Ein Geschenk des Schicksals - Barbara Taylor Bradford - E-Book

Ein Geschenk des Schicksals E-Book

Barbara Taylor Bradford

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Beschreibung

Eine alte Rivalität

Evan ist die Enkelin von Emma Hartes unehelichem Sohn und damit eigentlich Erbin des mächtigen Kaufhausimperiums. Doch sie muss erst ihren Platz in dem Imperium finden und arbeitet als Modeeinkäuferin in einer Londoner Dependance des Unternehmens. Doch dann stößt sie auf alte Briefe ihrer Urgroßmutter und erfährt, wie diese damals das Imperium aufbauen konnte. Evan begreift, dass sie als Einzige die Rivalität zwischen den Familienmitgliedern beenden kann. Wird sie Emmas Erbe bewahren?

Eine Saga voller Liebe, Intrigen und Leidenschaft - die Geschichte der Kaufhausdynastie von Emma Harte.

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Seitenzahl: 688

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Erster Teil Die Sturmvögel Sommer 2001

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Zweiter Teil Emma und Glynnis Sommer 1950

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Dritter Teil Engelsgesang Winter 2001

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Personenverzeichnis

Über dieses Buch

Eine alte Rivalität

Evan ist die Enkelin von Emma Hartes unehelichem Sohn und damit eigentlich Erbin des mächtigen Kaufhausimperiums. Doch sie muss erst ihren Platz in dem Imperium finden und arbeitet als Modeeinkäuferin in einer Londoner Dependance des Unternehmens. Doch dann stößt sie auf alte Briefe ihrer Urgroßmutter und erfährt, wie diese damals das Imperium aufbauen konnte. Evan begreift, dass sie als Einzige die Rivalität zwischen den Familienmitgliedern beenden kann. Wird sie Emmas Erbe bewahren?

Über die Autorin

Barbara Taylor Bradford verbrachte ihre Kindheit und Jugend in England. Sie arbeitete als Journalistin, bevor sie im Alter von achtzehn Jahren begann, Kinderbücher zu schreiben. Schon bald folgten Romane, der Durchbruch gelang ihr mit »Des Lebens bittere Süße«. Seitdem hat sie fünfundzwanzig Bücher geschrieben, die allesamt Bestseller wurden. Sie widmet alle Werke ihrem Mann, mit dem sie in New York lebt.

Barbara Taylor Bradford

Ein Geschenk des Schicksals

Aus dem Englischen von Barbara Röhl

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Projektmanagement: Anne Pias

Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Paladin12 | Romanova Ekaterina | zefart | Shkvarko

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt

ISBN 978-3-7325-4496-7

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2004 by Barbara Taylor Bradford

Titel der Originalausgabe: Unexpected Blessings

© der deutschen Übersetzung 2006 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Erschienen im Marion von Schröder Verlag

Übersetzung: Barbara Röhl

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für meinen Mann, Robert Bradford,dem ich so viel verdanke, mit all meiner Liebe

Erster TeilDie Sturmvögel Sommer 2001

Der englische Name des Sturmvogels, Petrel, stellt angeblich eine Verkleinerungsform von Petrus dar: Wenn der Vogel frisst, hält er sich flatternd knapp über dem Wasser und berührt dabei mit den Füßen häufig die Oberfläche, so dass es den Anschein hat, er laufe über das Wasser wie Petrus in der biblischen Geschichte.

Bestimmungsbuch der britischen Vogelwelt

1

Evan Hughes stand mitten in der Modeabteilung von Harte’s in Knightsbridge, London. Es war sieben Uhr morgens und noch ganz still. Gegen acht würde das Reinigungspersonal auf der weitläufigen Etage seine Runden ziehen, und gegen neun trafen in der Regel einige besonders engagierte Verkaufskräfte ein und bereiteten die Öffnung um zehn vor. Jetzt aber war sie ganz allein.

Sie liebte dieses Kaufhaus und ganz besonders diese Etage. Hier lag ihre Domäne, ihr ureigenes Reich. In der letzten Woche war sie zur Abteilungsleiterin befördert worden, ein gewaltiger Karrieresprung, der sie überglücklich machte. Aber in ihrem Privatleben standen die wirklich wichtigen Entscheidungen noch an.

Als sie jetzt durch die Etage zu den neuen Haute-Couture-Schauflächen schlenderte, fühlte sich die junge Amerikanerin an den Tag im Januar 2001 erinnert, an dem sie Harte’s zum ersten Mal betreten hatte. Acht Monate war das jetzt her. An jenem Tag hatte sie großes Glück gehabt. Durch Zufall war sie dem Mann ihrer Träume begegnet und hatte die ideale Stellung gefunden. Wer hätte damals geahnt, dass die Erfüllung all ihrer Wünsche zum Greifen nahe lag? Und mancher Wunsch hatte sich bereits erfüllt.

Evan blieb kurz stehen und sah sich um. Begierig nahmen ihre intelligenten graublauen Augen alles auf: die von hellen Scheinwerfern angestrahlten Ausstellungsflächen und die Eleganz der ganzen Etage, dieser Vorzeigeabteilung des renommierten Kaufhauses, das als das beste der Welt galt.

Das Haus in Knightsbridge war von einer der berühmtesten Handelsmagnatinnen aller Zeiten gegründet worden, Emma Harte. Emma selbst war schon vor dreißig Jahren verstorben; heute leitete ihre Enkelin Paula O’Neill die gesamte Kaufhauskette. Paula, eine distinguierte Dame von Mitte fünfzig, hatte das kaufmännische Talent und die geschäftliche Brillanz ihrer Großmutter geerbt, und ihre Töchter Tessa und Linnet waren ebenfalls in ihre Fußstapfen getreten. Beide arbeiteten bei Harte’s; Tessa führte die drei unteren Etagen, auf denen Kosmetik, Parfüm, Freizeitkleidung, Dessous und Sportswear angeboten wurden. Linnet, Tessas Halbschwester, leitete die Modeabteilung und war gemeinsam mit Paula für die Public Relations zuständig.

Linnet O’Neill war es auch gewesen, die Evan als Assistentin eingestellt hatte, und während ihrer ersten Monate bei Harte’s hatte Evan sie bei der Organisation und Durchführung einer Moderetrospektive unterstützt, die ein großer Erfolg geworden war und viele neue Kundinnen angezogen hatte.

Linnet. Tessa. Die beiden jungen Frauen waren ehrgeizige und komplexe Persönlichkeiten und inzwischen zu einem Teil von Evans Leben geworden.

Für ihre harte Arbeit und ihr Engagement hatte Linnet sie mit dieser Beförderung belohnt – und Evan war in ihrem Element.

Evan blieb vor den Ausstellungsflächen mit den Haute-Couture-Modellen stehen, die gestern am späten Abend fertig geworden waren. Ausgezeichnet. Die Dekorateure hatten mit den Kleidern, die sie ausgewählt hatte, erstklassige Arbeit geleistet.

Sie wandte sich ab, verließ die Abteilung und kehrte in ihr Büro zurück. Mit ihrer hochgewachsenen, schlanken Gestalt und dem dunklen Haar war die gutaussehende junge Frau eine aparte Erscheinung. Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, betrachtete sie das Foto von Gideon Harte, das dort stand, mit einem zärtlichen Blick. Die beiden waren an jenem ersten Tag auf dem Flur zusammengestoßen und hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. Sie hatte nach dem Personalbüro gesucht, und er hatte ihr den Weg gezeigt und sie unterwegs mit Fragen bestürmt. Noch am selben Tag hatte Gideon seiner Cousine Linnet von ihr erzählt, die sie sofort zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen und ihr eine Stelle angeboten hatte.

Evan lehnte sich zurück und dachte über die vergangenen acht Monate und alles, was sich in dieser Zeit ereignet hatte, nach.

Nie hätte sie damit gerechnet, in England eine zweite Familie zu finden. Noch vor einem Jahr hatte die einzige Familie, die sie kannte, aus ihren Eltern und ihren beiden Adoptivschwestern bestanden, die alle in Connecticut lebten. Jetzt war alles anders, und schuld daran war ihre Großmutter gewesen, Glynnis Hughes. Auf dem Totenbett hatte ihre Großmutter Evan ans Herz gelegt, nach England zu gehen und Emma Harte zu suchen, und noch hinzugefügt, Emma sei der Schlüssel zu ihrer Zukunft. Genau das hatte Evan getan und erfahren, dass Emma lange tot war. Aber sie hatte sich in das Kaufhaus verliebt und beschlossen, sich dort um eine Stelle zu bewerben.

Und jetzt war sie hier. Sie arbeitete bei Harte’s, plante eine gemeinsame Zukunft mit Gideon und gab sich große Mühe, sich an ihre neue Familie anzupassen – denn sie war tatsächlich selbst eine Harte. Emmas lange verschollene Tagebücher hatten schließlich enthüllt, dass Evan eine weitere Urenkelin von Emma Harte war. Niemand hatte geahnt, dass Evans Großmutter und Emmas Sohn Robin während des Krieges eine kurze Beziehung unterhalten hatten, aus der ein Kind hervorgegangen war: Evans Vater.

Der Familienclan hatte sie herzlich aufgenommen und war ihr freundlich und mit enormem Verständnis begegnet, aber trotzdem war es manchmal schwierig für Evan gewesen. Sie hatte so vieles entwirren, so viel akzeptieren, so viele Menschen kennenlernen müssen. Manchmal hatte sie den Eindruck, als nähme es gar kein Ende.

Am verstörendsten aber waren die Enthüllungen über ihren leiblichen Großvater gewesen … Bis jetzt hatte sie sich davor gefürchtet, ihrem Vater davon zu erzählen. Würde Owen Hughes diese Mitteilung positiv aufnehmen? Würde er wirklich wissen wollen, dass der Mann, der ihn großgezogen hatte, nicht sein richtiger Vater gewesen war? Sie vermochte es nicht einzuschätzen und rang immer noch mit diesen Fragen.

Evan wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste. In ungefähr einer Woche würden ihre Eltern in London eintreffen, um sie zu besuchen und Urlaub zu machen. Konnte sie ihrem Vater in die Augen sehen und ihm die Wahrheit verschweigen? Würde sie in der Lage sein, dieses Geheimnis zu wahren? Und sollte sie es überhaupt? Im Grunde konnte ihr dazu niemand einen Rat geben. Gideon hatte gemeint, sie solle tun, was sie für richtig halte, und alle anderen hatten sich nur vage geäußert.

Es war ihre Entscheidung.

Und dann war da noch Robin Ainsley, ihr neuentdeckter Großvater und der Mann, der während des Zweiten Weltkriegs eine Affäre mit ihrer Großmutter unterhalten hatte. Er war Pilot in der Royal Air Force gewesen und hatte an der Luftschlacht um England teilgenommen, und ihre Großmutter, die damals noch Glynnis Jenkins geheißen hatte, eine junge Frau aus Wales, hatte genau in diesem Kaufhaus als Sekretärin für Emma Harte gearbeitet.

Evan mochte Robin sehr gern. Und sie wusste nur zu gut, dass er sich danach sehnte, seinen Sohn kennenzulernen, Owen Hughes. Aber würde auch ihr Vater den Wunsch haben, diesen Fremden zu treffen – einen Fremden, der sein leiblicher Vater war? Und der ehemalige Liebhaber seiner Mutter.

Sie schaltete ihren Computer ein und begann zu arbeiten, aber schon nach weniger als einer Stunde vermochte sie die Gedanken an Robin, Glynnis und die bevorstehende Ankunft ihres Vaters nicht mehr beiseitezuschieben. Seufzend schaltete sie den Computer aus und traf eine Entscheidung. Sie würde Linnets Rat beherzigen und doch für eine Woche nach Yorkshire fahren, um auszuspannen. Und sie würde Robin Ainsley noch einmal aufsuchen, denn sie hatte immer noch das Bedürfnis, mehr über seine Beziehung zu ihrer Großmutter zu erfahren. Vor allem wollte sie verstehen, warum Robin und Glynnis nie geheiratet hatten.

»Sie war wunderschön und betörend und außerdem die leidenschaftlichste Frau, der ich je begegnet bin. Aber mir wurde klar, dass wir auf lange Sicht in eine Katastrophe steuerten. Irgendwann hätten wir uns gegenseitig umgebracht«, schloss Robin mit einem leisen Seufzer. Den Blick auf Evan gerichtet, lehnte er sich in seinem Ohrensessel zurück.

Einen Moment verstummte sie und dachte über das nach, was er gesagt hatte. »Meinst du, weil ihr beide so aufbrausend wart?«, fragte sie dann nachdenklich.

»Wir hatten keine friedliche Minute miteinander.«

»Ihr habt nicht zusammengepasst?«

»Nein, überhaupt nicht, außer im Bett. Aber ein erfülltes Liebesleben allein genügt nicht, um eine dauerhafte, lebenslange Beziehung aufzubauen.«

Evan nickte und musterte ihn aufmerksam. »Gran hat mir stets gepredigt, das Wichtigste sei, dass Mann und Frau zusammenpassen«, gestand sie dann. »Und ich weiß, dass sie und mein Großvater sich in dieser Hinsicht verstanden haben. Entschuldige, Richard Hughes.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Evan«, sagte Robin leise und schüttelte den Kopf. »Richard Hughes war dein Großvater, genau wie er Owen ein wirklicher Vater gewesen ist. Glynnis war eine wunderbare junge Frau, als ich sie kennenlernte. Aber sie passte nicht zu mir und ich nicht zu ihr. Jedenfalls nicht im normalen Leben, im Alltag. Wir waren viel zu explosiv, und es war genauso meine Schuld wie ihre.«

»Hast du dich deswegen am Ende von ihr getrennt?«

»So ist es. Zu dieser Zeit stritten wir uns immer häufiger, es war richtig beängstigend. Das Leben mit ihr war die Hölle.«

»Aber sie war schwanger, Robin, und du hast nichts unternommen …«

Evan verstummte, als ihr klar wurde, dass sie vielleicht anklagend klang. Sie hatte nicht vorgehabt, ihm Vorwürfe zu machen.

»Darüber haben wir doch schon gesprochen«, entgegnete Robin geduldig. »Wir hatten uns getrennt. Ich begann mit Valerie Ludden auszugehen. Wir beide harmonierten miteinander und wurden ein Paar. Als Glynnis mir erzählte, dass sie ein Kind erwartete, hatte ich mich Valerie bereits verpflichtet. Aber versteh mich richtig: Ich hätte deine Großmutter auch nicht geheiratet, wenn es keine andere Frau gegeben hätte. Wir hätten kein normales, ruhiges Leben miteinander führen können, und das wusste sie ebenfalls.«

»Tut mir leid, Robin. Ich bin ein ziemlicher Plagegeist, was?«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er, und ein leiser Schatten überflog sein Gesicht. »Ich verstehe ja, dass du den Wunsch hast, alles zu erfahren.«

»Ich frage mich, warum Glynnis dir nicht erlauben wollte, sie finanziell zu unterstützen.«

»Größtenteils aus Stolz, zumindest glaube ich das.«

»Aber von Emma Harte hat sie sich helfen lassen.«

»Das stimmt. Meine Mutter liebte Glynnis wie eine Tochter. Glynnis wusste das, und sie spürte, wie sehr sie mit ihr fühlte. Als junges Mädchen hatte meine Mutter sich in einer ähnlichen Notlage befunden – schwanger von einem Mann, der sie nicht heiraten wollte –, und offensichtlich konnte sie sich sehr gut in Glynnis hineinversetzen.«

»Ich danke dir für deine Offenheit, Robin. Ich musste wirklich genau wissen, was vor all diesen Jahren zwischen dir und meiner Großmutter gewesen ist.«

»Leidenschaft. Ich war auch verliebt in sie; es hat nur einfach nicht für ein beständiges, stabiles Leben gereicht.« Er lächelte ihr zu; die Erinnerungen machten seine Miene weich vor Zärtlichkeit, und ein gütiger, liebevoller Ausdruck stand in seinen blassblauen Augen.

Evan erwiderte sein Lächeln, nahm seine große, schmale Hand und drückte sie. Die beiden saßen auf dem langen Sofa in der Bibliothek von Lackland Priory, Robins Haus in Yorkshire. Sie hatten sich seit mehreren Wochen nicht gesehen und waren froh, wieder zusammen zu sein und dass ihnen die Chance gewährt wurde, einander besser kennenzulernen.

Der alte Mann und die junge Frau. Blutsverwandt und doch bis vor ganz kurzer Zeit Fremde. Großvater und Enkelin, zwei Menschen, die gerade eben erst von der Existenz des anderen erfahren hatten. Jetzt wünschten sie sich, Freunde zu werden, einander zu verstehen, sich näherzukommen, vielleicht sogar zur Vertrautheit von Familienmitgliedern zu finden, falls das möglich war. Die junge Frau strebte danach, eine verhängnisvolle, lange zurückliegende Beziehung zu verstehen, und der alte Herr hoffte, dass sein Verhalten in der Vergangenheit ihn jetzt in ihren Augen nicht allzu schlecht dastehen ließ.

In ihr Schweigen hinein klingelte das Telefon und ließ sie beide hochfahren. Fast sofort verstummte es; irgendwo im Haus hatte jemand vom Personal den Hörer abgenommen.

Kurz darauf erschien der Butler in der Tür. »Entschuldigen Sie, Sir, aber Dr. Harvey ist am Telefon und möchte Sie sprechen.«

»Danke, Bolton«, antwortete Robin, entschuldigte sich bei Evan, stand auf und ging zum Schreibtisch. Er setzte sich und nahm den Hörer ab. »Guten Morgen, James.«

Evan erhob sich ebenfalls und ging zu den Glastüren, über die man auf die Terrasse des alten Herrenhauses gelangte. Sie trat nach draußen, schloss die Türen hinter sich und atmete mehrmals tief durch. Hier in den Dales war die Luft immer sauber und frisch; es war ein herrlicher Morgen Anfang August, und der Himmel war azurblau und wolkenlos. Ein sonniger, goldener Tag, erfüllt von reinem, glitzerndem Licht, genau wie gestern und vorgestern. Inzwischen liebte sie dieses kristallklare Licht, das, wie sie entdeckt hatte, typisch für den Norden Englands war.

Nun setzte sie sich auf die Steinbank und betrachtete die weitläufigen grünen Rasenflächen, die sich, gesäumt von Staudenbeeten, vom Haus weg erstreckten. Ihr Blick blieb an einer Baumgruppe hängen, die in einiger Entfernung rechts der Grünflächen stand. Hinter den üppigen, dicht belaubten Kronen konnte sie den Rand des Moores erkennen wie einen dunklen Klecks vor dem blassblauen Horizont.

Dieses langgestreckte Tal im Zentrum der Dales, wo Lackland Priory seit Jahrhunderten stand, war wirklich ein herrliches Fleckchen Erde. Von hier aus war es nicht weit nach Pennistone Royal, Paulas Anwesen, und in den vergangenen Monaten hatte Evan viel Zeit in diesem Teil von Yorkshire verbracht, der weniger rau und fruchtbarer war als das umgebende, höher gelegene Land.

Dort oben, im Moor, war die Landschaft den größten Teil des Jahres trostlos und weder hübsch anzusehen noch einladend. Sie wusste, dass Linnet nicht ihrer Meinung gewesen wäre; sie fand das Hochmoor herrlich in seiner kargen und einsamen Pracht. »Ich liebe dieses Moor, genau wie einst Emma Harte«, hatte Linnet ihr einmal erklärt. »Meine Urgroßmutter war ein Kind des Moores, und sie brachte es nie fertig, allzu lange fortzubleiben. Ich sehne mich geradezu danach, ganz wie sie.«

Emma Harte.

Evan drehte und wendete den Namen in Gedanken hin und her. Obwohl sie seit dreißig Jahren tot war, lebte Emma weiter, und ihr Geist und ihre Präsenz waren beinahe so mächtig wie zu ihren Lebzeiten. Emma Harte war auch ihre Urgroßmutter, wenngleich sie davon nichts geahnt hatte, als sie im Januar nach England gekommen war. Wie sich ihr Leben seitdem verändert hatte! Sie war eine Harte. Und diese einzigartige Familie hatte sie aufgenommen und ihr das Gefühl gegeben, eine von ihnen zu sein.

Wieder musste sie an Robin Ainsley denken, den Lieblingssohn der legendären Emma. Der leibliche Vater ihres Vaters und ihr Großvater. Ein Mann, den sie erst vor wenigen Wochen kennengelernt hatte, zu dem sie rasch Zuneigung gefasst hatte und den zu lieben ihr leichtfallen würde. Robin hatte so etwas Sympathisches, sogar Verletzliches an sich, und sie verspürte den Wunsch, sich um ihn zu kümmern und ihn zu beschützen. Mit seinen achtzig Jahren kam er ihr so einsam vor.

Robin Ainsley hatte ihre Großmutter verlassen, aber er hatte seine Gründe gehabt, und außerdem war das schon ein halbes Jahrhundert her. Und wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihre Großmutter wahrscheinlich ohne Robin ein viel besseres und sicherlich ruhigeres Leben geführt hatte. Schließlich hatten die beiden, wenn man Robin glaubte, ständig miteinander gestritten. Und Richard Hughes, den Gran einige Monate vor der Geburt ihres Babys – Owen – geheiratet hatte, war ihr ein liebender Ehemann gewesen. Richard hatte Owen als seinen Sohn großgezogen. Er war ein guter Vater gewesen; der beste Vater der Welt, wie Owen immer wieder sagte.

Das Gesicht ihres Vaters schob sich vor ihr inneres Auge, und sie spürte, wie sich ihr Rücken verspannte. Wieder einmal fragte sie sich, wie sie ihm beibringen sollte, was sie über ihre Familie erfahren hatte. Owen hatte Richard Hughes über alles vergöttert …

»Tut mir leid, dass ich dich allein gelassen habe«, meldete Robin sich von der Tür aus und unterbrach ihre Gedanken. »Dr. Harvey ist mitunter sehr redselig.«

Evan sprang auf und drehte sich zu ihm um. »Dir geht’s aber gut, oder? Du bist doch nicht krank?« Sie klang plötzlich besorgt, und sie sah beunruhigt aus.

»Ich bin vollkommen in Ordnung, Liebes. Dr. Harvey hat nur angerufen, um unsere Verabredung zum Essen für morgen Abend zu bestätigen.« Robin ging zu ihr. »Lass uns ein wenig hier verweilen und uns an der Natur erfreuen. Es ist so ein herrlicher Vormittag.«

»Das stimmt.«

Sie setzten sich auf die Bank, und nach einer kurzen Pause sprach Robin weiter.

»Vorhin sagtest du, du müsstest über verschiedene Dinge mit mir reden, aber bis jetzt haben wir nur über meine Beziehung zu deiner Großmutter gesprochen. Was hast du sonst noch auf dem Herzen?«

»Meinen Vater.«

»Ah ja, Owen. Weiß er etwas über … Emmas wohlgehütetes Geheimnis?«

»Nein.«

»Hat dich der Mut verlassen, Evan? Bestimmt nicht. Doch nicht dich.«

»Nein, es ist keine Frage des Mutes. Aber ich habe mir gedacht, es wäre vielleicht besser, mit der Wahrheit zu warten, bis er Ende des Monats nach London kommt.«

»Meinst du nicht, du solltest ihm gegenüber wenigstens eine Andeutung machen, bevor er eintrifft? Über meine Person, meine ich. Die Nachricht wird sicher ein ziemlicher Schock für ihn sein, und so wäre er wenigstens darauf vorbereitet.«

»Das ist mir auch durch den Kopf gegangen«, gab Evan zurück und biss sich auf die Lippen. »Aber dann bin ich doch zu dem Schluss gekommen, dass es klüger wäre, es ihm von Angesicht zu Angesicht zu sagen.«

Robin runzelte die Stirn; seine hellen Augen waren auf den fernen Horizont gerichtet. »

Was Owen zu hören bekommt, wird ihm nicht gefallen«, sagte er nach kurzem Schweigen bedächtig und nachdenklich. »Schließlich werden einige seiner Illusionen zerstört werden. Und vieles wird er nicht wissen wollen. Er wird zornig auf mich sein.«

»Und auf seine Mutter, weil sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hat«, meinte Evan knapp. »Gran hat ihn angelogen.«

»Ach, ich weiß nicht, meine Liebe. Ich finde, Glynnis hat richtig gehandelt. Richard und sie haben schon einige Monate vor Owens Geburt geheiratet; er hat ihn vielleicht nicht gezeugt, aber er hat dieses Kind geliebt, als wäre es sein eigenes gewesen. Richard hat sich tadellos verhalten; und Glynnis hat eben getan, was sie für das Beste hielt.«

»Das stimmt schon, aber …«

»Aber was?«

»Mein Vater ist ein komplizierter Mensch, Robin.«

Plötzlich fiel Robin etwas ein, und seine Miene leuchtete auf.

»Jetzt weiß ich es wieder, Evan«, rief er aus. »Als Paula dich zum ersten Mal hierher mitbrachte, da hast du uns erzählt, dein Vater habe nach Glynnis’ Tod wohl gewisse Papiere gefunden.«

»Das stimmt. Aber ich habe nie behauptet, dass er tatsächlich auf etwas gestoßen ist. Das war nur ein Gefühl, das ich hatte, nachdem er mit einem Mal so eine eigenartige Einstellung gegenüber der Harte-Familie an den Tag legte.«

»Oh. Und was für eine Einstellung war das?«

»Er hatte irgendwie … na ja, etwas gegen sie. Das ist wahrscheinlich die beste Art, es zu beschreiben. Er war nicht glücklich darüber, dass ich bei Harte’s angefangen hatte, und das war mir ein Rätsel, weil er einverstanden damit gewesen war, dass ich nach London gehen und Emma Harte suchen sollte – so wie Gran es auf dem Sterbebett gewollt hat.«

»Ich vermute, er ist auf ein Tagebuch gestoßen«, meinte Robin. »Auf Briefe oder andere Zeugnisse der Vergangenheit, an die Glynnis vielleicht gar nicht mehr gedacht hatte.«

»So könnte es gewesen sein«, pflichtete sie ihm bei. »Und was er gefunden hat, das hat ihn dann gegen die Hartes eingenommen.«

»Ja, vielleicht.«

Ein kurzes Schweigen trat ein.

»Ich frage mich, ob es nicht gescheiter wäre, schlafende Hunde nicht zu wecken, meine Liebe. Warum willst du deinem Vater überhaupt davon erzählen? Er braucht gar nicht zu wissen, wer sein leiblicher Vater ist. Vielleicht wäre es klüger, dieses Geheimnis weiter ruhenzulassen. Warum soll er nicht weiterhin glauben, Richard Hughes sei sein Vater gewesen?«

»Klingt vernünftig.« Evan hatte das Gefühl, als sei ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden.

Robin legte den Arm um sie, als spüre er, wie ihr zumute war. »Wir kennen die Wahrheit, und allein darauf kommt es doch an, oder?«

»Ja.« Sie lehnte sich an seine Schulter und schloss die Augen.

Eine Zeitlang schwiegen sie. Jeder hing seinen eigenen Überlegungen nach. Evan dachte an Gideon und fragte sich, wie sie ihm ihren plötzlichen Meinungsumschwung erklären sollte. Andererseits wusste sie, dass er sie liebte und jederzeit bedingungslos unterstützen würde, ganz gleich, wie sie sich entschied. Gideon war so verständnisvoll und konnte sich in ihre Gefühle gegenüber ihrem Vater hineinversetzen. Tatsächlich hatte er erst kürzlich selbst gemeint, es sei vielleicht besser, Owen nicht zu enthüllen, dass sie eine Harte war. Damals war sie unentschlossen gewesen, und Gideon hatte gesagt, er vertraue ihrem Urteil.

Robins Gedanken dagegen drehten sich um Evan Hughes. Wie glücklich er war, dass die junge Frau in sein Leben getreten war! Zu einem sehr späten Zeitpunkt, gewiss, aber wenigstens hatte er von ihrer Existenz erfahren. Er mochte und schätzte sie. Schon einmal hatte sie ihn in die Arme genommen, bei ihrer ersten Begegnung. Damals waren ihm die Tränen gekommen, als Evan ihm verriet, dass Glynnis noch auf dem Sterbebett von ihm gesprochen hatte. Er war froh, sie wieder zu umarmen, in aller Stille ein Band mit ihr zu knüpfen und ihr jetzt beizustehen.

An dem Tag, an dem sie mit Paula zum ersten Mal zu ihm gekommen war, hatten seine Augen nicht genug von ihrem hübschen Gesicht bekommen können. Er hatte entdeckt, dass sie aussah wie seine Zwillingsschwester Elizabeth in ihrem Alter – siebenundzwanzig. Evan. Seine Enkeltochter. Sein einziges Enkelkind. Sein Blut floss in ihren Adern, und wenn sie eines Tages heiratete und Kinder bekam, würde es in den Adern seiner Urenkel fließen … Sie würde die Linie fortsetzen, seine Gene weitertragen. Der Fortbestand der Familie war ihm immer wichtig gewesen, aber vor Evans Auftauchen hatte er geglaubt, vielleicht nie Enkelkinder zu bekommen.

Augenblicklich wandten seine Gedanken sich Jonathan zu, und es überlief ihn kalt. Er konnte nur darum beten, dass sein Sohn Evan nie etwas zuleide tun würde. Natürlich hatte Robin versucht, Jonathan begreiflich zu machen, dass Evans Auftauchen sein Erbe nicht gefährden würde. Robin hatte sich sogar außerordentliche Mühe gegeben, seinen Sohn zu beschwichtigen, hatte beider Anwälte eingeschaltet und etliche juristisch unanfechtbare Dokumente aufsetzen lassen.

Trotzdem war Jonathan unberechenbar. Schon seit langer Zeit hielt Robin seinen einzigen Sohn für einen Soziopathen; niemand konnte einschätzen, was er tun würde. Oder wann.

»Geht es dir gut?«, fragte Evan, die seine plötzliche Anspannung spürte.

»Ja, mir geht es gut«, antwortete der alte Herr und lächelte gezwungen. »Aber ich muss zugeben, dass ich die Kälte spüre, sogar an einem sonnigen Tag wie diesem. Lass uns hineingehen, Evan. Ich habe etwas, das ich dir zeigen möchte.«

Gemeinsam traten sie in die Bibliothek.

»Setz dich aufs Sofa«, sagte Robin leise, »es dauert nicht lange.«

Während er zum Schreibtisch ging, folgte ihr Blick ihm. Was für ein stattlicher Mann er war! Robin war hochgewachsen und hielt sich trotz seines Alters kerzengerade, und heute schien er von jugendlicher Vitalität erfüllt zu sein. Das beruhigte sie. Schließlich hatte sie ihn gerade erst gefunden, und er war bereits achtzig Jahre alt. Der Gedanke, dass sie ihn irgendwann verlieren würde, bedrückte sie.

Kurz darauf setzte Robin sich neben sie und reichte ihr einen vor langer Zeit aufgenommenen Schnappschuss. »Das bist du mit meiner Großmutter!«, rief sie nach einem Blick darauf aus. »Meine Güte, was für ein großartiges Paar ihr wart!«

Erfreut über ihr Kompliment lachte er. »Wir waren wirklich ein aufsehenerregendes Paar, jedem fiel das auf. Wie du sehen kannst, trage ich meine Luftwaffenuniform, und deine Großmutter ist für die Zeit topmodisch gekleidet. Wie immer ein richtiges Glamourgirl. Na ja, das ist lange her. Jedenfalls ist das Bild für dich, Evan.«

»Oh, Robin, wie lieb von dir. Aber willst du dich wirklich davon trennen? Du hast es so lange gehütet.«

»Wem sollte ich es lieber schenken als unserer Enkelin? Ich möchte, dass du dieses Bild bewahrst, auf dem wir beide jung und verliebt sind; bevor zwischen uns alles so furchtbar schiefgegangen ist.«

Sie nickte und legte voller Zuneigung die Hand auf seinen Arm. »Ich werde es immer in Ehren halten.«

Seine blauen Augen leuchteten auf, und er lächelte ihr zu. »Und nun: Erbarmst du dich jetzt eines alten Mannes und bleibst zum Lunch?«

»Sehr gern«, antwortete sie. Aber als sie neben Robin zum Esszimmer ging, ahnte Evan, dass noch allerlei Probleme auf sie zukamen.

2

Tessa Fairley Longden stand auf der Terrasse und sah zu, wie ihre kleine Tochter mit Begeisterung Familie spielte. Eben hatten Tessa und Adele Stühlchen um den kleinen Teetisch aufgestellt, und jetzt setzte die Kleine ihre Porzellanpuppe Daisy, den Teddy und Reggi, ihre Stoffpuppe, hinein.

Als Adele alles zu ihrer Zufriedenheit arrangiert hatte, sah sie zu ihrer Mutter auf. »Daisy leistet Teddy Gesellschaft, und ich werde neben meiner Reggi sitzen.«

»Das ist eine gute Idee, Adele; und ich bin mir sicher, dass sie mit ihren Plätzen sehr glücklich sind.« Tessa lächelte der Dreijährigen zu, die sie fragend ansah.

Noch während sie sprach, nahm Tessa sich vor, ihrer Tochter die Stoffpuppe so bald wie möglich zu entwinden. Das Spielzeug war vollkommen verdreckt und sah ziemlich ekelhaft aus; aber das Kind liebte die Puppe über alles und ließ sie nie aus den Augen. Tessa war sich bewusst, dass dieses Spielzeug für Adele etwas Tröstliches war. Aber gewaschen werden musste sie – von Hand natürlich, damit sie nicht auseinanderfiel. Heute Abend, beschloss Tessa. Wenn es mir gelingt, ihr die Puppe abzunehmen, wasche ich sie heute Abend.

Sie genoss ihren Aufenthalt in Yorkshire; ihre erste Atempause, seit sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, Mark Longden. Tessa bückte sich und strich ihrer Tochter über das seidige, silberblonde Haar. »Falls du mich brauchst, Schätzchen, ich bin in der Bibliothek und arbeite.«

Adele nickte. »An deinem Computer, Mami«, sagte sie mit feierlichem Ernst.

»Genau.« Tessas Herz floss über vor Liebe zu diesem wunderschönen Kind, dem Menschen, den sie am meisten auf der Welt liebte. Sie küsste ihre Tochter auf den Kopf und blieb noch ein wenig auf der Terrasse. Aber nach einigen Sekunden richtete sie sich auf, holte tief Luft und marschierte flotten Schrittes in die Bibliothek.

Elvira, ihr Kindermädchen, hatte ihren freien Tag und war nach Leeds gefahren, so dass Adele heute Tessa überlassen war. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, Adele mit ins Kaufhaus nach Harrogate zu nehmen, aber schließlich hatte sie beschlossen, überhaupt nicht zu fahren. Der Morgen war so schön, dass es geradezu ein Verbrechen gewesen wäre, das Kind in einem Büro einzusperren; ebenso gut konnte sie hier auf Pennistone Royal arbeiten und sich mit den Plänen für die Renovierung der Filiale in Harrogate beschäftigen, während Adele auf der langgestreckten Terrasse an der Rückseite des Hauses in der Sonne und an der frischen Luft spielen konnte.

Schon vor langer Zeit hatte Tessa entschieden, dass die Bibliothek der ideale Arbeitsplatz für sie war, wenn sie sich hier aufhielt. Der weitläufige, luftige Raum hatte eine hohe Decke und Wände, die mit hellem Holz verkleidet waren. Mit ihren vielen, bis zur Decke reichenden Regalen voller ledergebundener Bücher war die Bibliothek zugleich gut gegen Geräusche abgeschirmt; ein friedlicher Ort.

Heute früh hatte sie sich in der Bibliothek in der Nähe der gläsernen Gartentüren eingerichtet. Sie führten auf die Terrasse, wo Adele bis zum Mittagessen spielen konnte. Tessa hatte den Tisch an die Glastüren gezogen. Adele bewegte sich jetzt genau in ihrem Blickfeld; sie konnte sogar hören, wie das Kind auf den Teddybären einredete. Falls ihre Tochter sie aus irgendeinem Grund brauchte, war sie gleich zur Stelle.

Während der nächsten zwanzig Minuten arbeitete Tessa an ihrem Laptop und skizzierte die Areale, die umgebaut werden sollten. Ab und zu sah sie auf, schmunzelte vor sich hin und dachte, wie schön Adele doch allein spielte. Die Kleine unterhielt sich so angeregt mit ihren Puppen und dem Teddy, als wären sie lebendige Wesen.

Adele war ein kluges, einfallsreiches und fantasievolles Mädchen und konnte schon einfache Bücher lesen, obwohl sie noch keine vier Jahre alt war. Auf manchen Gebieten war sie ihrem Alter weit voraus, aber keineswegs altklug wie manche Kinder. Adele war von Natur aus ein liebenswertes kleines Geschöpf, das mit seiner witzigen, eigenwilligen Art jeden für sich einnahm.

Adele drehte sich um, sah, dass Tessa sie durch die offenen Glastüren beobachtete, und winkte ihrer Mutter lachend zu. Tessa winkte zurück und machte sich dann wieder an die Arbeit. Konzentriert zeichnete sie ihre Ideen für die dringend notwendigen Renovierungen in der Harrogater Filiale. Dies war im Moment ihr wichtigstes Projekt; gleichzeitig hatten ihre Halbschwester Linnet und ihre Cousine India zusammen mit Evan Hughes die Aufgabe, eine neue Optik für das Kaufhaus in Leeds zu kreieren. Alle Filialen von Harte’s sollten ein komplett neues Gesicht erhalten.

Das laute Klingeln des Telefons ließ Tessa hochfahren. Als es weiterschrillte, fragte sie sich, warum niemand abnahm; doch dann fiel ihr ein, dass sie allein im Haus war. Elvira war schon nach Leeds aufgebrochen; Margaret war in Ripon auf dem Markt, und vor über einer Stunde hatte sie Evan Hughes wegfahren sehen. Ihre jüngeren Geschwister Emsie und Desmond O’Neill waren ins Moor ausgeritten.

Tessa lief eilig zu dem georgianischen Schreibtisch, der neben dem Sofa stand, und nahm ab. »Pennistone Royal, hallo?« Es knisterte in der Leitung, und dann sagte eine Männerstimme aus weiter Ferne: »Tessa … ist Tess…« Dann verklang die Stimme vollkommen.

Toby, dachte sie. Mein Cousin ruft aus Los Angeles an. Sie fasste den Hörer fester. »Hier ist Tessa Longden«, rief sie. »Wer ist da?« Zu ihrem großen Ärger war die Leitung tot. Einen Moment lauschte sie, sagte noch mehrere Male »Hallo« und legte dann entnervt auf.

Doch kaum hatte sie sich ein paar Schritte entfernt, da begann das Telefon wieder zu läuten. Sie riss den Hörer von der Gabel und meldete sich energisch. »Hier ist Tessa Longden. Wer spricht?« Keine Antwort, nur Knistern und etwas, das sich wie Meeresrauschen anhörte. »Hallo? Hallo? Ich höre Sie nicht. Wer ist da?«

Tessa war frustriert. Ihr Cousin war nach Los Angeles geflogen, um seine Frau zu besuchen, und hatte versprochen, sich zu melden. Ganz bestimmt versuchte Toby, sie vom Handy aus zu erreichen. Plötzlich wurde die Verbindung unterbrochen. Ungeduldig zuckte sie die Achseln, legte den Hörer auf und wollte an ihren Computer zurückkehren. Doch sie hatte sich gerade vom Telefon abgewandt, als das durchdringende Schrillen sie zurückholte und sie ein drittes Mal an den Apparat ging. »Hier ist Tessa. Wer ist da?«

»Tess…« Die Stimme brach ab, bevor diese ihren Namen vollständig aussprechen konnte, und dann hörte sie nur noch Rauschen und hier und da einen Wortfetzen. Sie sagte erneut mehrere Male »Hallo«, aber wer immer am anderen Ende war, konnte sich nicht verständlich machen.

Noch ein paar Sekunden stand sie, den Hörer ans Ohr gepresst, da. Dann legte sie auf, wobei sie Toby halblaut verwünschte. Hätte er nicht übers Festnetz anrufen können?

Dann fiel ihr ein, dass Toby möglicherweise zuerst versucht hatte, sie in der Londoner Zentrale zu erreichen. Daher wählte sie die Durchwahl ihrer neuen Assistentin, die sofort abnahm.

»Ich bin’s, Patsy«, sagte sie rasch. »Ich glaube, Toby Harte hat versucht, mich anzurufen. Aus den Staaten, von seinem Handy aus. Aber die Verbindung reißt immer wieder ab. Haben Sie heute Morgen von ihm gehört? Hat er versucht, mich zu erreichen?«

»Nein«, antwortete Patsy. »Bis jetzt sind überhaupt nur sehr wenige Anrufe für Sie eingegangen. Nur Jess Lester hat sich gemeldet, wegen eines Kleids, das Sie bestellt haben. Es ist fertig. Und Anita Moore möchte Ihnen ihre neue Linie von Kosmetik- und Körperpflegeprodukten präsentieren. Ich habe ihr gesagt, Sie würden sich Anfang nächster Woche mit ihr in Verbindung setzen.«

»Gut. Also hören Sie, wenn Toby sich aus den Staaten meldet, richten Sie ihm bitte aus, mich übers Festnetz anzurufen. Ich bin den ganzen Tag und auch abends auf Pennistone Royal erreichbar. Das ist doch viel einfacher.«

»Ich richte es aus. Bis dann, Tessa.«

Tessa ging zum Tisch zurück und warf, bevor sie sich wieder an die Arbeit setzte, automatisch einen Blick auf die Terrasse. Verblüfft hielt sie den Atem an. Adele saß nicht mehr an ihrem Teetischchen.

Oh Gott, wo war sie? Tessa stürzte durch die Glastüren und schaute sich nach rechts und links um. Ihre Tochter war nirgends zu entdecken. Normalerweise lief sie nicht weg. Adele war ein braves Kind.

Panik flackerte in Tessa auf. Sie fuhr herum, sah auf den Teetisch hinab, als suche sie nach einem Hinweis, und bemerkte sofort, dass die Stoffpuppe fehlte.

Wo steckte Adele bloß? War sie vielleicht hinunter zu der alten Eiche gegangen? Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, rannte Tessa zu der steinernen Balustrade und sah zu dem bewaldeten Tal hinüber, das hinter den sanft abfallenden Rasenflächen lag. Dort breitete eine uralte Eiche ihre langen Äste über eine Gartenbank. Oft ging Adele zum Spielen dorthin, doch jetzt war keine Spur von ihr zu entdecken.

Wie war sie bloß die Treppe hinuntergelangt? Tessas Besorgnis wuchs, als sie die Terrasse entlang und zur Treppe rannte. Sie fürchtete den Anblick, der sich ihr möglicherweise bieten würde: eine Dreijährige, die zusammengekrümmt und reglos am Fuß der Stufen lag. Aber auch dort fand sie Adele nicht.

Während Tessa zur Vorderfront des Hauses lief, wuchs ihre Angst zu entsetzlicher Panik. Keine Seele war zu sehen, nicht einmal die Gärtner oder die Stallburschen. Es herrschte eine geradezu unheilschwangere Stille, als wäre sie der einzige Mensch auf Erden.

An der Vordertür, die aus dicken Eichenbohlen bestand und mit Eisen beschlagen war, blieb Tessa einen Moment stehen und runzelte die Stirn. Die Tür war nur angelehnt, was sie überraschte, denn sonst wurde sie aus Sicherheitsgründen immer abgeschlossen. Verwirrt schob sie die Tür auf und ging nach drinnen.

»Adele! Adele!«, rief sie, so laut sie konnte, und schritt eilig aus. »Bist du hier, mein Schatz?«

Keine Antwort.

Kein Kind kam auf stämmigen kleinen Beinchen auf sie zugelaufen.

Nur Tessas Stimme hallte in der Stone Hall wider, dem weitläufigen, rustikalen Wohnraum im Erdgeschoss, dessen Name von dem grauen, aus den Steinbrüchen der Gegend stammenden Stein herrührte, der hier überall verbaut war. Ihr fiel ein, dass Adele vielleicht auf der Suche nach Margaret in die Küche gelaufen war, um sich für ihre Puppen-Teeparty Schokoladendrops von Cadbury zu erbitten, ihre Lieblingssüßigkeit. Tessa rannte den Flur entlang und in die Küche, doch auch dieser Raum war verlassen. Das Herz wurde ihr schwer, und vor Bestürzung krampfte sich ihr Magen zusammen. Tränen standen in ihren Augen, als sie sich kurz an den Türpfosten lehnte und versuchte, sich zu beruhigen. Wo konnte die Dreijährige noch sein? Wo?

Tessa holte tief Luft, ging zur Vorderseite des Hauses zurück und trat auf die gekieste Auffahrt. Verzweifelt fragte sie sich, wo sie mit der Suche nach Adele beginnen sollte. Ganz offensichtlich war ihr kleines Mädchen ins Gelände gelaufen. Sie würde dazu Wiggs und seine beiden Mitarbeiter brauchen, und wahrscheinlich auch die Stallburschen. Das Gelände von Pennistone Royal war riesig, und hinter den Feldern und Weiden lagen mehrere dichte Baumgruppen.

»Miss Tessa! Miss Tessa!«

Als sie die Stimme des Obergärtners vernahm, fuhr Tessa herum. Wiggs rannte auf sie zu, und sie sah, dass er Adeles Stoffpuppe in der Hand hielt.

Sie lief ihm entgegen.

»Wo haben Sie die gefunden?«, schrie sie.

Der Gärtner blieb stehen und reichte ihr die Puppe. »Gleich hinter der Kurve.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Sie wissen schon, Miss Tessa, die letzte Biegung in der Auffahrt, ehe man das Haus sieht.«

Tessa umklammerte die Stoffpuppe.

»Ich kann Adele nicht finden, Wiggs«, sagte sie mit bebender Stimme. »Sie war plötzlich weg, und ich habe keine Ahnung, wo sie steckt. Wir müssen im Gelände nach ihr suchen.«

Wiggs sah sie mit offenem Mund an. »Herrje, dann ist sie bestimmt in das Auto gestiegen.«

»Welches Auto?«, schrie Tessa, und Angst blitzte in ihren Augen auf. »Da war ein Wagen?« Ihre Stimme klang ungewöhnlich schrill, und sie packte den Gärtner am Arm.

»Jawoll. Hab die Reifen quietschen gehört, als er weggefahren ist. Hat beinahe eins der Ponys überfahren, und zwei von den Stalljungs sind hinterhergerannt, haben dem Fahrer nachgeschrien. Aber er hat nicht angehalten.«

Alle Farbe war aus Tessas Gesicht gewichen, und sie hatte das Gefühl, als würden ihr gleich die Beine wegknicken. Der Schock ließ sie am ganzen Körper erbeben. Mark. Das konnte nur Mark gewesen sein. Ja. Er hatte ihr gemeinsames Kind entführt. Von aufsteigender Panik überwältigt, presste sie die Lider zusammen und schlug die Hand vor den Mund.

»Gehen Sie lieber rein, Miss Tessa, und setzen sich hin«, sagte Wiggs. »Sie sehen ganz angeschlagen aus.«

Als Tessa die Augen wieder öffnete und tief Luft holte, hörte sie in der Ferne Hufgeklapper und fuhr herum.

»Das müssen Emsie und Desmond sein, die vom Reiten zurückkommen«, meinte Wiggs und sah sich um.

»Ja, ganz bestimmt«, pflichtete sie ihm bei und fand, dass ihre Stimme eigenartig gepresst klang. Sie wandte sich Wiggs zu und unterdrückte die Tränen, die ihr schon wieder in die Augen stiegen. »Dieser Wagen, Wiggs«, stieß sie mühsam hervor, »wie hat er ausgesehen? Haben Sie den Fahrer erkannt? Was meinen Sie, könnte es Mr Longden gewesen sein?«

Wiggs schüttelte den Kopf. »Hab sein Gesicht nicht gesehn. Aber es war ein Mann, jawoll. Schwarzes Auto. Ein Mercedes glaub ich.« Er nickte, und er schien sich jetzt sicher zu sein. »Ja, ganz bestimmt ein Mercedes, Miss Tessa.«

In diesem Moment kamen ihre jüngeren Halbgeschwister Emsie und Desmond um die Kurve. Ihre Pferde gingen langsam, und Emsie winkte ihr. »Tessa! Hallo!«, rief sie fröhlich. Auch Desmond winkte und strahlte über sein ganzes junges, attraktives Gesicht.

Tessa hob den Arm und bedeutete ihnen, zu ihr zu kommen; dann überlegte sie es sich anders und rannte auf die beiden zu. Wiggs folgte ihr.

Desmond, der auf einem herrlichen schwarzen Hengst saß, sah zu seiner ältesten Schwester hinunter. »Was ist los, Tessa?«, fragte er beinahe schroff, als er bemerkte, dass ihr Gesicht so weiß war wie die Baumwollbluse, die sie trug.

»Es geht um Adele«, begann sie und schüttelte den Kopf. »Sie ist weg. Einfach spurlos verschwunden.« Ihr versagte die Stimme, und sie unterbrach sich und sah Wiggs hilfesuchend an.

Der Gärtner kannte Tessa seit ihrer Kindheit und begriff sofort. Er sollte an ihrer Stelle sprechen, weil sie nicht in der Lage dazu war. »Das war so, Master Desmond«, begann er. »Hier war ein Auto. Ich weiß nicht, wer dringesessen hat, aber es ist mit einem Affenzahn davongefahren und hat fast ’n Pony überfahren, das sich auf die Zufahrt verlaufen hatte. Zwei von den Stallburschen sind noch hinterhergerannt, aber der Fahrer hat nicht angehalten. Ist einfach aus dem Tor geschossen wie ’n geölter Blitz. Ich bin die Auffahrt raufgegangen … und dann hab ich Adeles Stoffpuppe gesehen.« Er nickte und kam zum Ende. »Ich dachte, Adele hat die bestimmt fallen gelassen, als sie in das Auto gestiegen ist. Ganz sicher bin ich mir aber nicht, verstehen Sie. Aber ich glaub schon.«

»Aber Sie haben Adele nicht eindeutig im Auto gesehen?«, fragte Desmond und zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch.

Wiggs schüttelte den Kopf. »Aber, ich meine, die Puppe auf’m Boden … da dachte ich einfach, sie wäre mit dem Auto weg.«

Tessa holte tief Luft. »Wiggs, bitte sorgen Sie dafür, dass das Gelände abgesucht wird«, ordnete sie mit besorgter Stimme an, »und reden Sie mit dem Verwalter. Vielleicht weiß er ja, wer in dem Wagen gesessen hat. Vielleicht hatte er Besuch – jemand, mit dem er wegen des Anwesens zu tun hatte.«

»Die Suchaktion bring ich in Gang, Miss Tessa, aber Joe hat nichts damit zu tun. Er ist nach East Witton gefahren, und ich glaub nicht, dass er so bald zurückkommt. Aber niemand, der zu Joe will, würde so fahren; schließlich haben wir die ganzen Warnschilder aufgestellt, damit die Leute wegen der Pferde langsam fahren sollen. Nee, wer in dem schwarzen Auto gesessen hat, der kam nicht von hier. Die Leute aus der Gegend fahren nicht so rücksichtslos.«

»Der Meinung bin ich auch«, sagte Desmond. Rasch stieg er ab, ging zu Tessa und legte einen Arm um ihre Schultern, um sie zu beruhigen. Doch er war ebenso besorgt wie sie. Was sollten sie nur tun?

Emsie tat es ihm nach und stieg mit geübter Eleganz vom Pferd. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Pferde in den Stall zu bringen?«, fragte sie, an Wiggs gewandt. »Wir kommen in ein paar Minuten und reiben sie ab.«

»’türlich bring ich sie zurück, Emsie«, antwortete er, nahm ihr die Zügel ab und trat zu Desmonds Pferd. »Aber die Stallburschen kümmern sich schon drum. Sie beide sollten bei Miss Tessa bleiben.«

Emsie lächelte, aber es war ein zaghaftes Lächeln, und Wiggs fiel auf, dass ihr Gesicht genauso bleich war wie das ihrer Halbschwester. Auch sie sah verängstigt aus. Er tätschelte der Siebzehnjährigen die Schulter. »Machen Sie sich mal keine Sorgen, Mädel. Wenn Adele hier irgendwo ist, dann finden wir das Kind auch.«

»Ich hoffe wirklich, dass sie sich nur verlaufen hat«, murmelte Emsie und biss sich auf die Lippen. »Hoffentlich steckt nicht mehr dahinter.«

Als Wiggs mit den Pferden davoneilte, überlegte er, dass höchstwahrscheinlich Mark Longden das Kind verschleppt hatte. Alle Bediensteten wussten über die bevorstehende Scheidung Bescheid; über Longden wurde viel geredet. Niemand konnte ihn leiden. Sicher, er war der Vater des kleinen Mädchens und würde ihm bestimmt nichts antun. Aber Longden war ein ziemlicher Mistkerl, zumindest hatte er das gehört. Ein Säufer, und außerdem drogensüchtig. Und ein Mann, der seine Ehefrau verprügelte. Wiggs war der Ansicht, dass ein Mann, der eine Frau schlug, ein Feigling, ein Tyrann und ein Rowdy war. Gut, dass Miss Tessa ihn verlassen hatte.

Desmond ging mit seinen Schwestern ins Haus. Als sie eilig in die Stone Hall traten, nahm er Tessas Arm. »Soll ich dir einen Brandy holen? Du siehst aus, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen.«

»Nein danke, Des. Eine Tasse Tee und ein Aspirin könnte ich allerdings vertragen. Lass uns in die Küche gehen.«

Er nickte, und er und Emsie folgten Tessa den Flur entlang. In der Küche füllte Emsie den Elektrokocher mit Wasser, schaltete ihn ein und nahm dann die braune Teekanne und drei Becher aus dem Schrank.

Desmond und Tessa setzten sich an den runden Tisch am Erkerfenster, und Desmond nahm die Hand seiner Schwester in der Hoffnung, sie beruhigen zu können. Mit seinen fünfzehn Jahren war Desmond O’Neill schon sehr erwachsen und sah auch älter aus, als er war. Er wollte etwas sagen, schwieg aber, als er Tessas verzweifelte Miene bemerkte. Er war schon immer empfindsam für ihre Gefühle gewesen und begriff, dass sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Tessa drehte sich der Kopf, und sie fühlte sich krank und von Ängsten zerrissen. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Wie sollte sie einfach hier sitzen und warten, während Wiggs und die anderen das Anwesen durchsuchten? Das konnte Ewigkeiten dauern. War Zeit bei solchen Vorfällen nicht der entscheidende Faktor? Wenn Adele sich tatsächlich verlaufen hatte, würde sie bald in Panik geraten, und dann konnte ihr etwas zustoßen. Tessa fragte sich, ob sie sich an der Suche beteiligen sollte. War es möglich, dass Mark Adele verschleppt hatte? Oder steckte Jonathan Ainsley dahinter? Sofort schob sie den Gedanken beiseite. Die Vorstellung, dass Jonathan Ainsley etwas mit Adeles Verschwinden zu tun haben könnte, jagte ihr Angst ein. Wenn Mark ihre Tochter wirklich hatte, würde er dann nicht in Pennistone Royal anrufen, um mit ihr zu reden? Er würde Adele bestimmt nichts zuleide tun, denn er betete das kleine Mädchen an. Aber andererseits war er momentan nicht er selbst. Unwillkürlich zitterte Tessa.

Desmond bemerkte, wie aufgewühlt sie war. »Sie hat ganz bestimmt in diesem Wagen gesessen, Tessa«, sagte er in seinem beruhigendsten Tonfall. »Wiggs hat sie vielleicht nur nicht gesehen. Ich glaube nicht, dass Adele sich verlaufen hat und irgendwo hier auf dem Gut umherirrt. Sonst hätten Emsie und ich sie auf dem Rückweg bestimmt gesehen. Zu den Feldern kommt man nur über den Weg, den wir heraufgeritten sind.«

Tessa gab keine Antwort.

Auch Desmond verfiel in Schweigen. Er liebte Tessa, und sie liebte ihn. Die beiden waren schon immer gute Freunde gewesen. Tessa war wirklich nicht die Hexe, für die einige Familienmitglieder sie hielten.

Tessa riss sich aus ihren Grübeleien. »Du hast ganz bestimmt recht«, sagte sie plötzlich. »Sie war in diesem Wagen, Des. Außerdem ist sie noch so klein; wenn sie weggelaufen wäre, dann wäre sie nicht weit gekommen.«

»Aber wer würde sie im Auto mitnehmen, ohne dir Bescheid …« Er unterbrach sich und sah ihr in die Augen. »Mark Longden. Natürlich! Du glaubst, dass er sie entführt hat, stimmt’s?«

»Ja.«

»Ich auch. Das erklärt alles.«

Emsie trug das Tablett mit der Teekanne und den Bechern zum Tisch und setzte es ab. »Ich wüsste nicht, wer sonst in Frage käme«, meinte sie. »Was für eine hässliche Scheidung.«

»Außer natürlich, jemand anderes …«, Desmond hielt inne, holte tief Luft und sprach weiter, »… hat sie entführt. Um ein Lösegeld zu erpressen. Unsere Familie ist eine perfekte Zielscheibe für so etwas.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht.« Tessa schloss wieder die Augen und versuchte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bekommen. »Deswegen muss ich auch hierbleiben, damit ich ans Telefon gehen kann.«

Sie war bleich und ihre Anspannung so spürbar, dass Desmond überzeugt war, dass sie gleich in Ohnmacht fiele.

Emsie goss Tee in den Becher ihres Bruders und suchte dabei seinen Blick. Die beiden waren von jeher vollkommen aufeinander eingestimmt. Sie war zwei Jahre älter als Desmond, aber trotzdem fühlte er sich als ihr Beschützer. Die Geschwister waren die besten Freunde.

Lautlos formte sie die Worte. »Linnet. Wir brauchen Linnet.«

Desmond nickte und sah abwartend zu Tessa hinüber.

Trotz ihrer zarten Schönheit besaß Tessa Fairley Longden große innere Kraft und ein enormes Maß an Zähigkeit. Wie sie so oft sagte, war sie nicht umsonst Emma Hartes Urenkelin; sie hatte eine gewisse Härte und war sehr entschlossen.

Endlich nahm sie sich zusammen, schlug die Augen auf und setzte sich ein wenig gerader hin. »Danke für den Tee, Emsie«, murmelte sie und nahm mit einem großen Schluck ihr Aspirin. Nach kurzem Nachdenken warf sie einen Blick zur Wanduhr. »Hier ist es fast elf«, sprach sie weiter. »Sechs Uhr morgens in New York. Sinnlos, Mama und Shane jetzt anzurufen.«

»Sie schlafen bestimmt noch«, warf Emsie etwas zu hastig ein. »Wie wär’s, wenn du dich mit deinem Anwalt besprichst?«

»Nein, nein!« rief Tessa und warf Emsie einen vernichtenden Blick zu. »Du kennst doch die Familienregeln genau, Emmas Regeln, an die wir uns immer halten. Wir bringen die Dinge selbst in Ordnung, wenn nötig, mit Hilfe der anderen Clans. Aber Außenstehende werden erst eingeweiht, wenn uns wirklich keine andere Wahl bleibt.«

»Du solltest Linnet anrufen«, schlug Desmond mit einem kurzen Blick zu Emsie vor und hoffte, Tessa würde ihm nicht den Kopf abreißen. Die angespannte Beziehung zwischen seinen Schwestern sorgte oft für Probleme. Beide wollten eines Tages die Leitung von Harte’s übernehmen. Aber Linnet war, abgesehen von seinen Eltern, das klügste Familienmitglied; er war überzeugt, dass sie in Abwesenheit seiner Mutter und seines Vaters am besten geeignet war, die Verantwortung zu übernehmen.

Erstaunlicherweise regte Tessa sich nicht über seinen Vorschlag auf, sondern sprang auf und lief zum Telefon, das auf der Küchentheke stand. »Das mache ich auch, Desmond. Sofort.«

Tessa wusste, dass Linnet vorgehabt hatte, entweder heute oder morgen nach Pennistone Royal zu kommen; deshalb rief sie nicht bei Harte’s in London an, sondern auf Linnets Mobiltelefon. Wahrscheinlich war ihre Schwester schon unterwegs. »Linnet O’Neill« kam schnell die knappe Antwort.

»Ich bin’s, Tessa. Ich habe hier ein Problem.«

»In der Filiale in Harrogate?« Linnet klang überrascht.

»Nein. Zu Hause. Auf Pennistone Royal.«

»Ein Problem ausgerechnet dort? Was ist passiert?«

»Es geht um Adele. Ich kann sie nicht finden, und ich habe schreckliche Angst. Ich glaube, dass Mark dahintersteckt.« Tessas Stimme zitterte, und sie schluckte krampfartig.

»Wenn du diesen Eindruck hast, dann wird es stimmen«, pflichtete Linnet ihr bei. »Bleib ruhig, ich bin in ungefähr einer Stunde bei dir. Ruf noch nicht bei der Polizei an. Diese Angelegenheit können wir selbst regeln.«

»Ich weiß. Hör zu, Desmond ist der Meinung, es könnte sich auch um eine professionelle Entführung handeln. Um Lösegeld zu erpressen.«

»Oh mein Gott! Hoffen wir, dass dem nicht so ist. Erzähl mir genau, was geschehen ist.«

Tessa berichtete in allen Einzelheiten, woran sie sich erinnerte.

»Die Anrufe sollten dich ablenken«, meinte Linnet dann. »Ich bin mir absolut sicher, dass es Mark war. Trotzdem bin ich froh, dass Wiggs das Gelände durchkämmt. Sie könnte ja wirklich vom Haus weggegangen sein. Aber dann ist sie sicher nicht weit gekommen. Ist jemand bei dir?«

»Ja, Desmond und Emsie. Elvira hat ihren freien Tag, und Margaret ist zum Markt gefahren. Und Joe ist in East Witton.«

»Desmond ist ziemlich verlässlich und verantwortungsbewusst, und Emsie auch. Ich bin froh, dass sie da sind. Wo ist Evan?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie vor ein paar Stunden wegfahren sehen.«

»Sie kommt bestimmt bald zurück. Also: Bleib, wo du bist, damit du ans Telefon gehen kannst; und wenn Mark anruft, sag ihm, er soll Adele sofort zurückbringen. Sei hart, aber höflich. Versuch keinen Streit vom Zaun zu brechen.«

»Und wenn er mit mir verhandeln will? Wenn er Forderungen stellt?«

»Versprich ihm alles, was er haben will. Hauptsache, das Kind ist wieder bei dir. Mit Mark können wir uns später beschäftigen.«

»In Ordnung. Aber wenn es nicht Mark ist? Was, wenn es wirklich eine Entführung ist und die Kidnapper anrufen und Forderungen stellen?«

»Hör dir an, was sie zu sagen haben. Geh auf ihre Forderungen ein, aber erkläre ihnen, dass du Zeit brauchst, um das Geld zu beschaffen. Ich bin mir sicher, dass sie Geld verlangen werden – darum geht es schließlich bei den meisten Entführungen.«

»Verstehe.«

»Und Tessa – Adele wird nichts passieren.«

»Aber …«

»Ich verspreche es dir«, unterbrach Linnet sie. »Geh sie nicht suchen. Du musst im Haus bleiben, um ans Telefon zu gehen und zu verhandeln. Bis gleich dann.« Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch.

Sobald sie einen Rastplatz sah, fuhr Linnet O’Neill von der Straße ab. Einen Moment lang saß sie da und dachte über den Anruf ihrer Schwester und Adeles Verschwinden nach. Sie war wütend. Wusste ich doch, dass dieser Bastard sich nicht einfach geschlagen geben würde, dachte sie. Sie hatte Mark Longden noch nie gemocht und immer für geldgierig, egozentrisch und unaufrichtig gehalten. Schon vor Jahren hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er hinter Tessas Vermögen her war, gar nicht zu reden von ihrem Prestige als Mitglied der Harte-Familie. Linnet hatte nie ganz verstanden, warum eine schöne und kluge junge Frau wie ihre Schwester ihn geheiratet hatte. Ihrer Meinung nach war er nicht einmal ein besonders guter Architekt.

Kürzlich hatte ihre Mutter ihr anvertraut, dass Mark Longden Tessa körperlich und seelisch misshandelt hatte, und Linnet war nicht im Geringsten überrascht gewesen. Sie hatte immer geahnt, dass hinter seinem falschen Charme ein unangenehmer Charakter steckte.

Als Linnet jetzt dasaß und über Adeles plötzliches Verschwinden nachdachte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht glaubte, das Kind sei von Fremden entführt worden, um Lösegeld zu erpressen. Es war Mark Longden gewesen. Ihre Intuition sagte ihr, dass er etwas von den Hartes wollte und seine kleine Tochter als Faustpfand einsetzte. Dieser Mistkerl, murmelte sie noch einmal und verfluchte ihn halb-laut.

»›Jeder Mensch hat seinen Preis, und der ist nicht immer in barer Münze zahlbar‹«, hatte ihre Mutter einmal zu ihr gesagt, und Linnet hatte diese Worte nie vergessen. Wenn es hart auf hart kam, hatte jeder eine Schwäche, etwas, das er um jeden Preis schützen wollte, und sehr oft hatte Geld gar nichts damit zu tun. Es gab auch andere Währungen.

Von ihrer Mutter wusste Linnet, dass Mark Longden momentan nicht nur stark trank, sondern auch Drogen nahm. Diese Information war zwar beunruhigend, doch nun gewann sie besorgniserregende Dimensionen. Unter dem Einfluss einer Kombination aus Drogen und Alkohol konnte ein Mensch sich leicht verantwortungslos, sprunghaft oder gewalttätig verhalten. Sie war sich ziemlich sicher, dass Mark seinem einzigen Kind nicht absichtlich weh tun würde. Aber wenn ihm selbst etwas zustieß oder er in Konflikt mit anderen geriet und Adele dabei zu Schaden kam?

Plötzlich ging Linnet auf, dass Tessa sich ähnliche Gedanken gemacht haben musste. Noch nie hatte sie ihre Schwester so verletzlich erlebt, so ratlos.

Normalerweise neigte Tessa dazu, die Führung zu übernehmen und alle anderen herumzukommandieren. Wegen Tessas Ehrgeiz, sich als Erbin ihrer Mutter aufzuspielen, als Thronfolgerin, wie sie selbst sagte, waren sie und Linnet schon oft aneinandergeraten. Aber es gab eine Familienregel, die bis auf Emma Harte und ihre Brüder zurückging und noch nie gebrochen worden war. Die Hartes standen unter allen Umständen loyal zueinander. Sie waren dazu erzogen, im Kampf stark und unverbrüchlich zusammenzuhalten und einander gegen die ganze Welt zu verteidigen. Wenn nötig, würden sie füreinander töten oder ihr Leben für die Familie opfern. Die Familienregeln der Hartes waren Linnet zur zweiten Natur geworden, und sie lebte danach.

Linnet wusste genau, wie sehr ihre Schwester ihr Kind liebte. Die ganze Familie betete Adele an. Mit ihrem silberblonden Haar, den hellgrauen Augen und dem exquisiten Gesichtchen wirkte die Dreijährige wie ein Engel von Botticelli, und niemand konnte sich ihrer Ausstrahlung entziehen. Linnet hielt Adele für eines dieser seltenen vollkommenen Kinder, denen eine goldene Zukunft schon in die Wiege gelegt ist. Gott verhüte, dass ihr etwas zustieß.

Was sollte sie tun, wo beginnen? Fahr erst einmal los, dachte sie, löste die Handbremse und steuerte langsam in Richtung Autobahn.

Linnet wusste, dass sie jetzt die Führung übernehmen musste. Tessa hatte sich an sie gewendet, was ihr verriet, dass ihre Schwester selbst emotional viel zu sehr beansprucht war, um richtig mit der Situation umzugehen. Ich muss rasch handeln, dachte Linnet. Sehr rasch. Ich muss Mark aufspüren und dieses Kind finden, bevor etwas passiert.

Ihre Eltern hielten sich zusammen mit Tante Emily und Onkel Winston in New York auf. Damit waren die vier mächtigsten Familienmitglieder für den Moment aus dem Spiel. Also musste sie selbst ihr Bestes geben.

Sollte sie sich an Gideon Harte wenden? Einen Moment dachte sie über ihren Cousin und besten Freund nach. Gideon konnte ihr eine sehr große Hilfe sein. Er leitete die Harte-Zeitungsgruppe, war brillant und mit allen Wassern gewaschen, und ihm standen alle erdenklichen Mittel zur Verfügung, denn der Besitz und die Leitung eines internationalen Zeitungsimperiums bedeuteten vor allem eines: Macht. Gewaltige Macht. Ja, vielleicht würde es nötig sein, Gideon einzuspannen. Aber was sie im Moment wirklich brauchte, war ein Experte. Einen echten Profi, einen Polizisten, der nicht wirklich einer war. Ein Name drängte sich geradezu in ihre Gedanken.

Jack Figg.

Harte’s Sicherheitsberater gehörte praktisch zur Familie. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit und betrachtete ihn als Freund. Sobald Linnet einen weiteren Rastplatz vor sich sah, verließ sie die Autobahn. Sie kramte in ihrer Reisetasche nach dem Adressbuch und fand rasch seinen Namen.

Wenige Sekunden später wählte sie Jacks Handynummer.

»Figg hier«, meldete er sich.

»Jack, hier ist Linnet.«

»Hallo, meine Schöne. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich brauche Sie, Jack. Bitte.«

»Ich gehöre Ihnen …«, er lachte, »wann immer Sie mich wollen.«

»Wissen Sie noch, was Sie im Juni auf Shanes Geburtstagsparty zu mir gesagt haben – dass ich im Notfall immer auf Sie zählen könnte?«

»Ja, und das war mir ernst.«

»Danke, Jack. Dieser Notfall ist nämlich eingetreten.«

»Erzählen Sie mir alles, was ich wissen muss.«

Das tat sie, und sie teilte ihm auch ihre eigenen Überlegungen zu den Ereignissen mit.

»Ganz eindeutig, die Anrufe sollten Tessa ablenken. Wo sind Sie jetzt, Linnet?«

»Auf einem Parkplatz, ungefähr eine Autostunde von Pennistone Royal entfernt. Sind Sie in Robin Hood’s Bay?«

»Nein, ich stehe zusammen mit einem Freund vor der Kathedrale von York. Wenn ich jetzt losfahre, komme ich wahrscheinlich gleichzeitig mit Ihnen beim Haus an. Aber sagen Sie Tessa bitte, dass Sie mich um Hilfe gebeten haben, für den Fall, dass ich vor Ihnen eintreffe.«

»Wird gemacht. Und danke, Jack.«

»Für Sie tu ich doch alles, meine Schöne.«

Dann hatte er aufgelegt, und sie war wieder auf der Autobahn und gab kräftig Gas. Im Moment herrschte kaum Verkehr; wenigstens ein Umstand, der ihr nützte.

Ungefähr zwanzig Minuten konzentrierte Linnet sich ganz aufs Fahren; dann nahm sie die Geschwindigkeit herunter und rief Tessa an. Ihre Schwester hatte nichts Neues zu berichten. Wiggs und seine Suchmannschaft waren noch unterwegs. Linnet erzählte ihr von Jack Figg und seinem baldigen Eintreffen. Glücklicherweise erhob Tessa keinerlei Einwände.

Ein paar Sekunden später tippte sie die Nummer von Evans Mobiltelefon ein, doch es war abgeschaltet. Bestimmt war sie bei Onkel Robin, mit dem sie schon seit Wochen hatte reden wollen. Plötzlich dachte Linnet an ihre Cousine India Standish. India war heute früh von London aus nach Leeds aufgebrochen, um mit den Planungen für die Renovierung des Kaufhauses zu beginnen. Linnet stand ihrer Cousine sehr nahe. India wurde überhaupt von allen in der Familie sehr geliebt. Sie hatte ein freundliches und liebevolles Naturell, und viele hielten sie für zart, zerbrechlich sogar. Doch ihr elegantes, aristokratisches Äußeres, das sie von den Fairleys geerbt hatte, trog über ihren wahren Charakter.

Linnet wusste, dass India praktisch veranlagt und körperlich zäh war und mit beiden Beinen auf der Erde stand; und wie ihre Urgroßmutter Emma Harte war sie absolut furchtlos. India arbeitete in der Modeabteilung von Harte’s in London mit ihr zusammen, und die beiden waren seit ihrer Kindheit eng befreundet. India war zwar auf Clonloughlin, dem Gut ihres Vaters in Irland, aufgewachsen, aber sie hatte jeden Sommer auf Pennistone Royal verbracht. Linnet liebte es, mit Indias Großtaten aus ihrer Kinderzeit anzugeben … Einmal war sie in den Hinterhof von Pennistone Royal gestürzt, mit dicken Schutzhandschuhen bewaffnet, um zwei Hunde zu trennen, Joes Jack-Russell-Terrier, die um ein totes Kaninchen stritten. Ein anderes Mal war Linnets kleine Schwester Emsie in die große Eiche geklettert, hatte in den höchsten Ästen festgesteckt und weder vor noch zurück gekonnt. Trotz Linnets Warnungen, dass sie beide vom Baum fallen würden, war India hochgeklettert, hatte bei Emsie gesessen und sie umarmt, bis Linnet mit Joe, dem Verwalter, und einer langen Obstbaumleiter zurückgekommen war.

Ja, India konnte ihnen in dieser Lage eine Hilfe sein, und sie verstand sich gut mit der mitunter schwierigen Tessa.

India würde die nächsten Tage auf Pennistone Royal verbringen. Ich sollte sie lieber vorwarnen, bevor sie losfährt, dachte Linnet. Sie wählte die Nummer ihrer Cousine und wartete, doch das Mobiltelefon klingelte und klingelte.

3

»Das ist dein Telefon, nicht meins«, sagte Russel »Dusty« Rhodes mit einem Blick zu India Standish, die am Fenster stand.