E-Book 1728-1737 - Gisela Reutling - E-Book

E-Book 1728-1737 E-Book

Gisela Reutling

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1729: Der Kampf um das Sorgerecht E-Book 1730: Entführt - zwei Kinder in Gefahr E-Book 1731: Gefährliche Freunde E-Book 1732: Als Baby wurde sie entführt E-Book 1733: Wir zwei sind noch zu haben E-Book 1734: Papis Freundin wird vergrault E-Book 1735: Paulas Flug ins Glück E-Book 1736: Zwei starke Typen E-Book 1737: Hat Mami nur das Brüderchen lieb? E-Book 1738: Unverstanden und allein E-Book 1: Der Kampf um das Sorgerecht E-Book 2: Entführt – zwei Kinder in Gefahr E-Book 3: Gefährliche Freunde E-Book 4: Als Baby wurde sie entführt E-Book 5: Wir zwei sind noch zu haben E-Book 6: Papis Freundin wird vergrault E-Book 7: Zwei starke Typen E-Book 8: Paulas Flug ins Glück E-Book 9: Hat Mami nur das Brüderchen lieb? E-Book 10: Unverstanden und allein

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Inhaltsverzeichnis

E-Book 1729: Der Kampf um das Sorgerecht

E-Book 1730: Entführt – zwei Kinder in Gefahr

E-Book 1731: Gefährliche Freunde

E-Book 1732: Als Baby wurde sie entführt

E-Book 1733: Wir zwei sind noch zu haben

E-Book 1734: Papis Freundin wird vergrault

E-Book 1735: Paulas Flug ins Glück

E-Book 1736: Zwei starke Typen

E-Book 1737: Hat Mami nur das Brüderchen lieb?

E-Book 1738: Unverstanden und allein

Mami -1729- 

Der Kampf um das Sorgerecht

Roman von Gisela Reutling 

»Warum muß ich denn jetzt weg, Mami, wo wir gerade so schön spielen«, beklagte sich Florian, »und wo der Kasper seinen Freund Kalli doch erst noch suchen muß. Wenn der den nun nicht findet?«

»Das nächste Mal wird er weitersuchen und ihn dann ganz bestimmt finden«, tröstete Julia ihr Söhnchen, das ganz im Spiel aufgegangen war.

»Wann ist das nächste Mal?« wollte Florian wissen.

»Bald, mein Liebling«, sagte Julia mit enger Kehle. Sie strich ihm das verwuschelte Blondhaar zurecht. »Hörst du, der Papa hupt schon zum zweiten Mal. Nun komm, sei lieb.«

Der Anorak hing an der Garderobe. Sie griff danach und zog ihn Florian an. Kurz und heftig drückte sie ihn an sich, küßte ihn mit bebenden Lippen auf die Wangen und die Stirn. Dann führte sie ihn die Treppe hinab. Der kleine Junge ging betont langsam.

»Mach nicht so ein betrübtes Gesicht, Florian. Sonst denkt dein Vater noch, du hättest es nicht schön bei mir gehabt.«

Sie legten doch alles zu ihren Ungunsten aus.

Florian sah mit seinen tiefblauen Augen zu ihr empor. »Doch, es war wieder so schön, Mami!«

Vor dem Haus stand Alexanders langgestreckter cremeweißer Wagen, einer von der Luxusklasse, die Aufsehen erregten. Er stieß die Tür auf.

»Na endlich, Sohnemann!«

Für seine Ex-Frau hatte er nur ein steifes Nicken, ein kurzes »Guten Abend«, bei dem er kaum die Lippen bewegte.

Florians Miene hatte sich schlagartig aufgehellt.

»Papi, Papi, was wir alles gemacht haben! Bei den Pferden waren wir, und ganz viele Schafe haben wir gesehen!«

Mehr von dem hörte Julia nicht, was Florian seinem Vater übersprudelnd zu erzählen hatte, während er zu ihm in den Wagen kletterte. Sie hatte sich abgewandt und ging zurück ins Haus.

Oben, in ihrer Wohnung, ließ sie sich in den Sessel sinken. Wie still es nun wieder war! Blicklos starrte sie auf die buntbemalte Kulisse des Kasperle-Theaters, auf der rittlings noch der Kasper saß. Daß es doch immer so weh tat, wenn sie ihr Kind gehen lassen mußte!

Aber wo gab es eine Mutter, der es anders ergehen würde.

Mit einem schweren Aufseufzer barg Julia den Kopf in den Händen.

Der Ring um die Brust blieb.

Ihre Gedanken gingen zurück. Sie sah auf die Trümmer ihres Lebens…

Dabei hatte alles so gut angefangen. Das ganz große Glück glaubte sie gefunden zu haben, als Alexander Rodenbach sie zur Frau nahm. Der blonde Märchenprinz. Der Mann, von dem man nur träumen konnte.

Einundzwanzig war sie gewesen, unbeschwert und phantasievoll, zu jung, um schönen Schein von Realität unterscheiden zu können.

Ihr künstlerisches Talent, wenn man es denn so nennen konnte, war schon früh zum Ausdruck gekommen. Noch in der Schule, auf dem Weg zum Abitur, hatte sie eine Geschichte für den Kinderfunk geschrieben, die bei dem Wettbewerb den 1. Preis gewonnen hatte. Dadurch war man auf sie aufmerksam geworden. Ermutigt hatte sie freudig weitergeschrieben, Szenen und Drehbücher für den Jugendfunk waren dazukommen.

Trotz dieses hübschen Erfolges nahm sie es mehr als Hobby. Sie wollte Literatur und Kunstgeschichte studieren. Aber dann lernte sie Alexander kennen und damit die Liebe, die himmelhochjauchzende, und alle Berufswünsche waren vergessen.

Er war für mich, so dachte Julia jetzt bitter, im wahrsten Sinne des Wortes der Herrlichste von allen.

Daß es keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab, sie gewissermaßen mit zweierlei Zungen redeten, das merkte sie erst später, als die erste stürmische Leidenschaft verglüht war. Da wurde ihr allmählich kalt neben diesem Mann, der nur dem Mammon nachjagte und für die schönen Dinge des Lebens, wie sie sie verstand, nur ein überlegenes und nachsichtiges Lächeln hatte. Schließlich lächelte er auch nicht mehr darüber.

»Laß mich zufrieden mit Bach und Mozart«, sagte er ungeduldig und nahm ihr schroff die Platte aus der Hand, die sie auflegen wollte.

Herrisch zeigte er sich, und er behandelte seine junge Frau auch vor anderen oft genug wie ein törichtes kleines Mädchen. Das demütigte sie und ließ sie verstummen, so daß sie sich manchmal wirklich so vorkam.

Neuen Mut faßte Julia, als sie schwanger wurde. Ein Kind würde sie verbinden, wenn sie sonst wenig verband. Sie schrieb wieder reizende Kindergeschichten, die auch veröffentlicht wurden, fand zu der Beschwingtheit zurück, die doch ein Teil ihres Wesens war.

»Was mußt du an der Schreibmaschine sitzen«, murrte Alexander. »Das bringt doch nichts ein.«

»Laß mich doch«, lachte sie. »Du verkaufst Autos, und ich schreibe Geschichten.«

Schließlich brachte sie einen gesunden Jungen zur Welt.

Oft war es ja so, daß für die Frau nach der Geburt eines Kindes der Ehemann nur noch die zweite Geige spielte. Bei ihnen war es genau umgekehrt. Alexander war ein so stolzer Vater, daß neben seinem Sohn ihm die Mutter kaum noch wichtig erschien. Auch seine Familie, die Eltern Rodenbach in ihrer großen Villa, vergötterten den Kleinen förmlich und beanspruchten ihn oft genug für sich.

Julia wußte wohl, daß die Schwiegertochter, die Schwägerin für die reichen Rodenbachs mehr oder weniger nur eine Randerscheinung war. Sicher hätten sie sich eine andere Frau für den blendend aussehenden Alexander gewünscht. Nicht so ein zartes junges Ding, das in großer Gesellschaft eher befangen wirkte.

Es hatte ihr nichts ausgemacht, solange Alexander sie liebte.

Aber liebte er sie denn noch? Oder hatte das Schneewittchen, wie er sie früher zärtlich nannte, seinen Reiz bereits für ihn verloren?

»Liebst du mich eigentlich noch?« hatte sie ihn gefragt, als seine kühle Gleichgültigkeit immer deutlicher wurde, seine Umarmungen ihr kein Glück mehr spendeten, weil die Flamme erloschen war.

»Man kann nicht ewig im Honigmond sein«, war seine nichtssagende Antwort gewesen.

Sie mußte sich damit abfinden, auch wenn es schmerzte. Aber auch bei ihm war ja schon eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Es war eben nur ein kurzes rauschhaftes Liebesglück gewesen. Und wenn es zwischen Eheleuten nicht mehr stimmte, vermochte auch ein Kind nichts daran zu ändern.

Ihr blieb das Mutterglück, zu sehen, wie Florian sich zu einem herzigen Bübchen entwickelte. Ihr Florian! Nun, freilich gehört er ihr nicht allein. Der Kleine verteilte seine Liebe zwischen ihr und dem Papa, zu dem er bewundernd aufblickte. So sollte es auch sein.

Von Trennung sprach Alexander zum ersten Mal, als Florian knapp drei Jahre alt war. Da waren sie kaum fünf Jahre verheiratet.

Alles Blut floß Julia vom Herzen. »Du willst dich scheiden lassen?« fragte sie tonlos. »Was habe ich denn falsch gemacht?«

»Du hast nichts falsch gemacht. Aber schau, wir haben doch schon lange erkannt, daß wir im Grunde nicht zusammenpassen. Daraus kann keiner dem anderen einen Vorwurf machen. Es ist dann nur besser, wenn jeder seinen Weg geht.«

»Ist da schon eine andere Frau, die besser zu dir paßt als ich?« fragte sie mit enger Stimme.

»Nein«, antwortete er ungeduldig.

Daß dies eine Lüge war, stellte sich erst später heraus.

»Und dein Sohn«, würgte sie hervor, »denkst du gar nicht an Florian? Er hängt an dir nicht weniger als an mir, seiner Mutter.«

»Da wird sich eine Regelung finden lassen«, behauptete Alexander, mit einem Blick auf sie, der sie erschrecken ließ. »Ich ziehe wieder in mein Elternhaus, der Südteil steht ja leer. Du wolltest da ja nicht mit hinein.«

Nein, sie hatte nicht in engstem Kontakt mit Menschen wohnen wollen, die ihr nicht besonders gewogen waren. 

»Ich überlasse dir diese Eigentumswohnung«, fuhr er fort, »und ich werde auch ausreichend für dich sorgen.«

Es war typisch für Julia, der materielle Werte so wenig bedeuteten, daß sie mit schmalen Lippen erwiderte: »Du kannst dein vieles Geld behalten. Darauf kann ich auch verzichten.«

Auf alles konnte sie verzichten, auch auf diesen Mann, dem sie nichts mehr galt. Nur auf Florian konnte sie nicht verzichten.

Daß es dennoch soweit kam, war für alle, die zu ihr standen, völlig unfaßbar.

Alexander war eiskalt entschlossen, Florian in seine Obhut zu bekommen. Dafür scheute er vor nichts zurück. Er wurde für Julia ein Feind, der sie niederrang. Zusammen mit seiner Familie, die ihren Namen und ihren Einfluß in die Waagschale warfen. Und er hatte den besseren Anwalt im Prozeß. Den besten und gerissensten, den es derzeit gab.

Die nette jüngere Anwältin, die Julia sich genommen hatte, wurde von ihm niedergeredet.

Es war die Hölle gewesen.

Natürlich wurde auch der kleine Junge gefragt, und natürlich war er viel zu verstört und zu verwirrt von dem ganzen Geschehen, als daß er es irgendwie beeinflussen konnte.

»Wo willst du bleiben, Alexander, bei deinem Vater oder bei deiner Mutter?«

»Bei beiden«, brachte das zitternde Stimmchen nur immer hervor.

Schließlich wertete das Gericht die wirtschaftliche und familiäre Sicherheit der Rodenbachs als Pluspunkt für das Kind.

Der Vater Alexander Rodenbach bekam das Sorgerecht für Florian.

Für Julia war es, als würde ihr das Herz aus dem Leib gerissen.

Nie, bis ans Ende ihres Lebens nicht, würde sie die triumphierenden Mienen vergessen, mit denen er und sein Anwalt sich die Hände schüttelten.

Wie habe ich das nur durchgestanden, fragte sich Julia und krümmte sich in ihrem breiten Sessel. Wie stehe ich es weiterhin durch, meinen Florian an drei Wochenenden im Monat zu haben.

Seit einem halben Jahr ging das nun so. Sein Vater fand diese Regelung sogar noch großzügig.

Julia hatte, nach anfänglicher großer Verwirrung, die Umstellung erstaunlich verkraftet. Er war kein besonders sensibles Kind. In dieser Beziehung kam er mehr auf seinen Vater. Schon immer war er gern in dem großen Haus gewesen, wo er viel Bewegungsfreiheit hatte und ihm nichts verwehrt wurde. Er hatte nun ein Kindermädchen, die Annick, die zweisprachig war und manchmal mit ihm französisch sprach. Das lernte er spielend und fand es sehr lustig.

Freilich legte es sich immer wie ein Schatten über ihn, wenn er von seiner Mama wieder fort mußte. Aber das war nur eine Wolke, die vorüberzog, denn da war ja nun wieder der Papa, und schon war alles gut.

So ein kleiner Junge vermochte auch noch nicht weiterzudenken. Das machte er sich nicht klar, daß es nun so für immer bleiben sollte.

Für immer!

Eine wilde Auflehnung erfaßte Julia, einer Stichflamme gleich, die rasch in sich zusammensank. Sie wußte, daß sie nichts würde ändern können. Sie hatte gekämpft, so wie es nur in ihren Kräften stand. Sie war besiegt worden.

Müde erhob sich Julia, als das Telefon läutete. Wer wollte etwas von ihr? Man sollte sie doch in Ruhe lassen.

Ihre Kusine Anette war am Apparat. »Du, kann ich mal bei dir vorbeikommen?« fragte die muntere Stimme. »Ich hätte was ganz Wichtiges mit dir zu besprechen. Oder paßt es jetzt nicht? Du klingst so matt?«

»Komm nur«, sagte Julia.

Nur hier in Grübeleien zu versinken hatte ja doch keinen Sinn, hielt sie sich vor.

Zwanzig Minuten später war Anette da. Julia war noch dabei, das Kasperltheater abzuräumen.

»Ach, war heute wieder euer Wochenende…« Mitleidvoll sah Anette ihre Kusine an. Wie blaß sie war, und so dünn! Ein Leichtgewicht war Julia immer gewesen, aber doch bezaubernd hübsch von Gestalt und Ansehen, mit den 

dunklen Haaren, zu denen die großen veilchenblauen Augen einen aparten Gegensatz im feingeschnittenen Gesicht bildeten.

Jetzt sah sie geradezu verhärmt aus, die Arme.

»Was gibt es denn, Anette?« fragte Julia ablenkend und setzte sich zu ihr.

»Ja, große Neuigkeiten!« Die Miene des Mädchens hellte sich wieder auf. »Stell dir vor, das hat geklappt, daß ich für ein dreiviertel Jahr an diese Universität nach Florida gehen kann, bevor ich dann hier mein Staatsexamen mache.«

»Gratuliere! Das freut mich für dich«, sagte Julia mit Wärme.

»Ich habe schon alle Papiere zusammen«, fuhr Anette angeregt fort, »und ich könnte auch gleich losfliegen. Wenn du mir einen großen Gefallen tun würdest, Julia? Du hast doch jetzt soviel Zeit –« Sie stockte.

»Ja, die habe ich«, sagte Julia und senkte die Lider.

»Entschuldige, das war nicht sehr taktvoll.«

»Macht nichts. Du hast ja recht. Also, was kann ich für dich tun?«

»Es geht um meine Wohnung, die Pflanzen, die Post, es müßte jemand danach sehen. Die ich kenne, sind alle nicht besonders zuverlässig, und ich wüßte auch niemand, dem ich den Schlüssel lieber anvertrauen würde als dir. Ich will 

dir damit nur nicht lästig fallen.«

»Du brauchst gar nicht so viele Worte machen, Anette. Selbstverständlich werde ich mich darum kümmern.«

»Du bist ein Engel.« Anette lächelte dankbar, und dann begann sie zu schwärmen von dem, was sie erwartete, nämlich die Wärme und Sonne Floridas. Neues Erleben in einer ihr noch fremden Welt, ein interessantes Studium dazu, das sie in dem gewählten Fach weiterbringen würde.

»So, jetzt habe ich lange genug geredet«, meinte sie schließlich. »Ich werde schon mal anfangen, meinen Kram zusammenzupacken. Hab’ mir schon einen neuen Koffer gekauft.« Sie strahlte über ihr ganzes frischwangiges Gesicht. 

Julia erhob sich ebenfalls.

»Was sagt denn dein Freund Curt zu der bevorstehenden Trennung?«

»Er findet das gut. Das heißt, es ist natürlich eine lange Zeit, aber sie ist doch wichtig für mich. Und wenn das unsere Beziehung nicht aushält, dann ist sie sowieso nichts wert. Curt ist ja auch noch nicht fertig mit seinem Studium. Das muß erst mal alles klar sein, bevor wir an später denken«, schloß sie sachlich.

Julia nickte vor sich hin. Im Vorbeigehen sah Anette die Schreibmaschine. Sie deutete darauf. »Hast du etwas in Arbeit?«

»Wenig. Wie soll man so produktiv sein…« Sie verstummte.

Anette umarmte ihre Kusine spontan. »Das wird schon wieder«, versicherte sie. »Du bist doch so begabt.«

Es waren nur Worte, die auch nicht helfen konnten.

Anette macht es richtig, dachte Julia, als sie wieder allein war. Sie war gescheit und tüchtig, sie würde einen modernen Frauenberuf ergreifen und immer festen Boden unter den Füßen haben. Anders als ihre Kusine, die alles für einen Mann aufgegeben hatte, auch sich selbst, und nun mit leeren Händen stand.

*

»Warum warst du eigentlich so versessen darauf, den Jungen für dich zu haben?« fragte Jennifer und brannte sich eine Zigarette an, bevor Alexander ihr Feuer geben konnte.

»Komische Frage. Florian ist mein Sohn. Er soll in unserer Familie hineinwachsen und sich an einen großzügigen Lebensstil gewöhnen, nicht nur das Hätschelkind seiner Mutter sein.«

»Hm.« Die blonde Frau sah einem sich kräuselnden Rauchwölkchen nach. »Und was sagt die Mutter dazu?«

Alexander zuckte die Achseln. »Sie muß sich damit abfinden. Warum fragst du danach?«

»Weil ich glaube, daß du nicht danach gefragt hast.« Sie sagte es mit einem halben Lächeln und eher obenhin.

»Ich konnte mich mit Sentimentalitäten nicht aufhalten, wo  es um meinen Sohn ging, Jennifer.« Er verzog den Mund ein wenig. »Ich habe Möhring als Anwalt gehabt. Vielleicht sagt dir das etwas.«

»Ah, diesen scharfzüngigen Rechtsanwalt, der schon manchen aufsehenerregenden Prozeß geführt hat. Da wundert es mich nicht.«

»Es braucht dich auch nicht zu wundern. Meine Ex-Frau kann Florian oft genug sehen. Nun kann sie wieder in ihrer Traum- und Phantasiewelt aufgehen. Sie erfindet doch kleine Hörspiele für den Kinderfunk.« Es klang abschätzend.

Jennifer rauchte schweigend. »Dann ist ja nun alles geregelt«, sagte sie schließlich und drückte ihre Zigarette aus.

»Ja. Unserer Heirat steht nun nichts mehr im Wege.«

»Nun mal langsam, mein Lieber. Ich muß mich erst mal um die Firma kümmern, nachdem ich so lange abwesend war.«

»Du warst aber auch viel zu lange weg, Jennifer. So war das nicht vorgesehen. Wenn wir nicht beinahe täglich telefoniert hätten, wäre ich wohl verzweifelt.«

»Du und verzweifelt!« lachte sie auf und warf ihre lockige Haarflut zurück. Dann wurde sie wieder ernst. »Es gab wirklich dort genug zu tun für mich, Alexander. Wir konnten unsere Geschäftsbeziehungen mit Kanada ganz schön ausbauen. So etwas braucht seine Zeit.«

Es hatte noch andere Gründe gehabt als geschäftliche, daß sie fortgegangen war. Der Mann, in den sie sich verliebt hatte und der ungestüm um sie warb, war verheiratet.

»Ich zerstöre keine Ehe«, hatte Jennifer Karmann gesagt, »und zur heimlichen Geliebten bin ich nicht gemacht.«

Hoch und heilig hatte Alexander ihr versichert, daß es nichts mehr zu zerstören gab, weil die Gefühle zwischen ihm und seiner Frau lang erloschen waren. Diese Ehe hätte sowieso keinen Bestand mehr.

»Dann haben wir eine Chance«, meinte sie. »Wenn du ein freier Mann sein wirst, reden wir weiter.« Und sie war nach Kanada abgeflogen, wo die Familie Besitzungen hatte.

Nun war sie wieder da. Er war frei und ungeduldig, sie zu besitzen.

Alexander trat auf sie zu und zog sie aus ihrem Sessel zu sich empor. Frauen waren immer kleiner gewesen als er, bei Jennifer war der Größenunterschied nur gering. Eine große, schöne, üppig-schlanke Frau, selbstbewußt und auf ihren langen Beinen fest im Leben stehend.

Diesmal war er sicher, daß sie die Richtige für ihn war.

Der Duft ihres kostbaren Parfüms streifte ihn, den er so gut an ihr kannte. Er legte die Hand auf ihr volles goldenes Haar, und bog ihren Kopf zurück und sah ihr tief in die Augen.

»Ich liebe dich, und ich will, daß du meine Frau wirst«, sagte er, bevor er sie küßte.

»Ich liebe dich auch«, lächelte Jennifer, als ihre Lippen sich endlich voneinander lösten, »aber du wirst dich daran gewöhnen müssen, daß nicht allein dein Wille gilt. Ich lasse mich nicht drängen. Gedulde dich, bis ich bereit bin.«

Mit den Fingerspitzen zog sie die Linie seines Mundes nach. Alexander Rodenbach hatte sie vom ersten Augenblick an fasziniert. Sie mochte diese sehr männlichen Typen. 

Doch war sie sich im klaren darüber, daß man sich ihm nicht unterwerfen durfte, sonst war man ausgeliefert. Er war eine starke Persönlichkeit, aber sie war es auch. Es reizte sie, sich mit ihm zu messen. Sie würde ihm gewachsen sein, das war keine Frage.

*

»Sie war wieder da«, sagte Alexander.

»Wer war wieder da?« fragte Julia. Sie hatte ihr Söhnchen auf dem Schoß, beide Arme um ihn gelegt. Am liebsten hätte sie ihn gar nicht losgelassen, so kostbar war ihr jede Stunde, jede Minute ihres Beisammenseins.

»Die Freundin von Papa«, antwortete der kleine Junge. »Diesmal hab ich sie aber nicht gesehen. Nur gerochen hab ich sie.«

»Gerochen?« fragte Julia verdutzt.

»Hmhm. Ich kann sie riechen, wo sie gegangen ist. – Mami?«

»Ja, mein Liebling?«

»Meinst du, daß die mal immer bei uns bleiben wird?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Julia und legte ihre Wange auf das weiche Kinderhaar.

»Mal hab ich gesehen, daß Papa ihr einen Kuß gegeben hat, wie sie wieder ging, so an einem Morgen war das«, sagte Florian nachdenklich.

Julia schloß die Augen. Natürlich hatte Alexander schon wieder eine neue Geliebte. Sie mußte damit rechnen, daß er sie auch heiraten würde. Und dann? Unerträglicher Gedanke, daß eine andere Frau Rechte an ihrem Florian haben sollte.

»Magst du sie?« würgte sie hervor.

»Ooch, geht so«, dehnte er die Worte. »Sie heißt Jennifer. Komischer Name, ne? Und sie hat einen gaanz langen Wagen. Amerikanisch, sagt Annick. So ist sie ja ganz nett. Doch, Mami, ist sie nie.«

Dieses Kind! Florian würde auch das akzeptieren, wie er alles akzeptierte, was über ihn beschlossen wurde. Nicht aus Kleinmut oder Schüchternheit, sondern weil er unbefangen und seiner selbst sicher blieb.

Ich habe ihn geboren, aber er hat nicht viel von mir, dachte Julia. Das brannte und tat weh.

Nur – war es nicht viel besser so, als wenn er sehr empfindsam wäre und leiden würde, hielt sie sich selber vor. Dann hätte seine Seele doch Schaden genommen, allein bei der Szene im Gerichtssaal, und allem, was ihr folgte. So war die Verletzung bald verheilt, er hatte sich wieder zurechtgefunden in seinem veränderten jungen Leben.

Als sie Florian diesmal gehen lassen mußte, waren es viele Tage bis zum nächsten Wiedersehen. Das letzte Wochenende des Monats gehörte ihr nicht. Monatlich dreimal, ihr Ex-Mann hielt sich strikt daran.

Julia versuchte wieder etwas zu arbeiten. Der Leiter des regionalen Kinderfunks hatte schon nachgefragt, ob nicht bald wieder etwas käme. Geschichten von Julia, unter diesem Titel lief die Sendung, waren doch beliebt gewesen. Warum blieben sie aus?

Aber, ach, es fehlte die phantasievolle Heiterkeit, die sie früher ausgezeichnet und die kleinen Zuhörer zum Lachen und Freuen gebracht hatte.

Ein Blatt nach dem anderen wanderte in den Papierkorb.

Julia starrte zum Fenster hinaus. War nun auch das versiegt? Das einzige, was ihren leergewordenen Tag noch einen Inhalt geben konnte?

Um sich nicht von einer wachsenden Deprimiertheit niederzwingen zu lassen, beschloß sie schließlich, wegzugehen. Wohin? Das wußte sie nicht. Irgendwohin. Laufen, müde werden. Vielleicht würde sie auch einmal nach Anettes Wohnung sehen, obwohl sie sich erst vor einer Woche davon überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war.

Ziellos ging Julia durch die Straßen, solche, die ihr bekannt waren, und andere, es kam nicht darauf an. Sie durchquerte eine Anlage, wo junge Mütter ihre Kinderwagen schoben, kleine Buben und Mädchen spielten am Weiher und fütterten die Enten. Unversehens befand sie sich in der Platanen-Allee, an deren anderem Ende die Rodenbach-Villa stand.

Nein, dorthin sollte sie ihre Schritte nicht führen. Sie wollte nicht um das Haus herumstreichen, sie würde sich nicht demütigen. Trotzdem zog es sie weiter. Wenigstens ein paar Meter noch, ein paar Meter näher zu Florian, getrieben von übermächtiger Sehnsucht nach ihm.

Dann, noch von fern, erblickte sie die kleine Gestalt. Ihr Herz klopfte schneller. Ja, das war er doch, ihr Florian! Vor der Villa, auf der Straße dribbelte er einen Ball vor sich her. Julia beschleunigte ihre Schritte…

»Mami«, sagte er, als sie vor ihm stand. Er zwinkerte ein bißchen, so überrascht war er.

»Bist du denn allein?« fragte sie hastig und schaute sich um.

»Annick ist noch mal reingegangen, sie hat etwas vergessen. Kommst du mich holen?« Mit leuchtenden Augen sah er zu ihr empor.

»Ja – komm schnell, wir laufen weg, dort, zu dem Omnibus, siehst du –« Und sie nahm sein Händchen und lief mit ihm davon. Er konnte ganz tüchtig rennen, ihr Florian. Er nahm das Ganze als ein Spiel, er lachte.

Sie war jeden Moment gewärtig, Stimmen und sie verfolgende Schritte hinter sich zu hören. Aber es blieb alles still.

Hier war die Endhaltestelle der Linie 5. Julia hob Florian hinein in den Bus, und, kaum daß auch sie eingestiegen war, fuhr er schon 

los.

»Auweia«, machte Florian und hatte ein Lausbubenlachen über seinem ganzen Gesicht, »da wird die Annick aber gucken, wenn ich auf einmal nicht mehr da bin. Wir wollten nämlich auf’n Spielplatz gehen. Mit dir Busfahren ist viel schöner.« Vergnügt rutschte er auf seinem Sitz hin und her.

Immer noch klopfte Julia das Herz bis in den Hals hinein. Wozu hatte sie sich da nur hinreißen lassen! Es war auf einmal ein übermächtiger Zwang in ihr gewesen, der jede Besinnung ausgeschaltet hatte.

Ich bin seine Mutter, hielt sie sich trotzig vor. Hatte seine Mutter nicht jedes Recht der Welt auf ihr Kind?

In der Stadt mußten sie umsteigen, dort nahmen sie die Straßenbahn. Als sie wieder ausstiegen, sah Florian sich um.

»Hier sind wir aber doch gar nicht zu Hause«, sagte er.

»Wir gehen nicht nach Hause, Schatz«, erklärte ihm seine Mutter. »Wir gehen in die Wohnung von Anette.«

Florian riß die Augen auf. »Du hast mir aber doch erzählt, die wär’ in Amerika. Ist sie da schon wieder nicht mehr?«

»Doch. Darum haben wir die Wohnung auch ganz für uns allein.«

»Oh, ich weiß, da tun wir uns jetzt verstecken, ja?« Er fand das ungeheuer spannend, und er machte »Sssst«, als der Lift mit ihnen in den 8. Stock sauste. War das ein Abenteuer! Der Papa war sowieso nicht da, der war zwei Tage verreist. Nämlich mit der Jennifer, wie er seiner Mama berichtete.

Anettes Wohnung bestand aus einem einzigen großen Raum mit einer Nische, die durch einen Vorhang abgeteilt war. Dahinter befand sich ein breites Bett. Florian warf sich rücklings darauf und strampelte mit den Beinen.

»Ich spiel mit meiner Mama Verstecken!« jubelte er.

Julia stand vor dem Telefon, sie atmete schwer. Sie konnte sich vorstellen, was jetzt in der Villa Rodenbach los war. Nach einem kurzen Zögern nahm sie den Hörer auf und wählte die Nummer.

Schon nach dem ersten Klingelzeichen meldete sich eine aufgeregte Stimme, die sie als die ihrer Schwiegermutter erkannte.

»Hier ist Julia. Florian ist bei mir«, sagte Julia und legte auf.

Zu der Wohnung gehörte noch ein Duschraum und eine Küche, gerade nur so groß, daß man sich darin umdrehen konnte. Der Kühlschrank war natürlich abgeschaltet, der Hängeschrank über dem Bord mit dem Geschirr war leer.

»Wir müssen einkaufen gehen, Florian, sonst haben wir nichts zu essen.«

Ihr Söhnchen war sofort bereit, er bemächtigte sich Anettes Einkaufsbeutel, der am Haken hing.

Vom Gang zweigten mehrere Türen ab, dahinter war es still. Auch im Lift war niemand. In diesem großen Apartmenthaus lebten zumeist Singles, sie waren berufstätig, und niemand kümmerte sich um den anderen.

Unweit gab es einen Supermarkt. Julia überlegte, daß sie nicht viel Geld bei sich hatte. Es reichte so eben für das Notwendigste. Später konnte sie zur Bank gehen.

Später?

Nicht weiter denken! Florians kleine Hand lag in der ihren, er war bei ihr, sie hielt ihn fest.

Abends gab es Spaghetti und eine Tomatensoße aus der Tüte, hinterher einen Fruchtjoghurt. Florian war mit allem zufrieden.

Als Julia in der winzigen Küche das Geschirr abspülte, fiel ihr ein, wie stolz ihre Kusine vor einem Jahr gewesen war, hier nun eine eigene Wohnung zu haben, nachdem sie eine Zeitlang in einer Wohngemeinschaft gelebt hatte. Aber Anette würde ihr nicht böse sein, daß sie sich bei ihr einquartiert hatte.

Im Schrank hatte sie einige Wäsche zurückgelassen. Florian bekam für die Nacht ein T-Shirt angezogen, das ihm zu lang und zu weit war. Mit dem Schlafanzug, den Julia fand, war es dasselbe. Sie mußte ihn an den Ärmeln und über den Füßen mehrmals hochkrempeln.

»Jetzt verkleiden wir uns auch noch«, kicherte Florian und hampelte herum, während er drollige Grimassen schnitt.

Am nächsten Tag spielten sie weiter ›Verstecken‹. Julia wußte ihr Söhnchen zu beschäftigen, daß es ihm nicht langweilig wurde. Er war ja auch glücklich, bei seiner Mama zu sein.

Erst am Nachmittag des darauffolgenden Tages unternahm sie mit ihm einen Spaziergang. Sie sahen sich die Geschäfte an, die es in der näheren Umgebung gab, in einem großen Kaufhaus bummelten sie durch die Spielwarenabteilung. Florian meldete Wünsche an, aber seine Mutter vertröstete ihn.

»Is’ ja wahr«, sagte ihr Kleiner vernünftig, »zu Haus hab ich so was alles und noch mehr. Aber wir könnten doch das Kasperltheater holen, Mama? Damit spiel ich am liebsten, weil du dir immer was Neues ausdenkst.«

Julia antwortete ihm nicht darauf, daß sie unmöglich in ihre Wohnung konnte. Unruhig sah sie sich um. War da nicht wieder der Mann, von dem sie sich beobachtet glaubte? Er war von unauffälligem Äußeren, um die Fünfzig etwa, aber er tauchte, scheinbar völlig unabsichtlich, immer wieder in ihrer Nähe auf.

»Komm, wir gehen!«

Sie streckte die Hand nach Florian aus, der eben im Begriff war, auf das Schaukelpferd zu klettern, das für die Kinder dort stand.

»Och, laß mich doch ’n bißchen schaukeln…«

Aber sie zog ihn mit sich fort, schlüpfte mit ihm in den Lift, dessen breite Tür sich gerade für andere Kunden geöffnet hatte, unten tauchten sie in der Menge unter, und sie nahmen einen anderen Ausgang als vorher.

»Warum packst du mich so fest an der Hand, und warum müssen wir so schnell laufen?« fragte Florian.

Litt sie schon an Verfolgungswahn? Die Rodenbachs wußten doch kaum etwas von ihrer Kusine, schon gar nicht, wo sie wohnte, und es war eine ganz andere Gegend in dieser großen Stadt.

»Wir wollten doch wieder zu Hause sein, wenn die Schlümpfe kommen«, antwortete sie ihrem Söhnchen.

»Auja, und Tom und Jerry«, nickte Florian und verstand nun, warum sie es so eilig hatten.

Aber sie mußte sich Geld abholen, das war nun nicht mehr länger aufzuschieben. Die bescheidenen Vorräte gingen zu Ende.

»Florian, mein Schatz«, sagte sie am nächsten Morgen, »bleibst du heute mal ganz lange im Bett, ich muß ein paar Besorgungen machen.«

Er lugte unter der Bettdecke hervor. »Kann ich doch mit, Besorgungen machen. Ich bin auch schnell angezogen.«

»Ach nein, es ist ja noch so kalt und ungemütlich draußen. Wenn ich zurückkomme, dann mache ich uns ein wunderbares Früstück. Ich bleibe nicht lange, ich beeil’ mich.« An der Tür verharrte sie. »Du hast doch keine Angst, allein?«

»Angst, phh«, machte er. »Tschüs, Mami«, und er wedelte ihr mit dem Händchen nach.

Sie hatte sich Geld besorgt, sie hatte im Supermarkt eingekauft und verließ ihn mit hochgefüllten Beutel und einer Tragetasche dazu, über der noch ein Netz von Orangen lag – da erstarrte sie plötzlich.

Dort stand er doch wieder, dieser schreckliche Mensch im blauen Trenchcoat, den stechenden Blick auf den Ausgang geheftet.

Sie hastete davon, prallte nach ein paar Schritten gegen einen Mann, der aus seinem Auto ausstieg. Das konnte die Rettung 

sein.

»Bitte helfen Sie mir«, stieß sie hervor, »lassen Sie mich einsteigen, und fahren Sie los, bitte!«

»Hoppla, was soll denn das?«

Aber dann sah er in das flehend zu ihm aufgehobene Gesicht, sah den gehetzten Ausdruck darin und die große Angst in den Augen. Wortlos stieg er wieder ein und öffnete die Tür zur anderen Seite. Zwei Sekunden später saß sie neben ihm, mit ihren sämtlichen Sachen.

»Und wo soll es hingehen?« erkundigte er sich im Anfahren, halb belustigt, halb ärgerlich, daß er der Unbekannten nachgegeben hatte.

»Egal, irgendwohin – nur rasch weg von hier«, kam es abgerissen zurück. »Fahren Sie kreuz und quer durch ein paar Straßen, bitte…«

»Glauben Sie, daß ich am Morgen nichts anderes zu tun habe, als kreuz und quer spazierenzufahren? Man erwartet mich im Büro.«

Er tat ihr dennoch den Gefallen.

Julia wurde etwas ruhiger. Sie war sicher, daß sie den Mann im blauen Trenchcoat abgehängt hatten.

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie aufgehalten habe«, sagte sie.

»Sie werden Ihren Grund dafür gehabt haben. Fühlen Sie sich verfolgt?« Es war kaum eine Frage, denn ihrem Benehmen nach konnte es nicht anders sein.

»Ja. – Fahren Sie jetzt bitte geradeaus und dann rechts. Dahinten in dem Hochhaus wohnen wir.«

Er hielt davor an, dann wandte er sich ihr zu. Mit einem aufmerksamen Blick umfaßte er ihr Gesicht. Sie hatte auffallend schöne Augen, stellte er bei sich fest. Plötzlich verspürte er den Wunsch, mehr über sie zu wissen, deren Bekanntschaft er auf so ungewöhnliche Weise gemacht hatte.

»Und wer ist wir?« fragte er.

Zum erstenmal sah auch sie ihn nun an. Ihr Retter mochte Anfang bis Mitte Dreißig sein, er sah sympathisch und vertrauenswürdig aus.

»Wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit haben, können Sie ihn kennenlernen«, sagte sie. »Ich heiße Julia Rodenbach.«

»Mathias Walden.«

Sah es nicht so aus, als wäre er da in eine merkwürdige Geschichte hineingeraten? Wollte sie ihm jetzt ihren Mann vorstellen, oder was hatte sie vor? Er besaß genug Menschenkenntnis, um sich sicher zu sein, daß sie keine Frau war, die einen Fremden leichtsinnig mit in ihre Wohnung nahm.      

»Geben Sie mir Ihre Taschen«, sagte er, und er nahm sie ihr ab. Schweigend fuhren sie im Lift empor. Sein Blick streifte ihre herabhängende Hand. Einen Ehering trug sie nicht.

Als sie die Tür aufschloß, bemerkte er, daß dort ein anderer Name stand als der, den sie ihm genannt hatte. A. Hafner war auf dem Schild zu lesen.

Ein kleiner Junge kam ihnen entgegengesprungen, barfuß, in einem viel zu weiten Hemd.

»Mami –« Das Wort blieb Florian im Halse stecken, als er den fremden Mann sah.

»Da bin ich wieder, mein Schatz.« Julia hob ihn auf und drückte ihn an sich. »Das ist Florian, er ist der Grund meiner Flucht«, sagte sie, zu ihrem Begleiter gewandt.

Florian versteckte den Kopf an ihrer Schulter. Er genierte sich, 

daß ein Fremder ihn so sah, wie er gerade aus dem Bett gekommen war.

Seine Mutter ließ ihn aus ihren Armen gleiten. »Geh dich waschen und anziehen«, sagte sie sanft, »wir frühstücken gleich.«

Rasch, ohne noch einen Blick auf den Mann zu werfen, verschwand Florian im Duschraum. Julia nahm Mathias Walden die Taschen ab und stellte sie in die Küche.

»Ich möchte nicht, daß Sie etwas Falsches von mir denken, Herr Walden«, begann sie. »Mein geschiedener Mann will seinen Sohn für sich haben. Ich zweifle nicht daran, daß er einen Detektiv hinter mir her geschickt hat. Dem mußte ich entkommen.«

Wieder sah er sie aufmerksam an. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte er vorsichtig. »Wem hat das Gericht das Kind denn zuerkannt?«

»Sie reden wie ein Rechtsanwalt«, stellte Julia fest.

»Ich bin Rechtsanwalt.«

Julia zuckte zurück. Der Hauch von Sympathie und Vertrauen verflüchtigte sich. »Ein Rechtsanwalt hat dafür gesorgt, daß mir mein Kind genommen wurde«, sagte sie bitter.

»Rechtsanwälte nehmen keine Kinder weg, sondern sie vertreten ihre Mandanten«, erwiderte Mathias Walden sachlich. »Am Ende entscheidet das Gericht, bei wem das Kind nach der Scheidung 

lebt.«

»Dafür fand das Gericht die Familie meines Mannes offensichtlich geeignet«, sagte Julia mit abgewandtem Gesicht.

»Aber dafür muß es doch einen Grund geben. Normalerweise fällt die Entscheidung eher zu Gunsten der Mutter aus.«

»Sicher gibt es den«, versetzte Julia mit schmalen Lippen. »Die Rodenbachs haben ihren Einfluß geltend gemacht, sie haben sich den teuersten Rechtsanwalt gekauft, der ihr Verlangen rücksichtslos durchgesetzt hat.«

»Sprechen sie zufällig von den Rodenbachs, die das große Autohaus am Königsplatz haben?«

»Genau von diesen«, bestätigte Julia.

Einen Moment blieb es still zwischen ihnen. Nur ein Wasserplätschern war von nebenan zu hören.

»Aber wenn Julia dem Vater zugesprochen worden ist«, begann Mathias Walden von neuem, »wieso ist er dann hier bei Ihnen?«

»Weil das Kindermädchen nicht aufgepaßt hat«, antwortete Julia trotzig.

Mathias ahnte Schlimmes. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie das Kind entführt haben?«

»Wenn Sie es so nennen wollen…« Mit einem beinahe feindseligen Blick sah sie ihn an. »Sie sind ja auch ein Rechtsanwalt. Sie können es wohl nur so sehen. Nach dem Gesetz, nach Paragraphen!« Voller Verachtung stieß sie diese beiden Worte hervor.

»Aber ich bitte Sie! Sie sollten uns doch auch nicht als Unmenschen betrachten.« Irgendwie empfand er Mitleid mit ihr. Sie schien nicht zu wissen, was sie getan hatte. Wahrscheinlich hatte sie ohne jede Überlegung gehandelt.

Ihre Blicke trafen sich. Julia wunderte sich etwas, eine gewisse Wärme in seinen Augen zu lesen, wo sie ihn doch eben angegeriffen hatte.

Sie bereute das plötzlich. Sie durfte doch nicht vergessen, daß er ihr geholfen hatte. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin etwas durcheinander«, murmelte sie, und sie strich sich das Haar an der Schläfe zurück. Nach einer winzigen Pause fuhr sie erklärend fort: »Ich bin seit Dienstag in der Wohnung einer Verwandten, die zur Zeit nicht da ist. Bisher ist man mir noch nicht auf die Spur gekommen. Aber es wird wohl nicht mehr lange dauern. Und jeder Tag ist doch so kostbar.« Um ihre Lippen zuckte es.

Dr. Mathias Walden sah nach der Uhr. Seine Sekretärin würde sich fragen, wo ihr Chef abgeblieben war. Er verabschiedete sich und reichte der jungen Frau die Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

»Vielen Dank, für alles.«

Als er fort war, holte Julia ihren Florian, der immer noch in der Dusche herumtrödelte und eine Menge Wasser verspritzt hatte.

»Was war das für ein Mann?« wollte er wissen.

»Er hat mich gefahren, damit ich schneller wieder bei dir sein konnte«, antwortete seine Mutter.

Wie sollte das weitergehen, wenn sie sich fortan nicht mehr aus dem Haus wagen durfte, überlegte Julia schweren Herzens. Ihr lebhaftes Söhnchen würde sich bald eingesperrt fühlen. Er fand es auch schon gar nicht mehr lustig, daß er immer nur dieselben Sachen anziehen sollte.

Doch zunächst frühstückten sie einmal gut, und ein paar Stunden später bereitete sie ein schönes Mittagessen. Noch konnte sie sich der trügerischen Illusion hingeben, daß ihr Kind ihr gehörte.

Nicht mehr lange!

Als es am Nachmittag anhaltend klingelte, wurde es Julia eiskalt. Hatte man sie doch schon aufgespürt? Sie ging ans Fenster. Tief unten, unverkennbar, stand Alexanders Wagen.

»Das ist jetzt sicher mein Papa!« rief Florian und klatschte in die Hände. So gern er bei seiner Mama war, wurde es ihm inzwischen doch langweilig, nur in der Wohnung zu sein und ohne seine Spielsachen.

Was sollte sie tun, fragte sich Julia und grub die Zähne in die Unterlippe. Nicht öffnen? Ach, es würde wenig Sinn haben.

»Warum machst du nicht auf, Mami?« drängte Florian. Er lief an die Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen, aber er kam an den Drücker noch nicht heran. Zappelnd versuchte er es immer 

wieder, während die Klingel gellte.

»Ich komme ja schon«, sagte Julia tonlos.

Sekunden später war Alexander oben.

»Papi!« rief Florian und warf sich gegen ihn, seine Knie umklammernd.

Alexanders Gesicht war wie aus Holz geschnitzt. Nur seine Kinnmuskeln spielten. Wie ein Pfeil traf Julia sein Blick.

»Was hast du dir denn dabei gedacht«, knirschte er. »Hast du geglaubt, ich würde dich nicht finden?«

Wortlos trat Julia beiseite. Das Spiel war aus. Florian mußte seine Schuhe anziehen, in der Wohnung lief er auf Söckchen.

»Wir haben uns hier versteckt, Papa«, lachte der kleine Junge. »Du mußt aber deswegen nicht bös sein und so’n Gesicht zum Fürchten machen. Jetzt komm ich ja wieder zu dir und zu der Oma und zu Annick. Hat die Annick geschimpft gekriegt, weil ich mit der Mama weggelaufen bin?«

»Das kannst du wohl glauben«, versicherte ihm sein Vater.

Julia streifte ihrem Sohn den Pullover über, Alexander hatte schon den Anorak in der Hand. Als er fertig angezogen war, schmiegte sich Florian an seine Mutter. Er blickte zu ihr auf.

»Du weinst doch nicht, Mami?« fragte er, nun plötzlich beklommen.

»Nein, nein«, sagte Julia.

»Ich bin bald wieder bei dir«, Florian rieb den blonden Kopf an ihrem Arm, »aber dann in unserer richtigen Wohnung, und da spielen wir mit dem Kasper, aber ganz lange.«

»Jetzt komm schon!« Sein Vater zog ihn zu sich. An der Tür wandte er sich zu seiner geschiedenen Frau um, die ihn keines Wortes gewürdigt hatte. »Daß du dir so etwas nicht noch einmal einfallen läßt«, äußerte er drohend. »Es würde dir schlecht bekommen, denn dann würde ich zu anderen Mitteln greifen. Nimm dich in acht.«

Als sie allein war, ließ Julia den Tränen freien Lauf, die sie zurückgedrängt hatte. Danach fühlte sie sich leer und apathisch. Aber sie gab dem Verlangen nicht nach, sich einfach sinken zu lassen und nicht mehr aufzustehen, wie sie es am liebsten getan hätte.

Sie brachte die Wohnung in Ordnung, zog die Bettwäsche ab, um sie bei sich zu waschen, und packte die Lebensmittelvorräte wieder ein, die noch reichlich vorhanden waren. Sie war eben doch eine Phantastin, daß sie hatte annehmen können, es würde noch ein paar Tage gutgehen.

Dann schloß sie ab und fuhr nach Hause, wo nichts und niemand sie erwartete. Zerknüllte Blätter, die Schreibmaschine noch aufgedeckt, so, wie sie vor wenigen Tagen vor ihr davongelaufen war…

*

»Wenn du nicht mit willst, dann gehe ich eben allein«, sagte Kerstin und zupfte an dem glitzernden Etwas, das an ihrer hübschen Figur herabhing. Kleid konnte man es wohl kaum nennen. Es war ein Stück Stoff, das etwa drei Handbreit über ihrem Knie endete. »Wie du siehst, habe ich mich schon für die Party angezogen. Es ist neu. Wie findest du es?« Sie machte ein Drehung um sich selbst.

»Reizend«, sagte Mathias, denn das wollte sie doch hören. Im Grunde mochte er diese superkurzen Sachen nicht. Er war kein Spießer, und Kerstin konnte sie sich auch leisten mit ihren schlanken Beinen. Trotzdem fand er, daß etwas mehr Verhüllung eine junge Frau reizvoller machte als diese Zurschaustellung.

»Also?« Sie legte den Kopf mit dem kastanienrot gefärbten, modisch gekräuselten Haar in den Nacken und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Was ist nun?«

Mathias Walden seufzte leicht auf. Er hatte eine anstrengende Woche hinter sich, und er hatte sich auf ein ruhiges Wochenende gefreut. Daß eine Party auf dem Programm stand, hatte er total vergessen. »Kerstin«, begann er begütigend, »hab doch Verständnis dafür, daß ich heute keinen Sinn für Partygeschwätz habe, mit all dem jungen Volk, das sich da zusammenfindet und tanzen und ausgelassen sein will.«

»Du redest wie ein alter Mann«, schmollte Kerstin und spazierte auf ihren hohen Plateausohlen im Zimmer auf und ab.

Ein humorvolles Lächeln ging um Mathias’ Mund. »Na ja, ich bin immerhin dreiunddreißig, da braucht man anscheinend schon ab und zu seine Ruhe und Entspannung.«

»Aber wenn es darum ginge, mich in ein todlangweiliges Konzert zu schleppen, da könntest du das wahnsinnigste Gewirr von Tönen ertragen, und Pauken und Trompeten würden dir auch nichts ausmachen«, hielt sie ihm hitzig vor.

Mathias lachte laut auf. Im Anfang ihrer Bekanntschaft hatte ihm Kerstin vorgeflunkert, ebenfalls Interesse an klassischer Musik zu haben. Also hatte er sie in ein Symphoniekonzert mitgenommen, später in eine Wagner-Oper. Sie mußte Höllenqualen ausgestanden haben. Erst an einem dritten Abend, mit einem berühmten Sänger, der Lieder von Richard Strauß zu Gehör brachte, war er aufmerksam geworden. Da war seine hübsche Freundin nämlich einfach eingeschlafen, ihr Kopf an seine Schulter gesunken.

Hinterher hatte sie ihm kleinlaut eingestanden, daß sie mit dieser Art von Musik nichts, aber auch gar nichts anfangen könnte, ja, sie sogar ziemlich fürchterlich fand.

»Ach, du liebes Opferlamm, warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt«, hatte er sie eher amüsiert gefragt.

Weil sie ihm doch in allem gefallen wollte, war ihre Antwort gewesen. 

»Jetzt lachst du«, tat sie gekränkt. »Du nimmst mich eben nicht ernst.«

Mathias streckte seinen Arm nach ihr aus. »Komm mal her, mein Mädchen.«

Bereitwillig folgte sie seiner Aufforderung. Sie setzte sich auf seinen Schoß und legte den Arm um seinen Nacken. Er gab ihr einen freundschaftlichen Kuß auf die Wange.

»Du gehst jetzt schön zu deiner Party, da kennst du eine Menge Leute und wirst dich gut amüsieren. Und morgen abend gehen wir dann schick essen, ja?« Er wollte sie doch dafür entschädigen, daß er sie heute enttäuschte.

»Ins Colombi?« fragte sie interessiert.

»Meinetwegen auch ins Colombi.« Das war ein teures und sehr elegantes Hotelrestaurant, das Kerstin mächtig imponierte. Seine Hand glitt über ihren seidenbestrumpften Schenkel. »Nun dürfte das dann hier ein paar Zentimeter mehr bedeckt sein«, fügte er vorsichtig hinzu.

»Okay, ich werde mich als Dame verkleiden, Herr Dr. Walden«, versprach sie übermütig und sprang auf. »Also tschüs dann, bis morgen. Ich ruf dich vorher noch an.«

Mathias nahm ein Buch zur Hand, als sie fort war. Aber er las nur wenige Zeilen, dann ließ er es wieder sinken.

Kerstin… Seit ungefähr einem dreiviertel Jahr dauerte nun ihre Beziehung. Manchmal fragte er sich schon, wohin das eigentlich führen sollte. Sie war neun Jahre jünger als er, was nicht unbedingt ein Problem gewesen wäre, wenn es sich um Liebe handelte. Man konnte nicht eine Liebe gegen eine andere eintauschen.

Kerstin hatte er beim Tennisspielen kennengelernt. Es war eine Sportart, die er zum Ausgleich seiner Bürotätigkeit betrieb. Ihr helles Lachen war ihm aufgefallen, ihr Schwung, ihre Fröhlichkeit. All dies war ihm zu jener Zeit abgegangen.

Sie hatte seine Nähe gesucht, ja, sie hatte ihm sehr deutlich gezeigt, daß er ihr als Mann gefiel. Es war schon erstaunlich, wie junge Frauen heutzutage die Initiative ergriffen. Sie vermochte ihn aufzuheitern, und sie ging auf ihn ein, wenn sie sich gelegentlich im Clubhaus bei einem Drink unterhielten. Als Angestellter in einem großen Reisebüro wurden ihr für den Urlaub Flüge in ferne Länder geboten, darüber konnte sie in amüsanter Weise erzählen. Es war nie langweillig mit ihr.

Schließlich hatte er genommen, was sich ihm verführerisch und bereitwillig anbot: Einen roten Mund, der sicher schon oft geküßt worden war, ein junges Geschöpf, das nur darauf wartete, daß er es endlich in seine Arme nahm.

Und diese hübsche Liaison linderte doch tatsächlich den Schmerz um Francescas Verlust, füllte die Leere wieder aus, die ihr Fortgang hinterlassen hatte.

Francesca hatte er geliebt. Er hätte alles darum gegeben, sie zu halten. Aber sie war in ihr Heimatland Brasilien zurückgekehrt, nachdem sie, als angehende Ärztin, ein Praktikum an der hiesigen Universitätsklinik gemacht hatte. Sie hatte ihren Aufenthalt seinetwegen noch verlängert, bis sie sich endlich doch losreißen mußte.

»Ich kann nicht hier leben, Mathias«, hatte sie, ein Kind des Südens, verzweifelt gesagt. »Es ist kalt hier. Auch die Menschen sind kalt. Sie bauen Mauern um sich auf, in ihren Herzen, ihren Köpfen. Laß mich gehen.«

Schwer war der Abschied für beide gewesen. Ein Abschied, der endgültig sein sollte. Francesca hatte es so gewollt. Er mußte sich damit abfinden.

War es nicht seltsam, daß ihm im Hin und Her seiner Gedanken die schmale dunkelhaarige Frau in den Sinn kam, die ihm vorige Woche über den Weg gelaufen war? Wie mochte diese Geschichte weitergegangen sein? Er zweifelte kaum daran, daß ihr Versteckspiel bald ein Ende gefunden hatte.

Sicher war sie inzwischen wieder zu Hause, der Junge bei seinem Vater, dem er zugesprochen worden war.

Ob er sie einmal dort anrufen sollte? Es mochte ihr zeigen, daß nicht jeder seines Berufsstandes ohne menschliches Mitgefühl war.

Mathias nahm das Telefonbuch zur Hand. Es war ganz neu, nach dem letzten Stand. Rodenbach… Deren gab es mehrere. Aber da stand, ohne Angabe der Adresse, Rodenbach, J. Sie hieß Julia. Er wollte es versuchen. Es war halb neun vorbei. Wohl eine etwas ungewöhnliche, aber doch nicht unmögliche Zeit für einen Anruf.

Tatsächlich meldete sie sich bald.

»Hier ist Mathias Walden«, sagte er. »Sie erinnern sich –?«

»Aber ja«, antwortete sie überrascht.

»Ich mußte eben an Sie denken, Frau Rodenbach. Haben Sie Ihr Söhnchen wieder hergeben müssen?«

»Noch am selben Tag. Schon am Nachmittag kam sein Vater, um ihn zu holen. Es war nur ein kurzes, ein gestohlenes Glück.«

Wie traurig ihre Stimme klang!

»Sie hätten sich das denken können«, bemerkte Mathias.

»Sicher. Aber es gibt eben Situationen, da setzt das Denken aus, und man folgt nur noch seinem Gefühl.«

»Ich verstehe schon. Es muß sehr bitter für Sie sein.«

Julia schwieg. Es war ein müdes Schweigen. Dann sagte sie: »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie sich danach erkundigen, Herr Walden. So läutete doch wenigstens das Telefon einmal.«

»Sind Sie denn ganz allein?« fragte er bestürzt. »Haben Sie keine Angehörigen, keine Freunde?« Als sie wiederum zögerte, fuhr er rasch fort: »Verzeihen Sie, wenn ich zu persönlich werde. Wir kennen uns ja kaum. Aber vielleicht könnte man das ändern?«

Warum glaubte er auf einmal, einer unglücklichen Seele helfen zu müssen? Mathias, der Menschenfreund, so hatten ihn schon seine Kommilitonen mit leisem Spott genannt.

»Wir könnten uns treffen, irgendwo noch etwas trinken«, schlug er vor. »Eine kleine Ablenkung würde Ihnen sicher guttun.«

»Treffen, jetzt noch?« wunderte sich Julia. Daß er sie überhaupt wiedersehen wollte! Wo sie ihn doch an jenem Morgen nur aufgehalten hatte.

»So spät ist es ja noch nicht. – Wo wohnen Sie denn, Frau Rodenbach?«

»Gartenstraße 22«, antwortete sie mechanisch. »Aber…«

»Ich hole Sie ab, wenn es Ihnen recht ist«, sagte Mathias, bevor sie weitere Einwendungen erheben konnte. »In spätestens einer halben Stunde bin ich bei Ihnen. Bis dann.«

Also, die bequemen Hausschuhe gegen Straßenschuhe vertauschen, Jacke anziehen, den Wagen wieder aus der Garage holen. Bis zur Gartenstraße war es ein ganzes Stück quer durch die Stadt.

Was war ihm da nur eingefallen! Daß er doch immer die Nöte anderer zu den seinen machen mußte. Es würde noch ein weiter Weg sein, bis er so abgebrüht war wie mancher seiner Kollegen. Wenn es ihm denn überhaupt jemals gelang.

Julia nahm ein schlichtes blaues Kostüm aus dem Schrank. Sie wunderte sich immer noch. Wo wollte er denn nur mit mir hingehen? Auf jeden Fall waren Jeans und ausgeweitete Pulli für den Abend nicht passend.

Als sie umgekleidet war, sich vor dem Spiegel ein Hauch von Farbe auf die Wangen tupfte und die Lippen nachzog, war sie doch ganz froh, daß sie noch einmal herauskam aus der Wohnung, in der sich den ganzen Tag nichts gerührt hatte. Auch wenn sie sich mit einem beinahe Fremden traf, der sie weiter nichts anging. Umgekehrt war es ja ebenso. Um so erstaunlicher, daß er sie wiedersehen wollte.

Da klingelte es auch schon…

Höflich war Mathias Walden ausgestiegen, er begrüßte sie mit einem festen Händedruck. Sie fuhren zu einem Restaurant, das mäßig besetzt war und eine angenehme Atmosphäre aufwies. Sie kannten es beide nicht, doch sie fanden, daß sie gut gewählt hatten.

»Ich war lange nicht mehr unter Menschen«, sagte Julia, sich umsehend.

»Dann wurde es ja Zeit«, meinte Mathias. Er bestellte bei der jungen Serviererin, die zu ihnen an den Tisch trat, eine halbe Flasche Wein, einen leichten, spritzigen.

»Ich unternehme überhaupt nichts mehr«, bekannte Julia, wie unwillig über sich selbst. »Ich lebe immer nur dem Tag entgegen, an dem mein Kind zu mir kommt.« Sie legte die Hände vor sich auf dem Tisch zusammen. »Deshalb bereue ich auch nicht, daß ich Florian ›entführt‹ habe, wie man das unter diesen Umständen bezeichnet. So hatte ich ihn doch ein paar Tage für mich.«

»Es ist erstaunlich, daß man Ihnen nicht schon früher auf die Spur kam. Ihr geschiedener Mann wußte doch sicher von dieser Verwandten. Daß er Sie nicht gleich dort gesucht hat.«

Julia schüttelte den Kopf. »Sie wußten kaum etwas voneinander. meine Kusine mochte ihn nicht, sie vermied die Begegnung mit ihm. Ich habe mich gut mit Anette verstanden, immer schon. Aber sie ist jetzt auch für längere Zeit in Amerika«, schloß sie verloren.

Nachdenklich blickte Mathias auf seine Begleiterin. Er hatte sie an dem Morgen nur gehetzt und in tiefer Erregung erlebt. Jetzt wirkte sie verhalten und von einem stillen Ernst. Mit einem Leidenszug um den Mund, für den sie zu jung 

war.

»Aber, wenn ich auf meine Frage von vorhin noch einmal zurückkommen darf, gibt es denn keine Menschen hier, die für Sie da sind?«

Julia machte eine Kopfbewegung. »Es liegt wohl an mir, daß ich kaum noch Kontakte habe. Man belastet andere nicht gern mit seinem eigenen Unglück.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und setzte es langsam zurück, ohne die Lider zu heben.

»Haben Sie keine Freundin? Wahre Freundschaft trägt den Kummer des anderen doch mit.«

»Doch. Eine sehr liebe Freundin sogar. Aber sie ist beruflich mit ihrem Mann so eingespannt, daß sie nur sehr wenig Zeit für mich hat.« Sie sah in das helle, funkelnde Naß in ihrem Glas, und leise, wie für sich, sagte sie: »Bei mir läuft beruflich gar nichts mehr, das kommt noch hinzu.«

Hatte sie denn schon einen Beruf, überlegte Mathias. Sie mußte doch recht jung geheiratet haben. Doch weiter fragen wollte er nicht. So bemerkte er nur: »Wenn man jahrelang raus war, mag es auch nicht so einfach sein, wieder anzuknüpfen. Überall gibt es Veränderungen, Neues, mit dem man sich erst auseinandersetzen muß. Aber ein Hobby sollten Sie sich zumindest suchen, Frau Rodenbach.«

Jetzt sah sie auf, und sie lächelte schwach. »Was ich tat, war aus einem Hobby entstanden, und es hat mit Fortschritt und Veränderungen nichts zu tun. Kinder haben zu allen Zeiten gern Geschichten gehört, und das wird hoffentlich auch so bleiben.«

Interessiert blitzte es in seinen Augen auf, und nun mußte sie ihm doch Näheres darüber erzählen. Mit einem gespannten Lächeln hörte Mathias ihr zu. »Jetzt fällt mir doch ein, daß mein kleiner Neffe das immer hören wollte«, sagte er lebhaft. »Seine Mutter durfte ihn dabei nicht stören. Ja. Geschichten von Julia, das war für ihn ein Begriff. Er beklagte das ordentlich, daß da nichts mehr kommt. Schreiben Sie wieder, Frau Rodenbach. Das muß doch eine wunderschöne Beschäftigung sein.«

»War es für mich auch, ja«, gab sie zu. »Aber jetzt quäle ich mich nur damit herum und bringe nichts mehr zustande.«

»Das kann ich mir aber gar nicht vorstellen«, hielt Mathias ihr eifrig entgegen. »Wenn man die Phantasie und die Begabung hat, kann der Quell nicht ganz versiegen. Sie dürfen das nicht aufgeben.«

Mit einem eigenartigen Blick sah sie ihn an. »Ich hätte geglaubt, daß Sie das eher komisch fänden«, äußerte sie. »Mein Ex-Mann hat sich jedenfalls gern lustig darüber gemacht.«

»Das ist verkehrt. Es muß doch einen Ausgleich geben zu unserer nüchternen Welt. Dazu gehört alles Schöpferische, Geschriebenes, Vertontes. Ich, zum Beispiel, bin ein großer Musikfreund und lasse nach Möglichkeit kein Konzert aus.«

»Waren Sie auch neulich bei 

den Philharmonikern, wo sie Tschaikowsky spielten?« fragte Julia.

»Ja, Sie auch?« fragte er überrascht zurück.

Stumm schüttelte sie den Kopf. »Ich mache mir zu Hause Musik«, sagte sie.

»Ich habe noch viele Schallplatten.«

»Das ist nicht dasselbe!«

»Nein.« Aber sie wußte schon lange nicht mehr, wie ein festlicher Konzertabend war. Alexander hatte kein Interesse daran gehabt. Höchstens zu einer Opernpremiere war er mit ihr gegangen, wenn man gesehen werden mußte.

Absichtslos sah sie zum Nebentisch hinüber, wo jetzt ein gutgekleidetes älteres Ehepaar aufstand. Sie hatten einen schönen, edlen Hund bei sich, den man bisher gar nicht bemerkt hatte, so brav hatte er zu ihren Füßen gelegen. Was für treue Augen der hatte!

»Vielleicht«, sagte Julia plötzlich, »schaffe ich mir noch einen Hund an. In den Tierheimen soll es ja viele heimatlose geben.«

Die junge Bedienung trat an den Tisch. »Darf es noch etwas sein?« Sie ließ den Blick zwischen dem Paar hin- und hergehen.

Die Gäste dankten. Mathias beglich die Rechnung, und sie brachen auf. Von irgendwoher schlug es halb elf, als sie sich vor ihrer Haustür verabschiedeten. »Ich hoffe, Sie haben es nicht bereut, daß ich Sie noch aus dem Haus gelotst habe«, sagte Mathias.

»Nein, keinesfalls. Im Gegenteil. Gute Nacht, Herr Walden.«

Er hielt ihre Hand noch fest. »Darf ich meinem kleinen Neffen sagen, daß bald wieder etwas von JULIA gesendet wird?« fragte er mit einem Lächeln.

»Das ist nicht sicher. Aber ich werde es versuchen.«

»Versprochen?«

»Versprochen.« Leicht gab Julia sein Lächeln zurück.

»Das ist schön. Gute Nacht, Frau Rodenbach.«

*

Am nächsten Abend also führte er seine Freundin Kerstin aus. Diesmal trug sie einen knöchellangen schwarzen Rock zu einer schmalgeschnittenen Jacke. »Lang genug?« hatte sie etwas spitz gefragt und auf den Saum über ihren Füßen gedeutet.

Während sie speisten, von Kellnern bedient, die sich vornehmer gaben als ihre Gäste, berichtete Kerstin von der gestern stattgefundenen Party. Die er ja leider versäumt hatte, weil er zu müde gewesen war! 

Es klang anzüglich. Sie schien überhaupt heute nicht gerade strahlender Laune zu sein, wie Mathias bei sich feststellte.

»Jochen war auch da«, erwähnte sie beiläufig. »Er gibt nicht auf.«

»Soso.« Mathias tat ihr nicht den Gefallen, sich eifersüchtig zu zeigen, wie sie es wohl erwartete.

»Dir macht das überhaupt nichts aus, nicht?« fragte sie, den Kopf zurückwerfend, daß die überlangen Ohrringe ins Baumeln gerieten.

Mathias legte sein Besteck nieder.

»Kerstin, irgendwie bist du heute aggressiv. Warum eigentlich? Du bist doch sonst gern hier.«

»Bin ich ja auch.«

Kerstin senkte die Blicke auf ihren Teller. Selbst die Teller waren hier was Besonderes mit ihrem feinzeselierten Rand.

Zu blöde, daß sie Jochen erwähnt hatte. Den würden sie hier nicht einmal hereinlassen, in den Klamotten, die er immer trug.

»Entschuldige bitte«, sagte sie kleinlaut.

Oh, sie wollte ihn doch nicht verlieren! Mathias Walden war ein Mann von Format. Sie hatte alle Verführungskünste spielen lassen müssen, bevor er sie überhaupt bemerkt hatte.

»Schon gut«, lenkte er ein und griff wieder nach Messer und Gabel.

Kerstins Lider zuckten. Sie rückte an ihrem Glas. »Ist sie denn hübscher als ich, mit der du gestern abend im ›Schwan‹ warst?« fragte sie endlich.

Verblüfft hob Mathias den Kopf. »Woher weißt du denn das schon wieder?«

»Meine Freundin Hilla serviert dort an manchen Abenden. Sie macht das neben ihrem Studium. Sie hat uns schon zusammen gesehen.«

»Und da hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als dir zu erzählen, daß ich da mit einer Dame war?« Es war ein Hauch von Ironie in seinen Worten.

»Du hättest es doch nicht getan«, erwiderte Kerstin und sah ihn anklagend an.

Gelassen erwiderte Mathias ihren Blick.

»Ich muß dir wohl nicht über jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen«, sagte er ruhig und ganz freundlich.

Das reizte sie. Schon ging ihr Temperament wieder mit ihr durch.

»Nein, aber mir sagst du, du brauchst deine Ruhe und ließest mich allein auf die doofe Party gehen.«

»Ich denke, die war so toll«, warf Mathias erheitert ein.

»Und dann gehst du mit einer anderen aus. Das finde ich nicht fair, Mathias!« Sie funkelte ihn an.

»Nicht so laut, Kerstin. Du wirst mir doch hier nicht eine Szene machen wollen! Iß weiter, laß es nicht kalt werden.«

»Aber wer war das denn, kannst du es mir nicht sagen? Bist du in sie verliebt?«

»Was für ein Unsinn!« Langsam wurde Mathias ungeduldig. »Diese Dame ist eine Zufallsbekanntschaft. Daß wir uns gestern abend noch einmal kurz getroffen haben, um etwas zu besprechen, war nicht geplant. Bist du nun zufrieden?«

Kerstin beugte sich wieder über ihren Teller. »Im Gegensatz zu dir bin ich eben eifersüchtig«, sagte sie, sehr viel leiser als vorher.

»Das steht dir aber gar nicht, Kerstin. Was ich an dir so mag, ist gerade deine Frische und Unkompliziertheit.«

Er sagte ›mag‹, nicht: ›was ich an dir liebe‹. Kerstin registrierte es wohl. Es war bei ihren vorhergehenden Beziehungen auch nicht besonders von Liebe die Rede gewesen. Für die Jungen war das eher ein altmodisches, abgenutztes Wort. Man hatte seinen Spaß miteinander, war verliebt und dachte doch nicht an morgen.

Bei Mathias Walden war das allmählich ein bißchen anders geworden. Von ihm hätte sie ganz gern gehört, daß er sie liebte. Diesen Mann würde sie sogar heiraten, obwohl das hieße, ihr lustiges, ungebundenes Leben aufzugeben. Alles zusammen konnte man sowieso nicht haben.

Plötzlich drang ein kurzes, leises Lachen an ihr Ohr.

»Was du für ein tiefsinniges Gesicht machst, Kerstin. So habe ich dich überhaupt noch nicht gesehen«, sagte Mathias.

»Siehst du, manchmal habe ich auch tiefe Gedanken«, gab Kerstin mit drolliger Miene zurück. Sie hob ihm ihr Glas entgegen, und sie stießen an. 

Die leichte Mißstimmung war verflogen. Kerstin war wieder lieb und reizend, der Abend war gerettet.

*

»Schreibst du wieder?« fragte Ina, als sie die Manuskriptblätter neben der Schreibmaschine liegen sah, das eingespannte Blatt.

»Ich habe etwas angefangen. Mal sehen, ob was daraus wird«, sagte Julia.

»Dann störe ich dich sicher. Ich muß mich entschuldigen, daß ich einfach so bei dir hereinplatze.«

»Das mußt du nicht.« Mit einer herzlichen Geste legte Julia ihren Arm um die Schulter ihrer Freundin. »Wir hören doch leider Gottes wenig genug voneinander.«

»Ich hatte dich ein paarmal angerufen, aber das ist auch schon wieder zwei, drei Wochen her. Du warst nie da. Warst du verreist?«

Julia schüttelte den Kopf. »Ich hatte Florian entführt und mich mit ihm in Anettes Wohnung versteckt.«

»Entführt?« Ina machte große Augen. »Wie hast du das denn fertiggebracht. Das konnte doch nicht gutgehen.«

»Ist es auch nicht. Sein Vater hat mir einen Detektiv hinterhergeschickt, der mich dann aufgespürt hat. Aber reden wir nicht mehr darüber. Ich freue mich, daß du mal da bist. Und das mitten in der Woche an einem Vormittag. Daß Carsten dich fortgelassen hat!«

»Ich bin einfach gegangen. Wahrscheinlich wird er jetzt toben und alles herumwerfen. Aber ich hatte es auf einmal so satt – so satt!« Es klang wie ein Aufstöhnen, und sie legte die Hand gegen ihre Stirn.

»Komm, setz dich. Soll ich dir einen Kaffee machen?«

»Danke, nein. Wir trinken viel zuviel Kaffee, um uns aufzuputschen bis in die Nacht hinein.« Die schlanke junge Frau mit den glatt herabhängenden dunkelblonden Haaren nahm im Sessel Platz. Klagend fuhr sie fort: »Julia, mir geht die ganze Werbeagentur schrecklich auf die Nerven, samt dem Texter Erich mit seinen Slogans über Tütensuppen und Zahnpasta, und samt Barbara, die gerade ein neues Familienglück entwirft, das ohne ein bestimmtes Reinigungsmittel nicht denkbar wäre. Überall nur Scheinwelt, in denen Probleme einfach mit einem Superprodukt beseitigt werden. Mir hängt das alles zum Hals heraus!«

Teilnahmsvoll sah Julia die Freundin an, der die Worte wie ein Sturzbach über die Lippen gekommen waren.

»Du bist überarbeitet, Ina. Wann hättet ihr auch einmal Ferien gemacht in den letzten Jahren. So kann man nicht Raubbau mit seinen Kräften treiben. Das müßte auch Carsten einsehen.«

Ina blickte auf ihre Hände, das Haar fiel ihr über das schmale Gesicht. Sie schwieg sekundenlang, bevor sie hervorstieß: »Carsten muß ich noch etwas ganz anderes erzählen!«

»Was meinst du damit?« fragte Julia unsicher.

»Ich bin schwanger«, antwortete Ina dumpf. »Kannst du dir vorstellen, was das für uns bedeutet, jetzt ein Kind?«