Ein guter Blick fürs Böse - Ann Granger - E-Book

Ein guter Blick fürs Böse E-Book

Ann Granger

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Beschreibung

Eigentlich wollen Lizzie Martin und ihr Hausmädchen Bessie nur einen entspannenden Spaziergang unternehmen - bis sie auf Thomas Tapley treffen, einen Nachbarn von Lizzie, der als harmloser alter Exzentriker gilt. Die Begegnung ist Auftakt einer Reihe merkwürdiger Ereignisse, die ihren Höhepunkt am nächsten Tag erreicht, als Tapley erschlagen aufgefunden wird. Rasch stellt sich heraus, dass Tapley offenbar viele Geheimnisse hatte. Benjamin Ross vom Scotland Yard will den Fall so schnell wie möglich aufklären. Doch da ist er nicht der Einzige. Horatio Jenkins, ein Privatdetektiv, ist auf derselben Spur - und wird wenig später ebenfalls ermordet. Lizzie und Benjamin stehen vor ihrem mysteriösesten Fall ...

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Seitenzahl: 524

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Inhalt

CoverÜber die AutorinTitelImpressumDanksagungKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFKAPITEL DREIZEHNKAPITEL VIERZEHNKAPITEL FÜNFZEHNKAPITEL SECHZEHNKAPITEL SIEBZEHNKAPITEL ACHTZEHNKAPITEL NEUNZEHNKAPITEL ZWANZIGKAPITEL EINUNDZWANZIGKAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

Über die Autorin

Ann Granger war früher im diplomatischen Dienst tätig. Sie hat zwei Söhne und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Oxford. Bestsellerruhm erlangte sie mit der Mitchell-und-Markby-Reihe und den Fran-Varady-Krimis. Nach Ausflügen ins viktorianische England mit den Lizzie-Martin-Romanen, knüpft sie mit der Serie um Inspector Jessica Campbell wieder unmittelbar an die Mitchell-und-Markby-Reihe an.

ANN GRANGER

EIN GUTER BLICK FÜRS BÖSE

EIN FALL FÜR LIZZIE MARTIN UND BENJAMIN ROSS

Kriminalroman Aus dem Englischen von Verena und Axel Merz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe: »A Particular Eye for Villainy«

Für die Originalausgabe: Copyright © 2012 by Ann Granger

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Axel Merz, Bonn Lektorat: Stefan Bauer Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau Einband-/Umschlagmotiv: © David Hopkins/phosphorart E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-1976-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Danksagung

Ich möchte Radmila May danken, einmal für ihre Freundschaft, aber auch für ihre hilfsbereite Unterstützung bei der Recherche der Gesetze aus der viktorianischen Zeit, die ich für dieses Buch benötigte.

KAPITEL EINS

Elizabeth Martin Ross

Man kann einen schönen Frühlingstag in London nicht mit dem Frühling auf dem Land vergleichen, doch die Stadt gibt sich Mühe. Die staubbedeckten Bäume treiben aus. Über den Dächern hängt ein Leichentuch von feinem Schmutz, jedoch ist es dünner als die schlimme schwarze Decke, unter der die Straßen während des Winters ersticken. Die Fußgänger sind nicht länger bis zu den Augenbrauen vermummt, nun, da sich die beißend kalten und windigen Regenschauer gelegt haben. Die Leute scheinen glücklicher zu sein, während sie eilig ihren Geschäften nachgehen. Nach den letzten Monaten, in denen man gleich einem Gefangenen das Haus kaum verlassen hatte, war all dies pure Verlockung. Ich wischte sämtliche anstehenden Aufgaben beiseite, wies Bessie, unser Mädchen, an, es mir nachzutun, und wir machten uns zu einem langen Spaziergang auf, um die wärmende Sonne auf unseren Gesichtern zu spüren.

Der Fluss verströmte nicht den üblichen starken Geruch, als wir ihn von Süden, wo wir wohnten, nach Norden überquerten. Wir hatten es Mr. Bazalgette und seinem neuen, verbesserten Abwassersystem zu verdanken, dass wir auf die Taschentücher vor den Nasen verzichten konnten. Ich überlegte, den neuen Damm hinunter bis nach Blackfriars zu spazieren und von dort, sollte ich nicht zu müde sein, weiter bis hin zur hoch aufragenden Festung des Tower. Das war eine recht ordentliche Strecke, sodass wir dort endgültig um- und nach Hause zurückkehren würden. Außerdem fing hinter dem Tower Wapping an mit dem Londoner Hafen und dem berüchtigten St. Katherine’s Dock.

»Wapping ist keine Gegend, wo eine Dame spazieren gehen sollte«, äußerte Bessie mahnend. »Nicht einmal ich sollte mich dort herumtreiben.«

Ohne Zweifel hatte sie recht. Wapping zog sich um den Hafen und die anderen Docks herum und pulsierte vor Aktivität. In den Straßen und Wirtshäusern drängten sich Seeleute aller Nationen. Wachszieher boten Opium feil. Billige Herbergen grenzten an Bordelle. Regelmäßig zog man bei Wapping Stairs Leichen aus dem Fluss, und längst nicht alle hatten den Tod durch Ertrinken gefunden. Ich wusste über all dies Bescheid, weil ich mit einem Police Inspector verheiratet bin, wenngleich er glücklicherweise zum Scotland Yard gehört.

»Vielleicht schaffen wir es gar nicht bis zum Tower«, entgegnete ich Bessie. »Doch wir geben unser Bestes.«

An diesem Punkt erklang hinter uns eine Stimme. Wir drehten uns um und bemerkten Mr. Tapley, der grüßend seinen Regenschirm schwenkte und durch die Mautstelle hastete. Es machte nicht den Anschein, als würde es heute regnen, doch Mr. Tapley vergaß seinen Regenschirm niemals, wenn er sich zu seinem, wie er es nannte, üblichen Ertüchtigungsspaziergang aufmachte. Er war von kleiner Statur und so dürr, dass es schien, als reichte schon ein Windhauch, um ihn gleich einem achtlos weggeworfenen Zeitungsfetzen davonzuwehen. Trotzdem war er zumeist forschen Schrittes unterwegs. Er trug, was ich im Stillen seine »Uniform« nannte: eine karierte Hose und einen Gehrock, dessen ursprünglich schwarze Farbe längst in einem flaschengrünen Ton schimmerte, ähnlich einer Taftbluse im Sonnenschein. Ein flacher Hut mit geschwungener, breiter Krempe vervollständigte seine Erscheinung. Diese Art Kopfbedeckung war seit ungefähr zwanzig Jahren aus der Mode. Ich erinnere mich, dass mein Vater stets einen ähnlichen Hut aufsetzte, bevor er zu seinen Hausbesuchen aufbrach. Er hatte ihn damals eine ordentliche Stange Geldes gekostet, doch mein Vater hielt die Ausgabe für gerechtfertigt. Ein Arzt täte gut daran, wohlhabend auszusehen, betonte er. Andernfalls könnten seine Patienten das Gefühl haben, er sei nicht angesehen, und nach einem Grund dafür suchen. Tapleys fleckiger, abgerissener Hut hatte seine beste Zeit hinter sich, doch er trug ihn schräg in den Nacken gerückt wie ein junger Mann.

»Guten Tag, Mrs. Ross! Was für ein wundervoller Tag, nicht wahr?« Bevor ich reagieren konnte, beantwortete er seine Frage selbst. »Ja, ein wunderschöner Tag. Man möchte beinahe singen, so schön ist er. Ich hoffe, Sie sind wohlauf? Und Ihr Gatte ebenfalls?«

Seine Augen leuchteten hell. Ein breites Lächeln zog tiefe Furchen in sein Gesicht und ließ Ähnlichkeit mit einem Stück Waschleder aufkommen, doch die dabei entblößten Zähne waren angesichts seines Alters in gutem Zustand. Ich schätzte ihn um die sechzig.

Ich versicherte ihm, dass Ben und ich uns bester Gesundheit erfreuten, und gab Bessie, die an meiner Seite ging, einen kleinen Schubs, damit sie aufhörte zu kichern.

»Sie schnappen ein wenig frische Luft!«, stellte Mr. Tapley fest und lächelte Bessie ein weiteres Mal an.

Verlegen knickste Bessie und murmelte: »Jawohl, Sir.«

»Und Sie haben recht damit, die Gelegenheit zu nutzen«, fuhr Tapley in meine Richtung gewandt fort. »Bewegung, meine liebe Dame, ist von größter Bedeutung für die Erhaltung der Gesundheit. Ich versäume meinen Spaziergang niemals, gleich welches Wetter wir haben. Doch heute kann man nicht umhin, sich glücklich zu schätzen!«

Mit einem theatralischen Schwenken seines Regenschirms zeigte er auf den hinter uns liegenden Fluss, der im Sonnenlicht glitzerte. Schiffsverkehr jeglicher Art tuckerte geschäftig auf und ab. Da fuhren Leichterschiffe, Lastkähne, dampfgetriebene Schlepper und sogar ein Schiff, das mit dem Zeichen der Wasser-Polizei gekennzeichnet war, zwischen allen Jollen hin und her kreuzten und häufig nur durch ein Wunder einer Kollision entgingen.

»Unsere großartige Stadt bei der Arbeit, auf dem Lande und zu Wasser«, bemerkte Tapley und benutzte den Regenschirm wie ein Schulmeister, der mit einem Stock oder einem Lineal auf mit Kreide unterstrichene Wörter an der Tafel deutete. »Meine Empfehlung an Inspector Ross«, fuhr er nahtlos fort. »Möge er nicht nachlassen in seinen tapferen Bemühungen, London von Schurken zu befreien.«

Er tippte sich an den Hut, strahlte und setzte seinen Weg fort. Wir beobachteten, wie er eine kleine Gruppe umrundete, die sich um einen Straßenkünstler versammelt hatte, mit federndem Gang seiner kleinen, zierlichen Füße die Strasse überquerte und sich in Richtung der im Norden liegenden schmalen Gassen von The Strand aufmachte.

»Was für ein komischer alter Kauz, nicht wahr?«, bemerkte Bessie ebenso respektlos wie treffend.

»Er hat offensichtlich einiges mitgemacht«, entgegnete ich. »Es ist nicht seine Schuld – zumindest wissen wir es nicht genau.«

Bessie dachte darüber nach. »Man kann immer noch den feinen Herrn in ihm erkennen«, räumte sie schließlich ein. »Er muss einmal vermögend gewesen sein. Vielleicht hat er das Geld verspielt, oder er hat getrunken …« Ihre Stimme bekam mit einem Mal einen begeisterten Unterton. »Vielleicht hatte er einen Geschäftspartner, der sich mit dem Geld davongemacht hat, oder vielleicht …«

»Das reicht jetzt!«, unterbrach ich sie mit Nachdruck.

Bessie war in unsere Dienste getreten, als Ben und ich geheiratet und einen eigenen Haushalt gegründet hatten. Sie besaß die unterentwickelte, drahtige Statur eines in kargen Verhältnissen aufgewachsenen Menschen, gepaart mit dem wachen Verstand und den geschärften Sinnen eines Kindes aus dem Armenviertel. In ihrer Loyalität war sie gleichermaßen ungestüm wie mit ihrer Meinung.

Was Thomas Tapley anging, so wusste man nicht viel über ihn. Bessie war nicht die Einzige, die darüber spekulierte, was ihn in derart widrige Umstände gebracht hatte. Er logierte in einem sehr alten Haus am unteren Ende unserer Straße, das nicht zusammen mit unserer relativ jungen Häuserzeile errichtet worden war, sondern aus einer Zeit lange vor dem Bau der Eisenbahn stammte. Damals musste es umgeben gewesen sein von Wiesen und Feldern, ein ausladender gregorianischer Bau mit schönen, vom Zahn der Zeit ein wenig angenagten, bröckelnden Giebeln und einem vornehmen Eingang. Vielleicht war es früher im Besitz eines wohlhabenden Geschäftsmannes oder eines finanziell unabhängigen Gentlemans gewesen. Dieser Tage jedoch gehörte es einer gewissen Mrs. Jameson, ehrbare Witwe eines Klipperkapitäns.

Die Nachbarn waren überrascht gewesen, als die Witwe vor sechs Monaten Thomas Tapley als Untermieter bei sich aufgenommen hatte – schließlich war sie eine Dame und musste auf ihren guten Ruf achten. Wenn sie gezwungen war, zur Aufbesserung ihres Einkommens eines ihrer Zimmer zu vermieten, so hätte man eher einen Geschäftsmann als Mieter erwartet. Doch Mr. Tapley besaß eine gewisse, ebenso charmante wie unschuldige Art. Trotz seiner heruntergekommenen Erscheinung hielten ihn schon bald alle für einen Exzentriker und billigten seine Anwesenheit.

Wie seltsam war es doch, dass eine zufällige Begegnung und ein einfacher Austausch von Höflichkeiten mich und Bessie in eine Morduntersuchung ziehen sollten. Wer hätte auch damit gerechnet, dass wir an diesem schönen, hellen Frühlingstag zu den letzten Personen gehörten, die Thomas Tapley lebend zu Gesicht bekommen und mit ihm gesprochen hatten, bevor er eines gewaltsamen Todes starb.

Wir erreichten den Tower. Die Sonne war angenehm, ohne dabei heiß zu sein, und wir waren überrascht, dass wir so weit gekommen waren. Wir machten kehrt und wappneten uns für den langen Weg nach Hause. Auf dem Fluss hier herrschte noch mehr Betrieb, sofern das überhaupt möglich war, und die Schiffe waren größer. Dort waren die Kohleschiffe und lieferten den Brennstoff für die Londoner Öfen und Dampfmaschinen. Wir erblickten ein Vergnügungsboot mit den ersten Tagesausflüglern der Saison und in der Ferne sogar die hohen Masten eines Klippers, was mich an Mr. Tapleys Vermieterin denken ließ. Doch es war ein flüchtiger Gedanke, und im nächsten Moment hatte ich den armen Tapley bereits wieder vergessen.

Wir waren ordentlich erschöpft, als wir die Waterloo Bridge wieder erreichten. Das Ufer hier war stets ein belebter Ort. Es herrschte reger Verkehr von Passanten auf dem Weg zum Waterloo Terminus oder von dort zurück. Viele waren mit der Kutsche unterwegs und noch mehr zu Fuß. Unvermeidbar hatten sich hier Straßenunterhalter und Fliegende Händler eingefunden, die allerlei »nützliche Dinge für die Reise« feilboten, dazwischen immer wieder gewöhnliche Bettler. Sie wagten sich nicht auf die mächtige Brücke – dafür sorgte schon der Wächter an der Mautstelle, der dies niemals gebilligt hätte. Die Polizei vertrieb sie ebenfalls, sofern sie einen von ihnen erwischte. Doch die Missetäter kehrten stets zurück. Selbst ein gelegentlicher Arrest wegen Verkehrsbehinderung schreckte sie nicht ab.

Bessies scharfe Augen hatten etwas entdeckt. Sie zerrte an meinem Arm. »Missus, dort ist ein Clown. Möchten Sie, dass wir umkehren?«, zischte sie.

Inzwischen hatte ich ihn ebenfalls gesehen. Er stand vielleicht zehn Meter entfernt an einer Stelle, die es uns unmöglich machte, die Brücke zu überqueren, ohne dicht an ihm vorbeizukommen. Ich erinnerte mich an die kleine Menge, an der wir auf dem Hinweg vorbeigekommen waren. Womöglich hatte sie dem gleichen Kerl zugesehen. Falls ja, so hatten die Zuschauer ihn vor meinen Blicken verborgen. Andernfalls hätte ich ihn wohl kaum übersehen – ein größerer Kontrast zum fadenscheinigen kleinen Mr. Tapley war schwer vorstellbar. Die grell gekleidete Gestalt des Clowns war nicht zu übersehen: ein beleibter Mann mittleren Alters in einem weiten, geflickten, etwas über knielangen Kleid, das den Blick auf Ringelstrümpfe und übergroße Stiefel freigab. Um den Hals trug er eine breite Krause, eine Art Pelerine, die bis über beide Schultern reichte. Über die grell orangefarbene Perücke, deren Locken ihm über die Ohren hingen, hatte er eine merkwürdige, schwer beschreibbare Haube gestülpt. Sie ähnelte einem umgedrehten Eimer, verziert mit allerlei Papierblüten und Büscheln aus ausgefransten Papierstreifen. Das Ganze wurde von einem breiten Band gehalten, das unterhalb seines Doppelkinns zu einer Schleife gebunden war.

Der Clown jonglierte harmlos mit ein paar Bällen und tat, als würde er den einen oder anderen im nächsten Augenblick fallen lassen, nur um ihn dann doch noch aufzufangen, während er ununterbrochen mit hoher, lauter Frauenstimme unverständliches Zeug vor sich hin plapperte. Seine Possen waren mir egal – es war sein bemaltes Gesicht, das mir Angst machte: ein leichenblass geschminktes Antlitz, tiefschwarz nachgezogene Augen, über denen sich lange Wimpern bogen, und ein grotesker grellroter, riesiger Kussmund, dazu auf jeder Wange ein weiterer runder roter Fleck.

Ich mochte Clowns noch nie, obwohl dieses Wort gänzlich ungeeignet ist, um das Entsetzen zu beschreiben, das sie in mir hervorrufen. Bei ihrem bloßen Anblick gerate ich in Panik. Mein Herz pocht, und Angst schnürt mir die Kehle zu, sodass ich nicht mehr schlucken kann. Ich bekomme kaum Luft. Man mag mich für töricht halten, doch die Reaktion ist da und lässt sich nicht verleugnen.

Diese tief verwurzelte Angst rührt von einem Ereignis aus meiner Kindheit her. Ich war damals sechs Jahre alt. Mein Kindermädchen namens Molly Darby überzeugte meinen Vater, dass mir der Besuch eines fahrenden Zirkus, der auf den Feldern am Rande unserer Stadt gastierte, Freude bereiten würde. Mein Vater hatte Bedenken. Als Arzt kannte er die Gefahren, die man einging, wenn man sich in Gruppen von Leuten aufhielt, die es mit der Sauberkeit nicht so genau nahmen. Doch zum damaligen Zeitpunkt grassierte kein Fieber in der Stadt, und Molly blieb beharrlich. »Sie wird es mögen, Sir. Glauben Sie mir, alle kleinen Kinder lieben den Zirkus.«

Was sie meinte war, dass sie den Zirkus liebte.

Mein Vater drehte sich zögernd zu mir um und fragte mich, ob ich gehen wolle. Hingerissen von Mollys Versicherungen bezüglich der Wunder, die mich im Zirkus erwarteten, sagte ich Ja. Also stimmte mein Vater zu unter der Bedingung, dass Mary Newling, unsere Haushälterin, uns begleitete. Heute denke ich, dass er Mollys Motiven misstraute, die sich lediglich in Begleitung einer erst Sechsjährigen als Anstandsdame vergnügen wollte. Er hatte damit sicherlich recht, denn als Molly hörte, dass Mrs. Newling mit von der Partie sein würde, machte sie ein langes Gesicht. Doch letzten Endes war sie froh, dass wir überhaupt gingen, und sie riss sich zusammen.

Was Mary Newling angeht, so brauchte es eine ganze Stunde, um sie zu überreden. »Das ist nichts, wo eine anständige Frau hingehen sollte! Es wimmelt dort nur so von Gaunern und Vagabunden, und die Leute tun Dinge, die sie besser sein lassen sollten!« Die letzten Worte waren begleitet von einem scharfen Blick zu Molly.    

Molly errötete, doch sie blieb standhaft. »Doktor Martin sagt, er ist einverstanden.«

Also machten wir uns mit einer immer noch murrenden Mary Newling auf den Weg. Ich hüpfte voller Vorfreude dahin. Wenn überhaupt, so hatte Marys Warnung bezüglich der Vagabunden den Ausflug noch aufregender gemacht. Ich wusste nicht, was ein Vagabund war, doch es schien ein faszinierendes Ding zu sein.

Meine Begeisterung schwand ein wenig, als wir auf einer harten Bank in dem riesigen Zelt unsere Plätze eingenommen hatten. (»Zirkuszelt!«, flüsterte Molly mir zu. »So nennt man es.«) Noch nie zuvor hatte ich mich in einer so riesigen (wie mir schien) Menge aufgehalten. Wir hatten einen Aufpreis bezahlt und durften in der ersten Reihe sitzen, doch hinter uns herrschten Rangeleien und laute Wortwechsel und Geschimpfe, während die Menge hin und her wogte, um besser sehen zu können. Mary Newling machte ein finsteres Gesicht, legte mir die großen, von Arbeit gezeichneten Hände über die Ohren und klemmte meinen Kopf wie in einem Schraubstock ein. Es war sehr heiß und die Luft roch schlecht.

Vor uns befand sich eine kreisförmige, mit Sägemehl aufgefüllte Fläche, die man, wie Molly wichtigtuerisch erzählte, Manege nannte. Noch war sie leer, doch jeden Augenblick nun würde sie sich mit den atemberaubendsten Sensationen füllen.

»Wir sind zusammengepfercht wie Heringe!«, meckerte Mary Newling unbeeindruckt. »Und so, wie das hier stinkt, haben viele der Anwesenden keine Ahnung, wozu Wasser und Seife da sind. Wenn jemand ohnmächtig wird, hat er nicht mal eine Gelegenheit umzufallen. Man müsste die arme Seele dort ablegen …« Sie zeigte auf die mit Sägespänen bedeckte Fläche der Manege.

In diesem Moment nahm eine Kapelle ihren Platz auf dem seitlich gelegenen Podium ein. Sie bestand lediglich aus einem Paar Geigenspielern und einem Trompeter; ein vierter Mann schlug entweder auf eine Trommel oder rasselte mit einem augenscheinlich selbst gebastelten Instrument, einer Stange, an der unterschiedliche Stücke Metall angebracht waren. Es machte einen großartigen Lärm, wenn er das Ende seiner Stange auf den Boden rammte. Ich war mehr als bereit, Mollys Behauptung, dies sei ein richtiges Orchester, Glauben zu schenken.

Als das Orchester verstummte, schritt ein Gentleman mit ordentlich gestutztem Schnauzbart in die Manege, gekleidet in eine leuchtend rote Jacke und weiße Reithosen. Er schwenkte grüßend seinen Zylinder, hieß uns willkommen und mahnte uns, auf die erstaunlichsten Dinge vorbereitet zu sein. Dann drehte er sich um und deutete mit seiner langen Peitsche auf den hinter ihm liegenden und mit einem Vorhang abgetrennten Eingang.

Zu meiner Begeisterung wurden die Vorhänge von unsichtbaren Händen beiseitegezogen, und zum Vorschein kamen mehrere wunderschöne weiße Ponys mit wippenden Federbüschen zwischen den Ohren. Als der Mann mit dem Zylinder mit der Peitsche knallte, galoppierten sie im Kreis um ihn herum. Dann kam ein weiteres, phantastisch geschmücktes Pferd hinzu. Die Menge atmete hörbar ein, und stellenweise erklangen Pfiffe, denn auf seinem breiten Rücken ritt aufrecht stehend die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Sie war in ein sehr knappes, fransenbesetztes Korsett aus smaragdgrünem Satin gekleidet, dazu trug sie helle pinkfarbene Strümpfe. Während das Pferd im Kreis herumgaloppierte, hob die Reiterin im grünen Kostüm die Arme und zeigte allerlei anmutige Posen. Schließlich krümmte sie sich in einer unglaublichen Weise, legte die Handflächen auf den Rücken des Pferdes und hob die Beine geradewegs in die Höhe, um auf den Händen stehend durch die Manege zu reiten.

»Widerlich! Sie zeigt ja alles, was sie hat!«, empörte sich Mary Newling. Doch ihr Protest wurde von wildem Applaus, Pfeifen und Bravorufen übertönt.

Dann war die Darbietung vorbei, und die Frau ritt bereits auf den Ausgang der Manege zu, als sie plötzlich herunterfiel und mit in die Luft gestreckten Beinen auf der Kehrseite landete. Die meisten Zuschauer hielten es für einen Teil der Darbietung, und so erhielt sie erneut Applaus.

Als Nächstes kam der »Starke Mann«, gekleidet in ein Trikot mit Leopardendruck und scharlachrote Stiefel. Er wuchtete mühelos unglaublich schwer aussehende Hanteln.

»Betrug!«, knurrte Mary Newling. »Da ist mit Sicherheit nur Luft drin!«

Inzwischen applaudierte und jubelte ich mit der Menge und genoss die wundervolle Zeit. Dann spielte das Orchester erneut, und herein kamen die Clowns.

Es waren Gestalten aus meinen Alpträumen, unförmig und grotesk gekleidet und gleichermaßen geschminkt. Sie taumelten, fielen übereinander, stolperten und bewarfen sich und das Publikum mit Kübeln voller Papierschnipsel, während sie alle möglichen Arten von Kunststückchen vorführten. Aus meinem kindlichen Blickwinkel heraus wurde mir schnell klar, dass irgendein derber Unfug in die Manege eingedrungen war. Das war keineswegs lustig, das war eine Bedrohung. Ausgerechnet dann löste sich eine dieser erschreckenden Gestalten aus der Gruppe und rannte mit blutrotem, grinsendem Mund und weit ausgestreckten Armen geradewegs auf mich zu …

Natürlich musste ich an die frische Luft gebracht werden, und das erwies sich als gar nicht so einfach. Die Menge wollte weiter unterhalten werden und gab auch den Weg nicht frei, sodass Mary and Molly mich nach draußen hätten bringen können. Sie fluchte und pfiff, Molly möge das »Heulen der Göre« gefälligst unterbinden.

Auf dem Heimweg schluchzte ich ohne Unterlass. Molly Darby tat es mir nach; sie ahnte wohl, dass sie für das ganze Unglück getadelt werden würde. Mary Newling war zu gleichen Teilen damit beschäftigt, mich zu trösten und Molly zu schelten und in triumphierendem Ton zu verkünden, sie hätte von Anfang an kommen sehen, dass dieser Ausflug in Tränen enden würde.

Die Erinnerung an all diese Schrecken stürzte auf mich ein, als ich hier und jetzt den Clown anstarrte, einen armen harmlosen Kerl, der ein paar Penny zu verdienen versuchte. Bessy ergriff meinen Arm. »Keine Angst, Missus«, sagte sie laut. »Wir gehen einfach weiter und überqueren den Fluss hinter Westminster Abbey! Es ist kein großer Umweg.«

Doch ich war mittlerweile fußlahm und vermutete, dass Bessie ebenfalls müde war. Der Gedanke an einen überflüssigen Umweg, lediglich einer absurden Angst geschuldet, ließ mich verlegen werden. Ich fühlte mich beschämt, dass ich mich vor einem Mädchen von gerade sechzehn Jahren so dumm aufführte. Ich riss mich zusammen. »Nein, Bessie«, entgegnete ich mit fester Stimme. »Wir gehen an ihm vorbei und überqueren wie geplant die Brücke. Er kann schließlich nichts dafür … Warte!« Ich griff mit der Hand in den Geldbeutel, den ich am Handgelenk trug, und nahm ein paar Münzen heraus. »Geh und wirf sie in seine Schale.«

Bessie nahm die Münzen, die ich ihr hinhielt, und ging zügig auf den Clown zu. »Bitte sehr!«, sagte sie laut und blickte ihm direkt in das bemalte Gesicht. »Ist dir eigentlich klar, dass du mit deinem Anblick einige Leute erschreckst?« Sie ließ die Münzen klimpernd in die Holzschale zu seinen Füßen fallen.

Der Clown gluckste und sah an Bessie vorbei in meine Richtung. Er nahm den merkwürdigen Hut von den orangefarbenen Locken und verneigte sich, während er mich aus schwarzen, glänzenden Augen fixierte. Sein Blick hatte etwas so Scharfsinniges und Wissendes, dass ich für einen Moment wie erstarrt war und nichts anderes mehr wahrnahm. Ich versuchte den Blick abzuwenden, doch es gelang mir nicht. Der Clown richtete sich wieder auf und setzte den Hut auf, ohne den Blick abzuwenden.

»So eine Frechheit!« Bessie war wieder an meiner Seite. »Sie derart anzustarren. Er hat kein Benehmen, dieser Kerl, auch wenn er ein Clown ist! Selbst ein Clown sollte eine anständige Dame auf einem harmlosen Spaziergang nicht so anstarren!« Erzürnt wedelte sie in seine Richtung.

Das brach den Bann. Der Clown wandte den Blick ab, und ich erwachte aus meiner Lähmung. »Komm weiter!«, sagte ich zu Bessie und marschierte direkt an dem Clown vorbei auf die Brücke. Bessie trottete neben mir her.

Unvermittelt sahen wir direkt vor uns erneut Thomas Tapley, der sich ebenfalls auf dem Weg nach Hause befand. Falls er unterwegs nicht irgendwo angehalten hatte, hatte er wahrscheinlich eine ähnlich weite Strecke zurückgelegt wie Bessie und ich. Doch sein Schritt war nach wie vor zügig, und wir würden ihn nicht einholen. In diesem Augenblick überholte uns jemand anderes. Verwundert stellte ich fest, dass es der Clown war.

Er hatte seine Aufführung abgebrochen. Verfolgte er uns etwa? Mein Herz klopfte schmerzhaft. Doch er zeigte kein Interesse an uns. Er hastete an uns vorbei, und ich erhaschte einen Blick auf seine grelle Garderobe. Als er Tapley fast erreicht hatte, wurde er langsamer, sodass er in gleichbleibendem Abstand ein paar Schritte hinter ihm blieb. Hätte Tapley sich umgedreht, so wäre ihm der Kerl nicht sofort aufgefallen. Auf der Brücke herrschte geschäftiges Treiben, und ich gewann den Eindruck, dass der Clown sorgfältig darauf achtete, stets ein paar Fußgänger zwischen sich und dem abgewetzten flaschengrünen Gehrock zu behalten.

Tapley drehte sich nicht um. Seine Gedanken kreisten wahrscheinlich ähnlich den unseren um den Nachhauseweg und das willkommene Pfeifen des Teekessels auf der Herdplatte. Die beiden gingen schneller als wir, und die Menge, die sich vor dem Clown geteilt hatte, schloss sich hinter ihm wieder und entzog ihn meinem Blick. Es war klar, dass sie die andere Seite weit vor uns erreichen mussten, sodass ich mich nicht weiter wunderte, als wir dort ankamen und nichts mehr von ihnen zu sehen war.

Ich war erfüllt von dunklen Vorahnungen, doch ich sagte mir, dass meine Phantasie wieder einmal mit mir durchging. Trotzdem – ich hatte den Eindruck, als hätte der Clown Thomas Tapley verfolgt.

KAPITEL ZWEI

An diesem Abend erwähnte ich Ben gegenüber nichts von dem Clown. Ich hatte Bessie gewarnt, ebenfalls zu schweigen. Als wir nach Hause gekommen waren, hatten wir uns ohne Umschweife an die Zubereitung des Abendessens gemacht, und so kam es, dass wir nicht einmal untereinander über das Erlebte redeten. Ich schämte mich wegen meiner Feigheit, als die mir mein Verhalten nun erschien. Außerdem war ich ein wenig beunruhigt wegen Tapley, auch wenn ich mir sagte, dass das wohl nur eine Projektion meiner eigenen Angst war.

Was ich Ben erzählte, war, dass wir Mrs.Jamesons Untermieter getroffen hatten. Ich überbrachte seine Grüße und seine Hoffnung, Ben möge London von Halunken befreien.

»Wir geben unser Bestes«, entgegnete Ben ironisch. »Doch es ist ein bisschen wie bei diesem griechischen Monster. Man schlägt einen Kopf ab, und sieben neue Köpfe wachsen nach.«

»Du meinst die Hydra«, sagte ich.

»Genau. Die Londoner Unterwelt ist wie die Hydra. Wir nehmen einen Ganoven fest und stellen ihn vor Gericht. Der Richter steckt ihn ins Gefängnis. Doch noch bevor der Prozess zu Ende ist, machen neue Ganoven da weiter, wo der erste aufgehört hat.« Er hielt inne und nahm einen Bissen von der Pastete. »Sonst bist du also niemandem begegnet?«

»Niemandem, den wir kennen«, antwortete ich, indem ich Wahrheit und Diskretion zugleich Genüge tat.

Bis zum nächsten Abend passierte nichts mehr. Es war ein geschäftiger Tag gewesen. Wir hatten das Abendessen beendet und unterhielten uns im Salon vor dem Kamin. Die Abende waren immer noch so kalt, dass man abends heizen musste. Der Salon war ein dunkles Zimmer ohne Sonne und stets ein wenig kühl. In der Küche war Bessie auf ihre übliche geräuschvolle Art mit dem Abwasch zugange.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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