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Gisela Reutling

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1749: Hin- und hergestoßen E-Book 1750: Drei kleine Detektive E-Book 1751: Kinder träumen von Geborgenheit E-Book 1752: Peter kann's nicht fassen E-Book 1753: Lisas Unfall E-Book 1754: Ausgesetzt - und ich fand dich E-Book 1755: Die Bühne und das wahre Leben E-Book 1756: Der Tag, an dem Hanna kam E-Book 1757: Lisa schafft sich ein Elternhaus E-Book 1758: Doch die Mutterliebe war stärker E-Book 1: Hin- und hergestoßen E-Book 2: Drei kleine Detektive E-Book 3: Kinder träumen von Geborgenheit E-Book 4: Peter kann's nicht fassen E-Book 5: Lisas Unfall E-Book 6: Ausgesetzt - und ich fand dich E-Book 7: Die Bühne und das wahre Leben E-Book 8: Der Tag, an dem Hanna kam E-Book 9: Lisa schafft sich ein Elternhaus E-Book 10: Doch die Mutterliebe war stärker

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Inhaltsverzeichnis

E-Book 1749: Hin- und hergestoßen

E-Book 1750: Drei kleine Detektive

E-Book 1751: Kinder träumen von Geborgenheit

E-Book 1752: Peter kann's nicht fassen

E-Book 1753: Lisas Unfall

E-Book 1754: Ausgesetzt - und ich fand dich

E-Book 1755: Die Bühne und das wahre Leben

E-Book 1756: Der Tag, an dem Hanna kam

E-Book 1757: Lisa schafft sich ein Elternhaus

E-Book 1758: Doch die Mutterliebe war stärke   

Mami –1749 –

Hin- und hergestoßen

Roman von Isabell Rohde

Beate von Redwitz räumte den Staubsauger weg, schloß die Tür zur Besenkammer und blickte sich dann im Flur um. Zum Staubwischen blieb ihr keine Zeit mehr, denn wenn Reinhard gleich erschien, erwartete er einen hübsch gedeckten Tisch, frisch aufgebrühten Tee und dazu die englischen Biskuits, die er so liebte. Erfüllte sie seine Ansprüche und war pünktlich, übersah er hoffentlich den leichten Staub auf den Möbeln.

Sie lächelte nachdenklich. Reinhard von Redwitz war einer der anspruchsvollsten Männer, die sie kannte. Aber kannte sie ihren Bruder? Überraschte sie sein Verhalten nicht immer wieder? Und geschah es nicht oft, daß seine Kälte sie abstieß? Nur ließ sie sich nichts davon anmerken, um ihn ja nicht zu verärgern. Solange Sandro bei ihr bleiben durfte, nahm sie alles hin. Denn Sandro, der Vierjährige, den sie wie ihr Fleisch und Blut liebte, war Reinhards Sohn.

Sie fand im Schrank noch eine Packung der Biskuits, legte sie beiseite und setzte erst mal Teewasser auf. Ob sie Reinhard nicht doch zu streng beurteilte? Oder gelang es ihr einfach nicht, ihn richtig einzuschätzen, weil sie ihn kaum mit anderen Männern vergleichen konnte?

Außer ihren männlichen Patienten, die mit Schulterverspannungen und ähnlichen Leiden zu ihr in die Praxis kamen, fand sie kaum Gelegenheit, sich mit dem starken Geschlecht zu beschäftigen. Sie war auch nicht der Typ Frau, der auf Männer anziehend wirkte. Alle suchten sie nur auf, um sich von ihr behandeln und aufrichten zu lassen. Zu weiteren Kontakten kam es danach nicht.

Bis das Teewasser kochte, fand sie noch Zeit, sich im Bad etwas herzurichten. Ob sie ihr von der Urlaubsonne und dem Meerwasser strohiges Haar nicht lieber unter dem bunten Tuch verbarg? Damit konnte sie sich eine hämische Bemerkung Reinhards und ihm die schmerzliche Feststellung ersparen, daß er eine recht unattraktive Schwester hatte.

»Tante Bea! Tante Bea!«

Bea sah durchs Küchenfenster in ihren kleinen Garten. Da stand Sandro und schrie aus Leibeskräften nach ihr.

»Was ist denn, mein Liebling?« rief sie hinaus und war schon auf dem Sprung, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Sandro, das hatte sie sich schon vor zwei Jahren eingestanden, war eben der einzige, wenn auch sehr kleine Mann, der sie ohne Vorbehalte und von ganzem Herzen liebte.

Aber eigentlich brauchte er sie jetzt nicht. Er rüttelte mit aller Kraft am Stamm des jungen Apfelbaums. »Wann kommt Papi denn?« wollte er nur wissen.

»Es kann nicht mehr lange dauern.«

»Aber ich langweile mir so!«

»Es heißt, ich langweile mich«, verbesserte sie lächelnd.

»Aber Kiki und Linus sind nicht da!« beschwerte Sandro sich und rüttelte noch heftiger an dem Baum, als könnte er damit die Nachbarskinder aus den Ferien herbeizwingen. Und plumps! donnerte ein unreifer Apfel neben seinem Fuß auf den Rasen. Sandro, erst erschrocken hob ihn gleich darauf auf, um ihn zu betrachten. »Ist da ein Wurm drin, Tante Bea?«

»Schau genau nach!« riet sie ihm. Jetzt war er wenigstens beschäftigt, und sie konnte letzte Vorbereitungen für Reinhards Besuch treffen. Sie deckte den Tisch mit dem kostbaren Porzellan ihrer verstorbenen Eltern und brühte den Tee auf, aber etwas fehlte noch. Ja, sicher es gab keinen einzigen Blumenstrauß im Haus. Sollte sie noch schnell in den Garten und dort einen Strauß aus Dahlien und Astern zusammenstellen? Oder lieber die letzten Minuten nutzen, um ihrer äußeren Erscheinung einen Hauch von eleganter Weiblichkeit zu verpassen? Das würde Reinhard milde stimmen.

Sekunden später hupte es auf der stillen Straße vor ihrem bescheidenen Reihenhaus. Da wußte Beate, daß die Zeit gerade noch reichte, um ihre Nase zu pudern, die Biskuits auf eine Schale zu ordnen und hastig die Krümel von ihren Jeans zu entfernen. Dann bereitete sie sich auf Reinhards kritische Blicke vor, öffnete ihm aber mit strahlendem Gesicht die Tür.

»Meine heißgeliebte Bea!« begrüßte Reinhard sie und zog sie kurz, aber heftig an sich, um sie dann näher und mit unverhohlenem Mißfallen zu betrachten.

»Mein Gott! Wie siehst du wieder aus! Wenn du nicht etwas mehr auf dich achtest, findest du nie einen Mann, Schwesterchen!«

Das war nun wirklich starker Tobak!

»Sandro und ich haben auf deinen Wunsch unseren Urlaub an der Ostsee abgebrochen«, erwiderte sie gereizt. »Wir sind erst heute mittag angekommen, Reinhard. Was erwartest du denn?« Mit ihm zugekehrten Rücken, setzte sie kühl hinzu: »Sandro ist im Garten. Er hat schon auf dich gewartet. Ich hole inzwischen den Tee.«

»Du bist schlechtgelaunt?« lachte Reinhard.

»Ein wenig schon. Weil alles immer nach deinem Willen gehen muß!«

»Nicht immer, Schwesterherz. Nur heute. Denn ich habe gute Neuigkeiten für dich. Sandro kann warten. Bist du nicht neugierig?«

»Nein. Ich kann mir ja denken, was du auf dem Herzen hast. Mußt du nach New York oder Tokio, vielleicht sogar nach Johannesburg oder nach Sibirien? Oder willst du Sandro endlich mal wieder für ein Wochenende zu dir nehmen, damit er nicht ganz vergißt, daß er einen Vater hat?« fragte sie giftig aus der Küche heraus.

Sie erhielt keine Antwort. Reinhard war durchs Wohnzimmer und über die Terasse in den Garten zu Sandro gegangen. Sie konnte beobachten, wie er den Jungen in die Arme schloß, um ihn dann genauso kritisch zu betrachten wie sie vorher.

Vor zwei Jahren war Reinhard Witwer und Sandro Halbwaise geworden. Seitdem lebte der Kleine bei ihr und sah seinen Vater nur einige Male im Jahr. Reinhard war eben ein vielbeschäftigter Mann. Als international anerkannter Wirtschaftsexperte flog er von einem Kontinent zum andern, um die Interessen der europäischen Wirtschaftsunion zu vertreten. Nun ja, er war eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Kaum eine Woche verging, ohne daß er nicht vom Bildschirm aus seine Thesen vertrat oder irgendein kluger Artikel im Wirtschaftsteil einer angesehenen Zeitung von ihm erschien.

»Tante Bea, Papi will seinen Tee!« Sandro kam an Reinhards Hand zu ihr in die Küche.

»Du mußt mit dem Jungen unbedingt zu einem guten Friseur, Bea. Sein Haarschnitt ist katastrophal!«

»Ja, ja. Soll ich dir vorher oder nachher eine Tasse Tee einschenken?« parierte sie spöttisch.

»Linus und Kiki sind noch in den Bergen, Papi!« plapperte Sandro ungerührt weiter. »Und der Kindergarten macht erst nächste Woche wieder auf. Ich hab keinen Freund zum Spielen!«

»Mit so einem wilden Wuschelkopf findest du bestimmt keine neuen Freunde.«

Beate sah ihn fassungslos an. Reinhard übertraf sich an Taktlosigkeit heute selbst! »Laß dir von Tante Bea einen Keks geben und geh wieder in den Garten!« setzte Reinhard ungerührt hinzu. »Ich muß mit ihr allein sprechen.«

»Über Sandros Haarschnitt?« feixte Bea und freute sich, weil ein Ausdruck von Ärger über das braungebrannte Gesicht ihres Bruders huschte.

Respektlose Bemerkungen dieser Art haßte er. Und ausgerechnet Beate, seine jüngere und so unattraktive Schwester, erdreistete sich dazu. Nun ja, in wenigen Minuten bekam sie die Quittung dafür.

Sandro stapfte mit einem Biskuit in jeder Hand gehorsam in den Garten. Als Bea mit dem Tablett ins Wohnzimmer trat, warf sie ihrem kleinen Liebling einen wehmütigen Blick nach. So war es immer. Sandro konnte das Eintreffen seines Papis kaum erwarten. War Reinhard da, hielt seine Freude kaum länger als drei Minuten an.

»Ich werde Mitte November heiraten, Beate!« verkündete Reinhard, nachdem er im bequemsten Sessel Platz genommen und einen Schluck Tee getrunken hatte.

»Wie bitte?« Sie konnte es nicht fassen. Reinhard wollte wieder heiraten? Hatte er nicht wiederholt zugegeben, nicht für die Ehe geschaffen zu sein? Hatte er schon vergessen, wie unglücklich seine Frau mit ihm gewesen war? Bea sah ihn an. Nun ja, er war achtundvierzig, ein noch immer sehr attraktiver Mann.

»Ich war lange genug Witwer. Und du kennst meine zukünftige Frau, Schwesterchen. Erinnerst du dich an meinen Geburtstagsempfang?«

»Ja.« Sie zuckte mit den Schultern. »Halb Hamburg war anwesend.«

»Und die schönste Frau trug ein weißes Kleid und einen großen Strohhut auf ihrem kastanienbraunen Lockenhaar.«

»So?« Mindestens dreißig bildschöne Frauen waren durch den Garten flaniert. Fast alle hatten Strohhüte getragen, um sich vor der brennenden Julisonne zu schützen.

»Klaudia Waller!« sagte Reinhard. »Du willst doch nicht etwa behaupten, sie habe keinen Eindruck bei dir hinterlassen?«

»Kann sein«, erwiderte sie nach einer Weile. »Jetzt erinnere ich mich. Du hast sie mir vorgestellt. Ist sie nicht Moderedakteurin oder so was? Sie erschien mir recht jung. Warum willst du sie gleich heiraten?«

»Weil sie eine wunderbare und bildschöne Frau ist. Ja, und die einzige Tochter des Pharmazie-Unternehmers Waller. Der lebt mit seiner zweiten Frau auf Mallorca. Klaudia bewohnt die väterliche Villa ganz allein.« Er lächelte. »Genau genommen sind wir seit Jahren Nachbarn, nur ahnte ich das nicht. Zwei Minuten mit dem Wagen, und ich bin bei ihr. Zu Fuß sind es genau vier Minuten.«

»Akkurat wie du bist, hast du das schnell herausgefunden«, meinte sie kopfschüttelnd. »Und was gefällt dir sonst noch an ihr?«

»Klaudia und ich haben uns im Frühjahr auf einer Hochzeit kennengelernt. Wir sahen uns seitdem gelegentlich, aber in letzter Zeit häufiger. Vorige Woche, kaum war ich aus Israel zurückgekehrt, habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie bestand auf drei Tage Bedenkzeit, aber gestern hat sie angenommen.« Er war glücklich und stolz, nur konnte Beate seine Freude nicht teilen.

Sie ahnte zu gut, was das bedeutete. Die Angst davor schnitt ihr ins Herz, aber sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Vielleicht sah sie alles zu schwarz? Eine so junge Frau wie diese Klaudia wollte bestimmt das Leben an Reinhards Seite genießen und dachte nicht daran, sich mit der Verantwortung für ein Kind zu belasten. Noch hatte Reinhard ja nicht angekündigt, daß er Sandro wieder zurückholen wollte.

»Der Gedanke, auf Sandro verzichten zu müssen, kann dir nicht gefallen, Bea. Ich weiß«, begann Reinhard da schon und wenigstens mit ein wenig Einfühlungsvermögen. »Aber bitte, sieh es von der positiven Seite. Du wirst unabhängig sein und kannst dein Leben genießen. Vielleicht hat das Schicksal ja auch noch ein Stück Herzensglück für dich bereit.«

Leben genießen? Herzensglück? Ihr Glück bestand daraus, jede freie Stunde mit Sandro zu verbringen. Hatte Reinhard das immer noch nicht begriffen?

»Du wirst dich wieder mit großer Sorgfalt deinen Patienten widmen und noch Zeit und Muße haben, dich nach einem Ehemann umzusehen, Bea. Noch ist es nicht zu spät. Vierzig ist kein Alter für eine Frau. Nur mußt du natürlich mehr aus dir machen.«

Ihre Brust hob und senkte sich wie unter einer großen Anstrengung.

»Außerdem wünsche ich mir, daß Klaudia und du Freundinnen werdet. Sie hat Stil und einen hervorragenden Geschmack. Sie wird dich beraten können, wenn du dein Äußeres auffrischen willst.«

Danach wurde es ganz still in Beas gemütlichem Wohnzimmer. Reinhard von Redwitz mochte ein kühler Kopf sein, aber ein Unmensch war er nicht. Deshalb hoffte er, Bea könnte ein irgendwie anders geartetes Glück finden, als an seinem Sohn Mutterstelle zu vertreten.

»Wird Klaudia Waller Sandro denn eine gute Mutter sein?« beendete Bea das Schweigen.

»Ich denke doch. Natürlich mute ich ihr nicht zu, sich tagtäglich zwölf Stunden um ihn zu kümmern. Wir werden ein Kindermädchen einstellen, das ihn nachmittags, wenn er nicht im Kindergarten ist, betreut. Ich bestehe darauf, daß Klaudia ihre berufliche Tätigkeit fortsetzt. Ich möchte nicht, daß sie sich wie Ruth zu Hause langweilt, wenn ich auf Reisen bin.«

Beate starrte ihn an. Warum ließ er ihr den Jungen dann nicht?

»Der Gedanke, wieder eine Frau zu Hause sitzen zu haben, die sich vor Langeweile grämt, ertrage ich kein zweites Mal. Klaudia versteht das.«

»Aber Reinhard! Das kannst du doch nicht zulassen! Sandro braucht einen Menschen, der nur für ihn da ist. Er hat keine Mutter mehr und du, entschuldige, bist nicht gerade ein idealer Vater!«

Er erhob sich und sah zu Sandro hinaus. »Ich weiß. Aber du hast deine Patienten und konntest ihn auch nicht ständig an deinem Kittelzipfel dulden.«

»Nur bin ich immer hier. Und bei mir fühlt er sich geborgen. Seine Freunde, die Umgebung, der Kindergarten an der Ecke…«

»Er wird sich schnell wieder bei mir eingewöhnen.«

»Und wenn Klaudia Waller es vorzieht, dich auf deinen Reisen zu begleiten? Wenn sie die Anstrengungen besser erträgt als Ruth und sich nichts Schöneres denken kann, als überall auf der Welt an deiner Seite zu sein?«

Reinhards Gesicht wurde zu einer Maske. »Das will ich nicht. Ich habe Ruth nur wenige Male mitgenommen, und daraus wurde jedesmal ein Fiasko. Darum will ich auch Klaudia nicht an meiner Seite haben. Bei offiziellen Besuchen im Ausland sind Ehefrauen überflüssig und deshalb nicht gern gesehen.«

»Und wenn deine… zweite Frau es trotzdem von Herzen wünscht?«

»Unsinn. Ist Klaudia erstmal Chefin der Moderedaktion, wird sie doch gar keine Zeit für häufige Reisen haben.«

»Chefin? Ich dachte, sie ist Redakteurin?«

»Ich habe gute Kontakte zu ihrem Verleger und schon dafür gesorgt, daß sie befördert wird. Wenn ihr Aufgabenbereich sich erweitert, kommt sie nicht auf trübe Gedanken. Du mußt anerkennen, daß ich aus meiner Ehe mit Ruth viel gelernt habe.«

»… aber ganz vergessen, daß sie am gebrochenen Herzen starb.«

»Ruth starb an Leukämie. Verdreh die Tatsachen nicht, Bea.«

Bea wich seinem Blick aus. »Laß Sandro wenigstens so lange bei mir, bis er in die Schule kommt«, bat sie leise. »Er kann euch immer besuchen. Zwei Jahre gehen schnell vorüber. Deiner… zweiten Frau bleibt dann Zeit, sich an ihre neuen Aufgaben zu gewöhnen.«

Reinhard musterte sie mit einem scharfen Blick. »Das kommt nicht in Frage, Bea. Ruth hat bestimmt, daß du dich nach ihrem Tod um Sandro kümmern sollst. In meinem Testament habe ich dich auch im Falle meines Ablebens als Sandros Vormund bestimmt. Aber nun werde ich eine junge Frau heiraten und Sandro deshalb eine ganz normale, glückliche Kindheit bieten können. Er braucht eine erstklassige Erziehung und eine Umgebung, die ihm außer familiärer Geborgenheit auch Möglichkeiten zur Selbstentfaltung bietet.«

»Selbstentfaltung!?« wiederholte sie verdattert.

»Ja. Fairness im Alltag, hervorragendes Benehmen, Zielstrebigkeit und eine anspruchsvolle Lebensführung.«

Er wird keinen Baum schütteln und keinen Wurm beobachten dürfen, dachte Beate und sah ihren Bruder mit einem entsetzten Blick an.

»Bitte, Bea, sieh mich nicht so entsetzt an! Damit hättest du rechnen können. Oder mißgönnst du mir mein zweites Glück?«

»Mit Ruth warst du nie glücklich. Also ist es wohl dein erstes Glück«, meinte sie seufzend, »Aber natürlich gönne ich es dir von Herzen.«

»Gut. Dann klammere dich nicht an meinem Sohn. Du hast viel für ihn getan, aber er gehört dir nicht.«

»Das wußte ich immer.«

Sie wußte aber auch, wie eintönig ihr Leben ohne Sandro sein würde. Nein, sie konnte sich die Zukunft ohne ihn nicht mal vorstellen. Durfte sie nicht ein einziges Mal um ihr Glück bangen und kämpfen?

Reinhard setzte sich wieder. Er atmete schwer.

»Sandro hängt mit zärtlicher Liebe an dir, Bea. Aber er gehört nicht für immer in ein kleines Reihenhaus weit vor der Stadt. Hier würde er wie viele andere Kinder aufwachsen, die es später im Leben nur zum Mittelmaß bringen. Als Vater kann ich das nicht verantworten.«

Ihr Atem bebte, als sie Luft holte. Schon jetzt lähmte sie die Angst vor der Einsamkeit.

»Versteh ’s doch«, fuhr er fort. »Klaudia wird seine Stiefmutter. Wie alles, was sie beginnt, wird sie auch daraus das Beste machen. Sie hat Verständnis für mich und steht im Gegensatz zu Ruth mit beiden Beinen im Leben. Wir werden nach der Hochzeit eine lange Reise nach Südostasien unternehmen, aber Weihnachten wird Sandro bei uns verbringen. Du hast also Zeit, dich mit der Trennung von ihm abzufinden.«

Sie konnte ihn nicht ansehen, wenn sie nicht in Tränen ausbrechen wollte. »Ja, das habe ich«, schwindelte sie tapfer.

*

Nach zehn Stunden Flug setzte die Maschine über Hamburg zur Landung an. Unter den Passagieren war eine Gruppe von fünf Ärzten, die nach einem Einsatz in einem Notgebiet südlich des Äquators wieder in die Heimat zurückkehrten.

Ralf Nolte sah seinen Freund und Kollegen Kai Hoffmann an, der auf dem Sitz neben ihm eingenickt war. Ralf schmunzelte. Jetzt zeigte sich, daß der etwas jüngere Freund sich mal wieder bis zur Erschöpfung verausgabt hatte.

»He, Kai!« Minuten später mußte er ihn trotzdem wecken. »Wir landen gleich. Wach auf. Noch kannst du dich rasieren. Klaudia wird es dir danken«, grinste er.

»Was ist los?« schrak Kai hoch. Dann begriff er, sah nach links und rechts und auf seine Uhr und strich sich schließlich übers Kinn. »Sie wird es aushalten«, lächelte er und räkelte sich wohlig.

»Du meinst, sie nimmt dich auch unrasiert glücklich in die Arme, weil sie weiß, du mußt in vierzehn Tagen wieder los?«

Ralf Nolte war der schönen Klaudia Waller nur zweimal begegnet, aber sein Urteil über Kais Freundin hatte schon beim ersten Mal festgestanden. Die Sechsundzwanzigjährige war beeindruckend schön, umwerfend elegant und charmant, aber ihr überzogenes Selbstbewußtsein machte sie zu einer unerträglichen Nervensäge. Natürlich hatte er das Kai nie gesagt. Dazu wußte er mit seinen fünfunddreißig Jahren schon zu gut, daß Liebe zwar blind, aber auch stark machen kann. Denn die leidenschaftliche Liebe zu Klaudia Waller ließ Kai leichter als alle anderen Kollegen Entbehrungen, Mühen und seelische Erschütterungen verkraften. Reinhard bewunderte den Freund deshalb im stillen.

»Ich muß dir etwas anvertrauen, Ralf«, verriet Kai ihm Sekunden später mit gesenkter Stimme, damit die anderen im Team es nicht hören konnten. »Den nächsten Einsatz werde ich nicht mehr mitmachen. Ich habe schon mit dem Professor telefoniert und angekündigt, daß ich beim Hilfswerk aussteigen werde, um endlich mit der Ausbildung zum Facharzt zu beginnen.«

»Was? Bist du verrückt? Du willst uns einfach alleinlassen?«

»Ungern, aber ich nehme das Angebot vom Professor in Kiel jetzt doch an. Noch fünf Jahre Fachausbildung liegen vor mir. Die Zeit wird schon hart genug für Klaudia. Kann ich dann endlich eine Praxis im Haus ihrer Eltern eröffnen, bin ich auch nicht mehr der Jüngste«, er versuchte ein kokettes Lächeln, das ihm gründlich mißlang.

Über ihnen blinkte das Signal auf. Sie schnallten sich wieder an.

»Der nächste Einsatz in Indien ist ein Kinderspiel«, begann er kurz darauf tröstend. »Das schafft ihr auch ohne mich. Versteh’s doch, Ralf! Ich muß an Klaudia denken. Schon vor einem Jahr habe ich ihr versprochen, endlich über unsere gemeinsame Zukunft zu entscheiden. Ich liebe sie.«

»Ich weiß.«

»Klaudia hat ein Recht auf mich.«

»Wohl auch auf einen Ehemann, der als Modearzt in ihre feinen Kreise paßt.«

»Ja, das hätte sie gern.« Ohne von Ralfs beißendem Spott gekränkt zu sein, strahlte Kai. Mit einer Hand fuhr er sich durch das kurzgeschnittene blonde Haar, schloß dann die Augen und lehnte sich lächelnd zurück.

»Klaudia hat dich wohl ganz schön unter Druck gesetzt.«

»Und wenn? Du hast gut reden. Auf dich wartet keine Frau. Du vermißt nichts, wenn du irgendwo auf der Welt gegen Cholera und Hungerödeme kämpfst. Du hast dich an dieses Leben gewöhnt.«

»Das war schwer genug, aber es lohnt sich.«

»So denke ich auch. Daran ändert sich nichts. Aber jede Lebensphase geht einmal zu Ende. Wer liebt, muß auch zu Kompromissen bereit sein. Und ich weiß, Klaudia kann nicht gut allein sein.«

»Ich dachte, ihr Beruf füllt sie hinreichend aus.«

Kai lachte leise auf. »Mode macht ihr Spaß, ja. Und dann die vielen Parties, Empfänge und kulturellen Veranstaltungen! Die halten sie dazu ganz schön auf Trab. Aber täusch dich nicht in ihr! Wie alle Frauen träumt auch Klaudia von einer harmonischen Zweisamkeit. Sie wünscht sich sogar Kinder. Und bevor wir Eltern werden, möchte ich noch einige Jahre mit ihr allein verbringen, um eine Beziehung zu ihr aufzubauen, die allen möglichen Widerständen trotzen kann.«

»Und um sie auf Parties, Empfänge und ins Theater zu begleiten?« entschlüpfte es Ralf. Es klang recht bissig.

Kai sah ihn irritiert an. »Wenn es sein muß, ja.«

»Du hast recht, Kai«, entschuldigte der ältere Kollege sich. »Ich kenne sie ja nur flüchtig.«

Dr. Ralf Nolte rief sich die wenigen Begegnungen mit ihr ins Gedächtnis zurück. Zuerst war ihm ihr rötlich schimmerndes, wild gelocktes Haar, das bis auf die schmalen Schultern wallte, aufgefallen. Von dichten dunklen Wimpern beschattete grüne Augen hatten ihn aus ihrem ausdrucksvollen Gesicht angeblitzt und dabei signalisiert, zu welch wachem Köpfchen sie gehörten. Ja, Klaudia war nicht nur schön, sondern auch gewitzt. Und sie konnte ihre geheimnisvoll weibliche Ausstrahlung zudem mit auffallend teurer Garderobe betonen. Durfte er es ihr ankreiden, wenn sie sich ganz bewußt als Tochter aus gutem Haus gab? Nein, solange sie Kai liebte und ihn glücklich machte, war das ganz bedeutungslos.

Als die beiden Ärzte eine halbe Stunde später durch die Paßkontrolle in die Flughafenhalle traten, sahen sie sich suchend um. Keiner konnte Klaudia unter den Wartenden entdecken.

»Vielleicht konnte sie sich nicht rechtzeitig aus der Redaktion freimachen«, wollte Ralf seinen Freund trösten. »Oder hast du vergessen, unsere Ankunftzeit genau zu nennen?«

»Nein!« murrte Kai gereizt. Er wandte sich dem Rest des Teams zu, um sich zu verabschieden und schulterte dann seine zwei Taschen. »Sie wird mich zu Hause erwarten.« Er lächelte zuversichtlich. »Der Champagner ist kaltgestellt, dazu gibt’s Lachs und Kaviar. Das macht sie immer so. Sie ist wunderbar.«

Ralf umarmte ihn. »Ich fahr mit den anderen. Ruf mich an, wenn du mit dem Professor verhandelt hast. Wir bleiben doch in Verbindung?«

»Selbstverständlich.«

Ihre Blicke trafen sich wie die zweier Kumpels, deren gegenseitiges Vertrauen durch nichts zu erschüttern war.

»Kai!«

Die beiden Männer fuhren herum. Da stand Klaudia. Sie mußten zweimal hinsehen, denn auf den ersten Blick hätten sie sie kaum erkannt.

»Klaudia!« Schon ließ Kai seine Taschen zu Boden gleiten und stürmte mit ausgebreiteten Armen auf sie los. Ralf nickte ihr grüßend zu, ohne seine Verwirrung verbergen zu können. Was war denn mit Klaudia Waller los? Sie sah völlig verändert aus.

Ihr Haar war kürzer, der Rock dafür viel länger, so daß sie ausgesprochen damenhaft aussah. Das schlichte dunkelblaue Ensemble verlieh ihr eine Würde, die sie fremd wirken ließ. Na ja, vielleicht war das der letzte Schrei. Woher sollte er das wissen?

Ralf eilte hinter den anderen Kollegen her. Noch einmal sah er sich nach Kai um und stutzte. Standen sich die beiden Liebenden nicht bewegungslos wie Fremde gegenüber? Ralf grinste. Wahrscheinlich hatte Kai etwas vorschnell sein Befremden über ihre neue Frisur ausgedrückt. Und Klaudia Waller gehörte nun mal nicht zu den Frauen, die so etwas auf die leichte Schulter nahmen.

*

»Du willst wirklich nicht, daß ich diese Nacht bei dir verbringe?« Kai fand die Sprache erst wieder, als er in Klaudias Wagen neben ihr Platz genommen hatte. »Was ist nur los?« Weil Klaudia schwieg, fuhr er verwirrt fort. »Ehrlich gesagt, habe ich mich darauf gefreut und eingestellt. Und in meinem kleinen Appartement, das wochenlang unbewohnt war, fühle ich mich nach so langer Zeit ziemlich verlassen.« Er lächelte unsicher.

»Ich habe meiner Putzfrau aufgetragen, bei dir für eine gewisse Gemütlichkeit zu sorgen. Der Eisschrank ist gefüllt. Sie hat dir sogar Gulasch vorgekocht. Das magst du doch?«

»Dein Lachs und Champagner wär mir lieber. Aber… du hast wohl heute noch etwas Wichtigeres vor?«

Klaudia mußte an einer Kreuzung halten und betrachtete die rote Ampel ausgiebig. Dann räusperte sie sich. »Ich will und kann dich nicht belügen, Kai. Es geht nicht nur um diese Nacht.« Nach bedrückendem Schweigen schaltete sie mechanisch den ersten Gang ein. »Ich habe viel über uns nachgedacht. Für uns gibt es keine Zukunft. Das ist mir in den letzten beiden Monaten klargeworden. Du warst lange fort und weißt nur zu gut, wie viel Zeit du mit diesen Noteinsätzen verplemperst. Wie oft haben wir darüber gestritten, ohne zu einer Lösung zu kommen.«

»Gestritten? Nein, wir haben diskutiert.« Weil er den Ernst der Lage nicht erkannte, schmunzelte er. »Und du hast mich sogar überzeugt. Heute abend sollst du endlich erfahren, wozu ich mich entschieden habe, mein Engel«, meinte er leichthin und sah sie erleichtert an.

Nichts in ihrem Gesicht rührte sich. Es fiel ihm nicht auf. Eigentlich war ihre neue Frisur gar nicht so übel. Er würde sich schon daran gewöhnen.

Plötzlich lenkte Klaudia den Wagen an den Straßenrand und hielt an.

»Ich habe Reinhard von Redwitz im Mai auf einer Hochzeit kennengelernt«, sagte sie leise. »Ist er dir bekannt?«

»Redwitz? Dieser Wirtschaftsfachmann? Ja, natürlich. Wer kennt den nicht?«

»Er ist seit zwei Jahren Witwer.«

»So. Tut mir leid. Aber so einer findet bald Trost. Oder? Er muß fast fünfzig sein.«

»Er ist achtundvierzig, sieht aber viel jünger aus.«

Das ließ Kai aufhorchen. Ein Gefühl des Unbehagens ergriff ihn, das sich plötzlich in eine furchtbare Ahnung verwandelte. »Was willst du damit sagen, Klaudia?«

»Wir sind uns in den letzten Monaten sehr nah gekommen. Ich habe es nicht fassen können, aber er hat sich in mich verliebt. Erst schreckte ich vor seinem Interesse zurück. Aber seit Wochen weiß ich, wie ernst er es meint. Ich zweifelte lange Zeit, ob wir zueinander passen, aber seit einigen Tagen habe ich Gewißheit.«

»Gewißheit – ?«

»Ja. Reinhard möchte mich heiraten.«

»Heiraten? Und das sagst du so einfach? Liebst du ihn denn?«

»Er ist einer der interessantesten Männer weit und breit, eine Persönlichkeit ganz nach meinem Geschmack. Und ich bin fest entschlossen, ihn glücklich zu machen.«

»Das ist doch nicht wahr!« stammelte Kai.

Ihr Gesicht wurde vom hereinfallenden Licht der Straßenlampen modelliert und erschien ihm klar und so schön wie nie. Nur vor ihren Augen, die so blitzen konnten, lag jetzt ein Schleier. Es mußte das Wissen über den furchtbaren Schmerz sein, den sie ihm bereitete.

»Doch, es ist so, Kai. Dir das zu sagen, fällt mir sehr schwer. Das alles tut mir schrecklich leid. Aber ich muß diese Chance wahrnehmen, um meinem Leben eine andere Richtung zu geben. Wer weiß, wie viele Jahre noch vergehen, bis du soweit bist und in meinem Haus eine Privatpraxis eröffnen kannst? Und ob du überhaupt jemals dazu bereit bist, dieses Abenteuerleben als Arzt aufzugeben? Du hast dich doch immer gegen meine Vorstellungen von unserer Zukunft gewehrt.«

Sollte er noch einmal versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen? Aber Klaudia sprach schon weiter.

»Reinhard hat einen kleinen Jungen. Sandro ist vier und lebt seit dem Tod seiner Mutter bei seiner Tante. Er soll wieder ein normales Familienleben genießen. Ich bringe für Reinhards Nöte großes Verständnis auf und habe…«

»… den kleinen Jungen liebgewonnen?« fragte er.

»Ich habe ihn erst gestern kennengelernt. Aber irgendwie werde ich schon mit ihm fertig. Ich muß es doch Reinhard zuliebe versuchen, nicht wahr? Obwohl ich noch keine Ahnung habe, was dieses Kind von mir erwartet.«

Er spürte, wie alles in ihm versteinerte, obwohl sich doch unzählige Sätze aus Vorwürfen, Wut und Zorn in seinem Kopf bildeten.

»Du wärst mit mir ganz sicher nicht glücklich geworden, Kai. Du hättest viel für mich getan, aber ohne Überzeugung. Darum gebe ich dich frei und bitte dich, mich ebenfalls ohne Groll aus unserer Beziehung zu entlassen.«

Warum konnte er nicht aussprechen, was er noch vor einer Stunde Ralf Nolte anvertraut hatte? Warum war er nicht imstande, um Klaudia zu kämpfen? War es die Erschöpfung der letzten Wochen, die ihn daran hinderte? Oder begriff er, daß jeder Versuch zwecklos war und er sich mit jeder Frage nur tiefer in eine unverdiente Demütigung begab?

»Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du es dir anders überlegt hast, Klaudia«, brachte er mit brüchiger Stimme hervor. Es war nur ein winziger Funken Hoffnung, der ihm die Kraft dazu gab. »Ich liebe dich. Nicht einmal dieser Schock, den du mir jetzt versetzt, kann etwas an meinen Gefühlen für dich ändern. Vergiß es nicht.«

»Danke für dein Verständnis«, flüsterte sie und ließ den Motor schon wieder an, um den Abschied nicht endlos hinauszuschieben. »Ich werde dich auch nie vergessen. Glaub’s mir bitte.«

Kai antwortete nicht. Wieder lastete das Schweigen zwischen ihnen und signalisierte das endgültig Ende eines Traums. »Du kannst mich an der Ecke absetzen. Die letzten Meter geh ich zu Fuß.«

An der Ecke stieg er aus, schulterte seine beiden Taschen und ging mit langen Schritten durch die feuchkalte Abendluft bis zu dem Haus, in dem er seit Jahren ein kleines Appartement bewohnte. Als er die Tür aufschloß, kam ihm der Duft vom Gulasch entgegen. Kai schüttelte sich. Er hatte keinen Appetit.

Er trat ans Fenster und öffnete es. Dann erst schaltete er das Licht an. Auf dem kleinen Glastisch vor der Couch stand ein Strauß dunkelroter Rosen. Er wußte sofort, daß sie aus Klaudias Garten stammten. In den vergangenen Jahren hatte der Anblick dieser letzten herbstlichen Rosen zu seinem Glück gehört. Nun wiesen sie ihn unbarmherzig daraufhin, daß Klaudia nur noch Dankbarkeit für ihn empfand. Ja, sie dankte ihm, weil er ohne großes Lamento aus ihrem Leben verschwand!

*

Rena Liebold arbeitete seit zwei Monaten als Praktikantin in der Moderedaktion der Zeitschrift »Mega« und war sehr bemüht, Fleiß und Eifer zu beweisen. Darum war sie heute länger geblieben und hatte die von ihrer Chefin Klaudia von Redwitz ausgewählten Modefotos fein säuberlich in dafür bestimmte Hüllen gelegt. Es war schon lange Feierabend, aber sie ließ sich Zeit. Mit Klaudia von Redwitz, die die Redaktion seit zwei Jahren leitete, war eben nicht zu spaßen. Das hatte Rena ziemlich schnell von den Kollegen gehört. Die Chefin konnte unberechenbar und gemein werden, wenn ihr was nicht paßte.

Rena legte den ersten Stapel der Fotos gerade beiseite, da öffnete sich die Tür und Frau von Redwitz sah ins Zimmer. Ohne daß es einen Anlaß dazu gab, überlegte Rena gleich, womit sie ihre Anwesenheit begründen sollte. Was sie auch sagte, die schöne Vorgesetzte durfte es nicht in den falschen Hals bekommen.

»Sie arbeiten noch?« fragte die aber nur und lächelte sogar anerkennend.

»Ja, Frau von Redwitz. Damit morgen früh alles gleich zur Hand ist.«

»Es ist gleich sieben Uhr, Rena. Machen Sie Feierabend. Haben Sie nichts vor?«

»Nein. Nein, wirklich nicht.«

Rena hatte ganz kurze Haare,

die von erdbeerfarbenen Strähnen durchzogen waren und sie wie ein Punkmädchen aussehen ließen. In ihrer Verwirrung fuhr sie sich durch die Frisur.

Klaudia entging die Verwirrung der jungen Frau nicht. Wahrscheinlich fragte Rena sich, warum sie ihr so überflüssige Fragen stellte. Sollte sie der Praktikantin einfach gestehen, wie ungern sie abends das Büro verließ, um allein in die riesige Villa ihres Mannes zu fahren? Nein, das paßte nicht zu einer Chefin.

»Gut. Dann kommen Sie mit. Wir gehen unten ins Bistro. Ich lade Sie zu einem Glas Wein ein.«

»Das… wollen Sie?« Rena schnappte nach Luft. »Natürlich, danke. Ich komme sehr gern mit.«

Klaudia von Redwitz trug ein sündteures, sehr schlichtes Kostüm. Um ihren leichtgebräunten Hals lag ein dreireihiges Perlencollier, daß vorn mit einer Brillantschließe zusammengehalten wurde. Wie man im Kollegenkreis munkelte, war sie schon immer sehr elegant und damenhaft aufgetreten. Sie galt als Dame von Welt. Und daß sie nur noch zu ihrem Vergnügen arbeitete, weil sie als Frau von Reinhard von Redwitz auf keinerlei Einkommen angewiesen war, tuschelte man auch.

In Windeseile sorgte Rena für Ordnung auf ihrem Tisch. Ob die Redwitz ihr beim Wein eine Standpauke halten wollte? Hatte sie etwas falsch gemacht?

»Hetzen Sie sich nicht«, lächelte die gnädig. »Das Bistro unten läuft uns ja nicht weg.«

Das Bistro im Parterre des Bürohauses galt allen Redaktionsmitgliedern als Luxus-Kantine oder Zufluchtsort. Hier war es angenehm ruhig, nichts störte die Atmosphäre zwischen Kerzenlicht und Espresso-Duft. Klaudia steuerte einen Ecktisch an, der Ober kam und nahm ihr den nerzgefütterten Mantel ab.

»Ich hoffe, Sie haben nichts an meiner Arbeit auszusetzen, Frau von Redwitz«, begann Rena schüchtern, nachdem sie sich mit einem Glas Weißwein zugeprostet hatten. »Das würde mich sehr unglücklich machen.«

»Unglücklich?« Klaudia lachte leise auf. »Was weiß ein junges Ding wie Sie schon vom Unglück!?« Sie kramte Zigaretten aus ihrer Tasche und wartete, bis der Ober ihr Feuer reichte. »Ich bin sogar sehr zufrieden mit Ihnen«, verriet sie nach dem ersten Zug. »Sie haben Ehrgeiz, nicht wahr? Wie lange noch und Sie nehmen auf meinem Sessel Platz?« Sie lachte auf, und strahlte dabei aber eine sympathische Wärme aus.

»Auf Ihrem Sessel? Niemals. Ich bin doch viel zu jung.«

»Die Zeit vergeht schnell, Rena. Und Sie haben das Zeug dazu, einmal meine Nachfolgerin zu werden. Es schadet nie, länger als andere zu arbeiten. Das haben Sie auch schon kapiert.« Sie zwinkerte ihr kumpelhaft zu und stieß Rena in noch größere Verwirrung.

»An einem Novemberabend wie diesem arbeitet es sich gut.«

Wieder lachte Klaudia. »So? Mich stimmt der November oft melancholisch. Außerdem ist heute mein Hochzeitstag.«

»Oh! Ich beglückwünsche Sie. Der wievielte denn?«

»Der zweite.«

»Ihr Mann wird Sie mit einer Überraschung erwarten, Frau von Redwitz«, es klang tröstlich, wenn auch unsicher.

»Mein Mann ist in Washington.«

»Es tut mir leid.«

»Ich bin es gewöhnt. Letztes Jahr um diese Zeit war er in Kuala Lumpur, das ist in Malaysia, Südos­t­asien.«

Rena war beeindruckt. Sie hob das Glas an die Lippen und nippte am Wein. »Ich kenne Ihren Mann aus dem Fernsehen. Ich find’ ihn toll.«

»Danke.« Das Danke entschlüpfte Klaudia wie ein Seufzer. »Heute ist es nicht mal kalt. Petrus hat uns zum nebligen Trübsinn wenigstens noch einige milde Tage geschenkt. Ich könnte sogar das Verdeck meines Cabrios herunterlassen und die Fahrt nach Blankenese genießen«, fuhr sie munterer fort.

»Sie haben ein Cabrio?«

»Ja, wußten Sie das nicht? Alle Kollegen beneiden mich doch darum. Mein Mann schenkte es mir zum Geburtstag. Es ist das neuste Modell. Die Automatik des Verdecks reagiert auf meine Stimme.«

»Wahnsinn!« staunte Rena.

»Wollen Sie mich begleiten?«

»Wohin? Nach Blankenese?«

»Ja. Sie können dort in die S-Bahn steigen und zurückfahren. Wo wohnen Sie?«

»In…«

»Lassen Sie nur. Wahrscheinlich reicht’s nicht für eine bessere Gegend, wie?«

Rena lächelte verlegen. »Aber ich komme gern mit. Im Cabrio über die Elbchaussee, und das im November! Wahnsinn!«

»Ich habe eine Mütze für Sie im Wagen, damit Sie sich nicht erkälten.« Klaudia winkte den Ober heran, zahlte, ließ sich in ihren Mantel helfen und steuerte schon auf den Ausgang zu.

Rena klemmte sich ihre Jacke unter den Arm und folgte ihr eilig. Dabei fragte sie sich, womit sie diese Gnade verdient hatte. War es ihr Ehrgeiz, auf den Klaudia von Redwitz aufmerksam geworden war und vor dem sie sich fürchtete? Nein, das konnte nicht sein. Ob die elegante Chefin sich womöglich einsam fühlte?

Ach, Unsinn! So eine Frau ist doch nie einsam. Die ist doch mit einem prominenten Mann verheiratet. Seit zwei Jahren sitzt sie auf dem Chefsessel und macht ihre Arbeit gut. Heute will sie den Spaß an der Fahrt im Cabrio einfach nicht allein genießen. Auch eine große Dame wie Klaudia von Redwitz ist eben nur ein Mensch.

Es wurde wirklich eine herrliche Fahrt aus der Stadt hinaus und über die Elbchaussee. Die Luft war milde, das Tempo hielt sich in Grenzen. Mit der Wollmütze auf dem Kopf spürte Rena kaum den Fahrtwind. Dafür begeisterten sie die Lichter unten am Fluß und das silbrige Geglitzer des Mondlichts auf dem Wasser.

»Wahnsinn!« lachte sie immer wieder und weil Klaudia in ihr Gelächter einstimmte, verlor sich allmählich die Scheu vor der eleganten Chefin.

»Wer erwartet Sie zu Hause, Rena?« erkundigte die sich.

»Keiner. Ich hab’ nur ein Appartement in der Nähe vom Hauptbahnhof. Das bewohn ich allein. Ich bin doch erst seit zwei Monaten in Hamburg, und die Arbeit füllt mich aus. Freunde zu finden, dazu hatte ich noch keine Zeit.«

»Mode begeistert Sie, wie?«

»Klar. Ich bin ganz verrückt nach Klamotten.« Sie sah ihre Chefin verlegen an. »Die tollsten Sachen tragen Sie aber. Sie sehen immer noch besser aus als die Models im Journal.«

Klaudia lachte herzlich. »Wollen Sie mein Hochzeitskleid sehen?«

»Ihr… Hochzeitskleid?«

»Ja, ein Modell aus Paris. Ich habe richtig in Weiß geheiratet. Das ist ja schon eine Zeit her. Das Hochzeits-Foto erschien in der Tagespresse und hing sogar einige Wochen in der Empfangshalle des Verlages aus. Der oberste Boß wollte es so, und mein Mann war sehr stolz.«

»Uii! Das kann ich mir denken. Schade, das habe ich verpaßt.«

»Na, sehen Sie! Es gibt also etwas nachzuholen. Und wenn Sie mögen, können Sie auch eine Kleinigkeit mit mir essen.«

»Sie… Sie sollen sich keine Umstände meinetwegen machen.«

»Umstände? Keinesfalls. Dafür haben wir genug Personal.«

Von nun an schwieg Rena Liebold. Ihr wurde bewußt, wie wenig sie über den Alltag der feinen Gesellschaft wußte. Natürlich hatte eine Dame wie Klaudia keine Hausfrauenpflichten. Und den schnellen Pizza-Service nahm die bestimmt nie in Anspruch. Ob es bei ihr einen richtigen Butler gab? So einen mit weißen Handschuhen und pikiertem Lächeln?

Zehn Minuten später hielt Klaudia vor einem hohen schmiedeeisernen Gitter. Wie von Geisterhand öffnete dieses Tor sich, so daß der Wagen durch den parkähnlichen Garten und zur Villa rollte. Alle unteren Fenster der riesigen Villa waren erleuchtet und hoben sich damit vom abweisend düsterem Mauerwerk ab. Ob dort ein Fest stattfand? Rena war so beeindruckt, daß sie nicht mal zu fragen wagte.

Sie zog sich nur schnell die Mütze ab, als eine Gestalt aus der Villa trat. Dieser Mann mußte zum Personal gehören, denn Klaudia überreichte ihm wortlos die Wagenschlüssel, dann deutete sie an, Rena solle ihr folgen.

In der Halle kam eine Frau mittleren Alters auf sie zu und half Klaudia aus dem Mantel. »Möchten Sie jetzt gleich oder später dinieren, gnädige Frau?«

»Später, Karla. Kommen Sie, Rena.«

Rena stutzte, denn diese Karla wollte ihr ebenfalls die Jacke abnehmen. Sie reichte sie ihr und mußte sich wieder beeilen, um Klaudia auf der Treppe nach oben zu folgen. Es ging durch einen breiten Gang, zwei exquisit eingerichtete kleine Salons und schließlich durch eine Doppeltür in einen Raum, der hoch, geräumig und hellerleuchtet war.

»Ich werd’ wahnsinnig!« hauchte Rena wieder.

Die Wände und Sitzgelegenheiten schimmerten wie champagnerfarbene Seide. Hinter der riesigen Sitzgruppe vor dem Kamin stand ein Regal aus Mahagoni, das einen idealen Abstellplatz für fremdartige Skulpturen bildete. Und dann die modernen Gemälde an der Wand, deren müde Farben für eine stilvolle Harmonie dieses Raums sorgten! Sie war begeistert, blieb staunend stehen und merkte zu spät, daß Klaudia nicht mehr da war.

Durch welche Tür war sie verschwunden? Durch die nach rechts? Rena trippelte über das alte Parkett, als könnte sie ausrutschen. Sie entschied sich für die linke Tür, tastete sich wie eine Diebin durch ein opulent ausgestattetes Boudoir und erreichte instinktiv das Ankleidezimmer der Hausherrin.

Klaudia hatte schon einige Türen eines endlosen Spiegelschranks geöffnet. »Ich habe mich noch nicht entschlossen, ob ich mein Brautkleid verändern soll. Einfache Menschen tun so was ja oder verkaufen es. Oder soll ich es in ein Museum geben?« Sie sah Rena fragend an. »Es fristet seit zwei Jahren ein tristes Dasein zwischen meinen Abendkleidern. Kommen Sie näher, Rena. Hier müßte es sein…«

Beim Anblick von soviel Luxus überrieselte die zweiundzwanzigjährige Praktikantin ein ehrfurchtsvoller Schauer nach dem anderen, als Klaudia von Redwitz plötzlich aufschrie. Sie prallte zurück, landete dann aber an der anderen Spiegelwand, bevor sie zu Boden fallen konnte.

»Sandro!« schrie sie. »Was tust du in meinem Schrank! Wer hat dir das erlaubt?«

Rena, die sich nicht erklären konnte, wem dieser Aufschrei galt, stand sofort hilfsbereit neben ihrer Chefin. Dann erst sah sie in den Schrank. Und was bemerkte sie? Zwischen Seide und Samt, Röcken und Falten schaute sie ein Kindergesicht an. Die dunklen Augen strahlten, und aus dem Mund kam ein keckes Lachen über den gelungenen Streich.

»Der Junge bringt mich noch um!« stöhnte Klaudia, während sie sich aufrichtete. »Sandro ist unmöglich. Kein Tag vergeht, ohne daß er mir einen Schrecken einjagt.«

»Das riecht hier so gut nach Parfüüüm!« Sandro kroch aus den Kleidern heraus. Seine Augen blitzten Rena schelmisch an. »Nach Parfüüüm!« wiederholte er mit gekrauster Nase.

»Du hättest darin ersticken können, Sandro!« schalt Klaudia ihn.

»Nee.«

»Doch! Widersprich nicht! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?!«

»Hab auf dich gewartet. Es war so langweilig.«

Sie griff sich an die Stirn. »Es ist zum Verrücktwerden mit diesem Kind. Noch immer kann er einige Worte nicht richtig aussprechen.«

Rena mußte den kleinen Jungen trotzdem anlächeln. Zu allerliebst sah er aus mit seinem braunen Lockenkopf, der zwischen den Abendkleidern in Unordnung geraten war. Er mochte fünf oder schon sechs sein. Und nun schaute er sie so niedlich an!

»Ist… er Ihr Sohn? Ich wußte gar nicht…«

»Natürlich nicht! Sandro ist der Sohn meines Mannes. Aus seiner ersten Ehe.« Es klang nicht gerade begeistert. »Seit unserer Hochzeit lebt er bei uns. Nachmittags kümmert sich ein Kindermädchen um ihn. Die verläßt das Haus gegen sieben Uhr, bevor wir dinieren. Dann mopst er sich, obwohl er einen Stock höher ein sehr schönes Spielzimmer hat. Und ich«, sie schüttelte verärgert den Kopf, »ich bin immer das Opfer, wenn er sich etwas einfallen läßt.«

»Und wenn dich keiner gefunden hätte?« fragte Rena ihn.

»Wenn Klaudia im Bett ist, kommt Karla und räumt ihre Kleider weg. Die findet mich dann.«

War diese Karla ihnen nicht schon unten begegnet? Sie schien das Mädchen für alles, und damit auch die Garderobiere für Klaudia von Redwitz zu sein. Welch ein herrliches Leben die Chefin doch führte! Keine lästigen Handgriffe, keine Sorgen, Luxus in Hülle und Fülle, Dienstboten für jede Kleinigkeit und dazu so ein Knirps, der ihr mit Scherzen und Überraschungen seine Liebe zeigte.

»Unsinn! Vor dem Abendessen hätten wir dich wieder gesucht, Sandro!« berichtete Klaudia gereizt. »Dein Vater besteht neuerdings darauf, daß du die Mahlzeiten auch während seiner Abwesenheit mit mir einnimmst.« Sie seufzte vernehmlich. »Sandro kommt nächstes Jahr in die Schule. Mein Mann meint, im Kindergarten verrohen seine Sitten. Ich soll dem entgegenwirken. Und das jeden Abend!«

»Kann ich doch nichts für, Klaudia.«

»Nach deiner Meinung habe ich nicht gefragt!« wurde er jetzt laut gescholten. »Ob dein Vater da ist oder nicht. An mir mußt du dich nicht schadlos halten. So, und nun verschwinde in deinem Zimmer.«

»Darf ich nicht bei dir bleiben?«

»Du siehst doch, daß ich Besuch habe.«

Sandro sah die junge Frau mit den rötlichen Strähnen im Haar bittend an. Rena fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl, weil sie ihm nicht helfen konnte und kam sich reichlich überflüssig vor.

»Aber wenn Sonntag ist, fährst du mich zu Tante Bea, nicht?«

»Das weiß ich noch nicht. Nur, wenn dein Vater anruft und es erlaubt«, gab Klaudia ungehalten zurück. Und nichts an ihr erinnerte noch an die freundliche Chefin, die Rena vor kurzem zum Wein und in ihre Villa eingeladen hatte.

»Ich habe Sie schon zu lange aufgehalten, Frau von Redwitz.«

»So ist es nicht. Der Kleine hat uns nur gestört.«

Da Sandro immer noch im Raum stand, spürte Rena, wie ungerecht er sich behandelt fühlte. »Weißt du, deine Mami wollte mir nur ihr Brautkleid zeigen. Es dauert nicht lange.«

»Sie ist doch gar nicht meine richtige Mami.«

Rena wollte ihm etwas Nettes sagen, aber Klaudias Blick traf sie wie ein Hieb.

»Wie lange es dauert, Rena, das liegt einzig und allein in meinem Ermessen!« sagte sie scharf und scheuchte den Jungen nun aus dem Ankleidezimmer, um dann mit energischem Griff die Hochzeitsrobe aus dem Schrank zu holen. Die steckte in einer Gazehülle, aber als die fiel, kam ein Traum zutage. Ein in üppige Falten gelegter Rock aus schneeweißem Organza war über und über mit Blüten aus dem gleichen Material besteckt. Die Form der Blüten wiederholte sich in einem Ornament aus Perlchen, rankte sich über das Oberteil und endete in einer kunstvollen Spitze am Ausschnitt.

»Das ist ja irrsinnig!« Rena war von dem Anblick überwältigt, aber wagte kaum den Stoff zu berühren. »Sie müssen eine herrliche Hochzeit gefeiert haben. Bestimmt sahen Sie wie eine Königin aus.«

»Und genau das war beabsichtigt!« Klaudia schien versöhnt. Sie breitete den dazugehörigen Schleier aus, dessen Saum ebenfalls mit Organzablüten benäht war. »Es war eine Hochzeit, wie sie sich jede Frau erträumt. Ein Fest, wie es sich für den Beginn einer Ehe und damit für die Erfüllung eines Traumes gehört.«

»Sicher. Eine Frau wie Sie muß sehr glücklich sein.«

»Müssen? Muß ich glücklich sein? Nun ja, Ihre Bemerkung klingt ein wenig altklug.«

Renas Worte schienen sie für Sekunden grüblerisch zu stimmen, als habe sie sich noch nie Gedanken über ihre Ehe gemacht. »Wir haben immerhin eine herrliche Hochzeitsreise unternehmen können«, meinte sie zögernd. »Mein Mann hat ungeheuer viele Verpflichtungen. Ja, und dann, zwei Wochen nach unserer Rückkehr zog Sandro zu uns. Er kam zurück in sein Elternhaus, wie sein Vater es wünschte.«

»Da war Ihr Glück perfekt!« vermutete Rena. »Man sieht ja, wie gern er sie hat.«

»Glück? Ich weiß nicht. Sandro macht sich einen Spaß daraus, mich immer wieder zu ärgern oder zu erschrecken.«

»Er bettelt um Ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung.«

»Mit fünf? Unsinn! Es kostet eben Zeit, um sich bei so einem Kerlchen Respekt zu verschaffen. Noch gelang es mir einfach nicht.«

»Kein Wunder, Sie müssen mit der sogenannten Doppelbelastung fertigwerden.«

»Ja, und das als Stiefmutter.« Klaudia lächelte mit schmalen Lippen. »Aber mein Mann wollte nicht, daß ich hier als Hausmütterchen herumsitze, weil seine erste Frau sehr unter seiner häufigen Abwesenheit gelitten hat. Als sie krank wurde, hielt man es zuerst für eine Folge der Schwermut. Es muß furchtbar für ihn gewesen sein, als sich dann herausstellte, daß sie Leukämie hatte.«

»Sie sind wenigstens gesund!« entfuhr es Rena. Es kam von Herzen und klang doch taktlos. Am liebsten hätte sie sich gleich entschuldigt. »Ihr Mann tut bestimmt alles, damit sie mit dem Kleinen zurechtkommen«, fügte sie schnell hinzu.

Klaudia sah sie durchdringend an. »Dazu fehlt ihm die Zeit. Reinhard liebt es, wenn Frauen verantwortungsvolle Posten bekleiden. Er verhalf mir deshalb zu mehr Einfluß im Verlag. Hat man Ihnen das in der Redaktion noch nicht gesteckt? Daß ich Chefin wurde, hat nicht jedem gefallen.«

Rena fühlte sich peinlich berührt. »Kein Wort hörte ich davon«, wich sie aus. »Es ist ja auch schon länger her.«

»Kann sein. Inzwischen haben die Kollegen sich eben wieder beruhigt.« Klaudia hängte das Kleid mit einem müden Seufzer zurück in den Schrank. Dann schob sie Rena sanft durchs Boudoir und in das große Wohnzimmer, um dort mit einem unterdrückten Stöhnen zu erklären: »Dieser dumme Streich von Sandro hat mir die Stimmung verdorben. Bitte, Rena«, sie suchte ihre Handtasche und entnahm ihrer Börse einen Hunderter. »Nehmen Sie sich ein Taxi. Günther wird eins rufen. Günther ist der Mann, der uns vor dem Haus entgegenkam.«

»Das ist aber nicht nötig, Frau von Redwitz.«

»Was nötig ist, entscheide ich.« Klaudia sagte es mit einem eisigen Lächeln, so daß Rena den Hunderter nahm, sich schnell bedankte und das Kaminzimmer verließ.

Günther bestellte ihr ein Taxi, half ihr in die Steppjacke und wartete, bis der Wagen mit ihr davonfuhr. Als Rena sich noch einmal umsah, ahnte sie schon, daß sie diese riesige Villa nie wieder betreten würde. Denn in der ersten Erregung über den Streich des niedlichen Lausebengels Sandro hatte Klaudia von Redwitz sich zu Geständnissen hinreißen lassen, die einer Chefin nicht anstanden. Und das würde sie Rena übelnehmen, als habe sie sie dazu veranlaßt.

Sie ließ das Taxi in der Nähe des Bahnhofes halten, zahlte und betrat ein China-Restaurant. Sie hatte einen Mordshunger. Enttäuscht stellte sie fest, daß fast jeder Tisch besetzt war.

»Wenn Sie wollen, können Sie hier Platz nehmen«, bot ihr ein Mann an einem kleinen Tisch an. Rena zögerte nicht lange. Der Gast war nicht unsympathisch, vielleicht kam es sogar zu einem Gespräch mit ihm, dann vergaß sie die deprimierende Stunde bei Klaudia von Redwitz.

Er aß geschickt mit Stäbchen, sie dagegen benutzte Gabel und Messer. Und weil er gutmütig lächelnd zusah und ihr dann Unterricht in der Handhabung der Stäbchen anbot, fanden sie schnell Kontakt.

Eine Stunde später wußte Rena, daß ihr sympathischer Tischnachbar Ralf Nolte hieß und vor zwei Tagen von einem Noteinsatz in einem Erdbebengebiet in Peru zurückgekehrt war. Von nun an dachte sie nicht mehr an die Marotten ihrer Chefin, sondern fragte dem netten Doktor die Seele aus dem Leib, bis er ihr lachend vorschlug, sich am nächsten Abend noch einmal mit ihm zu treffen, denn in drei Tagen müßte er Hamburg schon wieder verlassen.

»Noch ein Erdbeben?« fragte Rena.

Ralf sah sie lächelnd an. Etwas wie Angst stand in ihrem Blick, und noch nie hatte ihn dieser Ausdruck von Furcht in den Augen eines Menschen so angenehm berührt. Ganz klar, er gefiel ihr und sie wollte ihn mehr als einmal wiedersehen.

»Nee, ich fahr nach Kiel. Zu einem Kollegen, der dort seine Facharztausbildung macht. Will mal sehen, wie es sich da so lebt. Wir machen dann zusammen Urlaub.«

»Jetzt? Im November?«

»Mein Kollege ist ledig und muß Urlaub nehmen, wenn die Klinikleitung es bestimmt«, lachte er. »Wir werden skilaufen. In den Alpen gibt es schon Schnee.«

»Ach so.« Es klang nicht gerade begeistert. »Und dann?«

»Danach nehme ich an einem Kursus für Helikopter-Piloten teil.«

»Ich denke, Sie sind Arzt?«

»Ja, aber ein Pilotenschein hilft Menschenleben retten.«

Rena zog mit ihrem Stäbchen lange Linien auf die Tischdecke.

»Wollen Sie sich denn Ihr Leben lang zu Hilfseinsätzen einteilen lassen?«

Ralf Nolte sah die junge Frau mit den roten Strähnen im Haar schweigend an. Sie war entzückend. Er hatte wohl schon ganz vergessen, wie anregend die Gesellschaft und das Interesse einer Frau sein konnten.

»Wenn ich mal einen Menschen finde, für den es sich lohnt, Wurzeln zu schlagen, räume ich meinen Platz sofort für jüngere Kollegen«, gestand er freimütig.

Rena atmete auf. »Das beruhigt mich«, lächelte sie schelmisch. »Und nun verlange ich die Rechung. Bitte, kommen Sie nicht auf die Idee, mich einzuladen.«

»Heute nicht. Aber morgen«, antwortete er und nahm ihre Hand, die gerade nach der Brieftasche fassen wollte, fest zwischen seine.

*

Mehr als drei Jahre waren vergangen. Es gab Menschen, die dankten dem Schicksal, weil sich in dieser Zeit nichts in ihrem Leben geändert hatte. Zu diesen gehörte Beate von Redwitz erstaunlicherweise nicht. Denn vor einigen Monaten hatte sich etwas ereignet, das ihr Leben von Grund an auf den Kopf stellte.

Aber nur ganz allmählich begriff sie, daß es tatsächlich auch die Trennung von Sandro war, die sie dazu gezwungen hatte, etwas mehr aus sich und ihrem Alltag zu machen.

»Karottenkuchen«, schmunzelte sie, als sie an einem Sommersonntag in der Küche stand und aus dem Tortenrund zwölf schmale Stücke schnitt. »Karottenkuchen. Wenn der mir gelungen ist, gelingt mir alles andere auch.«

Sie hatte frischgewaschenes Haar und getuschte Wimpern. Auf ihren Lippen glänzte ein dezenter Rotton, und statt der geliebten Jeans trug sie heute ein dunkelblaues Kleid, auf dem bis zum Saum hinunter Sonnenblumen blühten. Dabei war es doch gerade Ende Juni und Rosenzeit!

Kaum war sie mit dem Tablett auf die Terrasse getreten, lächelte sie ihrem Gast Detlef Barmfeld scheu zu. »Ganz nach Ihrem Rezept, Herr Barmfeld. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.«

»Gewiß doch, Fräulein von Redwitz. Bei Ihnen schmeckt mir alles.«

Detlef Barmfeld war ein entfernter Verwandter ihrer Nachbarn, den Kösters mit den beiden Kindern Kiki und Linus. An einem lauen Frühlingsabend hatte sie ihn drüben kennengelernt. Als sich die Kösters Tage später über den nicht mehr jungen Vetter lustig machten, hatte Bea ihn in Schutz genommen. Warum trauten ihre Nachbarn dem Fünfzigjährigen nicht zu, mit seinem Bio-Gemüse draußen vor der Stadt gute Geschäfte machen zu können? Mehr aus Trotz war sie schon in der folgenden Woche zu ihm gefahren und hatte eine ganze Steige seines Grünkrams gekauft.

Detlef Barmfeld tauchte schon bald darauf bei ihr auf. Angeblich hatte er seine Hand in einer Stalltür geklemmt und konnte sie nicht bewegen. Seitdem kam er zweimal die Woche. Seine Hand konnte längst wieder zupacken, aber auf die Stunden mit Beate wollte er nicht mehr verzichten. Nur jammerte er immer über alles, was in dieser Zeit an Arbeit auf seinem Hof liegenblieb. Beate hörte ihm dann verstohlen lächelnd zu, denn im Grunde schien ihn das nicht zu stören.

»Köstlich, Fräulein von Redwitz. Ja, so soll der Kuchen sein. Er ist vollkommen.«

Beate betrachtete ihn schweigend. Er war kein schöner Mann, dazu wirkte er zu behäbig. Aber er hatte flinke und doch gütige Augen, eine tiefe, warme Stimme und volles, graues Haar. Sie fragte sich, warum er wohl nie geheiratet hatte. Aber sie behielt diese Frage für sich, denn noch mehr beschäftigte sie ein anderes Problem: Wie konnte sie ihn endlich dazu bringen, sie einfach beim Vornamen zu nennen? Es fiel ihr dann leichter, ihn nach seinem Privatleben auszuhorchen.

»Detlef«, begann sie zögernd. »Wir verstehen uns doch gut. Und ich freue mich jedesmal über Ihren Besuch. Aber…«

»Sie finden mein Gemüse zu teuer.«

Ach, was war er nur für ein Döskopp! Sie schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Sie murmelte eine Entschuldigung und eilte ins Haus.

Es war ihre Schwägerin Klaudia, die sich mit leiser Stimme meldete.

»Ist etwas mit Sandro?« fragte Beate atemlos.

»Nein, Bea. Ich liege in der Klinik.«

Der Schrecken fuhr in die Glieder. »Klaudia… doch nicht etwa? Schon wieder?«

»Doch, Bea. Ich habe wieder eine Fehlgeburt erlitten.« Die folgenden Worte erstickten in Tränen. Beate hörte ihr verzweifeltes Schluchzen und wußte sofort, was nun zu tun war.

»Detlef, ich bitte Sie um Verständnis. Ich muß sofort in die Klinik. Meine Schwägerin…«

So schnell er konnte, erhob er sich aus dem Gartenstuhl.

»Selbstverständlich bringe ich Sie hin, Beate.«

Erst, als sie schon neben ihm im Auto saß, begriff sie, daß er sie beim Vornamen genannt hatte. Sie legte die Hand auf seinen Arm und sah ihn liebevoll an.

»Danke, Detlef. Wie gut Sie zu mir sind. Es tut mir leid um unseren Nachmittag, aber Klaudia…«

»Sie ist die Frau Ihres Bruders Reinhard von Redwitz. Ich weiß. Ich habe großen Respekt vor diesem Mann.«

»Sie kennen ihn doch gar nicht«, erwiderte sie aufgebracht. »Wissen Sie, es ist bereits das zweite Mal, daß seine Frau eine Fehlgeburt erlitt und wieder hält er sich im Ausland auf. Und das, obwohl die Ärzte ihn gewarnt haben. Sie tut mir so leid, so schrecklich leid!«

»Seine Gegenwart hätte das nicht verhindern können, Beate. Erzählten Sie nicht, Ihre Schwägerin ist eine vielbeschäftigte Frau, die sich kaum Ruhe gönnt?«

»Ja«, gab sie kleinlaut zu.

Im Winter vor einem Jahr hatte Klaudia sich zu den Vorführungen der Sommerkollektionen in Paris aufgehalten. Dort hatte man sie nach Stunden voller Schmerzen in eine Klinik gebracht. Zu spät. Klaudias ungeborenem Baby hatte man nicht mehr helfen können. Und obwohl Reinhard sofort aus Oslo herbeigeeilt war und sie nach Hamburg zurückbrachte, war die Ehe danach in eine Krise geraten. Klaudia wurde mit dem Verlust ihres Babys nicht fertig, und Reinhard fand kaum Zeit, sie wieder aufzurichten. Es war überflüssig, nach dem Warum und Wie zu fragen.

Beate dachte an Sandro. Für den Kleinen, der damals gerade in die Schule gekommen war, bedeutete das Unglück eine besonders schmerzliche Erfahrung. Die Freude auf ein eigenes Kind hatte Klaudia zunächst weicher und verständnisvoller werden lassen. Sandro hatte ihre Zuneigung gespürt und erwidert. Aber damit war es mit einem Mal vorbei. Es war, als habe Klaudias Kummer, der sie unter extremen Stimmungsschwankungen leiden ließ, den Jungen völlig verstört. Sandro empfand ihr Verhalten als ungerecht und fühlte sich, als habe man ihn ohne Grund in den dunklen Keller gestoßen.

Nein, dachte Bea, nicht ins Dunkle eines Kellers. Eher in den kalten Schatten, den das sogenannte Glück Reinhards auf Sandros Kindheit warf. Und solange der Kleine bei seinem Vater leben mußte, konnte er diesem Schatten nicht entfliehen.

»Sie denken an Ihren kleinen Neffen, nicht wahr?« fragte Detlef, als er vor der Klinik hielt.

Bea nickte bekümmert. »Dieses ständige Auf und Ab zwischen seinen Eltern verwirrt ihn. Er hat außer seinem Vater und Klaudia doch nur noch das Personal.«

»Er hat Sie, seine wunderbare Tante. Ich merke doch, daß der Kleine Ihr ein und alles ist, Beate.«

»Das war einmal. Mein Bruder hat schon vor Jahren festgestellt, daß ich nicht der richtige Umgang für Sandro bin.«

Er sah sie von der Seite an. »Das soll ich glauben? Entschied sich Ihr Bruder für eine richtige Gouvernante, die das Kind streng herannahm?«

»Ja und nein. Als Sandro in sein Elternhaus zurückgekehrt war, betreute ihn nachmittags ein nettes Kindermädchen. Sie heiratete, kurz bevor er zur Schule kam. Klaudia hatte versprochen, sich seiner mehr anzunehmen. Aber das gelang ihr erst, als sie selbst ein Kind erwartete. Und wie die beiden Schwangerschaften endeten, das wissen Sie jetzt, Detlef.«

Er nickte. »Ich teile Ihre Meinung. Der Kleine war am besten bei Ihnen aufgehoben.«

Sie lächelte verlegen. »Die Eltern von Linus und Kiki sind dieser Meinung. Darum denken Sie auch so.«

»Ist es falsch, wenn ich genauso denke? Ich kenne Sie inzwischen recht gut.«

Sie sah ihn dankbar an. Seine Worte gaben ihr Kraft. Detlef Barmfeld wurde ihr zum vertrauten Freund, weil er ihre geheimsten Gedanken teilte. Vor dem Eingang der Klinik drückte sie seine Hand innig und stieg schnell aus.

»Ich komme ohne Blumen, Klaudia«, entschuldigte sie sich kurz darauf, beugte sich über das Krankenbett und umarmte ihre Schwägerin behutsam. »Mir fehlte die Zeit. Ich wollte schnell zu dir.«

»Danke, Beate.«

Ihre Blicke trafen sich. Wie immer, wenn es Klaudia erbärmlich schlechtging, vergaßen sie, wie un­überwindbar ihre Gegensätze waren. Klaudia war leichenblaß und ungeschminkt, und doch ging in ihrem Unglück eine rührende Verletzlichkeit von ihr aus. Beate hielt ihre Hand fest und wartete auf die Schilderung dieses Unglücks.

Aber Klaudia schwieg. Tränen rannen aus ihren Augen.

»Weiß Reinhard schon Bescheid?« fragte Beate zaghaft.

Da deutete Klaudia wortlos auf einen üppigen Blumenstrauß.

»Der war eine Stunde, nachdem Karla ihn telefonisch in Buenos Aires erreicht hatte, da.«

»Angerufen hat er nicht?«

Klaudia schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Er ist bestimmt gerade sehr beschäftigt«, flüsterte Beate.

»Ja. Und außerdem…« Klaudia schloß die Augen und schluckte.

»Was meinst du?«

»Es ist ihm gleichgültig, ob wir ein Kind bekommen oder nicht. Er hat doch schon eins. Sandro ist sein ganzes Glück, weil er ein guter Schüler und begeisterter kleiner Sportler ist. Reinhard ist davon überzeugt, daß aus ihm später ein erfolgreicher Mann wird. Ein kleines Baby würde unser Leben nur komplizieren, weil ich dann nicht mehr berufstätig sein könnte.« Sie schloß kurz die Augen. »Du weißt, was Reinhard von Hausmütterchen hält.«

In Beate erstickte der Trost, den sie aussprechen wollte. Klaudia hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Mit ihr hatte Reinhard eine Frau ganz nach seinen Wünschen geheiratet. Sie war tüchtig, intelligent, elegant und charmant und schmeichelte seiner Eitelkeit. Und so sollte es bleiben! Ein weiteres Kind, ein Baby, das umsorgt werden mußte, paßte nicht in dieses Bild.

»Verstehst du es wenigstens?« Klaudia hob den Blick zu ihr. »Ich wäre gern nur noch Mutter. Auch für Sandro. Wir haben einander liebgewonnen nach den ersten schweren Jahren. Ich bin doch jetzt gern mit ihm zusammen…« Sie sprach nicht weiter, weil sie aufschluchzte.

»Sandro wird deshalb Verständnis für dich aufbringen«, hörte Beate sich sagen, als sie Klaudia liebevoll über die Wange strich. »Er hat sich ja auch auf das Baby gefreut.«

»Ja. Nur diesmal wird er sich die Schuld an meinem Unglück geben! Und das will ich nicht!« Klaudias Lippen bebten. »Darum bat ich dich hierher. Du mußt zu ihm. Er war völlig verzweifelt, als der Krankenwagen kam.«

Hatte sie es nicht geahnt? Wieder war Sandro nach einer Zeit voller heiterer Hoffnung zurück in den kalten Schatten gestoßen worden.

»Du wirst doch gleich zu ihm fahren, Bea?«

Beate nickte. »Meinst du, ich soll ihn zu mir nehmen, bis du die Klinik wieder verlassen kannst?«

»Ja. Es würde ihm guttun und mich beruhigen, Bea.«

»Und Reinhard? Ob er auch so denkt?«

»Ach, Reinhard«, flüsterte Klaudia. »Alles geht immer nach seinen Wünschen. Wenn er seinen Sohn liebt, wird er einsehen, wie gut Sandro jetzt für einige Tage bei dir aufgehoben ist. Warum denkt mein Mann nur immer an sich?«

Es klang enttäuscht und trostlos. Beate sah hilflos mit an, wie Klaudia sich danach abwandte, die Schulter abweisend hochzog und die Augen schloß, als ersehne sie jetzt nichts mehr außer Ruhe.

*

Beate fuhr mit einem Taxi zur Elbchaussee. Draußen blühte alles. Es war ein herrlicher Juniabend, aber der Anblick des frischen Grüns bedeutete ihr nichts. Ihre Gedanken waren bei Klaudia, und sie spürte, wie sich ihre langjährige Eifersucht auf ihre Schwägerin in Mitgefühl verwandelte.

Klaudia war eine Ehe eingegangen, um die sie viele beneideten. Aber in Wahrheit war sie in eine Falle geraten, die sie zwang, alle ihre Hoffnungen und Wünsche nur einem Ziel unterzuordnen, dieser unerträglichen Eitelkeit ihres Mannes. Reinhard war doch gar nicht am Glück seiner Frau interessiert. Begnügte sie sich mit dem beruflichen Erfolg, strahlte von diesem Glanz etwas auf ihn ab. Er kam sich fortschrittlich und modern vor und trug sie auf Händen. Was sie wirklich ersehnte, hatte ihn nie interessiert. Und so lebte Klaudia wie eine hübsche Marionette an seiner Seite.

Ob Sandros langsam wachsende Zuneigung ihr wenigstens dabei half? Oder erstickten ihre Stimmungsschwankungen und Launen diese zaghaft wachsende Liebe eines kleinen Jungen?