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Ein romantischer, humorvoller und moderner Liebes-Roman über die Geheimnisse der Liebe, die positive Energie von To-Do-Listen und die Erkenntnis, dass wir nur glücklich werden, wenn wir unseren eigenen Träumen folgen. Das perfekte Sommer-Lesevergnügen! Abi ist sich sicher, in Joseph ihren Traummann gefunden zu haben. Mit ihm möchte sie alt werden und den Sonnenuntergang in Portsmouth beobachten. Joseph sieht das allerdings etwas anders und verlässt Abi von einem Tag auf den anderen mit der Begründung, sie seien zu verschieden. Abi ist am Boden zerstört und hofft, dass Joseph wieder zur Besinnung kommt. Als er ihr wenige Tage später allerdings eine Kiste mit ihren Sachen vor die Tür stellt, ist es amtlich: Er will nichts mehr mit ihr zu tun haben. In der Kiste findet Abi eine Bucket-List von Joseph, die sie nie zuvor gesehen hat: "Zehn Dinge, die ich vor meinem 40. Geburtstag getan haben möchte." Abi ist sich sicher: Wenn sie die Punkte auf Josephs Liste abarbeitet, wird er erkennen, dass sie die perfekte Frau für ihn ist. Dummerweise muss man ein sportbegeisterter Adrenalin-Junkie sein, um dabei zumindest ein bisschen Spaß zu haben. Surfen, mit dem Fahrrad an einem Tag um eine Insel radeln, Berge erklimmen und den höchsten Turm der Stadt besteigen? Oh Gott, denkt Abi und spürt, wie ihre Knie allein beim Gedanken daran weich werden. Doch sie gibt nicht auf und nimmt all ihren Mut zusammen. Alte und neue Freunde unterstützen sie, und so wächst Abi mit jeder kleinen und großen Herausforderung ein Stück weit mehr über sich hinaus. Sie ist mutig, verlässt ihre Komfortzone und überwindet Unsicherheiten. Als sie sich schließlich ihrer größten Angst - der Höhe - stellt, erkennt Abi, dass sie nur dann wirklich glücklich wird, wenn sie ihre eigenen Träume lebt. Und in denen spielt Joseph plötzlich gar keine Hauptrolle mehr ... »Erfrischend und romantisch und mit einer großartigen Botschaft: Wir Mädels sollten viel mehr an uns und unsere Stärken glauben.« Mhairi McFarlane, Bestseller-Autorin von "Wir in drei Worten", "Vielleicht mag ich dich morgen" und "Es muss wohl an dir liegen" Die Engländerin Anna Bell lebt mittlerweile mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Frankreich. Ihren Mann hat sie bei einer Trekking-Tour am Fuße des Mount Everest kennengelernt.
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Seitenzahl: 511
Veröffentlichungsjahr: 2016
Anna Bell
Eigentlich bist du gar nicht mein Typ
Roman
Aus dem Englischen von Silvia Kinkel
Knaur e-books
Abi weiß genau, dass Joseph ihr Traummann ist. Daher ist sie am Boden zerstört, als er sie plötzlich verlässt. Wenige Tage später fällt ihr eine Liste mit Dingen in die Hände, die Joseph bis zu seinem 40. Lebensjahr getan haben möchte. Abi ist sich sicher: Wenn ich alle Punkte für ihn abarbeite, wird er erkennen, dass ich perfekt für ihn bin.
Abi weiß nicht, dass sie sich beim Abhaken der Liste immer weiter von Joseph entfernen und über sich hinauswachsen wird. Sie lernt eine Fremdsprache, umrundet mit dem Fahrrad eine Insel und stellt sich ihrer größten Angst – der Höhe. Als Abi schließlich springt, versteht sie, dass man mutig sein muss, wenn man fliegen will. Und je näher sie dem Boden kommt, desto deutlicher sieht sie, dass dort ein ganz besonderer Mensch auf sie wartet. Einer, mit dem sie ihre eigene Lebenswunschliste schreiben wird. Einer, von dem sie dachte, er sei gar nicht ihr Typ.
Ich komme zu spät, singe ich in Gedanken und laufe eilig die Straße entlang. Heute scheint sich alles gegen mich verschworen zu haben: erst dieser Hundeausführer mit seinen außer Kontrolle geratenen Terriern an lächerlich langen Leinen, die mich um jeden Preis zum Stolpern bringen wollten, dann der Verkehr aus Portsmouth hinaus, in dem ich an jeder roten Ampel hängen blieb, und schließlich keine Parkplätze in der Nähe von Josephs Haus.
Ich versuche verzweifelt, pünktlich zu sein. Joseph kann es nicht ausstehen, wenn man sich verspätet. Es steht ganz oben auf seiner Liste von No-Gos. Er wird mir wieder erklären, dass ich früher hätte losfahren müssen, aber ich dachte wirklich, ich käme mit der Zeit hin.
Die Kitten Heels, die ich heute anhabe, sind wahrhaftig keine Hilfe. Sie gehören zu dieser gemeinen Sorte von Schuhen, die dir vorgaukeln, flach zu sein, bis du in Eile gerätst und darauf herumstöckelst wie ein lahmer Pfau. Ich hätte Killer-Wolkenkratzer-Absätze anziehen sollen – dann würden meine Beine wenigstens lang und sexy aussehen.
Endlich stehe ich vor Josephs Haus und drücke auf die Klingel. Durch die Milchglasscheibe in der Tür sehe ich seine Umrisse auf mich zukommen. Und obwohl wir schon seit einem Jahr zusammen sind, habe ich sofort Schmetterlinge im Bauch. Das muss Liebe sein.
»Ah, hallo. Endlich«, begrüßt er mich.
»Tut mir leid.« Ich recke mich und küsse ihn, was meine Verspätung hoffentlich wiedergutmacht. »Ich war beim Friseur, und dann bin ich noch schnell zu Waitrose rein, um ein Dessert zu holen. Der Verkehr war eine einzige Katastrophe, und dann noch die Parkplatzsuche …«
Ich schiebe mich an ihm vorbei, streife die Kitten Heels ab, um keine Abdrücke in seinem Parkettboden zu hinterlassen, tapse in die Küche und stelle die Tüte auf den langen Eichentisch. Als ich mich umschaue, kommt mir irgendetwas seltsam vor. Ich brauche einen Moment, aber dann weiß ich es – alles ist leer und sauber. Dabei wollte Joseph doch für uns kochen!
»Ich dachte, ich fange erst an, wenn du hier bist«, sagt er und kommt hinter mir in die Küche. Anscheinend kann er Gedanken lesen.
Er geht ans Spülbecken und wäscht sich die Hände so gründlich wie ein Chirurg vor der OP. Mein Magen atmet auf. Die Essenszubereitung steht unmittelbar bevor. Ich bin am Verhungern.
»Ich mache uns schnell ein paar Nudeln mit Soße.«
Jetzt bin ich enttäuscht. Als er sagte, er würde diesen Samstag für uns kochen, habe ich zwar nicht erwartet, dass er sich in James Martin verwandelt, mir aber doch vorgestellt, wie er liebevoll am Herd schuftet. Normalerweise gehen wir samstags in irgendein schickes Restaurant, wo die Portionen gerade groß genug sind, um eine Spitzmaus satt zu bekommen. Deshalb habe ich mich den ganzen Tag darauf gefreut, mich heute mal mit selbstgekochtem Essen vollzustopfen. An Nudeln mit Soße habe ich dabei allerdings nicht gedacht. Da Joseph ein Supermarktsnob ist, werden es frische Nudeln mit Soße von Marks & Spencer’s sein. Aber trotzdem …
Zum Glück habe ich einen Käsekuchen besorgt, das wäre sonst ein echtes Desaster.
Ich versuche, die Enttäuschung abzuschütteln, und schlinge die Arme um seine Taille. Nichts verbessert meine Laune mehr als ein Kuss und eine Umarmung. Ich schnuppere den Duft von Josephs Aftershave.
»Wie findest du meine Frisur?« Ich lehne mich nach hinten und werfe mein langes Haar zurück.
»Hast du viel abschneiden lassen?« Er blinzelt, als prüfe er, was sich verändert hat.
Vielleicht kann er es nicht so gut sehen, weil ich ihm so nah bin. Wahrscheinlich liegt es aber auch einfach daran, dass er ein typischer Mann ist und ihm nicht einmal auffallen würde, wenn ich ein neues Kleid anhätte.
»Einen guten Zentimeter«, antworte ich und schüttle meine Mähne erneut.
Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass meine Haare sehr lang sind und ein Zentimeter weniger in etwa so ist, als würde man einen Eimer voll Wasser aus dem Meer nehmen. Aber es glänzt und wippt, wie es nur nach einem Friseurbesuch möglich ist.
»Sieht gut aus«, sagt er und löst sich von mir.
Ich betrachte das als mein Stichwort, die Einkaufstüte auszupacken. Den Käsekuchen stelle ich in den Kühlschrank. Tatsächlich entdecke ich im obersten Fach Tagliatelle von Marks & Spencer’s und einen Topf mit Soße. Ich kann in meinem Freund lesen wie in einem offenen Buch.
»Möchtest du was trinken?« Er dreht sich um, und sein Blick wandert über das Weinregal.
Irgendwie ist er seltsam ruhig, und ich frage mich, ob er sauer ist, weil ich mich verspätet habe. Aber die dunklen Ringe um seine Augen verraten, dass er gestresst ist. Bestimmt hat er den ganzen Nachmittag gearbeitet. Er steht in letzter Zeit unter riesigem Druck. Ein gemütlicher Abend zu Hause wird ihn hoffentlich entspannen. Ich könnte ihm eine meiner Spezial-Rückenmassagen verpassen oder besser noch, wir nehmen – so wie im Film – in seiner freistehenden viktorianischen Wanne ein Vollbad mit viel Schaum und Kerzen um uns herum.
»Erde an Abi: ein Drink?«, fragt er noch einmal und reißt mich aus meiner Fantasie, in der er nichts als Seifenblasen trägt.
»Ja, sehr gern. Ich habe eine Flasche Chianti gekauft«, sage ich und nehme die Flasche aus der Tüte.
»Man spricht es Ki-anti aus«, artikuliert er überdeutlich.
Ich werde rot. Natürlich.
Mit dem Trockentuch, das er in der Hand hält, verpasst er mir einen Klaps auf den Po, als würde er meinen Schulmädchenfehler quittieren. Dann nimmt er mir die Flasche aus der Hand.
Bevor ich Joseph kennenlernte, dachte ich, es gäbe genau drei Sorten Wein: Rot, Weiß und Rosé. Er versucht, mich langsam zu bilden. Diesen Chianti habe ich nur gekauft, weil er irgendeinen Weinpreis gewonnen hat, aber um die Hälfte reduziert war.
»Scheint ein guter Wein zu sein«, sagt er, während er die Flasche begutachtet und dann den Korken mit diesem schicken Korkenzieher entfernt, mit dem ich keine einzige Flasche aufbekomme.
Zufrieden, dass er sie zumindest öffnet – das bedeutet nämlich, dass sie den Etikettentest bestanden hat –, setze ich mich an den Tisch.
»Ich habe nachgedacht«, sage ich in dem Versuch, seine Stimmung zu heben. »Über unseren Jahrestag nächsten Monat. Wir könnten übers Wochenende wegfahren. Aufs Land oder in ein Wellnesshotel oder in einen hübschen Ort wie Bath oder York.«
Ich versuche, es so beiläufig zu erwähnen, als sei es nichts Besonderes und nicht etwa das Einzige, woran ich seit einer Woche denke.
»Am wievielten ist das?«
»Am wievielten das ist?«, frage ich ein bisschen zu schnell und piepsig.
Ich bin entsetzt, dass er das nicht weiß. Aber Männer sind nun mal unheimlich schlecht darin, sich solche Dinge zu merken, oder?
»20. März.«
»Oh, ähm … an dem Wochenende hat meine Mum Geburtstag, und meine Schwester kommt extra her. Ich glaube, wir gehen Sonntagmittag irgendwo essen.«
»Aha.« Ich hoffe, nicht allzu enttäuscht zu klingen.
Es ist unser erster Jahrestag, und ich bin mehr als nur ein bisschen aufgeregt deswegen. Es ist die längste Beziehung, die ich je hatte, und ich wollte diesen Anlass so richtig feiern und genießen. Ich habe bereits das perfekte Geschenk für Joseph entdeckt und eine Karte mit einem Foto von uns drucken lassen.
»Ja, tut mir leid.« Er zuckt mit den Schultern.
Ich brauche einen Moment, bis ich registriere, dass er mich weder gebeten hat, ihn zum Mittagessen mit seiner Familie zu begleiten – die ich im Übrigen noch nicht kenne –, noch ein anderes Wochenende für unseren Trip vorschlägt.
Aber unbeirrt und die Warnzeichen ignorierend insistiere ich: »Und wie wäre es mit einem Tag im Wellnesscenter?«
Ich sehe uns schon in kuscheligen Bademänteln im Partnerlook. Als ich zu ihm schaue, fällt mir auf, dass er sich auf das Öffnen der Weinflasche konzentriert, als würde sein Leben davon abhängen. »Oder wir machen einfach das Übliche und gehen abends essen oder auch nur auf einen Drink …« Obwohl meine Stimme immer dünner wird, kann ich einfach nicht aufhören.
Mit einem schmatzenden Knall springt der Korken heraus, als wolle er damit die Stille noch betonen, die sich über den Raum gelegt hat. Ich sehe zu, wie Joseph mit versteinerter Miene den Wein in einen Dekanter gießt.
»Wir müssen aber nicht unbedingt etwas machen. Ist ja keine große Sache.« Hätte ich bloß nie davon angefangen.
»Abi.« Er dreht sich zu mir um und lehnt sich auf eine Weise gegen die Anrichte, die mich aus den falschen Gründen kribbelig werden lässt. »Wir müssen reden.«
Ich schaue hoch zu der überdimensionierten Uhr an der Bürowand, und sie behauptet, dass es vier Uhr ist. Ich überprüfe das sofort an meinem PC, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verguckt habe. Vier Uhr. Wie kann das sein? Ich habe es ohne Tränen durch sieben Stunden Arbeit geschafft. Okay, fast ohne Tränen. Aber das Schluchzen auf dem Klo zählt rein technisch gesehen nicht, da es während der Mittagspause geschah.
Mir ist klar, wie jämmerlich es klingen muss, dass ich froh bin, einen einzigen Arbeitstag durchzustehen – schließlich gelingt das normalen Menschen tagein, tagaus. Aber ich habe es heute zum ersten Mal ins Büro geschafft, seit Joseph vor einem Monat mit mir Schluss gemacht hat.
Zum Glück arbeite ich als Grafikdesignerin in einer quirligen Werbeagentur, und mein Chef ist fest davon überzeugt, dass es die Kreativität fördert, hin und wieder von zu Hause aus zu arbeiten. Ich kann nicht behaupten, dass es für meine während der vergangenen Wochen wirklich hilfreich war, aber ich konnte wenigstens in aller Ruhe Trübsal blasen. Schon so banale Dinge wie mich aus meinem verwaschenen Pyjama zu schälen, zu duschen und die Haare zu waschen, kam Schwerstarbeit gleich. Wie andere es mit gebrochenem Herzen jeden Tag zur Arbeit schaffen, übersteigt meine Vorstellungskraft.
Aber oh Wunder, hier bin ich, in frisch gewaschenen Klamotten und mit sauberen Haaren, und habe es sieben Stunden länger ausgehalten, als ich dachte.
Ich gebe es nur ungern zu, aber meine beste Freundin Sian hatte recht damit, dass mir der Büroalltag guttun würde. Das verrate ich ihr natürlich nicht. Sie würde es mir sonst ständig unter die Nase reiben.
Wie gern würde ich behaupten, ich sei heute aus eigenem Antrieb ins Büro gekommen, weil ich mit dem Gefühl aufwachte, über Joseph hinweg zu sein, der Liebe meines Lebens, die mich völlig unerwartet abserviert hat. Aber in Wahrheit machte mein Chef mir unmissverständlich klar, dass ich hier zu erscheinen habe, nicht nur, weil meine Arbeit – Zitat – »nachlässt«, sondern auch, weil heute in der Agentur Fototag ist. Es ist der Tag des Jahres, vor dem es mir schon unter normalen Umständen graut. Und dieses Mal sind auch noch meine Augen verquollen und rot, weil ich mir wochenlang die Seele aus dem Leib geheult habe.
»Du bist die Nächste!«, ruft Rick, mein Chef, als er an meinem Arbeitsplatz vorbeigeht.
»Großartig«, murmele ich und täusche Begeisterung vor. Ich habe den ganzen Tag Geschrei und Gebrüll aus der Lobby gehört, wodurch meine Befürchtungen nicht gerade kleiner wurden.
Rick hasst typische Unternehmensfotos. Er will nicht nur, dass unsere »Verbrecherfotos« auf der Website topaktuell sind, sondern außerdem aussehen, als sei es ein Heidenspaß, hier zu arbeiten.
Dieses Jahr hat er sich selbst übertroffen. Ich dachte erst, es sei ein verfrühter Aprilscherz, aber wie sich herausstellte, ist es ihm bitterernst. Er hat in der Lobby ein Trampolin aufstellen lassen – eines dieser Dinger, die den Garten von Leuten verschandeln, die Kinder haben. An die Wand dahinter hat er unseren Greenscreen gehängt. Die Idee ist, dass wir alle auf dem Trampolin herumhüpfen und später das Bild von einem strahlend blauen Himmel als Hintergrund eingesetzt wird.
Ich leide unter Höhenangst, und allein bei der Vorstellung, auf einem Trampolin auf und ab zu hüpfen, wird mir schwindelig.
»Komm ruhig schon mit, dann kannst du Giles noch zusehen und anfangen, sobald Seb mit ihm fertig ist.«
Ich nicke und stehe auf, um Rick in die Lobby zu folgen, die wir uns mit sechs anderen Firmen teilen. Nicht genug, dass ich es echt peinlich finde, mich vor meinen Kollegen zum Idioten zu machen, haben sich auch noch jede Menge Zaungäste eingefunden, um das Schauspiel zu bestaunen.
»Ich bin froh, dass du wieder hier bist, Abi. Tut mir leid, dass wir den formellen Weg gehen und dir einen Brief schicken mussten«, sagt Rick. Er wedelt mit der Hand, als sei es keine große Sache, dass ich ein Schreiben erhalten habe, in dem mir mitgeteilt wurde, ich hätte mich am Riemen zu reißen und in der Agentur blicken zu lassen – andernfalls würde man disziplinarische Maßnahmen ergreifen. Das hat mir eine Heidenangst eingejagt. »Du weißt ja, wie es in der Personalabteilung heutzutage läuft – die wollen alles schriftlich.«
»Ist schon okay, ehrlich. War sowieso Zeit, dass ich wieder ins Büro komme.«
Es war der schlimmste Posttag aller Zeiten, denn ich bekam nicht nur den Brief der Personalabteilung, sondern auch noch einen von meinem Vermieter, in dem er mitteilte, dass ich ab nächsten Monat mehr Miete zahlen muss. Das verschaffte mir zumindest einen zusätzlichen Anreiz, wieder ins Büro zu gehen, denn jetzt kann ich mir weniger denn je leisten, meinen Job zu verlieren.
Wir steigen die weiße Treppe hinunter, die an der Wand entlang hinunter zur Lobby verläuft, und mein Puls beginnt zu rasen, als ich meinen Kollegen Giles fröhlich auf dem Trampolin herumhüpfen sehe.
»Die Fotos werden auf der Website super aussehen«, sagt Rick. »Nur für den Fall, dass die von Spinnaker anfangen, sich für uns zu interessieren.«
Ich nicke und kann nur hoffen, dass meine Fotos sie nicht abschrecken. Unsere Agentur steht in Verhandlungen wegen des Werbematerials für die Touristenattraktion Spinnaker Tower, dem Aussichtsturm in Portsmouth, was hoffentlich das Sprungbrett ist, um weitere Aufträge der Betreibergesellschaft an Land zu ziehen.
»Das ist fantastisch. Und jetzt spring noch mal!«, ruft Seb, der wie immer die Fotos für uns macht. Ich komme unten in der Lobby an und sehe Giles beklommen zu. Mit seinen schlaksigen 1,98 Meter sieht es aus, als würde er jeden Moment die Decke berühren.
Ich klammere mich ans Ende des Treppengeländers. Wie in aller Welt soll ich auf dieses Teil steigen?
»Perfekt. Danke, Giles«, sagt Seb. Er geht hinüber zum Laptop, um seine Bilder zu begutachten. »Die sind echt super. Sieht so aus, als wärst du jetzt dran, Abi. Macht es dir etwas aus, wenn ich mir schnell einen Kaffee hole?«
»Nein, und lass dir ruhig Zeit«, antworte ich und komme mir vor, als hätte ich ein paar Minuten bis zur Exekution geschenkt bekommen.
»Das ist der Hammer«, sagt Giles, während er in seine Turnschuhe schlüpft.
»Es sah aus, als hätte es dir riesig Spaß gemacht.«
»Anweisung von Rick.«
Wir schauen hoch zu unserem geschätzten Chef, der auf das Trampolin gesprungen ist, um es selbst mal zu versuchen. Gekonnt landet er nach einem Sitzsprung auf dem Hintern, hüpft dann in die Bauch- und anschließend in die Rückenlage. Seine Show trägt nicht gerade zur Beruhigung meiner Nerven bei.
»Wie geht es dir übrigens?«, fragt Giles und blickt mich mitleidig an.
»Gut«, lüge ich.
»Schön, dass du wieder da bist und weitermachst.«
»Danke.«
»Weißt du, es ist in so einer Situation nicht gut, zu Hause herumzuhängen.«
Ich nicke, obwohl ich anderer Meinung bin. Wäre Ricks Brief nicht gewesen, hätte ich mich bis in alle Ewigkeit verkriechen können. Dank der revolutionären Erfindung namens Onlineshopping und der Möglichkeit, mir jedes erdenkliche Essen unter der Sonne an die Haustür liefern lassen zu können, bestand wirklich keine Not, mich hinauszuwagen. Seit der Trennung von Joseph hatte ich die Wohnung nur zweimal verlassen: einmal zu einem Notfallbesäufnis und das andere Mal, als ich vergessen hatte, Klopapier zu bestellen.
»Apropos, hast du am Wochenende schon etwas vor?«, fragt Giles.
»Ähm …« Ich versuche, Zeit zu schinden, bis mir eine Ausrede einfällt. »Ich werde wohl etwas mit meiner Freundin Sian unternehmen.«
»Ach so, okay. Laura und ich wollen mit ein paar meiner Freunde eine Radtour raus nach Hayling Island machen. Die Strecke ist schön flach. Falls du also Lust dazu hast – und Sian natürlich auch –, würde sich Laura über weibliche Gesellschaft freuen.«
Bestimmt sogar. Giles’ leidgeprüfte Frau wird dauernd zu den Abenteuern mit seinen Freunden mitgeschleppt. Aber davon abgesehen – mit dem Fahrrad von Portsmouth nach Hayling Island würde ich nicht einmal fahren, wenn ich in der Stimmung wäre, Bäume auszureißen.
»Oh, danke.« Ein schwaches Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. »Aber ich habe kein Fahrrad.«
»Das ist kein Problem. Einer meiner Kumpel hat einen Fahrradladen, und er würde dir für den Tag bestimmt ein gebrauchtes leihen.«
Mist! Warum habe ich nicht die Wahrheit gesagt? Nämlich, dass das letzte Fahrrad, auf dem ich gesessen habe, noch Stützräder hatte.
»Ich glaube, Sian steht nicht so auf Radfahren«, lüge ich. »Wir verzichten also lieber. Aber trotzdem danke.«
Giles steht auf. »Okay, falls du es dir anders überlegst, schick mir eine SMS.«
»Mach ich.« Ganz bestimmt nicht.
»Also«, Giles beugt sich zu mir, »was hältst du von Linz?«
Ah, Linz. Hayley, eine meiner Designerkolleginnen, ist seit ein paar Wochen in Mutterschutz, und ihre Vertretung, Linz, fing an, während ich mich im Winterschlaf befand. Ich bin ihr heute Morgen kurz begegnet und habe es seitdem vermieden, ihr noch einmal über den Weg zu laufen. Sie gehört zu der Art Mensch, die immer vergnügt und positiv drauf sind, als würden sie an einem Kaffeetropf hängen. Das würde mich schon an einem normalen Tag nerven, und in meinem derzeitigen Zustand verfüge ich nicht über die mentale Stärke, so viel Energie auszuhalten.
»Sie wirkt …« – ich überlege kurz – »… peppig.«
Giles’ Lächeln wird breiter. »So kann man es auch nennen. Sie scheint sich jedenfalls in deiner Abwesenheit ziemlich gut eingelebt zu haben.«
Als ich Giles gerade fragen will, was er damit meint, kommt Seb zu uns zurück.
»Also dann, Abi. Legen wir los«, sagt er.
Giles reckt zur Unterstützung beide Daumen, während er die Treppe hinaufeilt und ich nervös meine Uggs ausziehe.
»Spring aufs Trampolin, dann schießen wir erst mal ein paar Testfotos, damit ich das Licht prüfen kann.«
Bei ihm klingt es so einfach. Ich spüre, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn sammeln und mein Herz zu rasen beginnt.
»Bist du sicher, dass nichts passieren kann?«, frage ich und lege die Hände auf den Rand. »Ich meine, sind da nicht normalerweise Netze ringsum, damit man nicht runterfallen kann?«
»Ja, aber dann funktioniert das mit dem Greenscreen nicht, und außerdem wäre das Netz genau vor meiner Linse. Du machst das schon. Wir hatten den ganzen Tag noch keine Probleme, und falls du es doch beim Springen übertreibst, haben wir immer noch die Turnmatten.«
Ich übertreibe es bestimmt nicht.
Meine Beine sind wie Wackelpudding, aber die Angst, mich vor meinen Kollegen lächerlich zu machen, weil ich mich nicht traue, Trampolin zu springen, ist noch größer als meine Höhenangst. Mit der Anmut eines gestrandeten Wals klettere ich auf das Trampolin, finde mich auf allen vieren wieder und traue mich nicht, aufzustehen.
»Also los, hoch mit dir, damit ich das Licht testen kann.«
Ich drehe mich zu Seb um. Rick steht neben ihm, schenkt mir ein breites Grinsen, und ich weiß aus Erfahrung, dass ich aus dieser Nummer nicht mehr herauskomme. Wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde, würde er es sich zur Aufgabe machen, mich von meiner Höhenangst zu kurieren. Vermutlich würde er mich zum Basejumping auf das Dach unseres Gebäudes schleppen und mich eigenhändig hinabstoßen – oder etwas Ähnliches.
Langsam stelle ich mich auf die Füße und sage mir, wenn kleine Kinder Trampolin springen können, dann schaffe ich das auch.
»Perfekt!«, ruft Seb von seinem Laptop herüber. »Sag, wenn du bereit bist.«
Ich erhasche einen Blick auf Rick, der mich gespannt ansieht. Aus Angst, dass er mein Geheimnis erahnt, fange ich an zu hüpfen. Ich spüre, wie ich auf wundersame Weise vom Boden des Trampolins abhebe. Nur ein paar Zentimeter, aber ich tue es.
Meine Beinmuskeln sind steif wegen der mangelnden Bewegung in letzter Zeit, und meine Bauchspeckröllchen wabbeln über dem Bund meiner engen Jeans.
»Versuch die Arme hochzuhalten, als würdest du in die Luft boxen«, sagt Rick, macht es vor und bringt mich damit fast aus dem Gleichgewicht. »Du siehst nämlich gerade aus, als würdest du dich für einen Sturz wappnen.«
Genau das tue ich auch.
Vorsichtig probiere ich ein paar Sprünge. Aber je mehr ich mich bemühe, Arme und Beine zu koordinieren, desto stärker verzieht sich mein Gesicht auf eine Weise, die mich vermutlich aussehen lässt, als hätte ich Verstopfung.
»Versuch an etwas zu denken, das dich glücklich macht«, drängt Seb.
Sofort sehe ich Joseph vor mir, wie er in meinem Bett liegt – eine Woche bevor er sich von mir getrennt hat. Er zog meinen nackten Körper in eine kuschelige Umarmung, strich mein langes, vom Liegen zerzaustes Haar glatt und fuhr dann mit den Fingerspitzen meine Arme hinunter. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich und zufrieden wie in diesem Moment. Deshalb traf es mich ja auch wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als er eine Woche später Schluss machte.
Das Lächeln weicht aus meinem Gesicht, und die aufsteigenden Tränen stechen mir in die Augen. Ich kann unmöglich hier weinen, schon gar nicht vor meinem Chef und wenn alles mit der Kamera festgehalten wird.
»Das ist es, das nenne ich Springen«, feuert Rick mich an.
Ich wage nicht, mir vorzustellen, wie ich aussehe. Zum Glück habe ich meinen weiten Rollkragenpulli angezogen. Für den habe ich mich morgens entschieden, um die paar Extrapfunde zu kaschieren, die während meines Winterschlafs ihren Weg auf meine Hüften gefunden haben. Und der große Kragen verdeckt jetzt hoffentlich auch meine Brust. Da ich nicht vorgewarnt war, habe ich meine Brüste nicht in einem geeigneten Sport-BH verpackt, und jetzt hüpfen sie bei jedem Sprung mit.
»Okay!«, ruft Seb. »Du kannst aufhören.«
Ich bin so erleichtert, dass die Tortur vorbei ist und ich es überlebt habe, dass ich, ohne zu überlegen, die Beine durchstrecke und dann nur noch merke, wie ich durch den Schwung nach vorn stolpere. Ich kippe bedrohlich auf den Rand zu und sehe mich schon auf der Nase liegen.
»Hoppla«, sagt Rick, läuft auf die Matte und hebt die Arme, um mich abzufangen.
Es gelingt ihm, mich zu bremsen, bevor ich auf ihm lande. Gott, wäre das peinlich gewesen.
Aber … oh Mist, die Hände meines Chefs liegen schön geparkt auf meinen Brüsten. Sie umfassen meine 75-C-Körbchen, und nur das verhindert, dass ich auf ihn falle. Ich versuche, mich nach hinten zu drücken, befinde mich jedoch derartig in Schieflage, dass ich mich dadurch nur noch näher an ihn heranschiebe und meine Brüste fester in seine Hände presse.
Warum nimmt er seine Hände nicht einfach weg? Als würde ihm gar nicht auffallen, wo sie sind. Er packt so fest zu, dass ich mir vorkomme wie in einem von Madonnas Spitz-BHs.
»Alles okay?«, fragt er. »Das war ja eine richtige Vollbremsung.«
»Ähm, ja, aber es wäre besser, wenn … vielleicht …« Deine Pfoten nicht auf meinen Titten liegen würden, will ich schreien, aber das kann ich zu meinem Chef schlecht sagen. »Wenn ich vielleicht … ein bisschen aufrechter stehen würde.«
Ricks Blick wandert zu seinen Händen, und ihm fallen vor Entsetzen fast die Augen aus dem Kopf.
»Huch!« Er stößt mich mit solcher Wucht nach hinten, dass ich mit einem kleinen Hüpfer auf dem Hintern lande.
Seine Hände sind immer noch geformt wie zwei Körbchen, und er scheint genauso entsetzt wie ich über das, was gerade passiert ist.
»Danke, dass du mich aufgefangen hast«, murmele ich verlegen. Ich rutsche vom Trampolin hinunter und will nur noch von Rick wegkommen.
»K… keine Ursache«, stottert er, nimmt endlich die Hände runter und stürmt die Treppe hinauf.
Sobald sich meine Füße wieder an festen Firmenboden gewöhnt haben, gehe ich hinüber zu Seb, der so in seinen Laptop vertieft ist, dass er den Titten-Zwischenfall gar nicht mitbekommen hat.
»Sie sind gar nicht übel«, sagt er.
Ich schiele auf die Vorschaubilder und fahre entsetzt zusammen.
»Aber sie sind auch nicht gut«, erwidere ich.
Ich kann nicht glauben, dass ich das bin, da auf dem Bildschirm. Ich erkenne mich kaum wieder. Um die Augen habe ich dunkle Ringe, und mein dunkelbraunes, ellbogenlanges Haar fliegt stumpf und fusselig hinter meinem Kopf hoch. Ich sehe aus, als hätte ich den Finger in die Steckdose gesteckt. Der schwarze Pulli und die Jeans, die meine Pfunde kaschieren sollen, sind nicht schmeichelhaft, sondern altbacken. Unterm Strich sehe ich aus, als hätte ich die Nacht auf einem Gothic-Festival durchgemacht.
»Es ist nicht ganz so gut wie das Foto vom letzten Jahr«, sagt Seb diplomatisch. »Aber es ist auch nicht das Schlimmste, was ich heute gesehen habe.«
Ich betrachte die Vorschaubilder noch einmal, hoffe, wenigstens ein gutes zu finden, aber alle sehen aus, als würde ich für eine Rolle in einem Zombiefilm vorsprechen.
»Keine Sorge, nächstes Jahr werden wir etwas genauso Lustiges machen«, sagt Seb.
»Dann habe ich ja etwas, worauf ich mich freuen kann«, erwidere ich sarkastisch.
Er lächelt mir zu und geht zu seinem nächsten Opfer, der Büroleiterin Pat. Obwohl sie letztes Jahr sechzig geworden ist, zeigt sie im Gegensatz zu mir keine Anzeichen von Angst. Sie legt Schuhe und Brille ab und klettert bereitwillig an Bord. Ich sehe zu, wie sie ihre Testsprünge absolviert und dabei elegant in die Höhe steigt.
Ich werde dieses Jahr zweifellos den Preis für das schlimmste Foto absahnen.
Ich streife meine Stiefel wieder über und gehe langsam die Treppe hoch und zu meinem Schreibtisch. Ich bin nicht in der Stimmung weiterzuarbeiten, also schalte ich den Computer aus. Es ist Freitag und fast Feierabendzeit.
»Wie lief es mit deinen Fotos?«, fragt Fran, die an dem Arbeitsplatz mir gegenüber sitzt. Ich hatte gehofft, mich unbemerkt vorbeischleichen zu können.
»Hätten besser sein können. Und bei dir?«
»Ganz okay«, sagt sie, steht auf und nimmt ihre Kaffeetasse vom Tisch. »Vor allem, da ich nicht auf diesem verdammten Trampolin stehen musste.«
»Wie hast du das denn geschafft?«
Hätte man etwa die Wahl gehabt?
Sie beugt sich zu mir. »Vielleicht habe ich Seb eine kleine Notlüge erzählt.«
»Natürlich …« Womöglich kann ich von ihr ja lernen, wie ich mich nächstes Jahr aus der Affäre ziehe.
»Ich habe ihm gesagt, ich sei im zweiten Monat schwanger.«
»Du hast was?« Ich musste mich verhört haben.
»Ich habe Seb gesagt, dass ich ein Kind erwarte und Hüpfen dann nicht ratsam sei.« Sie zuckt mit den Schultern, als sei absolut nichts dabei, im Job mal eben ein Baby vorzuschwindeln.
»Und wenn er es Rick sagt?«
»Ich habe ihn gebeten, es für sich zu behalten, da ich die kritischen ersten drei Monate abwarten wolle, bevor ich es bekanntmache. Und wenn ich ihn das nächste Mal sehe, erzähle ich ihm einfach, der Test habe ein falsches Ergebnis angezeigt oder ich hätte eine Fehlgeburt gehabt.«
Ich ziehe hörbar die Luft ein.
»Als ich Linz herumhüpfen sah wie einen übermütigen Affen, war mir klar: Das mache ich auf keinen Fall. Wusstest du, dass sie nicht einmal einen BH anhat?« Fran schüttelt sich angewidert.
»Wie nuttig«, sage ich und finde es irgendwie paradox, dass Fran ausgerechnet einen fehlenden BH als den verstörenderen Teil dieses Gesprächs betrachtet. »So, ich muss dann mal los.«
»Okay, ich wünsch dir ein schönes Wochenende!«
»Ich dir auch«, antworte ich und verlasse das Gebäude fluchtartig über den hinteren Notausgang. Dieses Trampolin will ich nie wieder sehen.
Die frische Luft schlägt mir entgegen, und meine Gedanken wandern zu den Fotos, die ich gerade gesehen habe. Ich wusste, dass die vergangenen Wochen meiner Psyche ganz schön zugesetzt haben, aber mir war bisher nicht klar gewesen, dass sie auch an meiner Physis Spuren hinterließen.
Ich beeile mich, nach Hause zu kommen, und verfluche unterwegs Joseph und sein »Ich glaube nicht, dass wir die gleichen Dinge vom Leben wollen«. Mit diesen Worten hat er unsere Beziehung beendet. Bis zu dem Moment war ich ein geistig und körperlich normales Individuum. Eines, das morgens aufstehen konnte, ohne beim Anblick der Cornflakespackung, auf der seine Fingerabdrücke waren, in Tränen auszubrechen.
Vier Wochen ist es jetzt her, und ich komme einfach nicht über ihn hinweg. Bekanntlich wächst die Zuneigung mit der Entfernung, und ich vermisse ihn von Tag zu Tag mehr.
Die Stufen hoch zum Eingang des Mietshauses, in dem ich wohne, nehme ich im Eilschritt. Normalerweise würde ich mir einen Blick auf den baumgesäumten Park und das dahinter liegende Meeresufer gönnen, aber nicht heute. Ich will so schnell wie möglich meinen Zufluchtsort erreichen.
Kaum habe ich die Wohnungstür aufgeschlossen, schlägt mir ein fieser Geruch entgegen. Eine muffige Mischung aus abgestandenem Wein und chinesischem Essen.
Ich gehe ins Wohnzimmer, und es fühlt sich an, als würde ich dieses Zimmer zum ersten Mal sehen. Dort sieht es aus, als hätte man einen Teenager zum ersten Mal allein zu Hause gelassen. Überall liegen Take-away-Verpackungen, Weinflaschen und halbleere Chipstüten herum. Es ist schwer zu sagen, wo das Wohnzimmer aufhört und der Küchenbereich anfängt. Ich verharre im Türrahmen und rümpfe die Nase. Wie konnte ich so leben?
Als mein Blick in den Spiegel fällt, sehe ich, dass nicht nur meine Wohnung in einem katastrophalen Zustand ist – ich bin es auch.
Das helle Licht beim Fotoshooting mag meine Augenringe ja noch betont haben, aber sie sind definitiv da. Ich fahre mir mit der Hand durch das stumpfe Haar. Ich blase meine Wangen auf und drücke auf die Tränensäcke unter meinen Augen, aber es verändert sich nichts. Alles, was ich im Spiegel sehe, ist die Frau, die Joseph abserviert hat.
Ich habe mir verzweifelt gewünscht, dass er seinen Irrtum erkennt und zu mir zurückkommt, aber was in aller Welt würde er von mir und der Wohnung denken, wenn er das hier sehen könnte?
Und plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe.
Ich gehe in die Küche und ziehe die Schere aus dem Messerblock. Dann halte ich meine Haare hoch, als wolle ich sie zu einem lockeren Pferdeschwanz binden. Nachdem ich mich vor dem Spiegel in Position gebracht habe, hole ich tief Luft, hebe die Schere ans Haar und schneide. Als die Scherenblätter mit einem leisen Quietschen die Haare durchtrennen, zucke ich zusammen. Aber es dauert nur eine Sekunde, und dann halte ich zwanzig Zentimeter meiner Haare in der Hand.
Die Erkenntnis, dass ich die Kontrolle über mein Leben nach der Trennung zurückgewinnen muss, durchflutet mich. Schließlich wird es schwer genug sein, Joseph zu überzeugen, zu mir zurückzukommen, da brauche ich nicht noch mehr Hindernisse. Ich betrachte die Haare in meiner Hand und lache. Das ist vermutlich das Verrückteste, das ich je getan habe. Und doch scheint es die vernünftigste Entscheidung zu sein, die ich seit Wochen getroffen habe.
Heute Morgen mit neuer Frisur aufzuwachen war dann doch ein Schock. Mein ganzes Leben hatte ich lange Haare. Okay, mit einer Ausnahme: Als meine Schwester Jill ihren Puppenfrisierkopf irgendwann leid geworden war, schnitt sie stattdessen mir die Haare. Aber seitdem hing mein Haar immer als glänzende Mähne bis zum Hintern. Jetzt ist es gerade noch lang genug für einen Pferdeschwanz.
Gestern hatte es etwas von einer symbolischen Handlung – die toten Enden meiner Haare abschneiden, als würde ich die toten Enden meines Lebens abschneiden. Doch leider hatte ich die Konsequenzen für mein Aussehen nicht bedacht.
Zum Glück ist Samstag, und mir bleibt noch Zeit, um es in Ordnung zu bringen. Ich ergattere den letzten freien Termin bei meiner Friseurin und verstecke meinen zerrupften Bob an diesem frostigen Märztag ganz legitim unter einer Beanie-Mütze.
»Hi, Abi«, begrüßt mich Carly, meine Friseurin. »Du bist eigentlich noch gar nicht fällig zum Nachschneiden, oder?«
»Nein, aber ich, äh, brauchte eine kleine Veränderung.«
Sie verpasst mir einen Umhang, und ich folge ihr zu einem gemütlichen schwarzen Stuhl.
Das letzte Mal war ich an dem Wochenende hier, bevor Joseph mit mir Schluss machte. Ich komme mir blöd vor bei dem Gedanken, dass ich auf demselben Stuhl gesessen und Carly von meinem tollen Freund vorgeschwärmt habe. Und nur Stunden später beendet er unsere Beziehung.
Sie zieht mir die Mütze vom Kopf und stößt einen leisen Schrei aus.
»Was zum Teufel ist passiert?«, fragt sie, nimmt ein Büschel nach dem anderen in die Hand und lässt es wieder fallen.
»Ich brauchte eine Veränderung«, wiederhole ich und komme mir vor wie eine kaputte Schallplatte.
»Das warst du selbst?«, fragt sie ungläubig.
»Ja.«
»Und du warst nüchtern?«
»Ja«, bestätige ich verlegen.
Sie betrachtet mich im Spiegel, als suche sie in meinen Augen nach einer Antwort.
»Mit deinem Freund ist Schluss«, vermutet sie und atmet hörbar ein.
Ich kaue auf meinen Lippen herum und versuche, die Tränen zurückzuhalten.
»Na ja, mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das schon hin, dass du heißer aussiehst denn je. Weißt du, Bobs liegen voll im Trend.« Sie lächelt, und ich spüre, dass der Drang, loszuheulen, nachlässt. »Wenn wir vorn ein bisschen wegnehmen, um Form reinzubringen, und es dann noch leicht anstufen, wird es richtig gut aussehen. Ich bin nur enttäuscht, dass ich nicht den ersten Schnitt machen durfte. Da entscheidest du dich einmal zu einer Radikalkur, und dann nimmst du mir den Spaß daran.«
»Tut mir leid.« Ich lächle sie an.
»Okay, lass uns zum Waschbecken gehen und anfangen. Ich bin so aufgeregt! Du wirst umwerfend aussehen!«
Nach der scheinbar schnellsten Haarwäsche der Welt – dank der fünfundsiebzigprozentigen Reduzierung meiner Haare – macht sich Carly an die Arbeit. Sie nimmt einzelne Strähnen zwischen Mittel- und Zeigefinger und schneidet – wie ich finde, ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass gar nicht mehr so viel da ist. Mit jedem Schnitt schlägt mein Herz schneller. Erst als sie anfängt zu föhnen und die Frisur langsam Gestalt annimmt, entspanne ich mich.
Der Bob umrahmt mein Gesicht perfekt, und ich erkenne die Person im Spiegel kaum wieder. Okay, dank der tellergroßen Ringe um die Augen weiß ich, dass ich es bin. Aber ich sehe anders aus. Ich sehe gut aus. Tatsächlich sehe ich verdammt gut aus. Ob es Joseph gefallen würde?
Nein, nein, nein. Ich schüttle den Kopf und bringe Carly dadurch zum Fluchen, weil sie mir beinahe vorn ein Stück herausgeschnitten hätte. Ich entschuldige mich und versuche, nicht mehr an Joseph zu denken. Wenigstens heute nicht.
Ich bin so darauf konzentriert, mir meinen Ex aus dem Kopf zu schlagen, dass ich gar nicht mitbekomme, wie Carly meiner Frisur den letzten Schliff verpasst.
»Tadaa!«, verkündet sie schließlich, nimmt einen runden Handspiegel und hält ihn so, dass ich meinen Hinterkopf sehen kann.
»Das ist der Hammer!«, entfährt es mir. Sie muss irgendetwas in mein Haar gegeben haben, denn es schimmert und glänzt wie Schokoladenfondue.
»Steht dir echt gut. Du hättest mir schon vor Jahren erlauben sollen, dir die Haare abzuschneiden.«
Ich hebe die Hand an den Kopf und ziehe sie sofort wieder zurück, um die Frisur nur ja nicht zu ruinieren.
»Ich kann nicht glauben, dass ich das bin«, flüstere ich.
»Du siehst umwerfend aus«, sagt Carly. »Ich hoffe, du hast heute Abend etwas Tolles vor.«
»Weiß ich noch nicht.«
»Solltest du aber.«
Sie zieht meinen Stuhl zurück, ich stehe auf, folge ihr zur Kasse, bezahle und bedanke mich beim Hinausgehen überschwänglich.
Meine Mütze stopfe ich in die Tasche – auf gar keinen Fall werde ich die jetzt aufsetzen, und wenn mir die Ohren abfrieren.
Mit federnden Schritten gehe ich die Southsea High Street hinunter zu meiner Verabredung mit Sian und merke auf einmal, dass ich Fremde anlächle. Von der ungewohnten Bewegung beginnen meine Wangenmuskeln zu schmerzen, aber das ist mir egal. Zum ersten Mal seit Wochen bin ich glücklich. Als hätte ich einen Blick auf mein altes Selbst erhascht.
In einiger Entfernung entdecke ich Sian. Sie steht vor dem Kaufhaus, wo wir uns verabredet haben. Als ich mich ihr nähere, werde ich nervös und bekomme Zweifel wegen der neuen Frisur. Was, wenn es zu krass ist? Sicher, Carly meinte, ihr gefällt es, aber kann man einer Friseurin trauen, die zeitweise mit einem pinkfarbenen Bob auf der einen Kopfhälfte und einem kahl geschorenen Schädel auf der anderen herumgelaufen ist?
Noch hat Sian mich nicht bemerkt, sie ist mit ihrem Handy beschäftigt. Ich bleibe direkt vor ihr stehen. Sie blickt kurz hoch, sagt jedoch nichts und richtet ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf das Handy.
Hat mich die Zeit, in der ich mich in meiner Wohnung verkrochen habe, etwa unsichtbar gemacht? Ich warte.
Sie schaut wieder hoch, dieses Mal mit einem Anflug von Verärgerung in den Augen. Doch dann klappt ihr der Unterkiefer herunter.
»Oh mein Gott. Abi!«
»Hi«, sage ich lachend. Es passiert nicht oft, dass ich meine Freundin schocke.
»Ich kann nicht glauben, dass du es bist! Was ist denn mit deinen Haaren passiert?«
Verlegen streiche ich eine Strähne hinters Ohr.
»Wie findest du es?«, frage ich und halte den Atem an.
»Zu behaupten, dass es ganz okay aussieht, wäre gelogen«, antwortet sie, und ich bin enttäuscht. »Es sieht super aus! Es steht dir unheimlich gut. Wow.«
Ich sehe mein Spiegelbild im Schaufenster und kann es selbst kaum glauben.
»Du bist eine ganz andere Abi als das verheulte Etwas, von dem ich mich Donnerstagabend verabschiedet habe«, sagt sie kopfschüttelnd und hat immer noch den Mund offen stehen. »Du siehst umwerfend aus.«
»Danke. Tut gut, nicht gesagt zu bekommen, dass ich scheiße aussehe.«
Das habe ich in letzter Zeit so oft von ihr gehört, dass es beinahe zu ihrem Slogan geworden ist.
»Sollen wir einen Kaffee trinken gehen?«, frage ich.
»Oh nein, wir gehen shoppen. Haare wie diese verdienen neue Klamotten.«
»Ich weiß nicht …« Ich tätschle meinen Bauch. Eigentlich muss ich erst meine Trennungspfunde loswerden, bevor ich mir neue Sachen kaufe.
»Unsinn. Komm schon.«
Sian dreht sich um, spaziert ins Kaufhaus und steuert schnurstracks auf die Abteilung Damenbekleidung zu. Als sei sie auf einer Mission, kämmt sie die Kleiderständer durch. Sie hält das eine oder andere Kleid in meine Richtung, rümpft die Nase und hängt es wieder weg.
»Also, was ist passiert?«, fragt sie und fängt an, Kleidungsstücke auf ihrem Arm zu stapeln. »Ich versuche seit Wochen, dich aus dem Haus zu locken, und plötzlich bist du nicht nur bereit, dich mit mir in der Stadt zu treffen, sondern siehst auch noch aus wie ein Model.«
»Ha, ein Model, das jede Menge Retusche braucht«, erwidere ich und schüttle mich bei der Erinnerung an das Fotoshooting vom Vortag.
Sian schaut mich erwartungsvoll an, als hätte ich ihre Frage noch nicht beantwortet.
»Als im Büro die Fotos geschossen wurden, war ich total mies drauf, und genauso sehe ich auf den Bildern aus. Und als ich nach Hause kam, habe ich gesehen, in was für einem katastrophalen Zustand meine Wohnung war. Und da wusste ich, dass es so nicht weitergehen kann. Also habe ich meine Haare abgeschnitten und den Rest des Abends die Wohnung geputzt.«
»Wow, dann können wir also das Warnschild ›Achtung biologischer Gefahrenstoff‹ von deiner Tür nehmen?«
»Sehr witzig.«
»Ich bin jedenfalls froh, denn ich wollte schon mit Gummihandschuhen und einer Flasche Cillit Bang vorbeikommen.«
Das wäre ein echter Freundschaftsbeweis gewesen, denn die Putzaktion von letzter Nacht hätte ich meinem schlimmsten Feind nicht gewünscht.
Sie nimmt noch ein Kleid, das gegen das Warenkennzeichnungsgesetz verstößt, da es so kurz ist, dass es auf ihrem Arm wie ein Top aussieht.
»Probier die hier mal an«, sagt sie und reicht mir den Kleiderstoß.
Ich gehe damit zur Umkleidekabine und schaffe es, das sich als Kleid ausgebende Top unterwegs zu verlieren. Nicht einmal Sians Überredungskünste bringen mich und meine baumstammdicken Oberschenkel in dieses Teil.
Ich probiere das erste Kleid an und betrachte mich einen Moment im Spiegel, bevor ich den Vorhang aufziehe.
»Sieht ganz gut aus«, sagt sie. »Aber nimm mal ein anderes.«
Ich gehorche, und nachdem ich ein metallicfarbenes, knallenges Minikleid aussortiert habe – nie im Leben –, entscheide ich mich für ein kurzes, tailliertes Kleid mit ausgestelltem Rock in Stahlblau. Das kaschiert meinen Hintern, und der weite Rock versteckt meine Oberschenkel.
»Das ist es«, sagt Sian, noch bevor ich aus der Kabine getreten bin. »Das ist perfekt, um darin heute Abend auf ein paar Drinks auszugehen.«
»Heute Abend? Ich weiß nicht …« Ich ziehe den Vorhang wieder hinter mir zu und schlüpfe aus dem Kleid.
»Mit dem Kleid, der neuen Frisur und einer Flasche Wein wirst du dich sofort anders fühlen. Wir gehen erst einmal zu dir und hören ein bisschen Musik, um dich in Stimmung zu bringen.«
Skeptisch schlüpfe ich wieder in meine Jeans und den Pulli.
Ich bezahle das Kleid, wir verlassen das Geschäft und gehen in Richtung meiner Wohnung.
»Sieh dir nur an, welchen Unterschied achtundvierzig Stunden machen«, sagt Sian, während wir uns von der High Street entfernen und die Geschäfte den Immobilienmaklern und Restaurants weichen.
»Ich weiß. Ich fühle mich auch wieder ein bisschen mehr wie die alte Abi.«
»Das ist gut. Ich habe sie nämlich vermisst.«
Je näher wir meiner Wohnung kommen, desto näher sind wir auch dem Meer und dem schneidenden Wind, der hier pfeift. Die Sonne geht bald unter, und es wird kühl. Ich ziehe meinen Mantel fester um mich, und Sian hakt sich bei mir ein.
»Bedeuten all diese Veränderungen, dass du über Joseph hinweg bist?«
»Das nicht gerade, aber es hat keinen Sinn, noch länger in der Wohnung zu hocken und Trübsal zu blasen. Mein Körpergewicht an Chips in mich hineinzustopfen bringt ihn mir auch nicht wieder.«
»Ein neuer Haarschnitt schon?«
Ich lächle und schaue starr nach vorn auf die Straße. Sian kennt mich einfach zu gut.
»Na ja, es sieht zumindest besser aus als Haare, die so fettig sind, dass man Pommes darin frittieren kann.«
»Du willst ihn also immer noch zurück?«
»Unbedingt. Er ist der Richtige.«
Sie antwortet nicht, aber ich merke ihr an, dass es sie juckt, etwas dazu zu sagen.
Ich bin nicht die Einzige, die sich in den vergangenen Wochen anders als normal verhalten hat. Sian ist einer der offenherzigsten Menschen, die ich kenne, aber seit Joseph mich verlassen hat, ist sie ungewöhnlich still.
Aus Gründen, die mir verschlossen bleiben, war sie nie sein größter Fan. Trotzdem hat sie seit unserer Trennung kein böses Wort über ihn verloren. Natürlich kam sie mit dem üblichen »Wenn er nicht erkennt, wie wunderbar du bist, dann hat er dich nicht verdient« und »Wer braucht schon einen Mann, um glücklich zu sein«, aber sie wurde nie persönlich.
»Ich weiß, dass du ihn nicht für den Richtigen hältst«, sage ich. »Aber ich bin davon überzeugt, und das wird sich so schnell nicht ändern.«
Sian seufzt.
»Du kannst mir ruhig sagen, was du denkst.« Ich bleibe stehen und ziehe meinen Arm weg. Dann schließe ich die Augen, spanne meinen Körper an und warte auf das, was jetzt kommt.
»Es ist nur …« Sie zögert. »Ich hatte nie den Eindruck, dass er dich sehr liebt.«
»Mich nicht sehr liebt? Er hat schließlich schon beim zweiten Date darauf bestanden, dass wir ein Paar sind«, erwidere ich und bin für einen Moment baff. Von allen Männern, mit denen ich zusammen gewesen bin, war er der verbindlichste – er hat fröhlich mit dem L-Wort um sich geworfen und mich überall als seine Freundin vorgestellt.
Joseph ist das genaue Gegenteil von seinem besten Freund Marcus, der schon mehr Frauen hatte als ich warme Mahlzeiten. Marcus durchpflügt die Online-Dating-Portale, und die Mädels können froh sein, wenn sie am nächsten Morgen noch Frühstück bekommen. Joseph dagegen ist so monogam, wie man nur sein kann.
»Liebt mich nicht so sehr …«, wiederhole ich, dieses Mal mit einem Anflug von Lachen in der Stimme und kopfschüttelnd. »Wie kommst du nur darauf?«
»Na ja, ihr wart fast ein Jahr zusammen und habt nie Zukunftspläne gemacht. Es gab keinen gemeinsamen Urlaub, zur Hochzeit eines Freundes hat er seine Schwester mitgenommen, und er hat dich nie seiner Familie vorgestellt.«
Ich stoße einen kehligen Laut aus und versuche, die Tränen zurückzuhalten. All das ist mir selbst schon durch den Kopf gegangen. Aber es jemand anderen laut aussprechen zu hören, ist etwas anderes. Das ist das Problem, wenn man eine beste Freundin hat, der man alles erzählt – sie kann dieses Wissen benutzen, um dir später damit weh zu tun.
In den vergangenen Wochen habe ich nach plausiblen Gründen für Josephs seltsames Verhalten gesucht. Wir haben nie Pläne gemacht, zusammenzuziehen. Joseph war gern in meiner Wohnung mit Meerblick und hätte nicht gewollt, dass ich sie aufgebe. Und obwohl es finanziell gesehen ein Geschenk des Himmels für mich gewesen wäre, in sein Dreizimmerhaus zu ziehen, hätte ich dann ewig bis ins Büro gebraucht.
Was die Hochzeit anging, so war es sinnvoller, seine Schwester mitzunehmen, da sie seine Freunde von der Uni schon oft gesehen hatte, wohingegen ich ihnen nur einmal flüchtig begegnet war.
Und nach dem, was Joseph mir über seine Familie erzählt hat, tat er mir sogar einen Gefallen, mich ihr nicht vorzustellen. Joseph sagte, sie würden dann erwarten, dass wir ständig vorbeikämen, und seine Mutter würde mich ins Ballett oder in die Oper schleppen wollen, dabei wolle er mich doch ganz für sich allein haben. Wenn das kein Beweis war, dass er mich liebte!
»Das sind Ausnahmen von der Regel«, sage ich und weiß, dass Sian es nie verstehen wird. »Davon abgesehen hat er mich oft sehr romantisch ausgeführt.«
Sians Lippen bleiben geschürzt.
»Komm schon. Wir waren im Theater, sind schick essen gegangen und haben uns historische Denkmäler angesehen.«
»Ich würde das nicht romantisch nennen.« Sie verdreht die Augen.
»Natürlich war es das. Du, Miss Eisklotz, verstehst das natürlich nicht, weil du keine romantische Ader hast.«
»Okay, ich gebe ja zu, dass ich nicht auf dieses Zeug stehe, aber mal ehrlich, war das alles denn wirklich romantisch? Ich meine, es wirkte immer so klischeehaft, und bevor du mit ihm zusammen warst, hätte ich nie gedacht, dass du genau diese Dinge Woche für Woche tun möchtest.«
Ich weiche ihrem Blick aus. Ich kann nicht behaupten, dass ich die geborene Theatergängerin bin, und bevor ich Joseph kennenlernte, dachte ich, ein Sommelier sei jemand aus Somalia, aber das heißt nicht, dass ich keinen Spaß bei unseren Unternehmungen hatte.
»Und findest du es nicht ein bisschen sonderbar, wie du von jetzt auf gleich mit ihm in einer festen Beziehung warst? Es ging so schnell, und trotzdem hatte ich jedes Mal, wenn ich ihn traf, den Eindruck, dass er dich überhaupt nicht richtig kennt.«
»Manchmal muss man sich nicht erst richtig kennenlernen; es funkt einfach«, erwidere ich und wünsche, Sian nie nach ihrer Meinung gefragt zu haben. Wir laufen über die Straße, sobald sich zwischen den fahrenden Wagen eine Lücke auftut. »An dem Tag, als er mir begegnete, wusste ich, dass er der Richtige ist. Damals in dem …«
»In dem Coffeeshop, ich weiß. Du hast mir die Geschichte erzählt. Er nahm deinen Karamell-Latte und du seinen Mocha-Choco-Lata oder wie auch immer.«
Ich habe sie mit dieser Geschichte vermutlich zu Tode gelangweilt, weil ich ihr bestimmt hundert Mal erzählt habe, wie Joseph und ich uns kennenlernten. Sie versteht einfach nicht, was Joseph und mich miteinander verbindet. Dieser Stromstoß, als sich unsere Hände beim Tauschen der Getränke berührten. Wie er mich ansah, als würde er direkt in meine Seele blicken. Diese Wärme, die ich für ihn empfand, als er herumstotterte, sich überschwänglich dafür entschuldigte, dass er an meiner Sahne genascht hatte, und dann rot wurde, als er realisierte, was er gesagt hatte.
In dem Moment wusste ich, dass es mein Schicksal war, mich in diesen Mann zu verlieben. Und wie ich das tat! Ich fühlte mich, als hätte ich mich überschlagen und würde eine Million Treppenstufen hinunterstürzen. Es wird lange dauern und mehr als einen Haarschnitt erfordern, um diese Treppe wieder nach oben zu klettern.
Ich blinzele eine Träne weg. Ich will nicht weinen. In den letzten vierundzwanzig Stunden bin ich so weit gekommen, ich will nicht wieder zu diesem jämmerlichen Abbild meiner selbst zurückkehren.
Wir biegen in meine Straße, und Sian hakt sich wieder bei mir ein. Der starke Wind, der vom Meer pfeift, schiebt uns in Richtung meines Wohnblocks.
»Hör zu, Abs, ich will dir nicht auf die Nerven gehen. Mir ist klar, dass du eine Weile brauchst, um über ihn hinwegzukommen, und während dieser Zeit werde ich für dich da sein.«
Ich ringe mir ein Lächeln ab. Sie gibt schließlich ihr Bestes, auch wenn sie nicht nachempfinden kann, was ich verloren habe. Für Sian sind Beziehungen ein Fremdwort. Im Grunde ist sie das weibliche, nicht ganz so extreme Äquivalent zu Marcus.
Den Rest des Weges legen wir schweigend zurück.
Gedankenverloren schließe ich die Haustür auf, durchquere den Hausflur, gehe an den Briefkästen vorbei. Ich bin zu sehr in meine Erinnerungen an Joseph vertieft, um zu bemerken, dass Sian stehen bleibt.
»Abi, das ist für dich.«
Ich drehe mich um und sehe, wie sie einen großen braunen Karton vom Boden hochhebt. Er ist nicht fest verschlossen, er wurde also persönlich vorbeigebracht. Ein mulmiges Gefühl überkommt mich, und noch bevor ich die Handschrift erkenne, weiß ich instinktiv, was in dem Karton ist und wer ihn gebracht hat.
»Was ist das für Zeug?«, fragt Sian.
»Das sind die Sachen, die ich noch bei Joseph hatte.«
Ich kann nicht glauben, dass er hier gestanden hat, an genau dieser Stelle, und bin enttäuscht, dass ich ihn verpasst habe, gerade jetzt mit meiner neuen Frisur. Aber es ist mehr als das. Diese Sachen waren der einzige plausible Grund, ihn noch mal wiederzusehen, und den hat er mir jetzt genommen. Das einzig Tröstliche an dieser Trennung war der Teil von mir, der sich noch in seinem Haus befand, wenn auch nur in Gestalt von CDs, Büchern und ein paar Klamotten. Ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich irgendwann, wenn ich wieder Boden unter den Füßen habe, zufällig bei ihm vorbeischauen würde, um die Sachen abzuholen. Natürlich würde ich dann absolut heiß aussehen, und er würde seinen Irrtum erkennen und mich anflehen, zu ihm zurückzukommen. Aber jetzt war mein Zeug zusammengepackt und genauso aus seinem Leben aussortiert worden wie ich.
»Oh nein«, sagt Sian. »Wag es ja nicht, jetzt wieder in melancholischen Trübsinn zu verfallen.«
»Zu spät«, murmele ich und spüre, wie ich von der Welle der Traurigkeit mitgerissen werde – und dieses Mal weiß ich nicht, ob ich stark genug bin, dagegen anzukämpfen.
Werden wir den jetzt den ganzen Abend anstarren? Und wenn ja, können wir dann wenigstens eine Flasche Wein aufmachen?«, fragt Sian.
Ich habe den Blick nicht mehr von dem Karton abgewendet, seit Sian ihn hochgetragen und im Wohnzimmer in eine Ecke gestellt hat. Er ist mein letztes Bindeglied zu Joseph, und ich habe Angst, er könne sich in Luft auflösen, wenn ich ihn aus den Augen lasse.
»Ich glaube, es ist noch eine halbe Flasche im Kühlschrank«, antworte ich und wedele mit der Hand in Richtung Küchenbereich.
Ich höre, wie sie den Kühlschrank öffnet und Gläser leise klirren, als sie zwei aus dem Regal nimmt. Beim Einschenken ertönt dieses befriedigende Gluck Gluck Gluck, und dann reicht sie mir ein Glas.
»Bitte sehr«, sagt sie.
»Danke«, antworte ich und nehme das Glas, während ich weiterhin den Karton anstarre. Ich trinke einen großen Schluck und stelle überrascht fest, dass meine Hände zittern.
»Willst du nicht wenigstens mal reingucken?« Sian setzt sich neben mich auf das Sofa.
»Lieber nicht, oder zumindest noch nicht.«
Solange ich den Karton nicht öffne, kann ich mir einbilden, er enthielte einen Brief, in dem Joseph schreibt, dass er einen Fehler gemacht hat, und mich bittet, zu ihm zurückzukehren oder mir zumindest erklären zu dürfen, warum er sich von mir getrennt hat. Dieses ganze »Wir sind zu verschieden und wollen nicht dasselbe im Leben« ist doch kompletter Schwachsinn. Woher weiß er denn, was ich will? Er hat mich nie gefragt, ob ich einen weißen Gartenzaun und 2,4 Kinder haben möchte oder ob ich lieber nach London ziehen und kinderlos bleiben will.
»Schön. Wenn es dir nichts ausmacht – ich habe genug davon, den Karton anzustarren, und konzentriere mich lieber auf den Fleck an der Wand. Da kann ich wenigstens raten, was es sein könnte. Hmm, bist du ein Rotweinfleck? Schokolade? Die grauen Zellen arbeiten«, sagt sie sarkastisch.
Ich lächle widerwillig. »Sehr witzig, es ist Spaghetti Bolognese.«
»Im Ernst, Abi, es ist Samstagabend. Ich möchte nicht zu Hause bleiben und einen verdammten Karton anstarren.«
»Ich kann nicht. Nicht nach dieser Überraschung.«
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich mich darauf gefreut auszugehen, aber der Gedanke, dass Joseph hier war, macht mich fertig. Hat er geklingelt oder die Kiste einfach abgestellt, ohne auch nur zu checken, ob ich zu Hause war? Und wenn ich nun da gewesen wäre?
Es kommt mir so ungerecht vor, dass ich seit unserer Trennung nahezu ununterbrochen zu Hause war, und in dem einen Moment, in dem ich mein Refugium verlasse, taucht er hier auf.
»Aber was ist mit deinem neuen Kleid und der Frisur? Der Karton wird auch noch hier sein, wenn du zurück bist. Du kannst morgen den ganzen Tag daraufstarren.«
Das hatte ich sowieso vor.
»Ich bin nicht mehr in der Stimmung auszugehen. Geh du. Ganz bestimmt sind Ashley und Becca irgendwo unterwegs.«
»Ich habe eine bessere Idee«, sagt Sian und stürzt ihren Wein hinunter. Dann geht sie zu dem Karton und schlägt die Klappen zurück.
»Nicht!«, kreische ich und stürze los, aber es ist zu spät. Der Karton ist offen, und sie ist dabei, ihn auszupacken.
Ich stelle mich neben sie, um zu helfen. Es fühlt sich an, als würden wir die Büchse der Pandora öffnen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
»Oh, ich liebe diesen Pulli von dir, und dieses Top – hoffentlich wird es bald wärmer, damit du es wieder tragen kannst«, sagt sie und beginnt die Kleidungsstücke auf meinem Wohnzimmertisch zu stapeln.
Meine Augen verfolgen jedes Teil, das sie hervorholt. Jedes Kleidungsstück weckt eine Erinnerung. Der Pulli, den ich anhatte, als wir zum Pferderennen nach Cheltenham gefahren sind. Die dicken Wollsocken, die ich in London dabeihatte, als wir am Somerset House Schlittschuh laufen wollten. Wir schafften es jedoch nicht über die Cocktails im Las Iguanas in Southbank hinaus. Das schwarze Cocktailkleid, das ich auf der Weihnachtsfeier in seiner Firma trug.
»Du hast eine Menge Zeug bei ihm gehabt.«
Sie hört auf, Teile herauszuziehen, und durchwühlt den Inhalt.
»Stimmt.« Ich betrachte den großen Karton. »Ich dachte, es wären nur wenige Klamotten und CDs. Glaubst du, er hat sich deshalb von mir getrennt?«
»Mit Sicherheit. Das Zeug hat einfach zu viel Platz in seinem Haus eingenommen. Entweder das, oder er hat einen Blick auf diesen Pulli geworfen und sich gefragt, ob er in Wahrheit mit einem Comedystar zusammen ist.«
»Hey!« Ich reiße ihr den Pulli aus der Hand und presse ihn beschützend an meine Brust. »Das ist ein Rentier, und die sind total in.«
»Die man in den Geschäften kauft, schon. Aber das hier sieht aus, als hätte es ein Blinder gemalt. Hast du den Pulli selbst gestrickt?«
»Kann sein«, antworte ich mürrisch. Viel Blut, Schweiß und Tränen stecken darin. »Es war ein Geschenk für Joseph.«
Damals hielt ich es für eine gute Idee. Meine Oma hatte mir das Stricken beigebracht, als ich klein war, und ich bildete mir ein, es gut zu können. Die Idee kam mir bei dem Film Schokolade zum Frühstück, in dem Colin Firth auf einer Weihnachtsfeier seinen Rentier-Pulli trägt, und statt wie Bridget zusammenzuzucken, fand ich ihn total süß darin. Und Joseph hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Colin Firth. Sie haben beide welliges Haar und eine leise, vornehme Stimme. Ich dachte, er könne ihn auf der kleinen Weihnachtsfeier tragen, die ich ausrichten wollte. Aber er kam direkt von der Arbeit und hatte keine Zeit mehr, sich umzuziehen. Allerdings verstehe ich nicht, warum er ihn mir zurückgibt, schließlich war es ein Geschenk.
Ich ziehe den Pullover an und atme den Duft von Josephs Aftershave ein, der noch darin hängt – vermutlich von dem einen Mal, als ich ihn dazu brachte, den Pulli anzuprobieren. Ein Arm ist ein bisschen länger als der andere, und wenn ich so daran hinunterschaue, ist die Nase des Rentiers ziemlich schief. Und überall da, wo ich Maschen fallen gelassen habe, sind kleine Löcher. Oh Gott. Was habe ich mir nur dabei gedacht, ihm dieses Teil zu schenken? Ich muss im Delirium gewesen sein, mir einzubilden, Joseph sei blind vor Liebe.
»Steht dir«, sagt Sian und kämpft mühsam gegen das Lachen an.
Ich strecke ihr die Zunge raus. »Na gut, dann mache ich dieses Jahr zu Weihnachten keinen für dich.«
»Ich bin am Boden zerstört. Ich werde wohl mit dem üblichen Parfüm vorliebnehmen müssen. Oh, ist das eine Art Stirnband?«
Sie zieht etwas Schwarzes, Seidiges heraus und runzelt die Stirn, während sie es dreht und am Gummiband zieht, um herauszufinden, wie rum es gehört.
»Oh Gott! Leg es weg! Bitte, leg es weg!«
Aber es ist zu spät. Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich von Neugier zu Entsetzen, als sie das Teil in Höschenform zieht und erkennt, was sie in der Hand hält.
»Igitt!« Sie wirft es mir an den Kopf. »Was zum Teufel ist das?«
»Nichts«, erwidere ich und stopfe es unter meinen Pulli.
»Allerdings nichts. Ist das etwa ein im Schritt offenes Höschen? Und ich habe es angefasst. Iiih!« Sie springt auf und geht zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen.
Ich rutsche unbehaglich auf dem Boden herum. Schlimm genug, dass ich dank Joseph so etwas besitze, aber jetzt weiß Sian Bescheid, und ich werde das noch lange zu hören bekommen.
»Ich habe recht, oder? Du perverses kleines Luder. Ich fühle mich ein bisschen verantwortlich, weil ich dir Fifty Shades geliehen habe«, sagt sie und setzt sich wieder neben mich auf den Boden.
»Genau genommen hat Joseph es mir gekauft. Und vielleicht solltest du aufhören, in dieser Kiste zu wühlen, denn er hat mir auch noch andere Sachen gekauft.«
Sian hat ihre Hand gerade wieder in die Kiste geschoben und zieht sie ruckartig zurück. »Ich muss sagen, ich bin ein bisschen überrascht. Ich habe ihn für einen Mann gehalten, der beim Sex die Socken anlässt, während du ein langes Nachthemd trägst.«
»Oh nein«, erwidere ich und bekomme bei der Erinnerung rote Wangen. Ich muss zugeben, dass ich am Anfang dachte, er sei auch in dem Bereich ziemlich puritanisch, aber dann stellte sich heraus, dass er auf ganz schön abgedrehte Sachen steht. »Joseph mochte es, wenn ich bestimmte Sachen anzog.«
»Was für bestimmte Sachen?«, fragt Sian und reißt die Augen auf.
Ich spähe in die Kiste und ziehe einen roten Strapsgürtel mit passenden Netzstrümpfen heraus, gefolgt von einem durchsichtigen Mieder und einem Dienstmädchenkostüm aus PVC.
»Abi Martin!«, kreischt Sian. »Ich wusste nicht, dass du dazu fähig bist.«
Lachend zucke ich mit den Schultern. Sie hat ja recht, es ist eigentlich nicht mein Ding. Ich habe mir immer einen Freund gewünscht, der mir schicke Unterwäsche schenkt, und als ich die erste Einkaufstasche von Agent Provocateur sah, war ich sehr aufgeregt. Aber dann zog Joseph Unterwäsche heraus, die absolut gar nichts der Fantasie überließ. Ich fühlte mich darin nicht sexy, sondern billig.