Verführung der Schatten - Kresley Cole - E-Book

Verführung der Schatten E-Book

Kresley Cole

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Beschreibung

Der Dämon Cadeon Woede wird von seiner Vergangenheit verfolgt. Vor 900 Jahren wurde sein Bruder Rydstrom vom Thron gestürzt, und Cade glaubt, daran schuld zu sein. Er hat deshalb geschworen, seinen Fehler zu beheben und Rydstrom erneut zum König zu machen. Dafür braucht er die Hilfe der hübschen Halbwalküre Holly, die eine tiefe Leidenschaft in ihm weckt. Einer Prophezeiung zufolge wird Holly ein Kind gebären, welches das Gleichgewicht der Kräfte von Gut und Böse ins Wanken bringen soll. Kann Cade Holly aufgeben, um seinem Bruder Genugtuung zu verschaffen?

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Seitenzahl: 518

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Inhalt

Titel

Danksagung

Zitate

Prolog

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Aus dem Lebendigen Buch des Mythos

Impressum

Kresley Cole

Roman

Ins Deutsche übertragen von Bettina Oder

 

Danksagung

 

Ich danke dem Gibson Hall Grid von ganzem Herzen. Da ihr euch mit Kryptografie auskennt, muss ich es zum Glück nicht. Meine ganze Liebe gilt den üblichen Verdächtigen: Gena, Boo, Beth und Rocki. Alles fantastische Schriftstellerinnen und Freundinnen.

 

„Viele Menschen fürchten Veränderungen. Und Reisen. Und Unordnung. Die Ritzen im Bürgersteig zu vermeiden ist weitaus weiter verbreitet, als man vermuten würde.“

Holly Ashwin, Mathematikdozentin an der Tulane University in New Orleans, Doktorandin mit Schwerpunkt in klassischer und Computer-Kryptografie

„Die oberste Regel eines Söldners? Rausfinden, was der Kunde will, ihn dann davon überzeugen, dass a) man ihm genau das beschaffen kann und b) man der Einzige ist, der es ihm beschaffen kann. Die zweite Regel? Lüge wie gedruckt. Ständig. Die Wahrheit nützt dir in diesem Geschäft eher selten.“

Cadeon Woede, Söldner, Zweiter in der Thronfolge der Wutdämonen, auch unter dem Namen Cade der Königsmacher bekannt

 

Prolog

 

Rothkalina, das Königreich der Wutdämonen

Ein längst vergangenes Zeitalter

Cadeon Woede stieß zuerst auf die kopflosen Leichen seines Pflegevaters und seiner Pflegebrüder. Alle drei waren bei der verzweifelten Verteidigung ihres Heims umgekommen.

Ihre Überreste lagen auf dem Boden verstreut, nahe eines zerstörten Teilstücks der Barrikaden, die ihren Hof umgaben. Cadeon erkannte in dem grausamen Gemetzel das Werk von Wiedergängern – lebenden Leichen, die von Omort dem Unsterblichen ausgesandt worden waren, dem am meisten gefürchteten Feind ihres Königreichs.

Er blickte sich um und erschauerte. Sein Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, was er sah …

Die Mädchen …

Wie der Blitz stürmte er auf den kleinen Hügel hinauf, zu den schwelenden Überresten des Hauses seiner Familie. Möglicherweise war es seinen Pflegeschwestern gelungen, in den Wald zu fliehen. Mit wild pochendem Herzen durchsuchte er die Ruine, während er unablässig dafür betete, dass seine Suche erfolglos bleiben möge. Schweiß lief ihm über das Gesicht und in die Augen und vermischte sich mit Ruß und aufwirbelnder Asche.

An dem Ort, wo sich einst die Herdstelle befunden hatte, fand er die Überreste seiner jüngeren Pflegeschwestern. Sie hatten sie verbrannt, und zwar bei lebendigem Leib. Ihre Muskeln hatten sich in der Hitze zusammengezogen, ihre kleinen Körper auf dem Boden zusammengerollt.

Er taumelte nach draußen und würgte, bis seine Kehle ganz rau war. Niemand hatte überlebt.

Er fuhr sich mit dem Unterarm übers Gesicht und torkelte auf eine alte Eiche zu, an der er sich zu Boden gleiten ließ. Innerhalb eines einzigen Tages hatte man ihm alles genommen, was er auf dieser Welt geliebt hatte.

Die Bedrohung durch Omort war schon seit vielen Jahrzehnten spürbar, doch der dunkle Hexenmeister hatte sich mit seinem Angriff Zeit gelassen. Cadeon fürchtete zu wissen, warum.

Mein eigener Fehler. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Dies alles ist meine Schuld.

Für die meisten, die ihn kannten, war Cadeon ein einfacher Bauer ohne besondere Verpflichtungen. Aber er war von Geburt ein Prinz und der einzige Thronerbe seines Bruders. Ihm war befohlen worden, nach Burg Tornin zurückzukehren, um den Königssitz zu verteidigen.

Cadeon hatte den Befehl verweigert. Wer Tornin beherrscht, beherrscht das Königreich …

Plötzlich drückte sich kalter Stahl gegen Cadeons Hals. Er blickte teilnahmslos auf. Ein Dämon hatte sich hinter dem Baum versteckt gehalten und bedrohte ihn jetzt. Ein Wutdämon.

„Mein Herr wusste, dass du zurückkommen würdest“, sagte der Krieger. Seine Waffe und seine Kleidung verrieten, dass er ein Auftragsmörder war, den Omort gesandt hatte. Ein Verräter seiner eigenen Art.

„Bring’s endlich hinter dich“, flüsterte Cadeon, während sein Blut über die Klinge des Schwertes rann. Ihm war jetzt alles egal. „Worauf wartest du no…“

Ohne Vorwarnung steckte plötzlich ein Pfeil im Hals des Assassinen. Er ließ sein Schwert fallen und umklammerte mit beiden Händen den Pfeil, wobei er sich nur selbst den Hals mit den eigenen Klauen zerfleischte. Cadeon sah ohne jede Gefühlsregung zu. Als der Bastard auf die Knie sank, tauchte ein Reitertrupp auf.

Der Anführer trug leichte Rüstung und einen furchterregenden schwarzen Helm. Einen Helm, der weithin bekannt war. Es war König Rydstrom, Anführer aller Wutdämonen. Cadeons leiblicher Bruder.

Rydstrom setzte den Helm ab und offenbarte sein von Narben entstelltes Antlitz. Den meisten jagte allein dieser Anblick einen Mordsschrecken ein.

In Cadeons Adern wallten Groll und Verbitterung auf. In Gedanken erinnerte er sich an das letzte Mal, dass er Rydstrom gesehen hatte. Damals war Cadeon erst sieben gewesen. Als der Erbe seines Bruders war er vor zwölf Jahren von der königlichen Familie getrennt und fortgeschickt worden, um von nun an versteckt in der Anonymität zu leben, weit weg von Tornin, das häufig das Ziel von feindlichen Übergriffen war.

Die Erinnerung an seine Verbannung überwältigte ihn … Als Cadeons Kutsche sich in Bewegung gesetzt hatte, hatte Rydstrom – der für ihn einmal mehr wie ein Vater gewesen war – mit durchgedrückten Schultern und ausdrucksloser Miene dagestanden.

Cadeon wusste noch, dass er sich in diesem Moment gefragt hatte, ob es seinem Bruder überhaupt etwas ausmachte, dass er fortging.

Jetzt verschwendete der König keinen Atem auf eine Begrüßung seines jüngeren Bruders und machte sich auch nicht die Mühe abzusteigen. „Ich hatte dir befohlen, auf Tornin zu erscheinen.“

Damit er dort als Verwalter herumhockte, während Rydstrom ausgezogen war, um sein Reich gegen die angreifende Vampirhorde zu verteidigen.

„Doch du hast dich geweigert, mit meinen Wachen zurückzukehren“, sagte Rydstrom schroff. „Und dann hast du dich ihnen entzogen wie ein Feigling?“

Cadeon war den Wachen nicht aus Feigheit aus dem Weg gegangen. Seine Loyalität galt in erster Linie seiner Pflegefamilie, und die brauchte seine Hilfe. Da er lesen und schreiben und sich teleportieren konnte, war die Wahl natürlich auf Cadeon gefallen, als man jemanden brauchte, der sich auf den Weg machte, um Hilfe gegen den Mehltau zu suchen, da dieser die gesamte Ernte in der Gegend zu vernichten drohte.

Und niemand hatte ernsthaft damit gerechnet, dass Omort tatsächlich angreifen würde.

„Bist du gekommen, um mich deswegen zu töten?“, fragte Cadeon mit gleichgültiger Stimme.

„Das sollte ich wahrscheinlich tun“, sagte Rydstrom. „Man hat mir dazu geraten.“ Cadeons Blick flackerte über Rydstroms getreue Offiziere, die mit kaum verhohlener Feindseligkeit auf ihn herabstarrten. „Du bist als Feigling gebrandmarkt. Und nicht nur bei unseren Feinden.“

„Ich bin kein Feigling. Es war nicht mein Leben – ich kannte dich oder diese Familie doch kaum.“

„Nichts davon spielte eine Rolle. Es war deine Pflicht, dort zu sein“, sagte Rydstrom. „Die Burg war ohne Anführer zurückgeblieben. Omort hat die Gelegenheit genutzt, um seine Rebellion zu starten und das Land zu unterwerfen. Er hat die Herrschaft über Tornin an sich gerissen. Er besitzt jetzt meine Krone.“

„Ich bin nicht aufgrund einer einzigen Entscheidung dafür verantwortlich, dass du deine Krone verloren hast. So einfach ist das nicht“, sagte Cadeon, wenn ihn auch der Verdacht quälte, dass genau das durchaus der Fall sein könnte.

„Oh doch. Die Geschicke eines Krieges können durch ein Wort, eine Handlung, selbst durch die Abwesenheit eines Anführers in der Feste eines Königreichs beeinflusst werden.“

Wenn das die Wahrheit war, dann könnte Cadeons geliebte Familie noch am Leben sein.

„Lass es mich dir erklären“, sagte Rydstrom mit beißender Stimme. „Ein kinderloser König zieht aus, um sich gegen einen Überraschungsangriff zur Wehr zu setzen, und sein einziger Erbe, der letzte männliche Nachkomme dieses Geschlechts, weigert sich, seine Verantwortung anzuerkennen. Deutlicher hätten wir unsere Verwundbarkeit gar nicht zum Ausdruck bringen können.“

Cadeon wischte über das Blut an seiner Kehle. „Es war weder meine Krone noch meine Angelegenheit.“

Rydstrom stieg ab und seine Fänge schärften sich vor Wut. Er zog sein Schwert, als er auf Cadeon zuschritt, hob es – und schien überrascht, weil Cadeon sich nicht von der Stelle rührte.

Aber sein Bruder begriff gar nichts. Cadeon hätte hier sterben sollen. Er hatte nichts zu verlieren.

Cadeon zuckte nicht zusammen und verzog keine Miene, als das Schwert nach unten sauste. In Rydstroms Augen blitzte ein flüchtiges Interesse auf, als er dem Assassinen hinter Cadeon den Kopf abschlug.

„Willst du den Tod dieser Leute rächen, Bruder?“

Wut erfüllte Cadeons Brust bei diesem Gedanken. Entschlossenheit stieg in ihm auf. „Ja, ich will Omort töten“, stieß er mit rauer Stimme hervor.

„Und wie gedenkst du das ohne jede Ausbildung zu tun?“

Cadeons friedliches Leben hatte ihn nicht auf das Kriegshandwerk vorbereitet. „Wenn du mich unterrichtest, werde ich nicht eher ruhen, bis ich seinen Kopf habe“, knurrte er. „Und wenn es so weit ist, werde ich ihm deine Krone von seinem Schädel reißen und sie dir zurückgeben.“

Nach längerem Schweigen sagte Rydstrom: „Ein Leben, von Rache angetrieben, ist besser als ein Leben ohne jeden Antrieb.“ Er wandte sich zu seinem Pferd um und rief Cadeon über die Schulter hinweg zu: „Wir lagern heute Nacht im Wald. Kümmere dich um deine Toten und komm dann dorthin.“

Cadeon würde kommen, weil er Omort vernichten musste. Aber zugleich wollte er auch für sein Versagen büßen.

Denn aufgrund der Entscheidung, seiner leiblichen Familie den Rücken zu kehren, herrschte Omort jetzt über Rothkalina – und Cadeons Pflegefamilie war tot.

Rache und Sühne. Ohne das eine war es Cadeon nicht möglich, das andere zu vollziehen.

Und doch blickten Rydstroms Männer mit einer Mischung aus Hass und Verachtung auf Cadeon, während ihr Anführer sein Pferd bestieg. Sie waren offensichtlich der Meinung, dass Cadeon den Tod verdient hatte.

An diesen Blick sollte ich mich wohl besser gewöhnen, dachte er. Selbst in seinem jugendlichen Alter wusste er, dass ihn dieser Blick für den Rest seines Lebens verfolgen würde.

Oder bis es mir gelingt, die Krone zurückzuerobern …

 

2

Sie erwachte.

Ihre Lider waren zu schwer, um sie zu heben, aber sie wusste sowieso nicht, ob sie überhaupt etwas sehen wollte. Als sie ihren Körper in Gedanken kurz durchcheckte, enthüllte ihr das einige ziemlich beängstigende Dinge.

Sie lag auf etwas, das sich wie eine Steinplatte anfühlte, nackt, abgesehen von ihrem Schmuck, und ihr langes Haar hing über den Rand der Platte hinunter, wobei es sich an den rauen Kanten verfing. Von dem Stein sickerte eine Eiseskälte in ihren Körper. Ihr war so kalt, dass ihre Zähne klapperten.

Sie hatten ihr die Brille abgenommen, sodass sie alles, was sich weiter als drei Meter von ihr entfernt befand, nur undeutlich wahrnahm.

Um sie herum hatten tiefe Stimmen einen feierlichen Gesang in einer bizarren Sprache angestimmt, die sie noch nie zuvor gehört hatte.

Schließlich öffnete Holly ihre Augen doch einen Spaltbreit. Noch nie hatte ein Mann sie vollkommen nackt gesehen, und jetzt starrte ein Dutzend verschwommener Gestalten auf sie hinab.

Eine von ihnen hielt ihre Arme fest, eine andere ihre Beine. Mit einem Schrei begann sie, sich dagegen zu wehren. „Lasst mich los!“ Das ist ein Traum. Ein Albtraum. „Lasst mich sofort los! Oh Gott, was macht ihr denn da?“

Die Ärzte hatten irgendetwas mit ihrem Kopf angestellt. Sie hatte bestimmt Halluzinationen.

Als die Gestalten nicht antworteten, sondern ihren Singsang fortsetzten, begann sie zu betteln: „Tut das nicht“, wobei sie gar nicht wusste, was „das“ eigentlich sein könnte.

In diesem feuchtkalten Gemach schien es kein elektrisches Licht zu geben, aber überall standen schwarze Kerzen, und durch eine Art Oberlicht schien der Mond herein. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte sich umzusehen. Sie glaubte zu erkennen, dass die Männer lange Gewänder und … künstliche Hörner trugen?

Ein Wort schien sich in ihrem Gesang ständig zu wiederholen: Demonaeus. Das musste irgendein total kranker Dämonenkult sein.

Allerdings trugen sie keine Masken, um ihre Identität zu verschleiern. Sie war sicher, das konnte nur eins bedeuten: Sie hatten nicht vor, sie hier lebendig rauszulassen.

„Meine Familie sucht garantiert schon nach mir“, log sie. Ihre Eltern waren tot, und Geschwister hatte sie keine. „Ich bin nicht die, die ihr für dieses … dieses Opfer haben wollt.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen und liefen über ihre Schläfen hinab. „Ich bin doch gar nichts Besonderes.“

Einige der Gestalten stießen ein barsches Gelächter aus.

„Das alles passiert in Wirklichkeit gar nicht“, flüsterte sie zu sich selbst, in dem Versuch, ihre Panik einzudämmen. „Das alles passiert in Wirklichkeit gar nicht.“

Sie blickte zur Glaskuppel über sich hinauf. Der Mond stand jetzt fast genau über einem ganz ungewöhnlichen Bild, das man in das Glas geritzt hatte. Es sah aus wie das Gesicht eines gehörnten Dämons.

Der Schatten des Bildes würde direkt über dem Altar – über ihr – stehen, sobald der Mond darauf traf. Es war ein Gnomon, ein Schattenzeiger, genau wie bei einer Sonnenuhr.

Die Männer schienen auf diesen Schatten zu warten, denn sie blickten immer wieder nach oben. Aber warum war das so wichtig?

Während der Mond seinen Aufstieg fortsetzte, nahm ihr Gesang an Lautstärke zu. Holly wehrte sich noch heftiger, trat zu und schlug mit den Armen um sich.

Blitze erhellten den Himmel. Sie bemerkte flüchtig, dass die Häufigkeit der Blitze über ihr in dem Maß zunahm, wie sie sich bemühte, freizukommen.

Jetzt glitt der größte dieser Männer zwischen ihre gespreizten Beine. Als er seinen Umhang ablegte, begriff sie schlagartig. Sie konnte ihn nur bis zur Taille sehen, wusste aber, dass er nackt war. „Nein, nein, nein … tut mir das nicht an!“

Das Weiße in seinen Augen hatte sich … schwarz gefärbt? Er packte ihre Oberschenkel und zerrte sie über den rauen Stein an den Rand des Altars.

Sie kreischte. Und dann brach die Hölle aus.

Die Männer hielten sich die Ohren zu. Durch das Glas – und damit das dämonische Gesicht – zogen sich auf einmal Risse, die nichts Gutes ahnen ließen, und dann zersprang das Ganze mit lautem Krachen und schwere Scherben regneten herab, allerdings ohne dass auch nur eine den Altar traf.

Ein Blitz fuhr durch die Öffnung herab und traf sie mitten in die Brust, wodurch die Männer weggeschleudert wurden.

Bei dem Einschlag stieß sie einen lauten Schrei aus und bäumte sich mit geballten Fäusten auf. Der Blitz war eine physische Kraft, die einfach kein Ende mehr zu nehmen schien.

Unvorstellbare Hitze schoss durch ihre Adern. Ihre beiden Ringe schmolzen ihr von den Fingern, ihre Ohrringe von den Ohren. Ihre Kette und ihre Armbanduhr verflüssigten sich und tropften von ihrem Körper herab.

Sie selbst war unverletzt. Ihre Haut war seltsamerweise noch heißer als das kochende Metall.

Das drückende Gewicht der Elektrizität erfüllte sie mit Macht, mit … Ruhe. Als es endete, war Holly eine andere. Sie fühlte sich an diesem Ort nicht mehr allein.

Bestrafe sie, schien eine Stimme in ihrem Kopf zu flüstern. Sie haben es gewagt, dir etwas zuleide zu tun …

Die Todesangst, die sie eben noch überwältigt hatte, wurde von blinder Wut verdrängt. Ihre Fingerspitzen waren auf einmal mit rasiermesserscharfen Klauen versehen. Ihr Sehvermögen war schärfer als je zuvor, sogar in der Dunkelheit. In ihrem Mund wuchsen Fänge.

Obwohl ihr der Blitz nichts ausgemacht hatte, wirkten die Dämonen wie betäubt, geblendet. Sie bluteten aus zahlreichen Wunden, die ihnen das hinabstürzende Glas zugefügt hatte.

Trotzdem formierten sie sich jetzt rasch neu. Holly erhob sich, kauerte auf dem Altar und wartete ab, während sie sich ihr vorsichtig näherten. Einer von ihnen trug eine Keule in der Hand, auf die sich ihre Augen fixierten. Eine Keule, um sie bewusstlos zu schlagen, damit sie mit ihrem abartigen Ritual fortfahren konnten.

Plötzlich sah sie nur noch rot. Als einer von ihnen sich auf sie stürzte, packte sie ihn bei den Hörnern. Sie waren … ein Bestandteil seines Körpers. Kein Kostüm. Waren das etwa echte Dämonen?

Das würde heißen, dass sie halluzinierte. Das konnte gar nicht wirklich geschehen. Sie lachte, als sie dem Dämon den Kopf umdrehte, in der sicheren Gewissheit, dass alles nur ein Albtraum war.

Und in ihren Albtraum überwältigte sie der instinktive Trieb, mit ihrer neu gewonnenen Kraft und ihrer Wut zu töten.

Als die anderen angriffen, hatte Holly keine Angst.

Sie wusste, wie sie sie töten konnte, so als ob sie sie schon seit Tausenden von Jahren jagte und zur Strecke brachte. Sie wusste, wie man ihnen die Köpfe vom Hals abdrehte, wie sie mit ihren Klauen zuschlagen musste, um Haut und Arterien so leicht wie Seidenpapier zu zerreißen.

Bestrafe sie …

Als das Blut zu spritzen begann, erleuchteten erneut Blitze den Himmel über ihr, so als ob sie Holly anfeuern wollten.

„Ich verstehe“, murmelte sie, als sie auf die Halsschlagader eines Dämons zielte und sie durchtrennte. Ja, das Letzte, was sie auf Erden sehen sollten, ist mein lachendes Gesicht.

„Ganz ruhig, Frau“, versuchte Cade sie zu beruhigen, während er sich langsam auf die Ecke zubewegte, in der Holly nackt kauerte.

Sie war von oben bis unten mit Blut bedeckt. Aber stammte es von ihr oder von den zwölf Dämonen, die sie offensichtlich getötet hatte?

Ihre Augen waren … silbern. Sie glühten in den Schatten. Was bedeutete, dass sie eine Walküre war. Irgendwie war sie nicht länger bloß ein Mensch. Eine Walküre in Gibson Hall. Holly erwies sich tatsächlich als das Gefäß.

Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und versuchte, ihre Blöße zu bedecken, während sie ihre Fänge fletschte, um ihn zu verjagen. Sie zitterte vor Angst und wegen des Schocks, und Tränen rannen ihr über das blutbefleckte Gesicht.

Es brachte ihn schier um.

„Ruhig“, murmelte er. „Ich will dir nichts tun.“

Ihre Augen flitzten von seinen Hörnern zu denen auf einem der Köpfe, die auf dem Boden lagen.

„Ja, ich bin auch ein Dämon“, sagte er. „Aber ganz und gar nicht wie die hier. Mein Name ist Cadeon Woede.“

Wie weit waren sie mit ihr gekommen, bevor sie sich verwandelt und angegriffen hatte? Auch wenn es so aussah, als ob das Massaker schon eine ganze Weile her wäre, hatte Holly immer noch eine Wunde an ihrem Arm, die ihr die Klauen eines dieser Dämonen gerissen hatten.

Sie mochte sich in eine Walküre verwandelt haben, aber noch besaß sie weder die beschleunigte Heilkraft noch die Unsterblichkeit, die diese Spezies auszeichnete. Was bedeutete, dass sie immer noch unglaublich verletzlich war. Wie ein Mensch.

Menschen sterben so leicht.

„Haben sie außer deinem Arm noch etwas verletzt?“

Endlich schüttelte sie den Kopf.

„Haben sie dir irgendwie wehgetan? Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?“, fragte er, obwohl ihm bewusst war, dass das wohl kaum funktionieren würde.

Andere Faktionen waren ebenfalls auf der Suche nach ihr. Er wäre überrascht, wenn sie die Blitze nicht ebenfalls bemerkt hätten, die er aus der Ferne gesehen hatte. Immer noch ging von ihr ein Knistern aus, und ihre Macht erfüllte den ganzen Raum. Neu erworbene Macht ließ sich leicht zurückverfolgen.

„S-sie haben m-mir nichts getan“, flüsterte sie.

„Gut. Ich will dir helfen, Holly.“

Sie runzelte die Stirn, als er ihren Namen aussprach, und musterte sein Gesicht.

„Wir sind uns schon begegnet“, sagte Cade, aber sie ließ sich dadurch keineswegs beruhigen. Nach wie vor hagelten Blitze vom Himmel. Blitze verliehen einer Walküre Kraft, aber sie waren zugleich auch ein Spiegelbild ihrer Emotionen.

Als er begann, sein Hemd aufzuknöpfen, um sie zu bedecken, stieß sie einen Schrei aus und hieb mit ihren blutigen Klauen nach ihm. Gleich darauf starrte sie in stummem Entsetzen auf ihre Fingerspitzen.

Noch vor wenigen Stunden war sie ein ganz normaler Mensch gewesen, oder zumindest beinahe normal, abgesehen von einigen exzentrischen Eigenschaften. Jetzt war sie zu etwas geworden, mit dem er niemals gerechnet hätte. Eine Walküre. Oder zumindest eine halbe. Er hatte nicht gewusst, dass dieses Potenzial in ihr geschlummert hatte. Der Schock des Rituals musste wohl die Transformation in Gang gesetzt haben.

Wenn sie diese Macht nicht besessen hätte, wäre sie auf brutalste Weise gequält und ihre Gebärmutter dem dunklen Gott geopfert worden, den dieser Dämonenorden verehrte.

Als er sein Hemd ablegte, entblößte sie ihre kleinen Fänge und zischte ihn an, um gleich darauf fassungslos über ihre Reaktion das Gesicht zu verziehen.

„Na, na. Ist ja schon gut. So ein bisschen Zischen hat noch niemandem geschadet.“ Als er sich neben sie hockte, musste er mit aller Kraft gegen den Drang ankämpfen, sie an seine Brust zu ziehen. „Ich werde dir das jetzt umlegen. Ruhig …“

Sie blickte zu ihm auf, und die Farbe ihrer Augen wechselte zwischen Silber und dem intensiven Violett, das er an ihr kannte, hin und her. „W-was p-passiert denn mit mir?“

„Also, die ganzen Geschöpfe, die du immer für einen Mythos gehalten hast …“ Sie nickte. „Nun ja, das sind sie nicht. Und du verwandelst dich gerade von einem Menschen in eine Unsterbliche.“

Was bedeutete, dass es Cade jetzt durchaus möglich war, sie zu der Seinen zu machen.

Außerdem bist du gerade zu meiner Zielperson geworden – dem Gefäß. Du bist der Preis, den ich für ein Schwert aufbringen muss, mit dem wir unseren Feind töten können.

Sie war nun gleichbedeutend mit der Krone, für deren Rückeroberung er neunhundert Jahre lang gekämpft hatte – die unerbittliche Jagd, die ihm einen Grund dafür geliefert hatte, weiterzuleben.

Nie zuvor war er seinem Ziel so nahe gewesen …

Er musste nur noch die Frau, die zu besitzen er genauso lange gewartet hatte, ausnutzen und verraten.

 

3

Holly wandte sich ab und kauerte sich zusammen, um das Hemd zuzuknöpfen. Gleichzeitig sah sie aber über ihre Schulter und behielt Cadeon fest im Blick.

Sie erinnerte sich daran, ihm schon einmal begegnet zu sein. Als ob sie diese unglaublichen grünen Augen vergessen könnte. Sie erinnerte sich auch an seinen Akzent. Es klang nach irgendeiner britischen Kolonie, und er sprach zudem mit einer ungewöhnlichen Intonation.

Vor ein paar Monaten hatte er sich ihr auf dem Gelände der Universität genähert. Anfangs war er ziemlich großspurig gewesen, dann schien er auf einmal einen Knoten in der Zunge zu haben und begann herumzustammeln. Es hielt ihn jedoch nicht davon ab, ziemlich unverfroren ihren Körper anzustarren.

Er war ihr seltsam erschienen. Und da hatte sie noch nicht mal gewusst, was sich unter dem Hut versteckte, den er damals getragen hatte.

Jetzt konnte sie außerdem noch sehen, was zuvor sein Hemd bedeckt hatte. Seine bloße Brust strotzte nur so vor Muskeln und gleich über seinem prallen Bizeps trug er einen breiten Goldreif.

Er war genauso riesig wie die anderen, hatte zugegeben, einer von ihnen zu sein. Sie erschauerte und bemühte sich, den Anblick der Leichen um sich herum auszublenden.

Aber er sah anders aus. Seine Gesichtszüge erschienen ihr menschlicher. Seine Hörner wanden sich an seinem Kopf entlang nach hinten durch sein goldbraunes Haar, statt nach vorne zu ragen.

Wie kann ich nur ohne meine Brille so gut sehen? „Warum sollte ich Ihnen vertrauen?“

„Weil es meine Aufgabe ist, dich zu beschützen. Bald werden noch mehr kommen. Ich werde dir später alles erklären.“ Als sie immer noch zögerte, fuhr er fort: „Diese zwölf waren nur die Vorhut.“

„Die Vorhut?“, rief sie.

Irgendwo in einer Etage über ihnen war eine quietschende Tür zu hören. Er sprang auf die Füße. „Komm mit mir, wenn du lebend hier rauskommen willst.“

„W-wohin gehen wir denn?“

„Wir rennen einfach los. Ich sorge dafür, dass du sicher bist, aber du wirst mir vertrauen müssen.“ Er hielt ihr seine riesige Pranke hin.

Da ihr keine andere Wahl zu bleiben schien, ergriff sie sie, und er zog sie hoch. Sie fühlte sich erstaunlich ruhig, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse, nicht einmal ihre Knie zitterten. Er führte sie aus dem Gemach heraus, ohne ihre Hand loszulassen, und dann einen düsteren Korridor entlang.

Als der Gang von einem Alkoven unterbrochen wurde, erblickten sie eine Gruppe, aus drei Männern bestehend, die genau die gleichen Umhänge wie die von eben trugen und dieselbe merkwürdige Sprache sprachen. Cadeon drängte sie gegen die Wand und flüsterte ihr direkt ins Ohr: „Du darfst nicht den kleinsten Laut von dir geben. Du bleibst hier, bis ich wieder zurückkomme und dich hole. Ist das klar?“

Sie nickte, und er drehte sich um. Während er sich auf den Angriff vorbereitete, wuchsen die breiten Muskeln in seinem Rücken vor ihren Augen. Seine Hörner richteten sich auf und wurden schwarz.

Seine Lippen teilten sich, als er sich auf die anderen stürzte. Seine Geschwindigkeit war atemberaubend, und sein Gebrüll ließ den Gang erzittern und schmerzte in ihren empfindlichen Ohren. Er packte einen Dämon bei den Hörnern und drehte dessen Kopf um, bis ein deutliches Knacken zu hören war.

Als er sich gleich darauf den beiden anderen zuwandte, wurden die Reißzähne in seinem Ober- und Unterkiefer noch länger. Er bediente sich ihrer wie ein Tier und biss und kratzte wild.

Hatte sie auch so ausgesehen, so außer sich vor Wut, als sie getötet hatte? Ihre eben erst gewonnene Furchtlosigkeit verflog wieder. Seine Augen färbten sich schwarz, so wie die der anderen, und sie erschauerte und wich zurück.

Hatte sie wirklich gedacht, dass er anders wäre? Ich will doch nur nach Hause. Vergessen, dass dies alles jemals passiert ist. Warum sollte sie ihm trauen? Ich finde schon allein hier raus.

Sie wandte sich von dem Kampf ab und lief den Gang in die entgegengesetzte Richtung weiter, bis sie schließlich in eine Art offene Galerie stolperte.

Auf den Holzstühlen und dem Steinfußboden waren weitere bizarre Symbole zu sehen. An den Wänden hingen uralt wirkende Wandteppiche. Auf einem Regal waren Schädel aufgereiht, die auf den ersten Blick menschlichen Ursprungs zu sein schienen, doch dann bemerkte Holly, dass sie Hörner und Fangzähne in Ober- und Unterkiefer hatten.

Dann entdeckte sie eine Doppeltür, die möglicherweise nach draußen führte. Wenn sie nur hier herauskäme, dann würde sie einen Wagen anhalten oder sich versteck…

Schnell hintereinander abgefeuerte Schüsse ließen den Boden zu ihrer Rechten explodieren. Sie schnappte nach Luft und riskierte einen Blick, während sie nach links rannte. Männer richteten Maschinengewehre auf sie, offensichtlich in der Absicht, sie umzubringen.

Dann begann ein weiterer Mann aus der anderen Richtung auf sie zu schießen. Die Mauer wurde auf beiden Seiten von Geschossen durchsiebt, die immer näher kamen. Sie rannte nach rechts, dann wieder nach links, aber beide Wege waren blockiert. Die Projektile kamen immer näher und näher …

Auf beiden Seiten fehlten nur noch Zentimeter. Sie erstarrte vor Angst.

Da übertönte ein Brüllen die Schüsse. Cadeon durchbrach den Kugelhagel, um zu ihr zu gelangen. Er riss Holly in seine Arme und drückte sie an die Brust. Als die Kugeln sie erreichten, presste er sie so gegen die Wand, dass sein Körper jeden Quadratzentimeter ihres Körpers bedeckte.

Er biss die Zähne aufeinander, als die erste Kugel ihn traf, unfähig, sich umzudrehen und zu fliehen, ohne ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie brach in Tränen aus. Zwei Kugeln, drei, vier …

Er starrte auf sie herab. Seine pechschwarzen Augen schienen sie zu verzehren. „Du läufst … nie wieder weg … von mir. Klar?“, stieß er mit rauer Stimme hervor.

„K-klar“, flüsterte sie geknickt. Jedes Mal wenn sein riesiger Körper unter dem Aufprall einer Kugel zuckte, weinte sie noch heftiger.

Über die Schulter gewandt brüllte er die Angreifer an, stieß ein wildes, warnendes Grollen aus, und sie wimmerte. Mit harscher, rauer Stimme versuchte er sie zu beruhigen.

„Nein, nein, Frau. Schsch.“ Er wischte ihr mit seinen riesigen Fingern, an deren Enden kurze, schwarze Klauen saßen, die Tränen weg.

Dann hörte das Gewehrfeuer mit einem Schlag auf. Holly spähte über Cadeons Schulter hinweg. Die Dämonen in den Umhängen griffen die Maschinengewehrschützen an.

Während die beiden gegnerischen Gruppen aufeinanderprallten, sprintete Cadeon mit ihr in den Armen auf die Doppeltüren zu. Mitten im Lauf drehte er sich um, sodass sein von Kugeln durchsiebter Rücken die Türen aufbrach, sie einfach aus den Angeln sprengte.

Er flüchtete mit ihr in die Nacht, auf einen älteren Truck zu, der seitlich von dem Herrenhaus geparkt war. Nachdem er die quietschende Tür aufgerissen hatte, warf er sie auf den rissigen Sitz und sprang hinterher. Er packte den Schlüssel und drehte ihn um. Nichts.

„Ist die Batterie tot?“, fragte sie, nachdem es ihr gelungen war, einen Teil des Schocks und der Benommenheit abzuschütteln. „Fährt das Ding überhaupt noch?“ Der Boden war mit leeren Verpackungen und zerdrückten Dosen übersät.

„Hey, der Truck wird nicht schlechtgemacht. Er hat mich schon aus so manchem Schlamassel gerettet.“ Er bewegte den Schalthebel behutsam vor und zurück. „Ich muss mich nur vergewissern … dass er auch weiß, dass wir im Leerlauf sind.“ Holly glaubte ein Klicken zu hören. „Na, geht doch.“

Der Motor sprang mit einem Röhren an. Er warf ihr einen herablassenden Blick zu, sobald sie über die kiesbedeckte Einfahrt brausten.

Sie schaute zurück auf das Herrenhaus. Von außen wirkte das Haus imposant, das Grundstück war tadellos in Schuss. Niemals hätte sie vermutet, was sich im Inneren dieses Gebäudes verbarg.

Und jetzt war sie mit einem von ihnen zusammen. Sie wandte sich zu ihm um und musterte dieses Wesen, diesen … Dämon.

Sein gebräuntes Gesicht war von einem blonden Dreitagebart bedeckt, sein Haar war dicht und glatt und reichte ihm bis über das maskuline Kinn. Hellere Strähnen wiesen auf ein Leben in der Sonne hin.

Der goldene Reif, den er am rechten Arm trug, schien festzusitzen, so als ob man ihn aufschneiden müsste, um ihn über diesen kräftigen Bizeps zu bekommen. Und diese Hörner …

Als sie sich vorhin nach vorne gebogen hatten, waren sie sehr viel dunkler und größer geworden. Jetzt wirkten sie glatt, hatten in etwa die Farbe einer Muschel und lagen dicht am Kopf an. Wenn sein zerzaustes Haar sie verdeckte, würde man sie vermutlich kaum erkennen können.

„Und, wie gefall ich dir?“, fragte er mit tiefer, grummelnder Stimme.

Sie errötete. „Ich habe vor heute Nacht noch nie … Hörner gesehen.“

„Ich dachte mir schon, dass das ein Schock sein würde.“

„Wohin fahren wir jetzt?“

„Ich muss dich aus der Stadt rausbringen“, sagte er. „Hier ist es für uns eindeutig viel zu heiß.“

Sie bemerkte Blut auf der Lehne seines Sitzes. „Wie kannst du dich überhaupt noch bewegen, bei den ganzen Kugeln?“

„Unter verfickt großen Schmerzen, Holly.“

Ihr blieb der Mund offen stehen. Seine Ausdrucksweise wirkte auf sie wie das Kratzen von Nägeln auf einer Tafel.

„Oh, stell dich nicht so an, Halbling! Besser wird meine Sprache bestimmt nicht.“

„Ich … daran bin ich einfach nicht gewöhnt. Geht’s dir gut?“

„Ich werde die Dinger schon los.“ Als sie die Stirn runzelte, erklärte er: „Meine Haut wird sie herausdrücken, wenn ich heile.“

Holly konnte immer noch nicht fassen, was sie gerade erlebt hatte. „Was wollten diese Männer von mir? Wer waren die, die geschossen haben?“

„Die mit den Gewehren waren Blutsauger. Vampire.“

„Vampire“, sagte sie leise, während sie in Gedanken schrie: Das ist doch vollkommen verrückt!

„Sie wissen wahrscheinlich, dass du noch nicht unsterblich bist. Normalerweise benutzen wir keine beschissenen Gewehre, und darum konnten die Arschlöcher auch nicht zielen.“

Sie zuckte bei den obszönen Ausdrücken zusammen, schaffte es aber, diesmal den Mund geschlossen zu halten. „Noch mal: warum?“

„Weil du soeben zum beliebtesten Mädchen der Stadt geworden bist.“

„Was soll das heißen?“ In dem gestrengen Tonfall, den sie normalerweise für ihre Studenten reservierte, fügte sie hinzu: „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für kryptische Antworten, Cadeon.“

„Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Fragen, Holly.“

Am Ende der Auffahrt leuchteten ihnen Scheinwerfer entgegen. Ein Geländewagen blockierte das Tor an der Ausfahrt.

„Verdammte Scheiße!“, stieß er hervor und wirbelte das Lenkrad herum, sodass Kies aufspritzte. „Noch mehr Vampire.“

Sie klammerte sich an das Armaturenbrett, um nicht den Halt zu verlieren. „Und wohin fahren wir jetzt?“

„Es gibt nur noch einen anderen Weg vom Grundstück runter. Durch den Sumpf.“

„Woher weißt du das?“

„Ich war schon mal hier.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Ich hab mich gelegentlich mit den Dämonen hier getroffen. Als Repräsentant meiner Rasse.“

„Du … du hast dich mit diesen Bestien verbrüdert? Ist es bei deiner ‚Rasse‘ ebenfalls üblich, Frauen zu entführen?“

„Frauen entführen? Ich hab ja jetzt schon Probleme damit, die Weiber von meinem Freudenspender fernzuhalten, Kleines.“

Mit großen Augen sagte sie: „Weiber? Freudenspender? Stammst du aus dem neunzehnten Jahrhundert oder bemühst du dich einfach nur um eine möglichst frauenfeindliche Ausdrucksweise?“

„Also, ich stamme aus dem Mittelalter und muss mich um so was gar nicht erst groß bemühen.“ Er trat mit voller Kraft aufs Bremspedal und schaltete den Allradantrieb zu, während er sie scharf ansah. „Das kommt nämlich von ganz allein, ist ’ne regelrechte Begabung.“ Als er dann wieder aufs Gas trat, wurde sie in ihren Sitz gedrückt, während der Wagen einen Satz nach vorne machte und über die makellose Grünfläche hinwegraste.

„Warum wollten sie mir wehtun? Ich habe nie irgendetwas getan, um so etwas zu verdienen!“

„Es liegt nicht daran, was du getan hast – es liegt daran, wer du bist.“

„Eine Mathe-Dozentin?“, fragte sie mit erstickter Stimme.

„Du bist jetzt eine Walküre. Noch dazu eine ganz besondere. Deine Mutter muss auch eine gewesen sein.“

„Walküre! Meine Mutter hat mal einen Kuchenwettbewerb gewonnen. Und sie war ein Mensch. Sie ist vor zwei Jahren gestorben.“

„Dann muss deine biologische Mutter eine gewesen sein.“

Sie war so schockiert, dass sie einen Augenblick lang schwieg. Woher wusste dieser Dämon, dass sie adoptiert war? „Ich kannte sie nicht einmal.“ Holly hatte sie sich immer als verängstigten Teenager vorgestellt, der immerhin so viel gesunden Menschenverstand besaß, sein Baby den wunderbarsten Menschen, die man sich nur vorstellen konnte, vor die Tür zu legen. Und jetzt behauptete dieser Dämon, dass ihre Mutter eine Walküre sei? „Was genau ist eine Walküre? Und woher wusstest du, dass ich adoptiert bin?“

„Keine Zeit für Fragen. Jetzt müssen wir erst mal durch den Sumpf hindurch.“

Vor ihnen tauchte eine dunkle Linie von Gestrüpp auf. „Ich sehe keine Straße!“

„Es gibt eine Art Feldweg“, sagte er, um gleich darauf mit sorgloser Stimme hinzuzufügen: „Könnte sein, dass er ein bisschen zugewachsen ist.“

„Ein bisschen! Bist du sicher, dass es keinen anderen Weg hier raus gibt?“

Er nickte. „Das Grundstück ist vollständig vom Bayou und vom Sumpf umgeben.“

„Wie stehen die Chancen, dass wir es schaffen?“

„Ich würde sagen, eins zu fünfzehn.“

Ihre Augen wurden groß. „Das Risiko würde ich nicht eingehen!“

„Oh doch, das würdest du, wenn du sonst überhaupt keine Chance hättest.“

„Oh Gott“, murmelte sie und begann die Gegend um ihren Sitz abzutasten. „Wo ist der Gurt?“

„Ist vor ein paar Jahren kaputtgegangen.“

„Und du hast ihn nicht reparieren lassen?“, blaffte sie ihn an.

„Normalerweise kutschiere ich auch keine Sterblichen durch die Gegend!“, brüllte er zurück.

Sie versuchte, sich zu beruhigen. „Cadeon, ich sehe nicht mal die Spur eines Weges.“

„Dämoneninstinkt. Ich finde ihn.“ Aber er drückte ihr seinen ausgestreckten Arm über den Oberkörper, als sie sich dem Sumpf näherten.

„D-du fährst doch da nicht wirklich rein?“

„Vertrau mir.“

Dieses Wesen hatte ihr das Leben gerettet, sich für sie von Kugeln durchlöchern lassen, und trotzdem haftete ihm etwas entschieden Unvertrauenswürdiges an …

Er warf ihr ein verschwörerisches Grinsen zu, bei dem ihm das Kunststück gelang, seine Fänge fast vollständig zu verbergen. „Aber wenn du ein gläubiger Mensch bist, dann wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt zum Beten.“

 

4

Als der Truck durchs Gebüsch brach, wurde Holly nach vorne gegen seinen Arm geschleudert. Blätter und Zweige klatschten gegen die Windschutzscheibe, während der Wagen wild auf und ab federte. Sie streiften etwas, das Federn hinterließ und wütend kreischend den Rückzug antrat.

Holly drehte sich um und klammerte sich an die Rückenlehne, um die Gegend hinter dem Wagen abzusuchen. „Sie werden uns einfach hinterherfahren und uns hier drin eine Falle stellen!“

„Ihre schicken kleinen Geländewagen liegen viel tiefer als so eine alte Karre wie meine. Mit ein bisschen Glück setzen sie auf. Zumindest eher als wir.“

Über den Krach ihres umfassenden Zerstörungsaktes der einheimischen Flora und Fauna hinweg fragte sie: „Warum hilfst du mir?“

„Ich bin ein Söldner, und mein gegenwärtiger Auftrag lautet, dich am Leben zu erhalten.“

„Ein Söldner? Wer bezahlt dich? Wer würde einen Dämon anheuern, um mich vor einer Bedrohung durch Dämonen zu beschützen?“

„Vergiss die Blutsauger nicht.“

„Wie könnte ich?“ Sie rieb sich die Stirn mit beiden Händen. „Wer hat dich bezahlt?“

„Darüber reden wir später.“

„Dann sag mir wenigstens, warum diese Dämonen ausgerechnet mich ausgesucht haben. Ich bin der langweiligste Mensch, den es gibt.“

Ihre Blicke trafen sich. „Jetzt nicht mehr, Halbling.“

Sie warf erneut einen Blick nach hinten und sah Scheinwerfer. „Sie kommen.“

Er stieß einige Wörter in einer Sprache hervor, die sie noch nie zuvor gehört hatte, und gab noch mehr Gas.

„Cadeon, sollten wir wirklich so schnell fah…“

Dann waren Schüsse zu hören, die die Rückseite des Trucks und ihren Seitenspiegel trafen. Seine große Hand legte sich auf ihren Kopf und drückte sie nach unten, sodass sie jetzt vornübergebeugt auf ihrem Sitz hockte.

Als sich die Scherben des Spiegels in ihr Fenster bohrten, kreischte sie auf.

Mit einem Mal zersprang überall um sie herum das Glas. Er stieß einen Schmerzensschrei aus. Risse zogen sich über die Windschutzscheibe, bevor auch die explodierte und Glassplitter auf sie herabregneten.

„Könntest du dich bitte ein bisschen beherrschen, Kleines?“

„Wie hab ich das denn gemacht?“, rief sie, während sie hektisch Glasstückchen von sich abstreifte.

„Das liegt in deiner Natur“, erwiderte er mit rauer Stimme. „Die Schreie einer Walküre bringen Glas zum Zerspringen. Hast du diese Lektion jetzt gelernt?“

Als sie entdeckte, dass ihm Blut aus dem Ohr lief, biss sie sich auf die Lippe und befreite auch ihn vom Glas.

Ihre Fürsorge schien ihn zu überraschen. „Na, was für ein süßer kleiner Halbling. Aber ein bisschen tiefer und ein Stück nach rechts wäre noch viel süßer …“

„Pass auf!“

Von einer Sekunde zur anderen war nicht mehr die Spur eines Weges zu sehen. Trübes schwarzes Wasser bedeckte ihn auf einer Strecke von wenigstens drei Metern.

„Festhalten!“ Er zerrte ihren Oberkörper nach oben und legte wieder seinen Arm vor sie.

„Und warum fahren wir jetzt sogar noch schneller?“

„Damit wir nicht stecken bleiben!“, brachte er noch heraus, kurz bevor sie die Stelle erreichten.

Wieder wurde sie gegen seinen Arm geschleudert. Da die Windschutzscheibe nicht mehr existierte, landete das Wasser, das über die Motorhaube spritzte, direkt in ihren Gesichtern.

Der Vorderteil des Trucks tauchte ab. Wasser drang ins Wageninnere ein. Schlamm, Seerosenblätter und diverse Krebse blieben darin hängen wie in einem Netz. Der Motor heulte vor Anstrengung laut auf, während sie sich mühselig auf die andere Seite vorarbeiteten.

Als sie endlich wieder halbwegs festen Boden erreicht hatten, schüttelte Cadeon seine Mähne wie ein Tier. „Scheiße, ich kann’s nicht fassen, dass wir das geschafft haben!“

Holly wischte sich einige klatschnasse Strähnen aus den Augen und rieb dann mit dem Ärmel ihres Hemdes über ihr Gesicht, sodass mit dem Wasser auch die Blutspritzer des Dämonenmassakers verschwanden.

Er grinste sie an. Sie starrte fassungslos zurück.

Wieder tauchten Scheinwerfer hinter ihnen auf. Diese Vampire waren wirklich hartnäckig. Sie waren wohl der Überzeugung, dass die Dämonen ihr Ritual bereits durchgeführt hatten, und sie konnten nicht riskieren, dass alles Gute oder alles Schlechte in Gestalt eines Dämons auf die Welt kam. „Verdammter Mist.“

Sie kreischte erneut.

„Meine Ausdrucksweise? Liegt es daran? Denn …“

Mit einem Satz sprang Holly ihm wimmernd auf den Schoß.

Er schluckte. Ihm war nur zu bewusst, dass sich ihre gespreizten Knie direkte über seiner Leistengegend befanden, und dass sie unter dem Hemd vollkommen nackt war. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er diese Position genossen, hätte sich möglicherweise sogar ein Szenario ausgedacht, um sie genau in diese Stellung zu bringen, aber jetzt konnte er kaum noch etwas sehen, bis auf ihren Kopf, der vor ihm auf und nieder tanzte.

„Das sind doch nur ein paar Krebse!“

„N-nein, nicht nur …“

Der Truck tauchte schlagartig in ein tiefes Loch ab, um sich gleich darauf auf der anderen Seite wieder nach oben zu arbeiten. Dann kam das nächste und das nächste. Cade packte ihre Taille – sie fiel zur Seite.

„Pass auf, sonst zerquetscht mir dein Knie noch die Eier, Kleines.“

Seine Hand landete genau zwischen ihren Schenkeln.

Als er ihr zartes Fleisch an seiner Handfläche spürte, heiß und nachgiebig, stieß er ein tiefes Knurren aus. Der Motor protestierte lautstark, der ganze Wagen wurde von einer Seite zur anderen geschleudert – und doch trafen sich in dieser Sekunde ihre Blicke. Dann riss sie ihre Augen auf und schob seine Hand weg. Allerdings blieb sie auf seinem Schoß sitzen.

„Nicht nur Krebse!“, schrie sie.

„Was denn sonst?“, blaffte er sie an.

„D-das!“ Sie zeigte auf den hin und her schwappenden Tümpel, der sich vor dem Beifahrersitz gebildet hatte.

Eine kleine Wassermokassinschlange hatte sich an Bord verirrt, schwamm nun leicht verwirrt zwischen zerquetschten Red-Bull-Dosen herum und sah mindestens genauso entsetzt aus wie Holly.

Cade versuchte sie mit einem raschen Griff zu erwischen, aber sie glitt unter den Sitz. Er hätte nicht gedacht, dass er so etwas je sagen würde, aber … „Runter von mir, Holly. Zurück auf deinen Sitz, aber halt die Beine hoch.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht ehe sie weg ist!“

„Dann wirst du wohl fahren müssen.“

„Okay“, sagte sie mit zittriger Stimme und übernahm den Lenker, während er sich unter ihr zur Seite quetschte.

Seine Hand schoss unter den Sitz. „Komm schon her, du kleines Mistvieh.“

„Cadeon!“

„Ach, stell dich nicht so an, Halbling!“

Der Truck wurde langsamer. Ruckartig richtete er sich auf und wurde, da sein Gesicht nach hinten gewandt war, von den sich nähernden Scheinwerfern geblendet. „Was zum Teufel machst du denn?“, herrschte er sie an.

„Da unten im Wasser hat sich etwas bewegt!“

„Holly, entweder gibst du jetzt verdammt noch mal Gas oder du krepierst! Klar?“

Sichtlich erschaudernd streckte sie ihr Bein aus – mit dem sie das Pedal kaum erreichte – und drückte es mit den Zehen herunter. Jedes Mal wenn sie auf ihrem Sitz in die Höhe geschleudert wurde, rutschte ihr Fuß ab und der Wagen wurde wieder langsamer, aber sie gab nicht auf und eroberte das Pedal immer wieder von Neuem.

Endlich hatte er die Schlange in die Enge getrieben. Da er wusste, dass Holly sie sehen musste, um ihm zu glauben, hielt Cade das Tier, das voller Inbrunst sein Gift in ihn verspritzte, in die Höhe. „Hier, sieh her. Visueller Beweis.“ Er warf sie aus dem Fenster. „Und jetzt beweg deinen kleinen Arsch wieder rüber, und dann sehen wir zu, dass wir diese elenden Scheißkerle loswerden, okay?“

„Okay!“

Als sie sich über seinen Schoß hinwegschob, widerstand er nur mit einiger Mühe der Versuchung, sie dort festzuhalten, und schnappte sich wieder das Lenkrad. Als sie eine kleine Erhebung erklommen hatten und auf der anderen Seite wieder hinunterfuhren, entdeckte er vor ihnen ein weiteres Stück überspülten Weges. Er gab Gas und riss sie an seine Seite. „Halt dich an mir fest.“

Sie legte ihre schlanken Arme um seinen Leib und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Ein Gefühl der Anspannung erfasste ihn. Sein Verlangen nach ihr ließ ihn nicht einmal jetzt los.

Er hielt sie fest. Vierzig Meilen pro Stunde. Seine Frau. Fünfundvierzig. Er zog sie noch enger an sich heran, als das Fahrgestell des Trucks zu vibrieren begann. Es klang wie Steine, die in einer Blechdose rappelten, allerdings tausendmal lauter.

Der Truck traf mit fünfzig Meilen pro Stunde auf das Wasser auf und begann hindurchzupflügen. Sie hatten gerade die Mitte erreicht, als der Motor zu stottern begann. Wasser im Auspuff. Er trat das Gaspedal bis zum Boden durch.

„Komm schon, Baby“, murmelte er. Er roch Rauch. Der Wagen bebte, und das Wasser um sie herum begann zu schäumen und dann …

Das alte Mädchen arbeitete sich auf der anderen Seite wieder aus dem Wasser. Als er einen Blick zurück riskierte und sah, dass der Geländewagen, der sie verfolgte, hilflos im Wasser feststeckte, konnte er nicht anders – er musste das rissige Armaturenbrett dankbar tätscheln.

„Wir sind sie los. Der Truck ist wohl doch gar nicht so übel, was?“, sagte er. „Holly?“ Verwirrt blickte er auf sie hinab. Sie klammerte sich nach wie vor an ihn, als ob er ein Baum im Sturm wäre. Als suchte sie Trost bei ihm.

Cade konnte sich nicht erinnern, wann sich irgendetwas je auch nur halb so gut angefühlt hatte.

 

5

„Ich bin gerade ziemlich beschäftigt, Rydstrom“, knurrte Cade gereizt, als sein Bruder erneut anrief.

„Was ist denn mit deinem Telefon los?“

„Ist nass geworden.“

„Bist du schon wieder beim Haus?“

„Bin auf dem Weg“, erwiderte Cade. „In ’ner Viertelstunde bin ich da. Wo bist du?“

„Eine Stunde von der Stadt entfernt.“ Er machte eine kurze Pause. „Du klingst ziemlich erregt. Du klingst … ganz und gar nicht unglücklich.“

Dieser scharfsinnige Rydstrom kannte ihn verdammt gut. Cade hatte Holly seit so langer Zeit aus der Ferne begehrt und jetzt war er bei ihr, redete mit ihr, berührte sie … „Halt die Klappe, Rydstrom.“

„Irgendwas ist mit dir. Aber ganz egal, was es ist, sieh zu, dass du es loswirst. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns.“

Cade blickte auf Holly hinunter, die sich immer noch an ihm festhielt, und dann wieder auf die Straße zurück. Er wechselte in die Dämonensprache über und sagte: „Ich denke nicht, dass du das wirklich willst. Ich hab nämlich die Walküre.“

„Wie zum Teufel ist das möglich? Wir wussten doch gar nicht, wer sie ist …“

„Sie ist meine Frau. Wusstest du, dass sie ein- und dieselbe ist wie unsere Zielperson?“

„Das ist unmöglich. Holly Ashwin ist ein Mensch.“

„Nicht mehr.“

„Bist du sicher? Und bist du sicher, dass sie das Gefäß ist?“

„Die Halle, die du beschrieben hast, ist das Gebäude, wo sie Mathe unterrichtet. Sie war bereits vom Orden von Demonaeus entführt worden. Wir konnten sie eben erst abschütteln. Die Vampire waren auch hinter ihr her. Sie versuchen, sie umzubringen.“

Rydstrom atmete aus. „Ich wusste nicht, dass das Gefäß die Deine sein würde. Aber Tatsache ist – das ändert überhaupt nichts. Wir haben keine andere Wahl.“

Als Cade darauf nichts erwiderte, sprach Rydstrom weiter. „Erst letzte Woche hat Nïx dich gefragt, ob du bereit wärst, die dir zugedachte Frau aufzugeben, wenn du damit das Königreich zurückerobern könntest. Und du hast gesagt, du würdest es tun. War das eine Lüge?“

„Ich werde tun, was ich tun muss.“

„Wenn wir Omort nicht töten können, verlieren wir Rothkalina für immer.“

„Das habe nicht einmal ich vergessen!“, fuhr Cade ihn an. „Ich hatte neun Jahrhunderte, um das in meinen dicken Schädel zu kriegen.“

„Gut. Also, die Flughäfen sind zu heiß. Wir müssen sie mit dem Wagen aus der Stadt rausbringen.“

„Und wohin?“

„Zu Groot.“

„Wo zum Teufel ist das?“

„Den endgültigen Bestimmungsort kennen wir nicht“, sagte Rydstrom. „Es gibt drei verschiedene Checkpoints in drei verschiedenen Teilen des Landes. An jedem davon erhalten wir Informationen über den nächsten, bis wir dann die endgültige Wegbeschreibung zu seinem Aufenthaltsort haben. Ich kenne nur den ersten Checkpoint.“

„Warum dieses ganze Theater?“

„Groot will das Gefäß haben, aber er will den Standort seiner Festung nicht preisgeben. Also hat er einige besondere Sicherheitsmaßnahmen getroffen, um sicherzustellen, dass uns niemand folgt.“

„Und du hast keine Ahnung, wo sie liegen könnte?“

„An irgendeinem düsteren Ort, der nur schwer zu erreichen ist, mit jeder Menge Land drum herum. Ich hab schon gehört, es wäre der Yukon. Vielleicht sogar Alaska.“

„Ich wundere mich nur, dass er bei alldem ausgerechnet uns vertraut.“

„Wenn deine Mittel und Wege auch fragwürdig sein mögen, so erledigst du doch immer deine Aufträge. Auch die härtesten. Und er weiß, wie dringend wir dieses Schwert brauchen.“

„Warum trifft er sich nicht einfach mit uns?“

„Er verlässt sein Versteck nie. Omort würde ihn auf der Stelle zerstören. Groot ist der Einzige, der über die Mittel verfügt, ihn zu töten. Zumindest soweit wir wissen.“

„Was soll das heißen?“, fragte Cade, aber er wusste, worauf sein Bruder anspielte. Sie hatten einen Hinweis auf einen Vampir erhalten, der angeblich einen Weg kannte, den Hexenmeister zu töten. Allerdings hatte Cade, um diesen Blutsauger vor dem sicheren Tod zu retten, versehentlich der Braut des Vampirs das Leben genommen, einer jungen Menschenfrau namens Néomi.

Ungewollt stieg vor seinem inneren Auge das Bild auf, wie sein Schwert in Néomis Leib fuhr … Er verdrängte es. Cade war ein Meister darin, unangenehme Tatsachen zu verdrängen.

Selbst wenn sie den Vampir gefangen genommen und gefoltert hätten, um die gewünschte Information aus ihm herauszubekommen, gab es doch nichts, was sie ihm hätten antun können, das schlimmer gewesen wäre, als ihm seine Braut zu nehmen. Also würden sie auf diesem Weg nicht weiterkommen.

Wieder einmal Cades Schuld.

„Omort kennt unsere Absichten vermutlich bereits“, sagte Rydstrom. „Er wird dabei nicht einfach untätig zusehen – er wird jeden losschicken, der ihm zur Verfügung steht, um uns davon abzuhalten, das Gefäß zu Groot zu schaffen.“