Audras Erbe - Wer Liebe sät - Barbara Taylor Bradford - E-Book

Audras Erbe - Wer Liebe sät E-Book

Barbara Taylor Bradford

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Beschreibung

Die erfolgreiche Modeschöpferin Christina will nicht akzeptieren, dass ihre Tochter eigene Wege geht. Christinas Mutter Audra versucht, den allmählich immer hasserfüllteren Streit zu schlichten. Denn sie weiß, wie es sich anfühlt, wenn man große Opfer für seine Kinder bringt - und sie dann aber ganz andere Vorstellungen vom Leben haben. Als Waise und Krankenschwester hat sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dafür gekämpft, der talentierten Christina ein Kunststudium an Londons Royal Academy zu ermöglichen. Aber die Tochter wollte von den hochfliegenden Plänen der Mutter nichts wissen und entschied sich für eine Karriere als Geschäftsfrau.

Die Geschichte eines bewegenden Mutter-Tochter-Konflikts ist einer der Klassiker der Unterhaltungsliteratur.

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Seitenzahl: 684

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog:

Audra, Christina und Kyle 1978

Audra 1926 – 1951

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Christina 1951 – 1965

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Epilog: Kyle, Audra und Christina 1978

Weitere Titel der Autorin:

Die Emma-Harte-Saga:

Des Lebens bittere Süße

Bewahrt den Traum

Und greifen nach den Sternen

Und plötzlich reißt der Himmel auf

Ein Geschenk des Schicksals

Am Ende wartet die Liebe

Die Yorkshire-Saga:

Cavendon Hall – Zeiten des Verrats

Cavendon Hall – Momente des Glücks

Cavendon Hall – Jahre des Schicksals

Cavendon Hall – Tage des Aufbruchs

Stephanies Geheimnis – Ein Hauch von Ewigkeit

Über dieses Buch

Die erfolgreiche Modeschöpferin Christina will nicht akzeptieren, dass ihre Tochter eigene Wege geht. Christinas Mutter Audra versucht, den allmählich immer hasserfüllteren Streit zu schlichten. Denn sie weiß, wie es sich anfühlt, wenn man große Opfer für seine Kinder bringt – und sie dann aber ganz andere Vorstellungen vom Leben haben. Als Waise und Krankenschwester hat sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dafür gekämpft, der talentierten Christina ein Kunststudium an Londons Royal Academy zu ermöglichen. Aber die Tochter wollte von den hochfliegenden Plänen der Mutter nichts wissen und entschied sich für eine Karriere als Geschäftsfrau.

Über die Autorin

Barbara Taylor Bradford verbrachte ihre Kindheit und Jugend in England. Sie arbeitete als Journalistin, bevor sie im Alter von achtzehn Jahren begann, Kinderbücher zu schreiben. Schon bald folgten Romane, der Durchbruch gelang ihr mit »Des Lebens bittere Süße«. Seitdem hat sie fünfundzwanzig Bücher geschrieben, die allesamt Bestseller wurden. Sie widmet alle Werke ihrem Mann.

Barbara Taylor Bradford

Audras Erbe -

Wer Liebe sät

Aus dem Englischen von Sonja Schleichert

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1986 by Barbara Taylor Bradford

Titel der Originalausgabe: »Act of Wills«

Originalverlag: Doubleday & Company, Inc., Garden City, New York

Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Sonja Schleichert

© Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 1987 by Rowohlt Verlag

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: Wer Liebe sät

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt, München

unter Verwendung von Motiven © victoriaandreas / Getty Images; marcyano / Getty Images; phatthanit_r / Getty Images

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0328-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

In Liebe dem Angedenken meiner Eltern Freda und Winston Taylor gewidmet. Sie schenkte mir das Wichtigste, das eine Mutter ihrem Kind geben kann, das Bestreben nach Vortrefflichkeit. Er lehrte mich, beherzt und aufrecht meinen Weg zu gehen.

Mit all meiner Liebe ist dieses Buch auch meinem Mann Bob gewidmet, dessen Liebe und Unterstützung der ihren gleichkommt.

Prolog:Audra, Christina und Kyle 1978

Audra Crowther saß im Wohnzimmer des Penthouses ihrer Tochter in Manhattan auf dem Sofa. Sie hielt sich kerzengerade und hatte ihre Hände so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel ganz weiß waren, während sie von ihrer Tochter Christina zu ihrer Enkelin Kyle blickte.

Die beiden jüngeren Frauen standen mit blassen Gesichtern in der Mitte des Zimmers, und wenn sie einander anschauten, blitzten ihre Augen. Die zornigen Worte, die sie sich vor ein paar Minuten an den Kopf geworfen hatten, hallten immer noch in der warmen Nachmittagsluft wider.

Audra fühlte sich hilflos. Sie wusste, dass es die reine Zeitverschwendung sein würde, ihnen Vorhaltungen zu machen, sie zur Vernunft bringen zu wollen, zumindest in diesem Augenblick. Jede glaubte sich im Recht, und keine Überredungskunst der Welt würde sie dazu bringen, ihren Standpunkt aufzugeben oder sich darum zu bemühen, auch die andere Seite zu bedenken.

Sogar ihre Kleidung war wie eine trennende Uniform und betonte ihre wesentliche Andersartigkeit, entfernte sie noch mehr voneinander: Kyle trug Jeans und Turnschuhe, und ihr einziges Zugeständnis an Eleganz war das weiße Voilehemd aus der Schweiz – diese Kombination verlieh ihr ein seltsam verletzliches, kindliches Aussehen mit ihrem klaren Gesicht und dem langen, offen herabhängenden Haar. Christina dagegen trug ein teures, wunderschön geschneidertes Kleid und eine dazu passende taillierte Jacke aus Rohseide, die sicherlich ihr eigenes Couture-Etikett trug. Die silbergraue Seide passte perfekt zu ihrem kastanienbraunen Haar, auf dem rotgoldene Lichter tanzten, und betonte außerdem ihre hinreißenden, rauchgrauen Augen, die immer das Schönste an ihr gewesen waren. Schlank und untadelig gepflegt, sah man ihr die siebenundvierzig Jahre kein bisschen an.

Industriemagnatin kontra Studentin ... Etablierte kontra Rebellin ... Mutter kontra Tochter, dachte Audra und unterdrückte ein Seufzen. Nun ja, es war nicht das erste Mal, dass eine Mutter und deren Tochter über Kreuz lagen – ein jahrhundertealter Konflikt.

Plötzlich durchbrach Kyle das lange Schweigen und sagte scharf: »Und da ist noch etwas, Mutter – du hattest überhaupt kein Recht, die arme Grandma in alles hineinzuziehen und sie aus England kommen zu lassen, besonders, wo doch ...«

»Habe ich auch gar nicht!«, konterte Christina heftig. »Dein Vater war es, der meine ...«

»Jaja, schieb nur alles auf Dad«, fiel Kyle ihr mit schneidender Stimme ins Wort.

»Aber es war dein Vater, der meine Mutter angerufen hat«, protestierte Christina. Hilfesuchend wandte sie sich an Audra. »Stimmt’s, Mummy?«

Audra richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Enkelin. »Ja, das stimmt, Kyle.«

Kyle warf ihre schwarze Haarmähne zurück und steckte dann heftig ihre Hände in die Taschen der Jeans, ihre Bewegungen waren abrupt und trotzig. Die großen braunen Augen, die sonst immer so sanft wie ein Reh dreinschauten, blitzten weiterhin aufgebracht. »Er dachte wohl, dass wir jemanden brauchen, der unseren Streit schlichtet. Nun, das ist nicht der Fall ... es gibt nichts zu schlichten ...« Sie hielt inne, schwang ihren langgliedrigen Körper in Audras Richtung und lächelte zögernd. »Tut mir leid, Gran, ich wollte nicht unhöflich sein, aber man hätte dich nicht dazu bewegen sollen, um die halbe Welt zu reisen, bloß weil es meinen Eltern aufgegangen ist, dass sie mich nicht beeinflussen können, nicht mehr im Griff haben.« Kyle ließ ein ungewohnt raues Lachen ertönen. »Verstehst du, das ganze Problem besteht darin, dass mich meine Eltern wie ein Kind behandeln. Grandma. Man sollte denken, ich sei neun Jahre alt, keine neunzehn, wenn man sieht, wie lächerlich sie sich aufführen.«

Bevor Audra auch nur die Gelegenheit hatte, etwas zu diesen heftigen Anschuldigungen zu sagen, wirbelte Kyle herum und sah Christina an. Ihre Stimme wurde schrill, und sie sagte hastig: »Nichts wird mich dazu bringen, dass ich meinen Entschluss aufgebe, Mutter. Nichts und niemand. Nicht einmal Grandma. Ich werde mein Leben so leben, wie ich es will. Es ist mein Leben und gehört niemand anderem. Du und Dad, ihr könnt mich ohne einen Pfennig auf die Straße setzen. Das ist mir völlig egal. Dann besorge ich mir eben einen Job, der mich während meines Studiums über Wasser hält. Ich brauche eure Hilfe nicht!«

»Weder dein Vater noch ich haben jemals etwas davon gesagt, dass wir dich auf die Straße setzen wollen«, rief Christina, wütend darüber, dass Kyle ihr so etwas unterstellte. »Dein Problem ist, dass du offenbar nicht fähig bist, vernünftig über dieses Thema zu sprechen. Und ruhig. Jedes Mal, wenn wir versuchen, uns mit dir darüber zu unterhalten, kriegst du einen Anfall!«

»Ausgerechnet du musst das sagen! Bist du etwa ruhig!«

Christinas Mund wurde schmal vor Zorn, aber sie bemühte sich, ihrer aufsteigenden Entrüstung Herr zu werden. »Das ist auch nur zu verständlich«, entgegnete sie kalt. »Ich habe ein ungeheures Imperium errichtet, eine internationale Modeproduktion, die Millionen Dollar wert ist, und du bist mein einziges Kind, meine Erbin. Wir sind immer davon ausgegangen, dass du eines Tages meine Nachfolgerin werden würdest. Wir alle gingen davon aus. Mit diesem Gedanken bist du ausgebildet worden. Und nun, aus heiterem Himmel, sagst du mir, dass du die Firma nicht haben willst. Ich bin einfach vollkommen ...«

»Nein, ich will sie nicht!«, schrie Kyle. »Hast du das denn immer noch nicht begriffen, Mutter? Ich sage dir das schon tagelang! Ich interessiere mich kein bisschen für dein blödes Imperium! Von mir aus kann sonst was damit passieren, kann es zusammenbrechen! Das ist dein Problem, nicht meins!«

Christina wich zurück und hielt den Atem an. Die wilde Art, mit der Kyle ihr diese Worte entgegengeschleudert hatte, entsetzte sie ebenso wie deren Inhalt.

Audra, die ihre Betroffenheit sah, sagte streng: »Nun reiß dich mal ein bisschen zusammen, Kyle.«

Sofort wurde es Kyle klar, dass sie zu weit gegangen war, und verlegen biss sie sich auf die Lippen. Ihr Hals bedeckte sich mit hektischen roten Flecken, die dann auch auf ihren glatten, jungen Wangen erschienen. Verstohlen blickte sie zu ihrer Großmutter hinüber, die so bleich und still auf dem Sofa saß. Sie sah die Trauer und Enttäuschung, die sich in Audras aufrichtigen blauen Augen spiegelten, sah den milden Vorwurf, der aus ihrem sanften Gesicht sprach. Unbehagen und Scham überfielen sie. Sie hatte sich vor ihrer Großmutter blamiert, die sie so liebte, und das konnte sie nicht ertragen. Sie brach in Tränen aus und lief weg, bevor sie sich selbst noch mehr Schande machen konnte, und knallte die Tür zu.

Christina sah sprachlos hinter ihr her.

Sie war verletzt, wütend und so angespannt, dass man ihre Schulterblätter durch die dünne Seidenjacke hervorstechen sah. »Ist das die Möglichkeit!«, explodierte sie und machte einen Schritt nach vorn, offenbar in der Absicht, Kyle nachzugehen.

»Nein, nein, lass sie«, sagte Audra bestimmt und stand mühsam auf, ging eilig durchs Zimmer. Sie nahm Christina beim Arm und führte sie zum Sofa zurück.

Sanft zwang sie ihre Tochter, neben ihr Platz zu nehmen, und sagte dann: »Es hat keinen Sinn, so weiterzumachen. Ihr heizt euch nur gegenseitig auf, und du weißt selbst, dass das im Zorn Gesagte hinterher schwer zurückzunehmen ist. Du musst zugeben, dass ihr momentan beide überreizt seid.«

»Ja, da hast du wohl recht.« Geistesabwesend fuhr Christina sich durch die Haare und ließ sich dann in die Kissen sinken. Sie fühlte sich elend und ohnmächtig. Aber dann sprang sie wieder auf und fing an, ruhelos vor dem Kamin auf und ab zu schreiten.

Audra beobachtete sie und machte sich noch mehr Sorgen. So hatte sie Christina noch nie gesehen – so erregt, so verstört und mit solch strapazierter Geduld. Normalerweise war sie immer beherrscht, ganz gleich, in welcher Situation. Aber man hatte ihre Welt noch nie derart ins Wanken gebracht wie jetzt, und Audra wusste, dass Kyles Worte, wenn diese auch gedankenlos in der Hitze des Gefechts vorgebracht worden waren und nicht wirklich böse gemeint waren, Christina dennoch verletzt hatten.

Um die Kränkung abzumildern, sagte Audra so tröstlich sie es vermochte: »Kyle hat es nicht so gemeint, Christie. Dass es ihr egal ist, wenn das Geschäft zusammenbricht. Natürlich ist es ihr nicht egal, sie hat dich doch gern, Liebe.«

»Schöne Art, das auszudrücken«, murrte Christina, ohne ihre Mutter anzusehen, und ging weiter im Zimmer auf und ab, noch immer von dem Schmerz betäubt, den ihre Tochter ihr zugefügt hatte.

Audra seufzte, und da sie alles verstand, schwieg sie. Erleichtert, dass das Geschrei ein Ende gefunden hatte, rückte sie in die Ecke des Sofas und wartete darauf, dass Christina sich beruhigen würde. Im Raum fiel kaum ein Laut, nur das leise Rascheln von Seide gegen Seide, wenn Christina die Beine bewegte, das Ticken der großen Messinguhr auf einer Kommode zwischen den Glastüren, der gedämpfte Verkehrslärm, der sich vom Sutton Place zu den Türen emporwand, die an diesem lieblichen Tag in der Mitte des Monats Mai weit offen standen. Sie blickte zur Terrasse, die mit Sonnenflecken gesprenkelt war und in einer Pracht von Grüngewächsen und blühenden Pflanzen erstrahlte. Etwas abwesend, überlegte sie, ob die rosa Azaleen dort hinpassen.

Dann sah sie wieder in den Raum hinein und ließ ihren Blick umherschweifen. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihre Besorgnis aufgehoben, als sie das liebliche Interieur auf sich einwirken ließ mit seinen Pfirsich-‍, Aprikosen- und Cremetönen, die Schönheit, die sie umgab ... die unbezahlbaren Kunstschätze an den Wänden: zwei Cézannes, ein Gauguin ... die eleganten alten englischen Möbel mit ihrem dunkelglänzenden Holz ... die Bronzeskulptur von Arp ... diese Blumenfülle in hohen Kristallvasen ... und all das erhellt vom Licht der alten chinesischen Porzellanlampen mit Seidenschirmen.

Was für einen hervorragenden Geschmack Christina und Alex doch haben, dachte Audra und war plötzlich von mütterlichem Stolz auf ihre Tochter und ihren Schwiegersohn erfüllt. Dieser wurde nicht bloß von der Anmut hervorgerufen, mit der sie vor Kurzem diesen Raum eingerichtet hatten, sondern war echter Stolz auf sie als Menschen, auf all das, was sie in ihrem gemeinsamen Leben geschaffen hatten. Ihre Beziehung war harmonisch, ihre Ehe war in all den Jahren nie in Gefahr gewesen, und dafür war Audra dankbar.

Sie ließ ihre Gedanken auf Alex Newman verweilen. Er war ein sanfter Mann, einer der umsichtigsten Menschen, denen sie je begegnet war. Zu ihr war er wie ein liebevoller Sohn gewesen. Sie wünschte, dass er in diesem Augenblick hier sein könnte. Vielleicht hätte er den Streit, der zwischen Mutter und Tochter ausgebrochen war, auch nicht zu schlichten vermocht, aber mit seinem Takt, seiner Fröhlichkeit und seiner Verehrung für Christina hatte er immer eine beruhigende Wirkung auf sie.

Audra wandte den Kopf und sah zur großen Uhr hinüber. Enttäuscht stellte sie fest, dass es erst zehn Minuten vor fünf war. Alex kam nie vor sieben Uhr von der Arbeit. Aber heute würde er vielleicht früher kommen, da sie um acht Uhr essen gehen wollten. Als sie an den vor ihr liegenden Abend dachte, sank ihr der Mut. Falls sich Kyles Gemütsverfassung in den nächsten Stunden nicht radikal änderte, würde es ein unbehaglicher Abend werden.

Als hätte sie Audras Gedanken gelesen, sagte Christina plötzlich: »Ich habe eigentlich gar keine Lust, zu Jack und Betsy Morgan zum Essen zu gehen, obwohl sie sehr nett sind und dich auch so gern mögen, Mummy. Nein, nicht, wenn Kyle so aufsässiger Laune ist.«

Endlich blieb Christina stehen und sah ihrer Mutter in die Augen; sie lächelte traurig, und ihre grauen Augen waren von Sorge erfüllt. Zum ersten Mal bemerkte sie die Erschöpfung in Audras Gesichtsausdruck, und stirnrunzelnd biss sie sich auf die Lippen.

»Du musst ja todmüde und ganz aus dem Rhythmus gebracht sein, Liebe!«, rief sie. »Wie egoistisch wir doch alle gewesen sind, seitdem du gestern angekommen bist! Wir haben dich überhaupt nicht verschnaufen lassen. Ich will dich nun etwas ruhen lassen, bevor wir essen.«

»Nein, jetzt nicht, Christina. Mir geht es gut, wirklich«, sagte Audra.

Christina schritt zum Sofa, setzte sich neben Audra und ergriff ihre Hand. Sie hielt diese ganz fest und sah in das gefurchte Gesicht ihrer Mutter, ganz von der tiefen, treuen Liebe erfüllt, die sie für Audra empfand. Dann schüttelte sie den Kopf, und ihr rauchgrauer Blick war sehr zärtlich, als sie sagte: »Kyle hat zwar in mancher Hinsicht verschrobene Ansichten, aber eigentlich hat sie recht, dass wir dich ganz unnötig hierher geschleift haben ...« Unvermittelt brach sie ab, von Schuldbewusstsein übermannt. Ihre Mutter war siebzig Jahre alt, fast einundsiebzig, und sollte in ihrem Alter nicht mit Problemen konfrontiert werden. Sie und Alex müssten in der Lage sein, allein mit ihrer widerspenstigen Tochter fertig zu werden. Bei dem Gedanken an ihr Versagen rief Christina gereizt: »Wir sind nicht fair zu dir gewesen, haben einfach erwartet, dass du dich um uns und unser Problem kümmerst, wenn du zu Hause sein und den Garten pflegen oder einen deiner kleinen Tagesausflüge an die See unternehmen könntest – auf jeden Fall deine Ruhe hättest. Alex und ich müssen dir wie ein paar Trottel vorkommen.«

»Das ist doch Unsinn.« Audra drückte Christinas schlanke Hand, so anders als ihre, die von Arthritis verkrümmt war. »Ich würde immer kommen, wenn du mich brauchst, auch wenn ich die dreitausend Meilen zu Fuß gehen müsste. Ich liebe dich, Christie, und ich liebe meine Enkelin und Alex. Es ist für mich unerträglich, euch alle so unglücklich zu wissen.«

Mit angespannter Stimme zog Christina sie ins Vertrauen:

»Es ist so falsch von Kyle, ihre Kurse am Modeinstitut abzubrechen und verächtlich meine Firma zurückzuweisen. Es war ein langgehegter Traum von mir, dass ich ihr eines Tages die Firma übergeben könnte.« Diese Worte blieben ihr fast in der Kehle stecken, und sie musste sich erst fassen, bevor sie weiterreden konnte. »Ach Mum, wofür ist denn das alles gewesen? Was ist meine ganze Arbeit wert gewesen, wenn Kyle weggeht?« Christina traten Tränen in die Augen, sie wandte den Kopf ab und blinzelte.

Audra fühlte sich von Mitgefühl überwältigt, ihre Tochter tat ihr sehr leid. Um sie zu trösten, murmelte sie leise: »Aber meine süße Christie, es hat dir doch auch viel Spaß gemacht und Befriedigung geschenkt, Kleider zu entwerfen, und es ist dir doch immer wichtig und eine Herausforderung gewesen, dir einen Namen in der Modewelt zu machen. Das, was dir gelungen ist, deine atemberaubenden Erfolge – das muss dich doch sehr glücklich machen ...« Audra brach ab. Sie war nicht in der Lage, ihren Satz zu beenden. Wie leer die Worte klingen, dachte sie.

Ich, nur ich, weiß, was Christina geopfert hat und was es sie gekostet hat, ihr Imperium zu gründen. Sie hat dafür einen hohen Preis gezahlt, einen schrecklich hohen Preis. Deshalb sieht sie alles so leidenschaftlich und kann es nicht ertragen, dass Kyle ihr Werk zurückweist.

Nachdem es Christina gelungen war, ihre Fassung wiederzugewinnen, sagte sie etwas gelassener: »Die letzten beiden Wochen mit Kyle waren die reine Hölle, Mutter. Sie ist einfach verbohrt, ihre Unnachgiebigkeit erstaunt mich. Macht mich regelrecht verrückt. Ich habe noch nie einen Menschen so erlebt.«

Tatsächlich nicht?, dachte Audra. Sie warf ihrer Tochter einen überraschten Seitenblick zu, schwieg aber weise. Jetzt war nicht die Zeit, alte Geschichten auszugraben; es gab ohnehin schon einen zu großen Konflikt in dieser Familie. Audra setzte eine zuversichtliche Miene auf und sagte: »Seit sie ein kleines Kind war, sind Kyle und ich immer gute Freundinnen gewesen. Das ist doch einer der Gründe, warum wir entschieden haben, dass ich nach New York kommen sollte, nicht wahr? Auf jeden Fall habe ich versprochen, den morgigen Tag mit ihr zu verbringen. Ich bin davon überzeugt, dass sie sich aussprechen möchte, und ich will ihr gern zuhören.«

»Aber du wirst doch auch mit ihr reden, oder? Sie nicht nur anhören?« Ohne auf eine Antwort zu warten, redete Christina hastig weiter: »Sie hört auf dich und will dir gefallen. Du wirst sie doch zur Vernunft bringen, nicht wahr, Mummy?«

Audra nickte, obwohl sie da ihre Zweifel hatte, und es gelang ihr, aufmunternd zu sagen: »Ja, natürlich, wir werden schon alles in den Griff bekommen, Christie.«

Zum ersten Mal seit Tagen fühlte Christina, wie ein Teil der Sorgen von ihr abfiel, und ihre müden Augen strahlten heller. Sie beugte sich dicht zu Audra hinab, küsste ihre runzlige Wange und legte dann den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter: »Ich bin so froh, dass du hier bist, Mam. Du bist so ein Trost für mich, und ich weiß, dass es dir gelingen wird, alles wieder in Ordnung zu bringen, so wie immer.«

Mam, wiederholte Audra für sich im Stillen. Schon seit Jahren hieß sie Mummy oder Mum oder Mutter. Mam war ein Kinderwort. Es jetzt, nach all den Jahren, plötzlich zu hören, ließ Audra zusammenzucken. Es rief so viele Erinnerungen hervor, die nicht alle glücklich waren. Dann erfüllten sie Liebe und Herzlichkeit, und sie konnte einen Augenblick lang nicht sprechen. Automatisch hob sie die Hand und streichelte Christinas glänzendes Haar. Es stimmt, alte Gewohnheiten vergehen nur sehr schwer, dachte Audra, beugte sich herab und küsste den Scheitel ihrer Tochter. All das Geld, all die Macht, all der Ruhm, und sie ist immer noch mein kleines Mädchen. Ich kann es nicht ertragen, dass sie so leidet. Aber da ist auch noch Kyle, meine einzige Enkelin, und auch sie soll nicht unglücklich sein. Was für ein Dilemma. Zwischen diesen beiden über dünnes Eis gleiten. O Gott, woher soll ich bloß die Weisheit und Kraft nehmen, der einen zu helfen, ohne der anderen weh zu tun?

Audra merkte, dass ihre Tochter auf eine Antwort wartete, und zwang ihre Sorgen brüsk nieder. »Ich kann nur versuchen, die Sache für dich einzurenken, Christie«, sagte sie leise. »Ich habe dir ja schon bei meiner Ankunft gesagt, dass ich keine Partei ergreifen will. Denn schließlich stimmt es, wenn Kyle sagt, dass es ihr Leben ist. Und sie hat das Recht dazu, es so zu leben, wie sie es will.«

Christina richtete sich auf und nickte langsam. »Ja«, sagte sie maßvoll, »ich verstehe, was du damit sagen willst. Aber sie ist noch so jung und unerfahren, sie kann doch noch gar nicht wissen, was sie will. Zumindest im Augenblick noch nicht.« Christina stand auf, ging zu einer der hohen Glastüren hinüber und sah auf die Terrasse hinaus. Dann drehte sie sich um und warf Audra einen durchdringenden Blick zu. »Meine Firma einfach so abzutun, das ist doch nicht bloß dumm, sondern auch unverantwortlich von ihr, findest du nicht?«

»Jaja«, fühlte sich Audra gezwungen, ihr beizupflichten, trotzdem hatte sie das Bedürfnis, ihre Enkelin zu verteidigen, und fügte hinzu: »Aber Kyle ist ein intelligentes, temperamentvolles und unabhängiges Mädchen. Und weißt du was – für jemanden in ihrem Alter finde ich sie sehr reif.« Audra hielt inne und dachte: Ich habe sowieso schon zu viel gesagt, also kann ich ebenso gut gleich alles loswerden. Sie holte tief Luft und sagte so bestimmt sie konnte: »Ich möchte nur, dass du auch ein bisschen an ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche denkst, ebenso wie an deine eigenen. Das musst du mir versprechen.«

Christina war überrascht, und es trat ein kurzes Schweigen ein, bevor sie murmelte: »In Ordnung ... ja ... ich verspreche es.«

Audra merkte etwas Zögerndes, Widerstrebendes in diesem Versprechen. Langsam und bedächtig sagte sie: »Vor ganz langer Zeit habe ich dir gesagt, dass einem ein Kind nur einige Jahre über geliehen ist, Christina. Das darfst du niemals vergessen.«

Christina starrte Audra an, und ein ganz merkwürdiger Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Dann drehte sie sich um und ließ ihren Blick wieder auf der Terrasse verweilen, während sie über die Worte ihrer Mutter nachdachte.

Gedankenversunken schob sich Audra eine silbrige Haarsträhne aus dem Gesicht und lehnte sich zurück, wartete, beobachtete. Sie sah, wie die Schultern ihrer Tochter mutlos herabsanken, sah sofort den ernsten Zug um ihren hübschen Mund. Ja, sie erinnert sich daran, dachte Audra. Für heute habe ich genug gesagt. Es wäre klüger, die Dinge erst einmal auf sich beruhen zu lassen.

Sie hielt sich an der Sofalehne fest und zog sich etwas unsicher hoch, die Erschöpfung hatte sie nun doch eingeholt. »Ich möchte mich vor dem Abendessen gern ein bisschen hinlegen, vielleicht auch ein wenig schlafen«, sagte sie.

»Ja, natürlich, mach das nur«, erwiderte Christina. Rasch trat sie an Audras Seite, legte ihr liebevoll den Arm um die Schultern und geleitete sie aus dem Zimmer.

Eine halbe Stunde später war Audra immer noch hellwach, was sie sehr ärgerte. Auch wenn sie sich bemüht hatte einzuschlafen, konnte sie es doch nicht. Christina hatte sie zur Gästesuite am anderen Ende des Penthouse begleitet, die Vorhänge zugezogen, die Kissen aufgeschüttelt und sich überall zu schaffen gemacht, bis Audra sie schließlich ungeduldig hinausgewunken hatte. Froh darüber, endlich allein zu sein, hatte Audra sich ausgezogen, einen Morgenrock übergestreift und sich voller Erleichterung auf dem Bett ausgestreckt. Jeder Knochen ihres Körpers schmerzte, sie war von der Zeitverschiebung erschöpft, und in ihren Händen und Knien pulsierte schmerzhaft die Arthritis. Aber sowie ihr Kopf das Kissen berührte, fingen ihre Gedanken an, sich zu überschlagen.

Vor allen Dingen fragte sich Audra, ob sie vielleicht einen Fehler gemacht hatte, nach New York zu kommen. Wäre es nicht klüger gewesen, Alex’ Bitte abzulehnen und sie sich selbst zu überlassen, damit sie ihren Kampf untereinander ausfechten konnten? Und es würde ein Kampf werden, da war Audra sich sicher. Ein Kräftemessen. Christie würde es ausfechten, keinen Rückzieher machen, zäh bis zum Ende; Kyle würde sich festrennen, denn sie war ebenso hartnäckig und entschlossen zu gewinnen, ganz gleich, was es alle kostete. Der Einsatz war so hoch, dass keiner von ihnen anders handeln konnte. Was sollte es bloß für ein Ende nehmen? Sie fürchtete eine Katastrophe. Sie konnten nicht beide siegen. Und die Verliererin wäre bitter und rachsüchtig.

Ich muss einen Weg finden, um ihnen zu helfen, sagte Audra sich; dann fragte sie sich voller Bestürzung, wie. Wenn schon Alex, der so diplomatisch und überzeugend war, nicht vermocht hatte, ihre Differenzen auszugleichen, dann würde es ihr auch nicht gelingen, Einfluss auf die beiden zu nehmen. »Ich muss mir etwas einfallen lassen«, murmelte sie vor sich hin.

Erschöpft seufzend machte Audra ihre Augen wieder auf und stellte sich der Tatsache, dass sie keinen Schlaf finden würde. Das weiträumige Schlafzimmer sah im sanften Licht, das durch die Vorhänge floss, so still aus wie immer. Sonst fühlte sie sich in diesem blau-weißen, mit eleganten Möbeln und üppigem Komfort ausgestatteten Raum sofort wohl. Aber heute Abend stellte sich dieses Gefühl leider nicht ein.

Audra zitterte. Vom East River kam der frühabendliche Wind durchs offene Fenster. Es war jetzt kühl, und es lag eine unangenehme Feuchtigkeit in der Luft, die durch ihre Gelenke zu dringen schien. Sie zitterte wieder, zog die Steppdecke höher und griff nach ihren Tabletten. Sie steckte eine in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter, erinnerte sich, dass es schon die dritte war heute; der Arzt hatte sie davor gewarnt, nicht mehr als vier an einem Tag zu nehmen.

Manchmal machte sie sich über ihre Arthritis Gedanken, fragte sich, ob nicht ihr schweres Leben zu ihrem jetzigen Zustand beigetragen hatte. Doktor Findlay verneinte dies zwar, aber wenn sie an das endlose Schrubben, Saubermachen, Waschen und Bügeln dachte, die Plackerei, die so lange ihr Leben bestimmt hatte, konnte sie sich dieses Gedankens nicht erwehren. Nun ja, diese Zeit war lange vorbei. Jetzt im Alter hatte sie es leicht.

Als sie das Wasserglas auf das Bettschränkchen stellte, fiel ihr Blick auf das Foto, welches neben der kobaltblauen gläsernen Lampe stand. Audra drehte sich auf die Seite, stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete es nachdenklich.

Drei Gesichter sahen sie an. Christinas, Kyles und ihr eigenes.

Das Foto war im vergangenen Sommer entstanden, in ihrem Rosengarten in Yorkshire. Welch ein unglaublich glücklicher Tag war das doch gewesen ... ihr siebzigster Geburtstag. Auch das Wetter war prachtvoll gewesen, wie man auf dem Farbfoto erkennen konnte.

Nach einer kleinen Teeparty auf der Terrasse hatte Alex unbedingt dieses Bild machen wollen. Um den feierlichen Anlass zu würdigen und für die Nachwelt, hatte er lachend gesagt, als er sie neben der alten, steinernen Sonnenuhr aufstellte, ein paar Schritte von ihren schönsten gekreuzten Teerosen entfernt.

Drei Generationen, sagte sie leise. Aber wir sehen nicht aus, als seien wir miteinander verwandt. Genauso gut könnten wir Fremde sein, drei Frauen, die so unterschiedlich wie möglich sind. Und dennoch sind wir uns sehr ähnlich, tief im Innersten.

Vor fast einem halben Jahrhundert sagte man mir, dass ich einen unbeugsamen Willen hätte, unnachgiebig sei und von einer schrecklichen Kraft in mir angetrieben. Damals war ich wütend und verletzt. Dennoch war es die Wahrheit. Und sie haben diese Eigenschaften von mir geerbt ... meine Tochter, meine Enkelin. Als Christina noch ein Kind war, fasste ich einen Entschluss, der unser aller Leben unwiderruflich änderte. Und dann, als junge Frau, wiederholte Christina dieses Muster und fasste einen eigenen Entschluss, der genauso gravierend war wie meiner. Und nun ist Kyle an der Reihe ... sie ist drauf und dran, dasselbe zu machen. Und genau wie damals wird unser Leben nie mehr so sein wie zuvor.

Abrupt setzte Audra sich auf, und ein plötzliches Verstehen malte sich auf ihrem Gesicht. »Es ist meine Schuld«, sagte sie laut in den stillen Raum hinein, und dann dachte sie: Wenn ich anders gehandelt hätte, wäre jetzt alles anders. Alles, was sich jetzt ereignet, weist in die Zeit zurück, da ich eine junge Frau war. Ursache und Wirkung. Jede unserer Handlungen, ob sie nun wichtig oder geringfügig ist, hat ihre unausweichlichen Konsequenzen. Es ist, als würfe man einen Kiesel ins Wasser und beobachte dann, wie sich die Kreise ausbreiten ... immer weiter, immer größer.

Audra fiel in die Kissen zurück, lag da und ließ ihre Gedanken treiben. Sie kreisten nur um Kyle.

Der Schmerz in ihren Händen und Knien ließ nach, und ihr Körper wurde wärmer unter der Steppdecke. Schließlich machte sie die Augen zu.

Neunzehnhundertsechsundzwanzig, überlegte sie schläfrig ... schon so lange her ... aber nicht so lange, dass ich mich nicht mehr erinnern könnte, wie ich gewesen bin damals ... als ich so alt war wie Kyle.

Audra1926 – 1951

Kapitel 1

Es war ihr Geburtstag.

Der dritte Juni des Jahres 1926, sie war neunzehn Jahre alt geworden.

Audra Kenton stand am Fenster ihres Zimmers im Fever Hospital von Ripon, Yorkshire, wo sie als Schwester arbeitete, und sah in den Hintergarten hinaus. Gedankenverloren beobachtete sie das Spiel von Licht und Schatten auf dem Rasen. Das Sonnenlicht fiel durch die Blätterkuppeln der beiden hohen Eichen, die neben der alten Steinmauer wuchsen. Ein sanfter Wind wehte, in dem die Blätter rauschten und bebten, und sie leuchteten grün auf, wenn die Sonne auf sie fiel. Es war strahlend und mild, ein Tag, der einladend wirkte.

Die Oberin hatte Audra den Nachmittag freigegeben, weil es ihr Geburtstag war. Jedoch konnte sie nirgendwohin gehen und hatte niemanden, mit dem sie feiern konnte. Sie war ganz allein auf der Welt.

Audra besaß nur eine einzige Freundin, Gwen Thornton, ebenfalls Schwester am Fever Hospital. Gestern hatte man Gwen nach Hause, nach Horsforth beordert. Ihre Mutter war krank, und man brauchte sie. Schon vor Wochen hatte Gwen ihren freien Tag mit dem einer anderen Schwester getauscht, damit sie mit Audra zusammen sein und dieses feierliche Ereignis mit ihr gemeinsam begehen konnte, es sollte ein ganz besonders schöner Tag werden. Und nun waren alle ihre großartigen Pläne geplatzt.

Audra lehnte den Kopf an den Fensterrahmen und seufzte, als sie an die vielen leeren Stunden dachte, die sich vor ihr erstreckten. Unerwartet wurde ihr die Kehle eng, und sie fühlte, wie sich Tränen hinter ihren Augen sammelten, als Trauer und bittere Enttäuschung sie durchströmten. Aber nach ein paar Sekunden blinzelte sie, räusperte sich und gewann ihre Haltung zurück. Entschlossen schob sie die negativen Gefühle beiseite, die sie kurz überkommen hatten, und weigerte sich, in Selbstmitleid zu zerfließen. Audra verachtete so etwas bei anderen und fand, es sei ein Zeichen von Schwäche. Sie war stark. Das hatte ihre Mutter immer gesagt, und ihre Mutter hatte sich selten geirrt.

Dann wandte sie sich vom Fenster ab, ging zum Stuhl hinüber und ließ sich schwer darauf nieder, überlegte, was sie nun mit sich anfangen sollte.

Natürlich könnte sie lesen, ein bisschen sticken oder die Zeichnung der Bluse fertigmachen, die sie gerade entwarf und für sich nähen wollte – wenn sie sich den Stoff leisten konnte. Keine dieser Beschäftigungen reizte sie. Nicht heute. Nicht an ihrem Geburtstag.

Sie hatte sich schon so darauf gefreut, etwas mit ihrer Freundin zu unternehmen, einmal im Leben ein paar sorglose Stunden zu genießen. Audra hatte in der letzten Zeit nicht viel zu feiern gehabt, Festlichkeiten gehörten der Vergangenheit an, waren nun eine Seltenheit. Tatsächlich hatte sich ihr Leben im Laufe der letzten Jahre so grundlegend, so unerbittlich geändert, dass sie es kaum als ihr eigenes wiedererkennen konnte.

Sich jetzt einem dieser profanen Hobbies zuzuwenden, mit denen sie sich gewöhnlich die freie Zeit vertrieb, wäre viel schlimmer, als einfach nur auf dem Stuhl zu sitzen und nichts zu tun. Alle wären sie nur ein kläglicher Ersatz für die Pläne, die Gwen und sie geschmiedet hatten.

Audra hatte sich schon seit Langem dazu erzogen, das Zimmer, in dem sie im Krankenhaus wohnte, nicht mehr wahrzunehmen. Aber nun, da sie es im hellen Sonnenschein sah, wurde sie sich schmerzlich seiner Hässlichkeit und seines Mangels an Komfort bewusst. In vornehme, wenn auch etwas verarmte Verhältnisse hineingeboren, war Audra eine wohlerzogene junge Frau mit Geschmack. Von letzterem besaß sie im Übermaß. Sie hatte eine ausgeprägte künstlerische Ader, und die Strenge der kargen Ausstattung und der Anstaltsfarben wurde ihrem kritischen Blick plötzlich schmerzhaft deutlich. Es beleidigte ihren guten Geschmack.

Die Wände ihr gegenüber waren in einem trübseligen Beige gestrichen, das an Haferschleim erinnerte. Der Fußboden war mit scheußlichem grauem Linoleum bedeckt. Das eiserne Bettgestell, der klapprige Nachttisch und die Kommode waren nur für ihre Schäbigkeit und ihre Ausführung unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit bemerkenswert. Das Zimmer war von eisiger Öde, eigentlich stets unerträglich, aber besonders an diesem sonnigen Nachmittag. Sie musste seiner bedrückenden Enge einen kurzen Augenblick lang entfliehen, egal wohin.

Ihr Blick fiel auf das Kleid, das auf dem Bett lag, von ihr dorthin gelegt. Es war neu. Sie hatte ein ganzes Jahr lang gespart, jede Woche einen Schilling zurückgelegt, um sich ein Geburtstagsgeschenk kaufen zu können.

Samstag vor zwei Wochen war sie mit Gwen nach Harrogate gefahren. Sie waren stundenlang herumgewandert, hatten Schaufensterauslagen betrachtet und all die schönen Sachen bewundert, die dort lagen und von denen sie wussten, dass sie sich diese niemals würden leisten können. Audra dachte glücklich und voller Zuneigung an Gwen, als sie sich an diesen Tag erinnerte.

Die Freundin fühlte sich besonders von Juweliergeschäften angezogen, sodass Audra ständig die Augen mit den Händen beschirmen und gottergeben irgendeinen Tand hinter der Scheibe bewundern musste, der Gwen aufgefallen war. »O Audra! Sieh dir das doch mal an!«, rief Gwen immer wieder und wies dabei auf eine Brosche, einen Ring oder einen Anhänger. Einmal hatte sie Audra heftig beim Arm gepackt und ehrfürchtig geflüstert: »Hast du je einen so großartigen Armreif gesehen, Audra! Die Steine könnten wirklich echt sein, sie strahlen wie Diamanten. Dir würde das toll stehen, Audra. Lass uns hineingehen ... anschauen kostet nichts.«

Audra hatte verlegen gelächelt und nur den Kopf geschüttelt, kein Wort dazu gesagt. Sie hatte an den Schmuck ihrer Mutter gedacht, der so viel schöner gewesen war als all diese schäbigen Nachahmungen.

Schließlich waren Audra Gwens aufgeregte Rufe und dringliche Seitenstöße zu viel geworden, ärgerlich brachte sie ihre Freundin mit einem strengen Blick zum Schweigen und sagte scharf, sie solle nun endlich den Mund halten. Sofort tat ihr der harte Ton leid, und sie entschuldigte sich rasch bei Gwen. Und dann hatte sie ihr zum hundertsten Mal auseinandergesetzt, dass sie kein Geld übrig hätte für Klimbim wie Broschen und Armbänder, alberne Hüte und Flaschen mit Devon Violets-Duftwasser – nur ein paar der Dinge, nach denen es Gwen beständig verlangte.

»Du weißt doch, dass ich mir nur Kleider kaufe.« Mit einem kleinen, bedauernden Lächeln fügte Audra hinzu: »Und nur die allerpraktischsten Sachen, die ich finden kann, Gwen. Sachen, die lange halten.«

Und dann, keine zehn Minuten nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, sah Audra das Kleid im Schaufenster von Madame Stella. Sie hatte sich sofort darin verliebt. Es war eine Pracht, allein für Feste geschaffen, ein Hauch aus luftigem, spinnwebenleichten Musselin. Mitten im Schaufenster geschickt um ein Gestell drapiert, war es das einzige ausgestellte Kleidungsstück. Drum herum lagen Accessoires verstreut – ein breitkrempiger Damenhut aus feinem, cremefarbenem Strohgeflecht, ein Sonnenschirm aus gerüschter, cremefarbener Seide und drei lange Perlenketten. All das erschien Audra als Inbegriff der Eleganz, aber besonders das Kleid. Es war sehr unpraktisch, offensichtlich teuer und unglaublich schön. Sie hatte es lange angesehen, ohne zu wissen, wann und wo sie es anziehen würde, und es hatte sie dennoch schmerzlich danach verlangt.

Sie war zurückgeblieben und wollte sich nicht von der Stelle rühren, als Gwen, die schlau die Sehnsucht auf ihrem Gesicht erkannt hatte, die Tür aufstieß und darauf bestand, dass sie hineingehen und nach dem Preis fragen sollten. Trotz Audras Widerstreben und ihrer zähen Weigerung einzutreten, machte Gwen nicht den Eindruck, als ließe sie sich ihren Willen nehmen. Audras Arm wie in einem Schraubstock haltend, hatte sie die Freundin in Madame Stellas Geschäft geschleppt.

Beide Mädchen hatten damit gerechnet, dass das Kleid teuer sein würde. Aber sie waren doch wie betäubt, als sie hören mussten, dass es drei Pfund kostete. Audra wollte gleich wieder hinausgehen. Die schreckliche Gwen hielt sie zurück und schaffte es irgendwie, sie in das Ankleidezimmer zu bringen, bevor es ihr gelang, höflich zu entkommen. Da Audra keinen peinlichen Auftritt vor der Verkäuferin riskieren wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Kleid anzuprobieren.

Es war die Farbe, die sie so gefangen nahm – ein klares, strahlendes Blau, das sie an den Rittersporn von High Cleugh erinnerte. Auch ohne Gwen konnte sie im großen Drehspiegel erkennen, dass es wie für sie geschaffen war.

Audra war an jenem Nachmittag von ihrem eigenen Spiegelbild überrascht gewesen. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie sich eingestanden, dass sie hübsch aussah. Meistens hatte sie sich sonst als »graue Maus« bezeichnet und glaubte allen Ernstes, dies sei die Wahrheit. Aber damit tat sie sich unrecht.

Audra Kenton war keine klassische Schönheit, aber sie war auch nicht unscheinbar. Sie befand sich irgendwo dazwischen. Es lag eine gewisse Hartnäckigkeit in ihrem klar geschnittenen Gesicht. Diese spiegelte sich im entschlossenen Kinn wider und in ihrem strengen Mund, der jedoch sehr schön sein konnte, wenn sie lächelte. Am schönsten waren ihr makelloser, cremefarbener Teint, das glänzende, hellbraune Haar, das im Sommer von einem Goldschimmer übergossen war, und ihre lieblichen Augen. Diese waren überhaupt das Auffallendste an ihr. Groß und weit auseinanderstehend, waren sie von goldbraunen, dichten Wimpern umgeben und von schöngewölbten Augenbrauen betont. Ihre Farbe war einzigartig und brachte Leute dazu, zweimal hinzusehen. Sie waren von einem tiefen, strahlenden, ganz ungewöhnlichen Blau.

Als Audra sich im Spiegel des Ankleidezimmers betrachtete, war es ihr nicht entgangen, wie das Blau des Musselins die Farbe ihrer Augen verstärkte. Sie sah auch, dass ihr der schwungvolle Schnitt des Kleides stand und ihre Vorzüge betonte. Audra war klein, bloß 1,57 Meter groß, und ihre geringe Größe hatte ihr immer viel Kummer gemacht. Aber sie war trotz ihrer Kleinheit gut proportioniert, und das Kleid betonte ihre hübsche Figur. Der über Kreuz geschnittene, kurze Rock, der sich weit bauschte, lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre gutgeformten Beine und schlanken Fesseln.

So hatte sie schließlich, nach etwas Zögern, weil es so teuer war, und ein bisschen Getuschel mit Gwen, das Kleid gekauft. Um die benötigten drei Pfund und drei Schillinge zusammenzubekommen, hatte Audra ihre sämtlichen Ersparnisse, zwei Pfund und zwölf Schillinge, geopfert und jeden Penny Kleingeld in ihrem Portemonnaie – das war alles, was sie auf der Welt besaß –, und dazu noch einen Schilling und sechs Pennies, die sie sich von Gwen geborgt hatte.

»Guck doch nicht so traurig«, hatte Gwen ihr zugeflüstert, als sie darauf warteten, dass die Verkäuferin das Kleid einpacken sollte. »Es ist jeden Penny wert. Außerdem wird es Zeit, dass du dir auch mal was Schönes gönnst.«

Audra hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dieses Kleid das schönste war, was sie seit ihrer Kindheit besessen hatte. Und eine Erinnerung tauchte auf an ein anderes Mal, da sie in Harrogate einkaufen gewesen war – mit ihrer Mutter und Onkel Peter. Es musste 1919 gewesen sein, gerade nachdem er aus dem Weltkrieg zurückgekehrt war. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen, und er hatte ihr ein rosa Partykleid gekauft, das sie ebenso überwältigt hatte wie der blaue Musselin jetzt.

Als sie aus Madame Stellas Geschäft getreten waren, hatte Audra Gwen von jenem Ausflug erzählt und vom hübschen rosa Kleid, ihr mehr aus ihrem früheren Leben anvertraut, und Gwen war ganz gespannt und neugierig gewesen. Audra, die von Natur aus zurückhaltend war, hatte trotzdem einige ihrer Fragen beantwortet, da sie Gwen nicht durch Geheimnistuerei beleidigen wollte. Danach waren sie untergehakt gemächlich den »Stray« entlanggeschlendert, ein grünes Parkstück, das mit schönen Blumen bedeckt war, die unter den schattigen Bäumen einen natürlichen, bunten Gobelin bildeten. Gwen hatte sie in Betty’s Café geleitet, den schicken Tearoom an der Parade, von dem aus man auf den Stray blicken konnte, und hatte großzügig für sie beide gezahlt, da Audra ihr ganzes Geld ausgegeben hatte. Wie sie es ihr bei Madame Stella versprochen hatte, als Audra unschlüssig dastand, lieh sie ihr auch das Geld für die Rückfahrkarte nach Ripon. Und Audra hatte sich wieder einmal gesagt, was für ein Glück sie doch hatte, Gwen als Freundin zu haben.

Am Ende ihres Tagesausflugs, auf dem Weg zur Bushaltestelle, kamen sie an den Arcadian Rooms vorüber. Dort fanden jeden Nachmittag Tanztees im Palm Court statt. Jeder wusste, dass das der Ort war, das schickste Lokal der Kleinstadt, wo die hiesigen Verführer Foxtrott und Tango zu den Klängen von Stan Stanton and His Syncopated Strollers tanzten.

Die jungen Frauen wollten schon seit Wochen in den Palm Court gehen. Gwen hatte von ihrem Bruder Charleston gelernt und lehrte ihn Audra während ihrer dienstfreien Stunden. Audra war überrascht und ganz aufgeregt gewesen, als Gwen ihr ankündigte, dass sie mit ihr an ihrem Geburtstag zum Tanztee im Palm Court gehen würde. »Das soll mein Geschenk sein«, hatte Gwen ihr freudestrahlend gesagt. »Und du ziehst dann dein neues Kleid an, und alle werden dich bewundern.« Die beiden waren vor Aufregung und Vorfreude schier geplatzt, als sie mit dem Bus zurück nach Ripon fuhren, und seitdem hatten sie die Tage gezählt.

Aber es würde keinen Ausflug nach Harrogate geben. Keinen Tanztee im Palm Court der Arcadian Rooms. Niemand, der sie in ihrem neuen Kleid bewundern würde. Audra seufzte. Vorhin hatte sie es noch zu ihrem eigenen Vergnügen anziehen wollen, obwohl sie nicht so genau wusste, wohin sie damit allein gehen sollte. Aber nun überlegte sie es sich anders.

Audra war vor allem praktisch, und sie sah ein, dass es dumm wäre, es womöglich zu zerknittern oder zu beschmutzen. Sie sollte das Kleid besser für eine andere Festlichkeit aufsparen, dachte sie. Und die wird bestimmt kommen, nun, da ich eine Freundin wie Gwen habe. Vielleicht gehen wir im August zum Gartenfest der Kirche, außerdem hat Gwen im September Geburtstag. Das müssen wir feiern. Ja, irgendetwas wird schon kommen, beruhigte sie sich, und ihr angeborener Optimismus gewann wieder die Oberhand, wie er es immer tat.

Audra war mit einem sonnigen Gemüt und einer heiteren Seele gesegnet. Diese Eigenschaften, gepaart mit ihrem starken Willen und ihrer Intelligenz, hatten sie in der Vergangenheit gerettet. Sie hatten ihr geholfen, auf die lebensbejahendste Weise mit ihren Problemen fertig zu werden. Sie gestattete ihren Sorgen nie, sie lange zu bedrücken, und bemühte sich immer um eine vorteilhafte Lösung. Und wenn diese nicht möglich war, versuchte sie, nicht unnötig darüber nachzudenken.

Nun raffte sie sich auf, hob das blaue Kleid vom Bett auf und hängte es wieder in den Kleiderschrank in der Ecke.

Nachdem sie aus ihrer blau-weiß gestreiften Schwesterntracht geschlüpft und sie weggehängt hatte, sah sie ihre anderen Kleider an und überlegte, was sie zu ihrem Landspaziergang anziehen sollte.

Sie besaß keine besonders reichhaltige Garderobe, aber ihre wenigen Kleider waren von guter Qualität, und weil sie anspruchsvoll war, sahen sie stets makellos aus. Aus Sparsamkeit nähte sich Audra ihre Sommergarderobe selbst. Dies waren meist leichte Kleider in dunkleren Farben. In ihrer praktischen Art wusste sie, dass solche länger ansehnlich blieben als die in helleren Tönen. Schließlich hielt ihre Hand bei einem marineblauen Baumwollkleid mit tiefgezogener Taille und einem mit Weiß abgesetzten Matrosenkragen inne. Sie zog es aus dem Schrank, nahm die bequemen schwarzen Lederschuhe mit den flachen Absätzen und kleidete sich an.

Plötzlich fiel ihr Gwen ein. Wie egoistisch ich doch bin, ermahnte sie sich. Hier stehe ich und mache mir Gedanken um meinen Geburtstag, während die arme Gwen ihre kranke Mutter pflegen muss. Audra wünschte, sie könnte gleich nach Horsforth fahren und Gwen helfen, aber es war viel zu weit für einen einzigen freien Nachmittag. Gwen war sicher völlig erschöpft, ganz davon abgesehen, dass sie sich bestimmt große Sorgen machte. Dann hellte sich Audras Gesicht auf, als sie ihren Kragen zurechtrückte und sich umdrehte, um sich in dem kleinen Spiegel zu betrachten, der auf der Kommode stand. Gwens Vater war Arzt, und ihr Bruder Charlie studierte an der Universität von Leeds Medizin. Mrs Thornton befand sich in guten Händen. Bald würde es ihr wieder besser gehen, und ehe man sich’s versah, wäre Gwen wieder im Krankenhaus.

Als sie das Zimmer verließ und den Flur entlangeilte, fiel Audra auf, wie sehr sie inzwischen an der Freundin hing. Seit Gwen vor einem Jahr am Krankenhaus angefangen hatte, war ihr eigenes Leben schöner und viel erträglicher geworden. Bis dahin hatte keine der anderen Schwestern versucht, sich mit ihr anzufreunden. Audra wusste, dass dies hauptsächlich an ihrer Herkunft lag, an ihren Manieren und ihrer feinen Art zu sprechen.

Die anderen Schwestern glaubten, sie sei hochmütig und unnahbar. Aber das stimmte überhaupt nicht. Es war nur ihre Schüchternheit, die sie von den anderen zurückhielt und daran hinderte, den ersten Schritt zu tun.

Und als hätte sie dies instinktiv erfasst, kümmerte sich die glückliche, stets heitere und gesellige Gwen kein bisschen um ihre Zurückhaltung. Sie hatte Audra als das eine Mädchen ausgewählt, das sie zur Freundin haben wollte, und blieb hartnäckig, durchbrach den Schutzwall, den Audra um sich errichtet hatte. Schon in der ersten Woche ihrer Bekanntschaft waren sie unzertrennlich geworden.

Ich weiß überhaupt nicht, was ich ohne Gwen machen sollte, dachte Audra und ließ die Eingangstür des Krankenhauses hinter sich zufallen. Sie ist der einzige Mensch, den ich auf der Welt habe.

Kapitel 2

Eigentlich hatte sie gar nicht nach High Cleugh gehen wollen.

Aber bevor sie es merkte, war sie fast da.

Als sie das Krankenhaus hinter sich ließ, hatte Audra kein bestimmtes Ziel im Auge. Sie hatte die Straße eingeschlagen, die nach Sharow und Copt Hewick führte, zwei kleine Dörfer am Rande von Ripon.

Es gab keinen besonderen Grund, dorthin zu gehen, außer dass es hübsche kleine Ortschaften waren; der Weg war malerisch und die Landschaft rundum idyllisch und zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich lieblich.

Als sie in Copt Hewick ankam, ging Audra langsam über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße, und es fiel ihr auf, wie gepflegt alles an diesem heißen Juninachmittag aussah. Die hübschen Gärten vor den sauberen Bauernhäusern prangten mit Kapuzinerkresse, Ringelblumen und Dahlien, hinter den blankgeputzten Fenstern leuchteten weiße Spitzengardinen, jede Treppe war frisch gescheuert und die Stufen mit gelbem Putzstein umlegt.

Audra sah zum Blackamoor Inn und bemerkte, dass auch der neu überholt war. Man hatte die weißen Wände und schwarzen Fensterläden frisch gestrichen, und sogar das Schild, das über der Eingangstür hing, sah aus, als hätte man es mit ein paar bunten Tupfern aus einem Malkasten verschönert.

Am Blackamoor Pub, bei dem sich mehrere Straßen kreuzten, hielt Audra an und überlegte, ob sie die Hauptstraße nach Boroughbridge oder die Nebenstraße nach Newby Hall und Skelton einschlagen sollte. Sie entschied sich für letztere, obwohl sie die Straße nicht bis zu Ende ging. Stattdessen bog sie auf halber Strecke rechts ab und ging eine enge Gasse entlang, die zu beiden Seiten von unverputzten Mauern begrenzt wurde.

Nach ein paar Schritten blieb sie schlagartig stehen, begriff sofort, wohin ihre Füße sie führten. Dann wandte sie sich halb um, wollte wieder zurückgehen. Aber sie merkte, dass sie dazu nicht imstande war.

High Cleugh zog sie an wie ein mächtiger Magnet.

Bei jedem Schritt sagte sich Audra, dass sie einen Fehler machte, sich ausgerechnet heute Schmerz aussetzte. Aber sie ging weiter, fast gegen ihren Willen.

Als sie schließlich das Ende des langen, gewundenen Weges erreicht hatte, kümmerte sie sich nicht länger darum, ob sie töricht war oder nicht. Sie spürte nur ihre Sehnsucht, den einen Ort zu sehen, den sie mehr als alle anderen auf der Welt liebte. Sie war schon viel zu lange nicht mehr dort gewesen.

Sie kletterte über den Tritt, der in die Mauer eingelassen war, sprang auf die lange Weide hinab und rannte durch das hohe Gras. In der leichten Brise kräuselte und wiegte es sich wie eine wogende grüne See. Überraschend kamen ein paar Kühe träge über ihren Weg getrottet, und sie ging um sie herum, warf sich vorwärts, das junge Gesicht angespannt vor Erwartung, das lange Haar hinter sich her flatternd, während sie lief.

Audra verlangsamte ihre Schritte erst, als sie die riesige Platane am Ende der Weide erreichte. Dort bückte sie sich und trat unter den ausgebreiteten Zweigen hindurch, die einen grünen, vom Himmel abgeschlossenen Baldachin formten. Sie lehnte sich an den Stamm, drückte ihr Gesicht dagegen und schloss die Augen. Sie war ganz außer Atem und keuchte vor Anstrengung.

Nach wenigen Minuten atmete sie wieder gleichmäßiger. Langsam ließ sie ihre Hand über den Baum gleiten, spürte die raue Beschaffenheit der Borke unter ihren Fingerspitzen und lächelte vor sich hin. Dies war ihr Baum, ihre Heimat.

Sie hatte diese Stelle »Ort der Erinnerung« getauft. Denn genau das war es – ein Ort, an dem sie sich an alle erinnerte, die Vergangenheit noch einmal erlebte, sich des Glücks und der Freude entsann, die einst ihr gehört hatten und die es jetzt nicht mehr gab.

Hier hatten sie oft zusammengesessen. Ihre Mutter. Ihre Brüder Frederick und William. Und Onkel Peter. Und wenn sie hier unter dem Baum stand, waren sie wieder bei ihr und ihr Elend einen Augenblick lang aufgehoben.

Audra öffnete die Augen, blinzelte im kühlen, grünen Dunkel des Schattens unter der Platane und trat dann unter ihren Zweigen hervor. Sie ging um den Baum herum und blieb vor einer kleinen Senke stehen, die ein paar Meter vor ihr zum Ufer des Flusses Ure abfiel. Schließlich hob sie den Kopf und schaute über das schmale Band schnell fließenden Wassers zum bewaldeten Tal gegenüber. Da stand es, zwischen den Bäumen in ein natürliches Tal wie in eine Handfläche gekuschelt.

High Cleugh.

Das kleine, aber so schöne alte Herrenhaus, in dem sie heute vor neunzehn Jahren zur Welt gekommen war. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war und die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Ihr liebes Zuhause bis vor fünf Jahren.

Sie genoss den Anblick, wie stets von der gefälligen Einfachheit des Hauses berührt, die in ihren Augen dessen große Schönheit ausmachte.

High Cleugh war ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, langgestreckt, niedrig und von schöner Symmetrie, die ihm eine unvergleichliche Anmut verlieh. Es war aus dem grauen Stein der Umgebung erbaut und besaß viele bleiverglaste Fenster, die jetzt im hellen Sonnenschein blinkten und glitzerten. Sie schauten auf eine Terrasse hinaus, die aus demselben alten Stein bestand und ganz um das Haus lief, nur in der Mitte von einer langen Treppe unterbrochen, die sich ihrerseits den Weg durch Rasenflächen bahnte, die zum Fluss hin abfielen. Breite, großzügig angelegte Rabatten wuchsen unter den Terrassenmauern und bildeten lebhafte Farbtupfer gegen den dunklen Stein und das frische Grün.

Aber das Meer von Rittersporn nahm das Auge vor allem gefangen und verzauberte. Dieser gedieh üppig am Ende des Rasens beim Fluss, wo seine Blüten den Boden mit einer atemberaubenden Palette von Blautönen bedeckten. Kobalt ging in ein zartes Staubblau über, das fast Weiß war, wechselte dann mit Kornblumenblau, darauf folgte ein üppiges Blauviolett, welches seinerseits an Lavendel und die lila Schattierungen der Tollkirsche angrenzte.

Der Rittersporn ihrer Mutter ... den sie über die Jahre mit so viel Sorgfalt gepflanzt und so liebevoll gepflegt hatte. Audra zog sich das Herz mit einem bittersüßen Gefühl von Freude und Schmerz zusammen. Wie sie sich danach sehnte, noch einmal in diesen Gärten zu sein! Es wäre ein Leichtes, auf die andere Seite des Flusses hinüber zu huschen. Dazu müsste sie nur dem Pfad am Ufer entlang folgen, bis sie zu den Trittsteinen käme. Jene gigantischen flachen Platten, die von der Zeit und dem fließenden Wasser glatt geschliffen waren, erstreckten sich über die flachste Stelle des Flusses und führten direkt in ein kleines, an das Herrenhaus angrenzendes Wäldchen.

Aber sie durfte nicht nach High Cleugh. Wenn sie es täte, wäre das ein unbefugtes Eindringen. Dort lebte jetzt eine andere Familie.

Sie ließ sich im federnden Gras nieder, zog die Knie an die Brust, legte das Kinn darauf und umschloss ihre Beine mit den Armen.

Lange Zeit sah sie unverwandt nach High Cleugh hinüber.

Dort gab es kein Zeichen von Leben. Es war, als schlummerte es im strahlenden Sonnenschein, als sei es gar nicht bewohnt. Eine Art Frieden lag über den reglosen Gärten. Kein Grashalm, kein einziges Blatt bewegte sich. Der Wind hatte nachgelassen, und die Luft war warm und lau. Kein Geräusch erklang, außer dem leisen Summen einer Biene irgendwo in der Nähe und dem Plätschern und Gurgeln des Wassers, das über die gesprenkelten Steine schäumte, wo der Fluss seinen Weg nahm.

Audras Blick wurde noch gebannter. Durch die Außenmauern sah sie in das Innere des Hauses hinein. Sie schloss die Augen, ließ sich in ihre Träume gleiten und erinnerte sich, erinnerte sich ...

Sie war im Haus.

Sie stand in der Eingangshalle mit ihren aprikosenfarbenen Wänden, der abgenutzten grünsamtenen Bank und der Palme im rostigen Messingtopf. Alles war schattig und still. Eine Zeitlang lauschte sie der Stille. Dann trat sie einen Schritt vor, ihre Tritte hallten metallisch auf dem Marmor wider. Langsam ging sie die Treppe hinauf. Diese wand sich in einer anmutigen Biegung nach oben. Im ersten Stock blieb sie stehen. Dort war ihr Zimmer. Sie ging hinein, schloss die Tür und seufzte vor Glück.

Hier umgaben sie die vertrauten blassgrünen Wände und erinnerten sie wie stets an das sommerliche Meer an einem nebligen Morgen in Yorkshire. Der blankgewachste Holzfußboden glänzte wie Glas unter ihren Füßen, als sie an das Himmelbett herantrat. Sie streckte die Hand aus, berührte die Tulpen, die auf die abgenutzte Überdecke gedruckt waren, und fuhr mit dem Finger um ihre einst rot gewesenen Blütenblätter, die schon seit langem zur Farbe von altem Rost ausgewaschen waren. Gebrannte Siena hieß das in ihrem Malkasten. Sie schlüpfte zum Fenster und sah über die Dales hin, hörte das Rascheln der Vorhänge, die im leichten Windhauch wehten. Nelkenduft erfüllte die Sommerluft. Sie drehte sich um und erblickte eine Fülle von rosa Blüten in der mit blauem Weidenmuster verzierten Schale, die auf der Eichenkommode stand. Dann verlor sich ihr Geruch und wurde durch einen süßeren, berauschenderen Duft ersetzt. Oktoberrosen reckten ihre vollerblühten Köpfe aus der Schale, strahlendes Gelb, das sich vom Blau abhob. Es war Herbst jetzt. Die Zeit der Ernte.

Wie gut sie die wechselnden Jahreszeiten dieses Hauses kannte.

Nun war es kühler. Ein Feuer knisterte im Kamin. Sie spürte die Wärme der Flammen auf ihrem Gesicht. Schneeflocken flatterten an die Fensterscheiben. Die Gärten bestanden aus weißem Puderzucker.

Sie war nicht mehr allein im Haus.

Sie hörte das Lachen ihrer Mutter, das Rauschen ihres Seidenkleides, als sie sich zu ihr an den Kamin gesellte. Die schöne Edith Kenton. So nannte man sie hier in der Gegend.

Saphire glitzerten an ihrem Hals, an ihren kühlen weißen Armen. Blaues Feuer auf durchscheinender Haut. Das Haar von der Farbe neuer Pennies, eine Aureole glänzenden, kupferfarbenen Lichtes um das blasse herzförmige Gesicht. Warm und liebevoll waren die Lippen, die sich an ihre junge Wange pressten. Es umgab sie der Duft von Gardenien und Puder. Eine schlanke, elegante Hand ergriff die ihre und führte sie aus dem Zimmer.

Frederick und William warteten schon in der Halle und sangen Weihnachtslieder, als sie die Treppe hinunterkamen. Lärmende liebe Brüder und treue Söhne. Hinter ihnen, im Eingang zum Salon, stand Onkel Peter. Er umfing sie mit seinem Lächeln und geleitete sie alle hinein.

Sie stand wie angewurzelt da.

In der Christnacht war etwas wie Zauber über dieses Zimmer gekommen. Seine verblichene Eleganz gewann eine neue seltsame Schönheit im gedämpften, goldenen Licht. Kerzen strahlten auf einer stämmigen kleinen Lichte. Holzklötze sprühten zischend Funken im Kamin. Stechpalmenzweige waren um die Bilder und den Kaminsims gewunden und hingen in breiten, mit Schleifen verzierten Girlanden vor den Fenstern. Mistelzweige fielen vom Kronleuchter aus geschliffenem Glas herab. Papierketten bildeten umgekehrte Regenbogen und wanden sich die Decke entlang. Es duftete nach neuen Aromen, die auf ihre Sinne einstürmten. Sie roch Kiefernzapfen, Holzfeuer und Eierflip, und die saftige Gans, die im Herd briet, und Kastanien, die im Kamin geröstet wurden.

Sie setzten sich alle um das Feuer.

Dann sangen sie Weihnachtslieder und tranken aus kleinen, kristallenen Tassen Eierflip, hoben die dampfenden Esskastanien aus ihren geplatzten Schalen. Und ihr Lachen hallte durch das ganze Haus.

Drei rote Filzstrümpfe hingen am Kaminsims. Sie machten sie auf ... sie und Frederick und William. Ihrer war eine Fundgrube. Eine Orange, ein Apfel, ein Beutelchen Nüsse, ein neuer Penny, in etwas Seide gewickelt, ein Duftkissen, Seife, ein Meter Seidenband für ihre Haare, eine Schachtel ägyptische Datteln, Lavendelwasser und ein Gedichtbüchlein, auf dessen Deckblatt »Edith Kenton« in der flüssigen Schrift ihrer Mutter stand. Kleine Dinge, die wenig gekostet hatten, aber die ihr sehr viel bedeuteten.

Schneewehen türmten sich rings um das Haus.

Eisregen und scharfe Winde rüttelten an den Fensterscheiben und kündigten das neue Jahr an. Die Weihnachtsdekorationen waren verschwunden. Das Haus war still und traurig ohne das Lachen ihrer Mutter. Onkel Peter musste wieder fortgehen. Sie sah die Trauer in seinem Gesicht; und die Augen ihrer Mutter, die so blau waren wie die Saphire, die sie trug, standen voller Tränen ...

Audras Gesicht war ganz nass vor Tränen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie angefangen hatte zu weinen. Nun richtete sie sich auf, wischte sich mit den Fingerspitzen die Augen und riss ihren Blick von High Cleugh los.

Sie legte sich nieder und vergrub das Antlitz im kühlen, lieblich duftenden Gras, kniff dann die Augen fest zusammen, als sie das scharfe Brennen der Tränen erneut verspürte. Aber jetzt machte sie sich nicht die Mühe, sie zu unterdrücken, sondern gestattete sich den Luxus zu weinen.

Und sie weinte um die Menschen, die sie verloren hatte, und um die Vergangenheit und wie die Dinge damals gewesen waren.

Schließlich ließ ihr Schluchzen nach. Ruhig lag sie da, sah zum porzellanblauen Himmel empor und beobachtete verträumt die dahintreibenden Wolken, ließ ihre Gedanken bei ihren Lieben verweilen und allem, was sich in den letzten Jahren ereignet hatte.

Kapitel 3

Audras Vater war nur eine undeutliche Erinnerung für sie. Er war 1909 gestorben, als sie erst zwei Jahre alt war.

Aber ihre Mutter, Frederick und William erschienen so frisch und lebendig vor ihr, dass es war, als stünden die drei neben ihr und schauten zu, wie sie dort im Gras lag. Und Onkel Peters Bild trug sie genauso im Herzen wie das der drei anderen.

Wie unerbittlich doch ihr Leben und ihr Geschick mit dem seinen verknüpft gewesen war.

Peter Lacey war 1920 als junger Mann gestorben. Während des ersten Weltkriegs hatte er als Offizier der englischen Armee in den Gräben Frankreichs gekämpft, wo er bei der Schlacht an der Somme schwere Gasverwundungen erlitten hatte. Seine Lungen waren danach so sehr geschädigt, dass er nie wieder ganz gesund wurde. Daran war er schließlich auch gestorben. So hatte man es ihr damals erzählt.

Audras Mutter, die schöne Edith Kenton, war untröstlich gewesen. Ein knappes Jahr darauf, im Juli 1921, folgte sie ihm ins Grab. Sie war erst siebenunddreißig.

Frederick, Audras älterer Bruder, hatte ihr gesagt, dass ihre Mutter an Herzversagen gestorben sei, aber in der letzten Zeit glaubte sie, dass es ein gebrochenes Herz gewesen war. Audra war sich inzwischen sicher, dass ihre Mutter wirklich an einem gebrochenen Herzen gestorben war, als sie vor Gram um Peter Lacey verging; seit Audra zu einer jungen Frau herangewachsen war, konnte sie deren Beziehung viel besser verstehen. Natürlich waren sie ein Liebespaar gewesen. Sie hatte nicht mehr den geringsten Zweifel daran.

Als Kind hatte Audra Peters Anwesenheit nie infrage gestellt. Er war ihr Onkel Peter, ein entfernter Verwandter ihres Vaters – Cousin dritten Grades, hatte man ihr gesagt –, und er war immer schon dagewesen, solange sie zurückdenken konnte.