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"Ein Kinderarzt boxt sich durch!" Was? Schon wieder so ein langweiliger Rückblick in die "gute alte Zeit"? Ganz genau! Pandemie, Krieg und Inflation, das alles regt einen doch schon genug auf! Wie wäre es dann mit ein wenig Humor? Dieser bitterbösen Alltagssatire folgend, begleitet der Leser einen Kinderarzt zurück in die Vergangenheit, auf die große Odyssee seiner eigenen Menschwerdung. Nichts Geringeres als ein ultimativer Reiseführer voll schräger Kuriositäten und Absurditäten zur Selbstfindung erwartet Sie. Dieser dritte Akt von insgesamt fünf beschäftigt sich mit den "Widrigkeiten" der Arztwerdung bis hin zum "Halbgott in Weiß". Lachen bis der Arzt kommt? Ganz im Gegenteil.
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2023
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gewidmet meiner Matilda
3. Akt
Aufzug 12
Nachkriegszeit
Kindheit
DDR
Wende
Wehrdienst
Aufzug 13
Krankheit
Pflegepraktikum
Studium
Psychiatrie
Matilda
Aufzug 14
Kinderklinik
Unfehlbarkeit
Missstände
Aufzug 15
Rehaklinik
Duchenne
Vergleich
Behinderung
Aufzug 16
Niederlassung
Praxis
Interessenvertreter
Herzlich willkommen zurück aus der Pause. Ich hoffe, Sie haben wieder ein wenig frische Luft geschnappt, ein weiteres Getränk zu sich genommen oder sich abermals erleichtert. Das war bestimmt einmal nötig! Alle, die möglicherweise erst jetzt hinzugestoßen sind, beziehungsweise aus Versehen das dritte Buch vor dem ersten oder zweiten gekauft haben, begrüße ich an dieser Stelle natürlich auch. Verzagen Sie nicht, dies ist keine schwere Lektüre, schon gar nicht dieser Teil, denn er handelt ausschließlich von mir. Es ist eine Art Intermezzo, ein Zwischenspiel, ein Prequel. Andere würden es Autobiografie, Memoiren oder emotionalen Dreck nennen. Ach, nennen Sie es, wie sie wollen, Hauptsache Sie lesen es. Ich meine, auch wenn Neo Maximian dieses Mal keine Rolle spielt, werde ich mein Bestes geben, um Sie zu unterhalten. Sie werden es nicht bereuen, mir zu folgen. Denn, wer will schon Neo Maximian, wenn man mich haben kann, oder?
Sie sehen, wir sind schon mittendrin im Thema.
Vorhang auf und viel Vergnügen!
- Blickwechsel -
- Weil er dass so will, darum blickt der Mensch in die ein oder andere Richtung. Der Wechsel der Blickrichtung wird durch Schicksalsschläge meist abverlangt. Doch was wäre, wenn Blickwechsel gar nicht „abverlangt“ werden müssten, wenn wir stattdessen Verständnis aus jedem einzelnen noch so bedeutungslos wirkenden Blickwinkel erhielten? Schaffen es Eltern nicht, ihre Kinder im Gleichgewicht des Lebens zu halten, trübt oft die Sicht zum Wesentlichen ein. Und im Nebel wiederum werden dann Probleme gesehen, die meist gar nicht existieren. „Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.“, sagte einmal Antoine de Saint-Exupéry1, der französische Schriftsteller und Pilot, sehr treffend. Na, der hatte gut reden, der „musste“ sich ja auch lediglich mit dem „kleinen Prinzen“ auseinandersetzen und nicht so wie ich gleich mit dem „kleinen König“. -
Den 3. Akt eines Dramas nennt man auch die Peripetie. „Als Peripetie (von altgr.: : „plötzlicher Umschlag, unerwartetes Unglück/Glück“; im Drama: „durch plötzlichen Umschlag bewirkte Lösung des Knotens“) bezeichnet man ein Umschlagen des Glücks/ Unglücks oder den entscheidenden Wendepunkt im Schicksal eines Menschen.“2
Dieser Akt hat ein paar Besonderheiten, auf die ich noch kurz eingehen möchte. Er besteht aus 5 Aufzügen, die da lauten: Bildung, Prägung, Einstellung, Erfahrung und Abrechnung. Ganz recht, das klingt etwas abstrakt, aber das ist ein Mensch ja auch, bevor man ihn kennengelernt hat. Die Intros fallen dieses Mal weg, aber seien Sie beruhigt, dafür habe ich versucht den Text in einigen Passagen ein wenig humorvoller zu gestalten. Auch emotional wird es werden. Freuen Sie sich also zudem auf ein paar Kapitel, die Sie derb herunterziehen werden. Er wird im Prinzip ein „Wechselbalg“ der Gefühle. Ich meinte natürlich, es wird ein Wechselbad der Gefühle. Was für ein netter kleiner „Freudscher“! Bleiben Sie gespannt!
- Bildung -
Auf der Suche nach Erklärungen für die Entwicklung der von mir betitelten „Weil er das so will - Erziehung“ und dem ganzen Theater rund um das Kind, bietet sich für mich der Blick in die eigene Vergangenheit an. Doch keine Sorge, ich schaue dafür lediglich zurück bis in das vergangene Jahrhundert. Die „Annehmlichkeiten“ der Steinzeit oder des Mittelalters bezüglich des damaligen Gesundheitswesens und der Kinderversorgungsmöglichkeiten will ich jetzt nicht auch noch beleuchten. Das würde zu weit führen.
In diesem ersten Aufzug geht es um die Bildung. Es geht sowohl um die Bildung von mir als Individuum, als auch um die schulische, geschichtliche und gesellschaftliche Formung meiner Selbst. Welche Einflüsse bildeten also die Grundausstattung für mein Menschsein bis zum 20. Lebensjahr? Wer bin ich und wie konnte es dazu kommen? Darum wird es gehen.
Nicht stutzig werden! So alt bin ich nun wirklich noch nicht. Es geht zunächst um meine Großeltern mütterlicherseits. Meine Oma Hanni, als Jahrgang 1927 quasi Teil der sogenannten Kriegsgeneration, hatte ganz gewiss keine Zeit sich Gedanken zu machen über das Windeln, die Hausarbeit, die Kinderernährung, Impfungen oder ob der Kindergarten psychosozial schädlich sein könnte! Woher ich das weiß? Sie hat es mir erzählt und außerdem habe ich mich belesen, doch nicht im Internet. Nach dem Tod meiner Oma fanden wir nämlich eine ganze Kiste voller Briefe von ihr und Opa Karl. Sie waren aus den 40er Jahren. Doch warum schrieben sie sich überhaupt? Das war so Gang und Gebe, um sich kennenzulernen. WhatsApp war noch nicht sehr weit verbreitet. Beim Lesen dieser Briefe wurde mir jedenfalls unser heutiger Wohlstand einmal mehr bewusst. Zunächst einmal fiel mir auf, wie innig und wiederholt sie sich duzende Male ihre gegenseitige Zuneigung und spätere Liebe bekundeten. Beziehungen mussten sich damals sehr aufwendig erarbeitet werden. Sie waren bei Weitem nicht so kurzlebig, wie sie es heute sind. Heute kann man sich über „Tinder“ (Dating-App) spontan „matchen“ (Gefallen bekunden) und bei Nichtgefallen ganz unverfänglich wieder „wegswipen“ (Kontakt löschen). Manche Lebensabschnitte dauern heute daher manchmal nur fünf Minuten. Damals war das anders, da dauerte das analoge „Tindern“ mitunter Wochen bis Monate. Ich höre dann jetzt auch schon auf, immer wieder zu vergleichen. Ich denke, man kann erahnen, worauf ich hinaus will.
Ein wiederkehrendes Thema in den Briefen waren unter anderem Nahrungsmittel, welche knapp bemessen waren. Da gab es mitunter Brot, Runkeln (Futterrüben), Hefeklöße oder Haferbrei zum Mittag und das tagtäglich. Zu der Zeit waren Wurst, Käse, Obst und Gemüse etwas Besonderes. Die Nahrungsmittel mussten teilweise sogar rationiert werden. Hätte es damals schon Instagram gegeben, die Menschen hätten oft überhaupt nichts gehabt zum „Posten“. Des Weiteren berichtete meine Oma öfters von ihrem Arbeitsalltag. Zu der Zeit war sie Auszubildende in einer Bank und lernte Bankgehilfin. Im Herbst und Winter nahm sie nicht selten eine Hand voll Kohlen mit auf Arbeit, damit sie sich vor Ort den Ofen anmachen konnte. In den Briefen schrieb sie immer wieder, wie schön es dann drinnen im Warmen doch sei, wenn es draußen kalt und nass war. Auch von ihren „Hobbys“ schrieb sie ihrem „Liebsten“. Ihre „Freizeit“ verbrachte sie mit Stopfen und Flicken, Nähen und Stricken. In einem Brief entschuldigte sie sich bei ihrem Karl dafür, dass sie den Brief mit Bleistift geschrieben hatte anstatt mit einem Füller, weil die Tinte zu diesem Zeitpunkt gerade knapp wurde. Unglaublich klingen diese weit entfernten „Märchen“!
Diese Generation hatte keine Sorgen Fehler in der Kindererziehung oder deren Pflege zu machen, denn sie mussten sich echten Ängsten stellen. Derartige Ängste kennen wir glücklicherweise heute nicht mehr, zumindest nicht in Mitteleuropa. Als Kinder und während des Krieges war diese Generation vom Tode bedroht und in der Nachkriegszeit mussten sie sich dann Existenzängsten stellen. Und dennoch fand ich in den Briefen stets Humor und Leichtigkeit. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Zufriedenheit scheint demnach relativ und stets abhängig von den Umständen zu sein. In den 40er und 50er Jahren des vergangen Jahrhundert gab es noch keine Geschirrspüler, Waschmaschinen, Fertiggläschen für Babies oder wirksame und geprüfte Impfungen. Es gab auch kein Babyphone, Nasensauger oder Pupsröhrchen. „Solch´ modernes Zeugs hatten wir damals nicht.“, schüttelte Oma Hanni nur ihren Kopf, wenn ich ihr davon berichtete.
Was sie unter vielen anderen Dingen auch nie verstand, war die in den 2000’ern in die Mode gekommene Anschnallpflicht für Babies mittels Tuch oder Halteapperaturen. „Weil sie das so wollen“, werden Kinder seitdem nämlich während der still- und windelfreien Zeit auf Brust, Bauch oder Rücken gespannt. Bewegungsfreiheit und Sauerstoff wurden bis dahin gänzlich überschätzt. Außerdem wollte der völlig überteuerte Kinderwagen ja auch geschont werden. Und dieser „Kinderwagen-Schonungs-Trend“ hält bis heute an. Die „was auf sich haltenden“ Eltern schieben ihn doch nur noch als Statussymbol mit Handyhalterung vor sich her. Das mit der Zeit mitgehende Baby will getragen werden. Der Markt an Tüchern und Anschnallmechanismen ist unglaublich. Bei Fehlnutzung sind diese Apparaturen dann vortreffliche Wegbereiter für muskuläre Fehlentwicklungen, Hüftschäden und psychosoziale Verhaltensauffälligkeiten in der Mutter- oder Vater-Kind-Beziehung. Entsprechende Therapieoptionen stehen dafür dann bereits in den Startlöchern. Ich sag nur, Osteopathie, juchhe!
Aber bleiben wir noch ein Weilchen in der „guten alten Zeit“. Nachdem Opa Karl seine Ausbildung zum Werkzeugmacher im Gerätebau abgeschlossen hatte, zog man ihn ein. 1944, im letzen 2. Weltkriegsjahr musste er noch an die Front. Dort erlitt einen Lungendurchschuss und geriet in die Gefangenschaft der Amerikaner. Da er einer der Abgemagertsten war, schickte man ihn in die Gefängnisküche. Dort päppelte er sich dann selbst wieder auf. Er überstand die Gefangenschaft und kehrte zurück nach Hause. Nach dem Krieg wurden natürlich viele Lehrer gebraucht. Opa Karl schulte also um und absolvierte als Quereinsteiger sein Studium in Mathe und Physik. Er war quasi Wegbereiter einer ganzen Lehrer-Dynastie in unserer Familie. Doch dazu im vierten Akt dann mehr.
Über diese lange Zeit schrieben sich jedenfalls meine Großeltern. Die vielen Briefwechsel zahlten sich schlussendlich aus. Oma Hanni und Opa Karl zogen zusammen, gründeten eine Familie und bekamen in Zweijahresabständen schließlich drei Kinder. Die berufliche Krönung für Opa Karl war letztlich seine Ernennung zum Kreisschulinspektor. Hanni und Karl waren somit recht angesehen und hatten einen guten sozialen Stand. Was für ein „Happy End“, möchte man meinen. Leider nein, denn womit damals wie heute niemand rechnen würde, trat unglücklicherweise völlig unvermittelt ein. Nachdem Opa Karl den 2. Weltkrieg, einen Lungendurchschuss und die Gefangenschaft überlebt hatte, verunglückte er doch tatsächlich tödlich mit seinem Motorrad im Alter von nur 28 Jahren und hinterließ Frau und Kinder. Die Gleichung vom trauten Heim ging leider nicht auf. Meine Mutter war das Nesthäkchen der Familie und zwei Jahren alt, als sie ihren Vater verlor. Gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrem Bruder waren sie nun die größte Herausforderung, vor die Oma Hanni gestellt wurde.
Die ersten 10 Jahre versorgte meine Oma die Kinder zu Hause und lebte von der Witwenrente. Folgend arbeitete sie erst teilbeschäftigt, später dann wieder vollbeschäftigt als Sachbearbeiterin. Man stelle sich den ungeheuren Zeitaufwand, die Energie und Arbeit, die sie aufbringen musste, einmal vor! Heute würde man sagen: „Sie hätte besser auf ihre Work-Life-Balance achten sollen! Warum sich so abplagen?“ Weil sie es musste! Was diese junge Frau alles durchgemacht hat, kann man nur erahnen. Und dennoch war es kein Opfer, wie sie mir berichtete. Für die Kinder da zu sein, war ihr ein Leben lang das Wichtigste. Sie hat sich alles, was sie sich und ihren Kindern gönnte, selbst erarbeitet. Die meisten Kindersachen stellte sie selbst her, so ganz nebenbei. Gewaschen wurde die Kleidung per Hand. Vor allem zum Ende eines Monats hin, wenn das Geld knapp wurde, gestaltete sich oft die Ernährung der Kinder als schweres Unterfangen. Kulinarische Highlights waren, wie meine Mutter mir berichtete, Kaffeesuppe, Zuckerbrot oder Senfei. Wobei sich die ersten beiden genannten „Mahlzeiten“ eigentlich in der Inhaltsangabe glichen. Beides bestand aus Brot, Zucker und Malzkaffee. Das müsste ich meinen Kindern mal anbieten! Urlaub fand nur alle Jubeljahre statt und das gestaffelt mit jedem Kind einzeln, weil sie es sich einfach nicht leisten konnte. Und da ging es auch nicht nach Mallorca oder nach Kreta. Rügen war das höchste der Inselgefühle. Auch wenn das Geld knapp war, weil es hauptsächlich zum Leben verwendet wurde, bekamen die drei Kinder dennoch zu den Feiertagen Geschenke. Da es kein Geschenkpapier gab oder es schlicht und einfach zu teuer war, wurden die Geschenke mit einem Tuch abgedeckt. So war das einst in der „guten alten Zeit“. Das sind keine siebzig Jahre her! Wahnsinn!
Ich fasse zusammen: Meine Oma zog in den 50er und 60er Jahren alleinstehend zwei Töchter und einen Sohn groß, ging die ganze Woche arbeiten und war dennoch glücklich. Als Elternbeiratsvorsitzende hatte sie zudem noch ganze 10 Jahre ein Ehrenamt inne. Sie befähigte alle drei Kinder dazu studieren zu können und auch zu wollen, ganz ohne PEKiP-Kurs, Osteopathie oder Ergotherapie. Auch als die Kinder bereits erwachsen waren, lebten sie noch eine ganze Weile bei ihrer Mutter. Das „Eltern“-Haus wurde sogar für ein paar Jahre zum Mehrgenerationenhaus, denn auch Schwiegerkinder und Enkel kamen Stück für Stück hinzu und zogen mit ein. Was für eine Leistung Oma Hanni! Vor allem deinem ungebrochenen Willen, deiner Aufopferung und deinem Sinn für Familie habe ich es zu verdanken, dass ich heute meine eigene Sippe so wertschätze. Dafür danke ich Dir! Du fehlst uns sehr!
Das waren sie also, meine familiären Wurzeln, zumindest schon mal die Hälfte. Kommen wir nun zu mir. Dass es mich überhaupt gibt, liegt an einer Laune der Natur. Nun gut, das ist quasi bei jedem der fast 8 Milliarden Erdbewohnern so. Mich hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen oder halt müssen. Eine Woche nach ihrer Hochzeit, Heiligabend 1972, hatte meine Mutter nämlich eine Fehlgeburt. „In guten wie in schlechten Zeiten…“, heißt es doch. Bei meinen Eltern ging es leider mit einer ihrer schwersten Zeiten los. Vier Jahre psychischer Druck später, folgten dann glücklicherweise die guten Zeiten, denn mein Bruder wurde geboren. Vier weitere Jahre danach kam ich zur Welt. Nach zwei Kindern sollte Schluss sein. Wenn man es so nimmt, hatte ich gewissermaßen Glück im Unglück. Was wäre gewesen wenn …?
Ich wurde an einem lauen Septemberabend 1980 im Norden Thüringens von meiner Mutter geboren. Von wem auch sonst?! Vielleicht war es auch stürmisch und ungemütlich, ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Das erste, was die Geburtshelferin nach der Entbindung zu meiner Mutter sagte, war: „Ihr Sohn ist soweit gesund, aber er hat eine Warze am Kopf.“ Da war sie schon bedient! Tatsächlich war es gar keine Warze, es war lediglich ein Hautanhängsel am Ohr. Im Grunde genommen war das nichts Besonderes, im Speziellen hingegen schon, denn es stigmatisierte mich. Bis zu meinem 16. Geburtstag schauten die Menschen zuerst zu meinem Ohr, bevor sie mir in die Augen sahen. Ich hatte im Prinzip Blickwechsel in Dauerschleife. Obwohl ich es mir hab entfernen lassen, spüre ich dieses unangenehme Gefühl noch immer. Wie muss es dann erst Menschen gehen, die weitaus größere Besonderheiten haben?
Ich wuchs in einem wohl behüteten Elternhaus auf. Die ersten neun Jahre meiner Jugend, also von 1980-1989, fand das in der ehemaligen DDR statt. Eigentlich fehlte es uns an nichts, mal abgesehen von offenen Grenzen und exotischen Früchten. Mit solchen „Kleinigkeiten“ möchte ich diesen Aufzug jetzt aber nicht beginnen, dazu später mehr. Ich möchte das Thema zunächst einmal reduzieren auf die kleine Einheit „Familie“. Ich hatte das große Glück in einer sogenannten intakten Familie aufzuwachsen, ganz ohne Patchwork, Wechselmodell oder Jugendamt. Ja, früher war das Trennungskind der Exot, heute wirst du als Kind gemobbt, wenn du kein Patchworkkind bist.
Mein Vater war in den 80ern in den hiesigen Motorenwerken tätig und meine Mutter war Zeit ihres Lebens Grundschullehrerin. Wir hatten eine sehr schöne Drei-Zimmer-Wohnung mit kohlebetriebener De-Zentralheizung und einen Trabbi vor der Tür. An die Wohneinheit im vierstöckigen Plattenbaustil waren meine Eltern durch Beziehungen über meinem Opa Ronald gelangt. Eigentlich war es so mit allen Dingen in der DDR, wie meine Eltern mir berichtet haben. Das war eine sehr beziehungsfreudige Gesellschaft damals. Die Wohnung gehörte vorher einem Schuster. Leider reichte es in diesem Fall nicht aus zu säubern, zu entkeimen und auszubessern. Alles musste komplett renoviert werden. Auch das tat mein Vater allein.
Kurzum, mit meiner Geburt komplettierte ich quasi die DDR-Durchschnittsfamilie und erfüllte auf diese Weise sowohl den familiären als auch den sozialistischen Zweck. In meinen Augen hatten wir alles. Für mich als Kind war es eine heile Welt.
Urlaub und Freizeit
Meine ersten beiden Kindheitserinnerungen reichen zurück bis ins Alter von etwa drei Jahren. 1984 verbrachten wir unsere Sommerferien an der polnischen Ostsee. Ich erinnere mich, wie ich heulend über die Bungalow-Anlage rannte, um meine „Mama!“ zu finden. Ich weinte, weil sich nämlich ein großes „Stinki-Stinki“ in meiner Hose befand und ich es loswerden wollte. Witzig, zumindest aus heutiger Sicht!
Eine weitere Erinnerung habe ich an einen Toilettengang in eben dieser Ferienanlage. Ich sitze dabei auf einer der Gemeinschafts-Toiletten. Unglücklicherweise befanden sich diese Klo-Einheiten in einem Souterrain, welches durch nächtlichen Starkregen unter Wasser gesetzt wurde. Auf der Schüssel sitzend und fast bis zu den Knien im Wasser stehend, sprang mir damals doch tatsächlich ein Wasserfrosch an den Po. Was hab ich mich erschrocken!
Und da schließt sich dann auch schon der Kreis und verknüpft beide Erinnerungen miteinander, denn der Wasserfrosch muss der Grund dafür gewesen sein, weshalb der „Stinki-Stinki“ später in die Hose ging. Ich schien Angst gehabt zu haben vor einer weiteren alternativen Küss-den-Frosch-Szene. Und was ist die Moral von der Geschichte? Lieber ein Frosch im Klo, als ein Klops in der Hose. Es war quasi meine erste große Lektion im Leben. Ich zehre davon bis heute.
Die intensivsten Kindheitserinnerungen habe ich tatsächlich immer an eben diese gemeinsamen Familienurlaube. Da sie nur einmal im Jahr stattfanden, waren sie etwas ganz Besonderes für uns. Weil wir aus irgendeinem, mir damals unerfindlichen Grund, nicht nach Mallorca fahren durften, fuhren wir im jährlichen Wechsel an die Mecklenburgische Seenplatte nach Repente oder halt an die Ostsee. Der Geruch von Kiefernwäldern versetzt mich heute noch sofort zurück in diese Zeit und lässt mich in Erinnerungen schwelgen. Ganz nebenbei bemerkt, die Kiefern auf Mallorca riechen ganz genauso. Oft verbrachten wir die Ferien in Bungalows auf recht begrenztem Raum. Alles war ganz schlicht und einfach gehalten. Die ersten zwei Tage verbrachte meine Mutter damit den Schuppen zu säubern und zu entkeimen und mein Vater damit, ramponierte Dinge zu reparieren. Egal, man war ja froh überhaupt einen Urlaubsplatz ergattert zu haben. Meist gelang das natürlich über Beziehungen. In diesem Fall über Oma Annelie, die im „Reisebüro“ arbeitete. Die Frage nach Anspruch stellte sich also erst gar nicht. Alles, was wir brauchten, war ein „fremder“ Ort, Sonne, Wasser und uns.
Den Rest des Sommers, gefühlt eigentlich fast alle Wochenenden zwischen April und September, verbrachten meine Eltern mit uns in einer Gartensparte etwa 20 Kilometer außerhalb unseres Wohnortes auf dem Land. Zu dieser Zeit ging es übrigens auch Samstagvormittag noch in die Schule! Samstagmittag fuhren wir dann, wie gesagt, direkt in unseren Garten. Ich traue es mir gar nicht aufzuschreiben, aber auch in diesem Fall ließ Opa Rudolf seine Beziehungen spielen. Für ein gewisses Urlaubsfeeling sorgte, wie könnte es auch anders sein, der von meinem Vater eigenhändig erbaute Bungalow. Dabei muss erwähnt werden, dass dafür jeder einzelne Betonstein von Vater selbst gegossen worden ist. Handarbeit quasi, unglaublich! Der Garten war in seiner Grundanlage eigentlich auch gar kein Garten. Es war Ackerland. Jeder einzelne Quadratmeter musste mühselig erschlossen werden.
Dies tat meine Mutter mit einer Hacke, ein ihr sehr „lieb gewordenes“ Utensil. Duzende Schubkarren voll Gestein mussten zunächst geborgen werden. Was für eine Plackerei! Man könnte auch sagen: „Die Kleingarten-Parzelle war des Ossis Großgrundbesitz.“ Und so kümmerten sich meine Eltern auch jedes Wochenende mit Hingabe darum, hegten und pflegten Garten und Häuschen. In Erinnerung sehe ich meinen Vater ausschließlich an der Schubkarre und meine Mutter hackend im Beet. Viel Zeit für Erholung scheinen sie nicht gehabt zu haben.
Für uns Kinder wiederum war die ländliche Umgebung ein wahrer Abenteuerspielplatz. Mir fallen da spontan Aktivitäten ein, wie in den Bach fallen, an den Kuh-Zaun pullern, in Kuh-Haufen treten, im Nachbargarten Äpfel pflücken und, und, und. Das sorgte dann bei meinen Eltern für die nötige Abwechslung, möchte man meinen. Da auch mein Onkel eine dieser Gartensparten sein Eigen nennen konnte, hatte ich in meiner Cousine stets eine Spielgefährtin an meiner Seite. Gemeinsam mit ihr erkundete ich die Welt. Wir waren Abenteurer, Buden- und Staudamm-Erbauer, Nachtwanderer, Tier- und Pflanzenentdecker, Hänsel und Gretel. Mit Enthusiasmus sammelten wir Frösche, Weinbergschnecken, „Mutschekiepchen“ (Marienkäfer) oder eimerweise Samen von Pusteblumen. Was haben sich die Nachbarn im nächsten Jahr dann immer über die vielen Löwenzahnpflanzen gefreut. Wir waren außerdem Entdecker neuer Welten, Flugzeugbauer, Drachenbezwinger, Höhlenforscher, Cowboy und Indianer. Was war das für eine schöne Zeit! Sie war aber auch sehr anstrengend. Man musste kreativ und fantasievoll sein. Man machte sich die Hände dreckig und schlug sich regelmäßig die Knie auf. Die Asphaltflechte galt als Dauerdiagnose.
Meine Freizeit als Kind habe ich in den 80er Jahren mit „Stromern“ verbracht. Nein, das hatte nichts mit dem eben erwähnten an den Kuhzaun pullern zu tun. Meine Mutter nannte das immer so, wenn wir Kinder uns mit Freunden draußen trafen und herumlungerten. Digital oder telefonisch verabreden konnten wir uns nicht. Ich musste damals einmal quer durch die Stadt wandern, um meinen Freund analog anzuklingeln. „Ist Ben zu Hause?“, schrie ich unzählige Male seiner Mutter im Treppenhaus entgegen. Oft war er auch nicht da, dann trotte ich halt den ganzen Weg wieder zurück. So ging der Nachmittag auch rum.
Weihnachten
In Erinnerung bleiben mir natürlich auch die vielen Feiertage im Jahr, die Geburtstage und nicht zu vergessen Weihnachten.
Weihnachten hatte den größten Stellenwert im Jahr für uns Kinder. Zum 1. Dezember gab es den Adventskalender. Jeden Tag freuten wir uns darauf, ein Türchen aufmachen zu können. Dahinter verbarg sich jeweils ein Bildchen. Das hatte zur Freude völlig ausgereicht. Unvorstellbar, aber Schokoladen-, Lego- oder Sex-Toy-Adventskalender gab es in der DDR nicht. Am 6. Dezember besuchte uns dann der Nikolaus im Kindergarten, wann auch sonst? Was hatte ich jedes Jahr Angst vor ihm. Begründet oder unbegründet? Ich weiß es nicht mehr. Und dann stand endlich Weihnachten vor der Tür. Wie verzaubert war ich doch als Kind von den vielen Kerzen in der Adventszeit, den qualmenden Räuchermännchen und unserer rotierenden Weihnachtspyramide. Vor allem die Weihnachtspyramide, welche immer kurz davor war abzufackeln, hatte es mir angetan. Am 23. Dezember wurde dann seit jeher der Weihnachtsbaum aufgestellt und „geputzt“. Nichts auf der Welt kann ein Kinderherz höher schlagen lassen als ein geschmückter, leuchtend-duftender Weihnachtsbaum. Zumindest, wenn man einen hat. Wie auch immer, mein Vater hat jedes Jahr einen ergattern können. Das war gar nicht so einfach. Da gab es feste Tage, an denen ein L60 (DDR-LKW) auf den großen Stadtplatz vorfuhr und Bäume ablud. Und dann konnte man entscheiden, ob man einen nahm oder halt nicht, wenn man schnell war. Wie der dann aussah, war eher Glückssache beziehungsweise egal.
Während der Weihnachtsferien schauten wir die alten russischen Märchen hoch und runter, selbstverständlich auch „Pittiplatsch im Märchenwald“ sowie „Die Weihnachtsgans Auguste“. Im Film hat Auguste immer überlebt. Eigentlich makaber, am ersten Weihnachtstag wurde „sie“ bei „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“ (eine damalige TV-Sendung) dann doch tranchiert.
Unsere Oma Hanni kam Heiligabend samt ihrem großen, hellbraunen Lederkoffer mit dem Zug zu Besuch und brachte selbst gebackene Plätzchen mit. Eine unfassbar große Büchse voll mit Aprikosenecken, Vanillekipfeln, Ausstechplätzchen, Spritzgebäck und Kokosmakronen verzehrten wir über die Feiertage. Gemeinsam mit unserer „einheimischen“ Oma Annelie spielten wir am 24. meist gemeinsam Kartenspiele, um uns die Zeit nicht allzu lang werden zu lassen. Den Rest des Tages scharwenzelten wir um die Geschenke, welche allesamt unter dem Baum aufdrapiert waren. Nach dem traditionellen Abendmahl (Bratwürste und Kartoffelsalat) war es dann irgendwann endlich soweit, die Bescherung rückte näher. Unser Vater legte zur Verknisterung die Schallplatte „Bald nun ist Weihnachtszeit“ auf und wir durften ins Wohnzimmer kommen. Was für ein überwältigendes Gefühl das doch war! Neben den Geschenken gab es für jeden von uns auch immer einen sogenannten Weihnachtsteller. Dieser war mit Nüssen, Apfelsinen, Pfefferkuchen und natürlich Schokolade bestückt und verziert. Soviel Schokolade, wie zu Weihnachten, gab es das ganze Jahr nicht.
Ich bin meinen Eltern so unendlich dankbar für all die vielen jährlich sich wiederholenden Traditionen, welche sich so sehr in mein Bewusstsein eingeprägt haben, dass ich meine Kindheit einfach nur als erfüllt bewerten kann. Das alles trug so sehr zu meinem Bild von Familie bei, dass ich diesen Traditionen bis heute nacheifere. Liebevoller hätte unsere Mutter und tüchtiger unser Vater nicht sein können!
Bruderliebe