenblut floss. Doch in diesem Augenblick sah er wirklich wie ein Dämon aus. Als sie ihn so betrachtete, wurde ihr klar, dass sich Thronos in ihren Konfrontationen der letzten Jahrhunderte stark zurückgehalten hatte.

Selbst wenn er seine Gefährtin nicht hatte töten wollen, so hätte er doch Lanthes Beschützerin ausschalten können, ihre Schwester Sabine. Doch das hatte er nicht getan. Vorhin hätte Thronos Carrow mit Leichtigkeit umbringen können. Stattdessen hatte er ihr lediglich einen Schlag ins Gesicht verpasst und ihr Leben verschont. Warum?

Dem Vernehmen nach war aus ihm ein brutaler Kriegsherr geworden, der vorzugsweise Brutstätten des Pravus angriff, wenn er nicht gerade auf der Suche nach ihr unterwegs war, und jeden Unsterblichen bestrafte, der gegen geltendes Recht verstieß oder die Geheimhaltung der Mythenwelt gefährdete.

Während die Leichenberge immer höher wurden und giftiges Blut auf ihre Stiefel zulief, wurde Lanthe mulmig zumute. Eine Erschütterung ließ sie gegen die Felswand taumeln. Die Gewalt des Bebens brachte den Leichenberg zum Einsturz und warf die leblosen Körper durcheinander. Es war schier unglaublich, wie viele der Ungeheuer Thronos bereits erschlagen hatte.

Als sein nächster Hieb eine weitere Reihe von Ghulen fällte, kamen keine neuen mehr um die Ecke gerannt. Es klang so, als hätten sie sich nun vor der Mine auf die Lauer gelegt.

Thronos drehte sich schwer atmend zu ihr um. Sein Gesicht war ernst, mit Dreck und Schweiß bedeckt. Sein fast schulterlanges Haar war feucht, und einige Strähnen klebten an seinen Wangen.

Widerwillig gab sie zu, dass er … umwerfend aussah. Sie hatte sich so lange auf seine Narben, seine Schwächen konzentriert. Sie hatte diesen Mann unterschätzt.

Er brachte nur ein Wort heraus: »Komm.«

Wenn du in der Klemme sitzt, lauf! Da sie keine andere Wahl zu haben schien, ging sie zu ihm. Er hob sie hoch, legte ihr einen Arm um die Taille, den anderen um den Hals.

Unwillkürlich stiegen Erinnerungen an ihre Kindheit in ihr auf, als seine Miene noch offen gewesen war, seine Worte zu ihr freundlich. Als er ihr Kosenamen gegeben und ihr das Schwimmen beigebracht hatte …

»Halt dich an mir fest.«

Sie konnte nur nicken und seinen Worten Folge leisten.

Er stieß mit dem Fuß Leichen aus dem Weg und verfiel in einen hinkenden Sprint. Sie wusste, was er vorhatte: Er wollte den Ghulen ausweichen, die draußen vor der Mine warteten. Thronos würde bis an den Rand des Tunnels rennen und sich dann mit einem Sprung in die Luft erheben.

Er hatte sie schon einmal mit in den Himmel genommen, als sie noch ein Mädchen gewesen war, das ihm vollkommen vertraut hatte. Jahre später hatte sie mitangesehen, wie ein Vrekener Sabine in schwindelerregende Höhen entführt hatte, nur um sie aus purem Vergnügen auf die Pflasterstraße herunterfallen zu lassen.

Sabines Kopf war aufgeplatzt wie ein Ei, doch irgendwie war es Lanthe mit ihren Zauberkünsten gelungen, sie den Klauen des Todes noch einmal zu entreißen.

Seitdem plagten Lanthe Albträume über das Fliegen.

Konnte Thronos sie überhaupt tragen? Gerüchten zufolge litt er unvorstellbare Schmerzen, wenn er flog, und seine verkrüppelten Flügel funktionierten selbst an den besten Tagen nicht richtig. Sicherlich waren sie jetzt entkräftet, nachdem er Dutzende von Feinden enthauptet hatte. Der linke blutete immer noch von Carrows Angriff.

Sie legte ihre Arme so fest um ihn, dass sich ihre Metallklauen in seine Haut bohrten, und schloss die Augen – wodurch ihre anderen Sinne nur noch mehr für seine Gegenwart geschärft wurden.

Für seinen dröhnenden Herzschlag.

Die Bewegungen seiner überraschend starken Muskeln.

Für seine Atemzüge an ihrem Ohr, als er sie an sich zog.

Schneller, immer schneller. Gerade als sie den Hauch einer Brise verspürte, stieß er sich mit den Beinen ab und breitete seine großen Schwingen aus. Ihr Magen sackte ihr in die Kniekehlen, als sie in den Himmel hinaufschossen.

Während Regentropfen wie Kugeln auf ihre ungeschützte Haut prasselten, riskierte sie einen Blick nach unten: Ghule sprangen in die Luft, um sie zu erhaschen, aber Thronos flog zu hoch, als dass sie auch nur die geringste Chance gehabt hätten.

So hoch. Das Gelände unter ihr wurde kleiner … und kleiner …

»Oh, ihr Götter!« Gleich muss ich mich übergeben.

3

Endlich raus aus dem Tunnel!

Sie waren dem Rauch und den Leichenbergen entkommen und flogen durch sauberen Regen und Windböen. Während er versuchte, den grauenhaften Schmerz zu ignorieren, den er beim Fliegen stets verspürte, sog er mit tiefen Atemzügen die frische Luft ein.

Konzentrier dich: Überleben, Flucht, dann Rache. Auch wenn er die Mittel besaß, um die Insel zu verlassen, würde es nicht so einfach werden, da so viele tödliche Feinde im Spiel waren: Geflügelte Volardämonen, die als Rudel in der Luft angreifen würden, Sorceri, die ihre Zauberkräfte vom Boden aus einsetzen konnten. Selbst in diesem Regen konnten Feuerdämonen ihre Flammen schleudern, Granaten, die Fleisch wie Säure wegfraßen. Die Sterblichen des Ordens würden vermutlich Verstärkung schicken.

Seit Urzeiten war es die Aufgabe der Vrekener, das Böse der Mythenwelt auszumerzen und die Unsterblichen vor den Menschen zu verbergen. Vrekener bestraften jeden, der die geheime Existenz der Mythenwelt bedrohte.

Dabei hatte diese menschliche Enklave die ganze Zeit über ein begehrliches Auge auf die Unsterblichen gehabt …

Er würde jeder Bedrohung ausweichen müssen, doch schon jetzt schrien seine Flügel vor Schmerz – altem und neuem. Er vermied es, zu fliegen, wann immer es möglich war, sah aber in diesem Moment keine andere Möglichkeit.

Unter ihnen lagen enthauptete oder verwundete Vertas-Alliierte überall in der Landschaft. Cerunnos verfolgten in ihrer schlangengleichen Art die Feyden, Vampire töteten Mitglieder der guten Dämonarchien. Der Pravus löschte sie alle aus.

Genau wie die Sterblichen.

Rechtschaffener Zorn stieg in ihm auf. Wann immer er nicht nach Melanthe gesucht hatte, hatte Thronos’ Schwert für das Gute gekämpft. Aber nicht heute Nacht.

Ganz gleich, wie sehr er sich danach sehnte, an der Seite seiner Verbündeten zu kämpfen, würde er seinen Fang niemals aufs Spiel setzen.

Erneut durchfuhr es ihn: Bei den Göttern, ich habe sie.

Er rückte sie in seinen Armen zurecht und sog scharf den Atem ein, als er sie an seinem Körper spürte. Er hatte sie nicht mehr gehalten, seit sie unschuldige Kinder gewesen waren. Trotz seiner zermürbenden Schmerzen waren seine Gedanken alles andere als unschuldig.

Ihre schamlose Sorceri-Aufmachung verhüllte nur das Nötigste ihrer kurvenreichen Gestalt. Abgesehen von ihren Panzerhandschuhen trug sie nur eine metallene Brustplatte und einen klitzekleinen Rock, der aus ein paar Metallschlingen und Lederfetzen bestand. Als er sie durch den Tunnel gezerrt hatte, war das Ding noch dazu so weit hochgerutscht, dass ein schockierend winziger Stringtanga und die perfekten, blassen Kurven ihres Hinterns zu sehen waren …

Jetzt drückten sich die Körbchen ihres Brustpanzers gegen ihn. Ihre Taille und Hüfte waren so verdammt weiblich, dass sie seine Lust noch schürten.

Dies war der Körper, den er in den letzten fünfhundert Jahren hätte genießen sollen. Der Körper, der ihm schon zehnmal Nachwuchs hätte schenken sollen. Sein Zorn wuchs.

»Setz mich ab!«, schrie sie plötzlich.

»Du willst nach unten? Ich sollte dich einfach fallen lassen, damit du spürst, wie es ist, hinabzustürzen.«

Wie ich es durch dich erfahren habe.

»Lass mich nicht fallen!« Zitternd schmiegte sie sich an ihn, und ihre Klauen krallten sich noch tiefer in seine Haut – winzige Häkchen in seinem Fleisch, die er trotz der anderen Schmerzen noch spürte. »Ist das dein Plan? Willst du mich foltern, ehe du mich tötest?

Sie töten? »Wenn ich dich tot sehen wollte, wärst du es längst.«

Sie löste den Kopf von seiner Brust. Ihr regennasses Gesicht war angespannt, ihre volle Unterlippe zitterte. Doch inmitten ihrer Panik versuchte sie anscheinend, ihn einzuschätzen und festzustellen, ob er die Wahrheit sagte. »Aber Folter ist noch nicht vom Tisch?«

»Schon möglich.«

Als er eine Luftströmung spürte und abrupt abtauchte, um sie zu nutzen, schrie sie auf: »Setz mich sofort ab, oder ich muss kotzen!«

Thronos wusste, dass sie alles tun würde, um ihre Freiheit zu erlangen. Aber Übelkeit vortäuschen? Früher hatte sie es geliebt, wenn er sie in die Luft mitgenommen hatte. Sie hatte vor Entzücken laut gelacht. Er war sehr oft mit ihr geflogen, damals, als er süchtig gewesen war nach ihrem Lachen.

»Ich kann diese Höhe nicht ertragen, Thronos! Ich schwöre es beim Gold.«

Sie waren noch nicht einmal hundert Meter hoch. Doch ihr Eid machte ihn nachdenklich. Früher einmal war ihr ein solcher Schwur ebenso heilig gewesen wie der auf den Mythos.

»Oh, ihr Götter.« Eine Sekunde später würgte sie eine Mischung aus Haferschleim, Wasser und Dreck auf sein Hemd.

Ein Knurren entrang sich seiner Brust. Wenn er seine Arme freigehabt hätte, hätte Thronos sich ungläubig an die Stirn gefasst. Nicht genug damit, dass seine Gefährtin keine Flügel besaß, jetzt hatte sie auch noch Angst vor dem Fliegen.

Noch ein weiterer Grund, warum diese bösartige Zauberin die Falsche für ihn war. Abgesehen davon, dass sie ihn genauso verachtete wie er sie, war das spärlich bekleidete Luder auch noch eine Lügnerin und Diebin und verkommen bis ins Mark.

Aber so war es nicht immer gewesen.

Er fand ein grasbewachsenes Plateau hoch über dem Meer. Nirgends ein Lebewesen in Sicht. Er landete, ohne besondere Rücksicht auf sie zu nehmen.

Sobald er Melanthe losgelassen hatte, machte ihr rechtes Bein einen Schritt nach links und ihr linkes einen nach rechts. Er sah ihren Fall voraus und unternahm nichts dagegen. Als sie auf die Knie fiel, würgte sie erneut.

Er seufzte ungeduldig und nutzte die Zeit, um ihr Erbrochenes abzuwischen und seinen Körper nach Ghulwunden abzusuchen. Keinerlei Anzeichen. Er war sich ziemlich sicher gewesen, dass er keine Verletzungen davongetragen hatte, musste sich jedoch vergewissern.

»Ich dachte, ihr Vrekener müsstet die Mythenwelt vor den Menschen geheim halten«, meldete sich Melanthe zu Wort, die immer noch auf dem Boden kauerte. »Das habt ihr aber echt spitzenmäßig hingekriegt!«

Im Grunde genommen verfolgte der Orden dasselbe Ziel und steckte die dreistesten und unverschämtesten Unsterblichen in seine Gefängnisse.

Es war nicht so einfach gewesen, sich von den Jägern des Ordens einfangen zu lassen, wie er gedacht hatte.

Melanthe musterte ihn. »Wenn alle guten Unsterblichen immer noch ihre Halsbänder tragen, wo ist dann deins?«

Er spürte, wie sie in seinen Verstand einzudringen versuchte, um seine Gedanken zu lesen. Aber er wusste von ihrer Fähigkeit und hatte gelernt, seine Gedanken vor ihr zu verbergen. »Die bessere Frage lautet: Wie ist es möglich, dass du deines noch trägst?«

4

Lanthe fuhr sich mit dem Unterarm über den Mund. »Das hab ich mich auch schon gefragt.«

Früher an diesem Tag hatten Lanthe, Carrow, Ruby und zwei andere Sorcera in ihrer Zelle darauf gewartet, zu ihrer Vivisektion gebracht zu werden, als sie auf einmal eine Präsenz gefühlt hatten. Eine Zauberin von ungeheurer Macht war auf die Insel gekommen: La Dorada, die Königin des Bösen.

Diese Frau hatte sämtlichen bösartigen Wesen deren Kräfte zurückgegeben, indem sie sie von den Halsbändern befreit hatte – im Grunde allen Angehörigen des Pravus, wie Lanthes Zellengenossin Portia, der Königin der Steine.

Portia hatte den Menschen ihre Gefangenschaft sehr übel genommen und ihre gottgleiche Macht über Felsen und Steine benutzt, um mitten im Gefängnis Berge aus dem Boden schießen zu lassen. Deren Wucht hatte die dicken Metallwände der Zellen wie Blechdosen zerdrückt.

Ihre Komplizin Emberine, die Königin der Flammen, hatte alles in Flammen aufgehen lassen und in ein Inferno verwandelt. Zahllose Unsterbliche waren hinausgeströmt und hatten die diversen Verteidigungslinien des Ordens überwältigt.

Dann … war die Hölle losgebrochen.

Menschen – und Mythianer, die noch ihre Halsbänder trugen – waren aufgeschlitzt, geköpft und von Sukkuben zu Tode vergewaltigt worden. Ihnen war das Blut ausgesaugt worden, und Ghule oder Wendigos hatten sie infiziert, wenn sie nicht zuvor von irgendwelchen Kreaturen aufgefressen worden waren.

Die Königin des Bösen – das verdammte Miststück war leider ebenfalls eine Sorcera – hatte Lanthe hilflos inmitten dieses Chaos zurückgelassen. So sieht also wahre Solidarität aus, Dorada.

Aber Thronos, einen Vrekener, hatte sie befreit? Er war praktisch so was wie ein Mythenweltsheriff.

Lanthe hob ihr Gesicht in den Regen und fing die Tropfen mit dem Mund auf, um ihn auszuspülen. Dann wandte sie sich ihm wieder zu. »Vielleicht bist du dein Halsband losgeworden, weil du im Lauf all der Jahrhunderte böse geworden bist.«

»Oder vielleicht war mein Kopf voller böser Gedanken.« Er ließ erneut seine Fänge aufblitzen. »Du hast nun mal diese Wirkung auf mich.«

Lanthe rappelte sich mühsam auf die Beine. Sie schwankte, und ihr war immer noch schwindelig. Er hatte sie auf eine Anhöhe gebracht, die Hunderte von Metern über dem Tal aufragte. Von dieser erschreckenden Höhe aus hatte sie allerdings einen guten Überblick über die Insel, sogar mitten in der dunklen Nacht.

Überall wurde gekämpft, und der Pravus schien die Oberhand zu haben. Auf der ganzen Insel wimmelte es nur so von ihnen, und Lanthe konnte sich nicht erinnern, dass so viele von ihnen in den Zellen gesessen hätten. Jede Wette, dass die Allianz Verstärkung hierher teleportiert hatte, um über die Vertas-Anhänger herzufallen, die durch das Halsband weiterhin hilflos waren.

So wie ich. Sobald sie Thronos losgeworden war, könnte Lanthe vielleicht versuchen, sich wieder ihrer früheren Allianz anzuschließen, zumindest so lange, bis Sabine kommen und sie retten würde. Ihre große Schwester musste schon krank vor Sorge sein, nachdem Lanthe vor drei Wochen verschwunden war. Ehe sie Rothkalina verlassen hatte, um sich nach einem neuen Liebhaber umzusehen, hatte Lanthe ihrer Schwester noch einen Zettel hinterlassen, auf dem nur stand: Hey, bin mal kurz weg, um ein bisschen Spaß zu haben. Küsschen.

Im Grunde genommen war Lanthe ein wenig überrascht, dass Sabine sie noch nicht gefunden hatte. Das hatte sie bis jetzt immer. Sie waren noch nie so lange Zeit getrennt gewesen.

Plötzlich riss Lanthe die Augen auf. Sie hatte von ihrem Aussichtspunkt aus Carrow, Ruby und Carrows Ehemann, den Vämon Malkom Slaine, erspäht. Obwohl dieser Vampir/Dämon eines der tödlichsten und am meisten gefürchteten Wesen der Mythenwelt war, schien er sie in Sicherheit zu bringen.

Ich schätze, er hat sich dagegen entschieden, Carrow umzubringen.

Ihr Herz machte vor Freude einen Satz, als sie sah, dass ihre Freundinnen in Sicherheit waren, und sie holte schon Luft, um nach ihnen zu rufen, aber Thronos war schneller und schlug Lanthe seine schwielige Hand auf den Mund.

Sie trat mit ihren Stiefeln nach ihm und kämpfte gegen ihn, doch er hielt sie ohne große Anstrengung fest. Er wartete, bis Carrow außer Sichtweite war, ehe er Lanthe losließ.

»Sie werden sich meinetwegen Sorgen machen!«

»Gut. Wenn die Hexe dumm genug ist, sich wegen einer wie dir Sorgen zu machen, hat sie Kummer verdient.«

»Du sprichst aus Erfahrung?« Sie wirbelte zu ihm herum, sodass ihr Blick auf seine breite Brust fiel. Das nasse Leinenhemd klebte an seinem Brustkorb, zeichnete genau seine Brustmuskeln nach und ließen die Narben darunter erahnen.

Warum ist mir eigentlich nie aufgefallen, wie definiert seine Muskeln sind? Vermutlich lag das daran, dass sie jedes Mal, wenn sie ihn gesehen hatte, gerade um ihr Leben gerannt war.

Sie sah zu seinem Gesicht empor, zu den Narben, die daraus hervortraten. Eine besonders hässliche schlängelte sich über seine gemeißelte Kinnlinie, während zwei andere sich diagonal über seine Wangen zogen, wie eine keltische Kriegsbemalung.

Wenn der Körper einmal unsterblich wurde, war er zum größten Teil unveränderlich. Auch wenn ein Mythianer wie er sich bei den Hexen einen Tarnzauber kaufen konnte, um diese Zeichen zu verbergen, würde er sie für immer tragen.

Trotz seiner Narben würden ihn die Frauen aber mit Sicherheit immer noch für gut aussehend halten. Sogar für sehr gut aussehend.

»Warum starrst du so?«, fuhr er sie an. Ihre Musterung schien ihn zu stören. Allerdings schien er generell gestört zu sein.

»Mein lebenslanger Feind.« Sie hatte so viel Zeit darauf verwendet, vor Vrekener-Angriffen zu fliehen. Jetzt saß sie zusammen mit dem Objekt ihrer Furcht in der Falle – nicht gerade angenehm angesichts ihrer durch Vrekener verursachten posttraumatischen Belastungsstörung.

Aber früher oder später würde sie entkommen. Das tat sie immer.

Und dann würde er sie wieder jagen, wie er es immer tat. »Tja, jetzt hast du mich, Thronos. Und was passiert nun?«

»Nun werde ich uns von dieser verdammten Insel runterbringen.«

»Wie denn? Sie liegt Tausende von Kilometern vom Festland entfernt, und dazwischen liegt ein Meer, in dem es vor Haien nur so wimmelt.« Die Menschen hatten alles bedacht, um eine Flucht unmöglich zu machen. Sie waren im Grunde genommen auf so ziemlich alles bestens vorbereitet gewesen, außer auf eine stinkwütende La Dorada. »So weit kannst du nicht fliegen.«

Auch wenn er versucht hatte, es zu verbergen, hatte sie gesehen, welche Schmerzen ihm bereits dieser kleine Ausflug bereitet hatte – sein Gesicht war totenblass geworden und Schweißperlen hatten ihm auf der Stirn gestanden.

Angesichts der Tatsache, dass andere seiner Art Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Kilometern am Stück fliegen konnten, fragte sie sich, was wohl sein Limit war. »Vor allem nicht mit mir im Schlepptau.«

Er sah aus, als könnte er seine Wut nur mit größter Mühe runterschlucken, weil der bloße Klang ihrer Stimme ihn bereits in Rage versetzte. »Ich verfüge über andere Mittel zur Flucht.«

»M-mh. Hör mal, da unten gibt es einen Schlüssel für mein Halsband.« Gewissermaßen.

Jedes Halsband konnte mithilfe des Daumenabdrucks des Oberaufsehers auf- und zugeschlossen werden, eines Trolls namens Fegley. (Er war nicht wirklich ein Troll.) Also hatte Lanthe Fegley die Hand abgetrennt, um sie besser tragen zu können. Aber ehe sie sie benutzen konnte, hatte ihr Emberine, die Königin der Flammen, das blöde Ding gestohlen!

»Wenn du mir hilfst, dieses Halsband aufzukriegen«, sagte Lanthe, »könnte ich ein Portal erschaffen, das dich überall hinbringt.« Oder sie könnte ihn dazu zwingen, sich wiederholt ein Messer in den Schwanz zu rammen. Danach würde sie wegrennen, so schnell sie konnte – weil sie sich bei seinem Anblick nämlich totlachen würde.

Immer vorausgesetzt, dass ihre eher unzuverlässige Überzeugungskraft tatsächlich funktionierte, aber sie war ziemlich zuversichtlich. Schließlich hatte sie sich in den letzten drei Wochen jede Menge angestaut.

Er sah sie mit ungestümem Blick an. »Du wirst dieses Halsband für den Rest deines unsterblichen Lebens tragen. Es ist ein Glücksfall, dass du es noch hast.«

Sie wusste, dass er es ernst meinte. Also musste sie ihn unbedingt loswerden und diese Hand finden. »Du hast dir schon immer gewünscht, dass ich schön brav und folgsam bin, nicht wahr? Genau wie Vrekener-Frauen.« Lanthe hatte gehört, dass sie niemals lachten, tranken, tanzten oder sangen und sich immer von Kopf bis Fuß in trostlose graue Kleider hüllten.

Diese Welt war weit entfernt von dem fröhlichen, hedonistischen Alltag der Sorceri, in dem Frauen gewagte Kleidungsstücke aus Metall, Masken in leuchtenden Farben und jede Menge Make-up trugen.

Das Schlimmste war allerdings, dass Vrekener-Frauen das Tragen von Goldschmuck ablehnten. Für eine Sorcera wie Lanthe, die Gold verehrte, war das pure Blasphemie. »Dir wäre es am liebsten, wenn ich lammfromm und machtlos geboren worden wäre.«

»Du hättest genauso gut ohne besondere Kraft auf die Welt kommen können. Schließlich hast du deine Fähigkeiten auch ohne das Halsband in den letzten Jahrhunderten kaum je einsetzen können.«

Volltreffer! Zu allem Übel hatte er recht. Auch wenn die Überzeugungskraft ihre Radixmacht war – mit der sie geboren worden war und die im Grunde ihre Seele ausmachte –, hatte sie sie beinahe ausgelöscht, indem sie ihre Schwester nach den unzähligen Vrekener-Angriffen immer wieder geheilt hatte.

Jedes Mal, wenn die geflügelte Bedrohung sie wieder einmal gefunden hatte, hatte Sabine die Führung übernommen und sich in die Gefahr gestürzt. Und nach jedem Mal hatte sich Lanthe um die Verletzungen gekümmert und Sabines Körper befohlen, zu heilen.

Lanthes zerstörte Kraft war allgemein bekannt. Ihr waren andere Kräfte gestohlen worden, doch für ihre defekte Seele hatte sich nie jemand interessiert.

»Sieh sich nur mal einer deine funkelnden Augen an. Das ist wohl ein wunder Punkt, Kreatur?«

Sie rief sich in Erinnerung, dass sie ihre Überzeugungskraft zumindest in einigen Notfällen vorübergehend zurückgewonnen hatte. Sie hatte Omort – einen mächtigen Hexenmeister – lange genug außer Gefecht gesetzt, dass ihr Schwager, König Rydstrom, ihn bekämpfen konnte. Wie sehr wünschte sie sich, dass dies in der Mythenwelt allgemein bekannt wäre! Dann würde sie endlich respektiert werden.

Sie kniff die Augen zusammen und rief sich eine andere Gelegenheit in Erinnerung, bei der sie ihre Kraft hatte einsetzen können. »Ich habe meine Kraft bei unserer letzten Begegnung gegen dich eingesetzt.«

Offensichtlich gefiel es ihm gar nicht, daran erinnert zu werden. Vor einem Jahr hatte er um eines ihrer Portale eine Falle errichtet und sich mit seinen Männern auf die Lauer gelegt. Als sie zurückgekehrt und auf ihre Feinde gestoßen war, war es ihr gelungen, eine winzige Menge Überzeugungskraft aufzubringen – gerade genug, um durch das Portal zu gelangen.

»Wenn ich mich recht entsinne, Sorcera, habe ich deinen Befehlen widerstanden!«

Gerade als sie das Tor versiegelt hatte, war es Thronos irgendwie gelungen, seinen Stiefel hindurchzustecken. Bedauerlicherweise hatte ihm das Portal den Fuß abgetrennt.

Seinetwegen war es ihr nicht gelungen, ihre Schwester aus einer gefährlichen Lage zu retten, also hatte Lanthe seinen Fuß durch ihren ganzen Turm gekickt und tagelang angeschrien.

Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich schwöre dir, dass ich dieses Halsband loswerde, und dann werde ich dir zeigen, wie mächtig ich inzwischen bin!« Der Regen strömte nach wie vor vom Himmel herab, und unter ihnen heulten Ghule, aber Lanthe war zu sauer, um darauf zu achten. Sie musste Äonen des Schmerzes Luft machen. »Ich werde dir befehlen zu vergessen, dass ich je gelebt habe!«

In seinem verkrampften Kiefer zuckte ein Muskel, und die Narben auf seinen Wangen färbten sich weiß. »Niemals!«

»Warum nicht, Dämon? Ich wünsche mir jeden Tag, ich wäre nicht auf jener Lichtung gewesen, als du über sie hinweggeflogen bist.«

Er entfaltete seine Schwingen zu ihrer Furcht einflößenden vollen Größe – eine Spanne von gut sechs Metern. »Ich bin kein Dämon.«

»M-hm.« Wir werden uns wohl dahingehend einigen müssen, dass wir uns darin uneins sind. »Selbst wenn es dir gelingt, mich von dieser Insel zu schaffen, kannst du mich nicht einfach behalten«, erklärte Lanthe. »Ich habe Freunde, die kommen werden, um mich zu befreien.« Rydstrom beschützte Sabine und Lanthe mit all seiner Kraft und Wildheit und hatte geschworen, jeden niederzustrecken, der einer der Schwestern ein Leid antun wollte.

Er wusste, dass Sabine ohne Lanthe all die Jahre nicht überlebt hätte, und fühlte sich ihr daher verpflichtet. Aber Rydstrom und Sabine kannten die Wahrheit nicht: Lanthe trug die Schuld daran, dass die Vrekener überhaupt hinter ihnen her waren, weil sie sich in ihrer übergroßen Dummheit mit Thronos angefreundet hatte. Diese Tatsache hatte sie ihrer Schwester niemals anvertraut.

Wenn Lanthe nicht wäre, wäre Sabine nicht unaufhörlich gejagt worden.

»Vielleicht hast du schon mal von Rydstrom, dem König der Wutdämonen gehört?« Ihr Schwager hatte den Herrscher der Himmelsterritorien, Thronos’ Bruder, wissen lassen, dass Sabine und Lanthe unter seinem persönlichen Schutz standen. Jeder Versuch, einer der Schwestern etwas anzutun, würde als kriegerische Handlung gegen sämtliche Wutdämonen angesehen werden. »Er ist mein Beschützer.«

»Ich fürchte diesen Dämon nicht. Genauso wenig wie deinen vorherigen Beschützer. Omort.«

Sie konnte sich nur vorstellen, was Thronos über Omorts Herrschaft gehört haben mochte. Nur weil Sabine und sie in derselben Burg mit ihrem Bruder – Halbbruder – gelebt hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie sein widerwärtiges Verhalten befürwortet hatten.

Außerdem hätten sie nicht einfach so vor einem Sorcero wie ihm fliehen können. Er hatte über tödliche Überwachungsmechanismen verfügt, die sicherstellten, dass sie immer wieder zu ihm zurückkehrten.

Sie erinnerte sich, wie sie einmal zu Sabine gesagt hatte: »Ich werde schreien, wenn er noch ein einziges Orakel köpft.« Er hatte Hunderte von ihnen abgeschlachtet, ihnen mit bloßen Händen den Kopf von den Hälsen gerissen.

»Was können wir schon tun?«, hatte Sabine gesagt, so gleichgültig wie immer. »Uns beim Management beschweren?«

Jeder, der Omort widersprach, wurde abgeschlachtet – oder ihm wurde Schlimmeres angetan.

Lanthe verspürte kurz den Impuls, Thronos zu erklären, wie es wirklich gewesen war, unter Omorts Herrschaft zu leben, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie nicht lange genug bei Thronos bleiben würde, um die Anstrengung zu rechtfertigen. Ganz abgesehen davon, dass ihr der Vrekener kaum Glauben schenken würde.

Also verlegte sie sich wieder auf ihre Einschüchterungstaktik. »Dann wirst du aber vielleicht Nïx die Allwissende fürchten.« Die dreitausend Jahre alte Walküre war eine Hellseherin und auf dem besten Weg, eine ausgewachsene Göttin zu werden. Auch wenn Nïx dem Wahnsinn nahe war – sie sah die Zukunft und die Vergangenheit klarer als die Gegenwart –, lenkte sie immerhin die ganze verdammte Akzession.

»Ach wirklich, Nïx?«, spottete er.

Okay, vielleicht waren Lanthe und die Walküre nicht unbedingt die besten Freundinnen (sie hatten kaum je ein Wort miteinander gewechselt), aber Nïx war an Omorts Ermordung beteiligt gewesen und hatte Sabine, Lanthe und Rydstrom geholfen. Rydstrom sah in ihr eine gute Freundin. »Ja, die Walküre ist eine meiner besten Freundinnen.«

»Bei so viel Übung, Sorcera, hätte ich gedacht, dass du ein wenig mehr Geschick beim Lügen zeigen würdest.« Er fletschte seine Fänge. »Wer, glaubst du denn, hat mir verraten, wie ich dich finden könnte?«

Lanthe schwankte – entweder war es der Schock oder aber die Erde bebte schon wieder. »Das würde sie nicht tun.« Lanthe hätte es besser wissen müssen, als einer Walküre zu vertrauen!

»Sie würde, und sie hat es getan. Und dazu gab sie mir noch ein paar Ratschläge in Bezug auf dich.«

»Was für Ratschläge?«

Seine Antwort bestand in einem höhnischen Grinsen.

»Du hast dich fangen lassen, nur aufgrund ihrer Informationen?« So musste es wohl gewesen sein, denn wie sonst hätten Sterbliche einen Mann fangen können, der fliegen konnte?

Andererseits … Wie zur Hölle war es ihnen bei den meisten dieser Mythenweltgeschöpfe gelungen, sie zu fangen? Lanthe selbst war vermutlich noch eins der einfachsten Opfer gewesen. Sie hatte Rothkalina verlassen und sich auf den Weg ins Reich der Sterblichen begeben, um nach einer langen Dürreperiode einen Liebhaber zu finden. Eine Frau auf der Straße hatte ihr zu einem überaus geringen Preis Gold angeboten, und Lanthe war ihr wie ein sabbernder Hund gefolgt – direkt in eine Falle.

»Du bist ein großes Risiko eingegangen, indem du dem Wort einer wahnsinnigen Walküre vertraut hast«, sagte Lanthe.

Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Meine Belohnung ist angemessen. So wie es auch meine Rache sein wird.«

Lanthe presste die Hände an die Schläfen und wanderte auf der Anhöhe auf und ab. Dabei hielt sie, sich vom Rand fern, ebenso wie von Thronos’ imposanter Gegenwart. Sie hatte ganze Zeitalter damit verbracht, bei seinem Anblick davonzurennen, und seine ständige Nähe zerrte an ihren Nerven.

Die andauernden Vrekener-Angriffe hatten sich ganz unterschiedlich auf Lanthe und Sabine ausgewirkt. Während Sabine irgendwann gar keine Furcht mehr verspürt hatte, hatten die Überraschungsangriffe bei Lanthe zu ständiger Nervosität geführt. Inzwischen stand sie permanent unter Hochspannung, immer bereit zu fliehen, und ihr Überlebensinstinkt war in höchster Alarmbereitschaft in seiner Nähe …

Mit einem Schlag bildete sich ein tiefer Riss in dem Plateau zwischen Lanthe und Thronos, so als wäre ein Holzklotz entzweigespalten worden. Sie schrie laut auf, als ihre Felsensäule sich mit tiefem Stöhnen und Ächzen von seiner entfernte.

Als sich die Erde beruhigt hatte und sie wieder klar denken konnte, erkannte sie, dass sie sich auf entgegengesetzten Seiten eines neuen Abgrunds befanden. Um sie herum brach die Erde von den aufstrebenden Bergen ab, wie Eisbrocken von Eisbergen.

»Deinetwegen werden wir hier noch sterben!«, schrie sie, doch Thronos hatte sich bereits in die Lüfte erhoben.

Dann verlor sie den Boden unter ihren Füßen, aber ehe sie fallen konnte, hatte er sie gepackt und schwang sich erneut mit ihr in den Himmel hinauf.

Sie vergrub das Gesicht an seiner Brust. Ich hasse das, ich hasse das …

»Deine Angst vor dem Fliegen kommt mir sehr ungelegen. Seit wann hast du sie, Sorcera?«

»Seit einer deiner Ritter Sabine hoch in die Luft verschleppt und sie dann fallen gelassen hat. Sie war fünfzehn.« Bei der Erinnerung daran, wie Sabines Kopf explodierte, musste Lanthe erneut würgen.

»Was für Lügen erzählst du jetzt schon wieder? Kein Vrekener hat deine Schwester je angegriffen.«

Sie verstummte. Log er, oder wusste er tatsächlich nicht, dass seine Ritter Sabine und sie gejagt hatten? Als Prinz der Luftterritorien war Thronos der Herr der Ritter. Aber vielleicht verfolgten einige von ihnen ihre eigenen Ziele?

Wenn er sie zwang, mit ihm nach Skye Hall zu gehen, was sollte diese Ritter davon abhalten, sie heimlich über den Rand in die Tiefe zu stoßen?

Als er langsamer wurde, rief sie an sein Hemd gedrückt: »Ja, flieg langsamer!«

Er drehte sich um sich selbst und schnappte nach Luft.

Die Neugier trieb Lanthe dazu, den Kopf zu heben. »Oh, mein Gold!«

Ein neuer Berg erhob sich mitten im Herzen des Gefängniskomplexes, dessen Gebäude an den Hängen hinabrutschten. Jeder Betonbrocken, der fiel, wurde gleich wieder hinaufgewirbelt, um den Gipfel wie in einem gewaltigen Tornado zu umkreisen. Portias Werk. Wie sie das alles genießen musste!

Embers hoch auflodernde Flammen umzingelten das Gelände in einem leuchtenden Kranz. Das Feuer der Sorcera brannte so heiß, dass es sogar im Regen noch wuchs und die Tropfen in Dampf verwandelte.