Ein Schuss verhallt in Ewigkeit - Hubert vom Venn - E-Book

Ein Schuss verhallt in Ewigkeit E-Book

Hubert vom Venn

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Beschreibung

Ermittler und Gerichtsmedizin stehen vor einem Rätsel. Der Mann, der einen Tag vorher auf der Grenze zwischen Deutschland und Belgien erschossen wurde, starb eindeutig durch die Kugel aus einer ›Sauer 38H‹ Armeepistole, die seit Wochen in der Asservatenkammer des Landeskriminalamtes in Düsseldorf unter Verschluss gehalten wird. Das ergaben ballistische Untersuchungen. Doch damit nicht genug: Auch der Gerichtsmediziner sieht eine kaum lösbare Aufgabe: »Ja, ich habe den Schusskanal genau unter die Lupe genommen. Wenn ich nicht wüsste, dass der Tote erst gestern ermordet wurde, würde ich sagen, es handelt sich um eine Leiche, die nach vielen Jahren gefunden und erst jetzt untersucht werden konnte.«In der SOKO macht plötzlich das Wort ›Zeitreise‹ die Runde …

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© 2019 – e-book-Ausgabe 1. Auflage RHEIN-MO­SEL-VER­LAG Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151 Fax 06542/61158 www.rhein-mosel-verlag.de Al­le ­Rechte vor­be­hal­ten ISBN 978-3-89801-884-5 Aus­stat­tung: Stefanie Thur Illustration Zeitstrudel: geralt/pixabay.com Foto Steine: kalhh/pixabay.com Korrektur: Thomas Stephan

Hubert vom Venn

Ein Schuss verhallt in Ewigkeit

Nusseleins siebter Eifel-Fall

Bonus: Essen und Trinken am Eifelsteig

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Für Didier Comès1942 in Sourbrodt † 2013 ebenda, Comiczeichner aus dem Venn

Prolog

Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.

Seit Nusseleins sechstem Fall sind einige Jahre ins Eifeler Land gezogen.

In der Zeit hat sich viel getan!

Mit treuen Lesern ziehe ich mich daher für einige Zeilen in die »Weißt du eigentlich, dass …«-Ecke zurück.

Neu-Leser können diesen Absatz überspringen und gleich zum ersten Kapitel wechseln, denn:

»Den kennste sowieso nicht!«

Man kann es nicht oft genug sagen:

Beim Schlagwort Kriminalität fallen einem die Bronx, Rio de Janeiro, das Frankfurter Bahnhofsviertel und … die Eifel ein. In kaum einer Gegend gibt es so viele Gewalttaten wie in dem Schmelztiegel der Kulturen zwischen Trier und Aachen, Bonn und Eupen. Morde und Gewalttaten sind in der Eifel an der Tagesordnung, hinter jeder Buchenhecke kann die Fratze des Grauens lauern.

Oder Charly Nusselein!

Der lebt immer noch mit seinem Kater Incitatus in einem Wohnwagen in der von Belgien umzingelten deutschen Enklave Ruitzhof bei Kalterherberg.

Ungefragt erklärt er Spaziergängern, dass zu Urzeiten der berühmte Zirkusdirektor Pablo Fanqu in Nusseleins Karren durch England gezogen sei – in Wirklichkeit stammte der bunt bemalte Wagen aber aus der Konkursmasse eines Hoch- und Tiefbauunternehmers, der hoch gepokert und tief gefallen war.

Doch halt!!

Nusselein will sein Wohnwagen-Leben beenden und sich – nachdem ein Bausparvertrag fällig geworden ist – ›eine feste Burg‹ auf einem Baugrundstück im nahe gelegenen belgischen Küchelscheid errichten.

Und damit beginnt der neue Fall – doch dazu später mehr.

Zunächst aber zu der Frage:

Was ist aus den ›Helden‹ der vergangenen Fälle geworden?

Charly Nusselein

Charly Nusselein, der eigentlich Karl-Heinz heißt und aus Prüm stammt, war Lokaljournalist beim Anzeigenblatt ›Der Hammer‹ in Monschau.

Als das kritische Blättchen von einem großen Verlag gekauft und zum langweiligen Werbeblatt für Groß- und Kleinveranstaltungen gemacht wurde, entschied er sich für das harte Leben eines freien Journalisten in der Eifel: Kölner, Trierer und Aachener Zeitungen drucken seine Reportagen, manchmal schicken auch WDR und SWR Kamerateams in die Eifel, mit denen der Journalist dann kleinere Filmchen für die Abendnachrichten erstellt.

Incitatus

Der wahre Herrscher im Bauwagen ist der Kater Incitatus, also ›Heißsporn‹, der nach dem Pferd von Caligula benannt wurde. Er ist alt geworden, streift nicht mehr so oft um anderer Katzen Schüsselchen, führt aber ein recht gesundes Leben auf Sofa, Bett oder Ohrensessel.

Gottfried Zimmermann

Gottfried Zimmermann, der ehemalige Kriminalkommissar aus Monschau, arbeitet nun beim Landeskriminalamt in Düsseldorf. Aus diesem Grunde hat seine Frau …

Helga Zimmermann-Preim

… auch den ›Schwarzen Krug‹ in Monschau aufgegeben und lebt nun mit Mann und Sohn Leo Zimmermann in der Landeshauptstadt von NRW.

Alex Kufka

Verleger, Chefredakteur des ›Hammer‹, ist nach dem Verkauf seiner Monatszeitung an den Bodensee gezogen und hat sich nie wieder in der Eifel blicken lassen.

Elli Breuer

Redaktionssekretärin, weiterhin mit dem Streifenpolizisten Benno Breuer verheiratet, arbeitet nicht mehr.

Erster Tag – Montag, 9. April

14.00 Uhr

Charly Nusselein starrte in seinem Wohnwagen in der deutschen Enklave Ruitzhof die leeren Seiten des ›temporary Storage.it‹, seinem geliebten Terminplaner, an.

Der starrte mit weißen Blättern zurück.

Die journalistische Welt würde also in den nächsten Tagen auf einen Erguss aus seiner Feder, die in Wirklichkeit natürlich ein Computer war, verzichten müssen.

Charly war dies egal: Mehrere kleine Beiträge für die ›Lokalzeit‹ des WDR aus Aachen und für die ›Landesschau‹ des SWR aus Mainz hatten sein Konto in einen Zustand versetzt, der sogar seinem Sachbearbeiter bei der Sparkasse in Kalterherberg ein Lächeln entlockt hatte.

Der Journalist beschloss daher, in den nächsten Tagen den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen.

Doch das Telefon riss ihn aus seinen Müßiggang-Träumen: »Nusselein, wer stört?«

Nach einem kurzen Schweigen meldete sich eine bekannte Stimme: »Holger Wienpahl vom SWR. Du erinnerst dich noch?«

»Klar, der Film über Weihnachten im Westen. Da haben wir in der Krippana in Losheim was zusammen gemacht«, antwortete Nusselein.

»Genau und jetzt plane ich was über den Eifelsteig, da könnte ich deine Hilfe brauchen – begleitender Journalismus, reine Recherche-Arbeit und am Ende auch einen Film.«

»Nur zu«, antwortete Nusselein.

»Also«, erklärte Wienpahl. »Eine Sabine Esser ist für uns seit heute auf dem Eifelsteig unterwegs. Wir wollen aber nichts mit Landschaft und schönen Gebäuden. Ihre Aufgabe ist es, uns von jeder Etappe jeden Tag ein typisches Gericht oder Getränk vorzustellen. Ich habe ihr deine Mailadresse gegeben. Du sollst ihre Berichte zunächst nur sammeln. Wenn sie in Trier angekommen ist, suchen wir uns für jeden Tag einen Gesprächspartner und fahren dann mit einem Kamerateam die Strecke ab. Du erzählst dann als ausgewiesener Eifelkenner kurz etwas zu jedem Ort und ich mache das Interview mit einer Köchin, einem Koch, Brauer, Schnapsbrenner, was weiß ich.«

»Hört sich nach freiem Essen an. Honorar wie immer?«, fragte Nusselein.

»Wie immer«, antwortete der SWR-Mann.

»Gut, dann soll mir das Mädel jeden Tag die Mail schicken«, sagte Nusselein dem Angebot zu:

»Die Wanderung wird 14 Tage dauern. Du meldest dich, wenn die in Trier angekommen ist«, fasste Holger Wienpahl zusammen.

»Mach ich, bis die Tage«, beendete Nusselein das Gespräch.

ggfhh

14.25 Uhr

Ob des bald fließenden Honorars beschloss er, das Fell des Bären schon einmal zu teilen und zwar mit sich selbst. Aus diesem Grunde plante er spontan einen Besuch bei Carmen Hensen im ›le Café‹ am Waldrand von Küchelscheid, da ihm der Sinn nach Bratkartoffeln mit Spiegeleiern stand. Zu Fuß wären das über eineinhalb Kilometer – so eine Strecke legt man in der Eifel nur im Auto zurück.

Charly Nusselein legte Festtagskleidung an (Das Beste von Gestern), verabschiedete sich von seinem Kater Incitatus, der sich beleidigt auf seinem verfusselten Sessel wegdrehte, da er es übel nahm, dass der Vorrat an ›Dreamies‹ nicht aufgefrischt worden war.

Charly startete seinen Uralt-Mazda, der noch einmal so gerade durch den TÜV gekommen war. Nach wenigen Sekunden erreichte er die Landesgrenze zu Belgien und bog in Küchelscheid auf die Straße ›Auf dem Hau‹ ab. Nach wenigen Metern bremste er, da er auf einem Wiesengrundstück ein Schild sah:

›Baugrundstück – Zu verkaufen – À vendre – Te koop‹

… und die Aachener Telefonnummer eines Maklerbüros.

Nusselein stutzte, sprach mit sich selbst, was er mangels Partnerschaft oft tat – von Incitatus natürlich abgesehen: »Das wäre doch mal was, und der Umzug aus Ruitzhof ist schnell geschafft. Gut, ein Umzug nach Belgien wird einigen Stress verursachen: Ummelden, belgisches Nummernschild und Internet, vielleicht so gerade noch deutsches Handynetz, aber das würde ich alles noch hinkriegen.«

Er notierte die Telefonnummer auf einem Papiertaschentuch und fuhr zum Café.

Carmen Hensen saß, da die Frühlingssonne es zuließ, mit einigen Einheimischen vor ihrer Taverne. Nachdem der Journalist sein Tagesleibgericht sowie ein ›Leffe bruin‹ bestellt hatte, hielt er Carmen zurück: »Da unten wird ein Baugrundstück verkauft, wem gehört das?«

Carmen Hensen zuckte mit den Schultern: »Keine Ahnung, Fremde, nicht von hier. Wohl so ne Erbensache. Frag’ die da.«

Damit zeigte sie auf den Tisch der Einheimischen, die nach den Gläsern zu urteilen eine gemeinsame Affinität für ›Westmalle tripel‹ hatten. Nusselein kannte die meisten Männer vom Sehen, Namen allerdings nicht. Er stand auf und ging zu dem Tisch rüber:

»Tach z’sammen. Weiß einer von euch, wer da unten das Grundstück verkauft?«

Die Männer schüttelten die Köpfe. Einer erklärte: »Da ist schon jahrelang nichts mehr dran getan worden. Gemäht wird einmal im Jahr von so ner Firma aus Mützenich, die mit den grünen Riesentraktoren. Frag doch da mal nach.«

Nusselein nickte, gab sich zufrieden und lenkte das Interesse nun ganz auf sein Bier sowie etwas später auf die Bratkartoffeln nebst Spiegeleiern. Als er bezahlt hatte und gerade gehen wollte, rief einer der Männer: »Kannst du mich bis unten an die Brücke mitnehmen? Bin was müde.«

Carmen lästerte: »Der Lehrer ist nur zu faul zum Laufen.«

Nusselein nickte und wenig später saß der Mann auf seinem Beifahrersitz: »Ich bin der Erwin Mertens. Wollte das vorhin nicht vor den anderen sagen: Lass die Finger von dem Grundstück, da klebt Blut dran.«

Nusselein wurde hellhörig, sah sich schon mit einem Kamerateam anrücken: »Erzähl!«

Mertens schüttelte den Kopf: »Das ist ne lange Geschichte. Eigentlich will ich darüber nicht reden. Wenn ein Kuhfladen getrocknet ist, kommt nämlich immer ein alder Össel wie ich und stochert darin rum.«

»Du weißt, ich bin Journalist und zur Verschwiegenheit verpflichtet.«

»Ja, ich weiß. Hat sich alles kurz nach dem Kriege abgespielt. War ne verrückte Zeit. Ich war damals noch ein Kind, weiß das meiste aus den Erzählungen meiner Eltern. Ist vieles auch nie aufgeklärt worden.«

»Was ist nie aufgeklärt worden?«, bohrte Nusselein nach.

»Na, die Schießerei ohne Leiche und der angebliche Selbstmord von dem halven Jeck!«

»Jetzt haste mich aber neugierig gemacht.«

»Gut, wenn du meinen Namen nicht nennst.«

»Großes Indianer-Ehrenwort!«

»Indianer habe ich hier noch nie gesehen.«

»Nur, so en Spruch.«

»Ich weiß, bin ja nicht blöd. Wollen wir uns morgen da vorne bei Martha in der ›Taverne A’Lutze‹ treffen? So um 11 Uhr, da sind wir ungestört. Und für mich ist es nicht so weit.«

Nusselein fragte noch einmal nach: »Warum sagte Carmen gerade Lehrer?«

Mertens lachte: »Weil ich einer war – jahrelang, in Kalterherberg. Habe damals als Belgier an der PH in Aachen studiert und immer nur in Deutschland unterrichtet.«

Mertens tippte kurz an seine Kappe, verabschiedete sich und schlurfte in Richtung eines restaurierten Bauernhauses davon, direkt an der Rur gelegen.

Nusselein überlegte: Sollte er schon einmal das Maklerbüro in Aachen anrufen oder lieber nach Imgenbroich fahren, um dort einen Riesenvorrat an ›Dreamies‹ zu kaufen? Immerhin darf man es sich nach so vielen Jahren des Zusammenlebens nicht mit seinem Kater verscherzen.

Nusselein gab Gas und fuhr Richtung Katzenfutter davon.

Da auf WDR 4 ›One Way Wind‹ von ›The Cats‹ dudelte, sah Nusselein darin wieder einmal einen Fingerzeig seines persönlichen Gottes, den er ›Herr Schlüter‹ nannte.

ggfhh

17.30 Uhr

Mit einer ›Dreamies‹-Familienpackung, mit der man selbst den schlecht gelauntesten Kater zur Sonny-Cat machen würde, steuerte Charly Nusselein Ruitzhof an. Incitatus zeigte ihm zunächst das kalte Fell, löste sich dann aber in Sekundenschnelle aus seinem Sessel, um die erste Portion zu verschlingen. Dann legte er sich wieder in sein Sitzmöbel, durchaus freundlicher gestimmt.

Nusselein bereitete sein lukullisches Abendbrot vor: ›Weight Watchers Eiersalat‹ auf Brot aus der Bäckerei Neuß in Imgenbroich.

ggfhh

19.15 Uhr

Nach dem Abendessen sah der Journalist seine Mails durch. Sabine Esser hatte tatsächlich einen kleinen Bericht von ihrer ersten Etappe geschickt:

Etappe 01:Diese führt von Kornelimünster nach Roetgen. Was bietet sich, wenn man den Dunstkreis Aachens verlässt, besser an, als eine Printe, deren Ursprung sowieso als Pilger-Nahrung auf dem Weg von Aachen zum Heiligen Rock nach Trier gedacht war? An so einer Printe kann man knabbern, wenn man die 14 Kilometer bis Roetgen zu Fuß geht. Bei der Ankunft in der Eifel gibt es zur Begrüßung den Nordeifel-Whisky – auch Els genannt. Die Einheimischen lieben den Kräuterschnaps …

Verwirrend fand Nusselein eine weitere Mail einer Dame, die offensichtlich nichts mit dem Eifelsteig zu tun hatte.

Kehed Sia♥ ♥ ♥Hi »Ich habe große Brüste, helle Nippel und eine schöne vaginale Öffnung – bitte sehen unter …«

Früher hätte er auf so eine Anfrage geantwortet, doch jetzt löschte er sie einfach: »In meinem Alter ist Sex nur noch Essen.«

ggfhh

20.00 Uhr

Den Abend verbrachte er nach der ›Tagesschau‹ mit zwei Folgen ›4 Blocks‹ und wünschte sich insgeheim einen Gang-Boss wie Ali Toni Hamady in der Eifel. Doch mit der organisierten Kriminalität im Dunstkreis der Buchenhecken hapert es etwas. Sehr früh schlief er daher auf seinem Sofa ein und wurde erst kurz vor Mitternacht wieder wach.

ggfhh

23.30 Uhr

Der letzte Satz aus jeder Folge der Uralt-Serie ›Die Waltons‹, die zwischen 1972 und 1981 lief, war Tradition im Hause, pardon: im Wohnwagen Nusselein. Laut sagte er jeden Abend:

»Gute Nacht Incitatus! Gute Nacht Mama! Gute Nacht Daddy! Gute Nacht John-Boy! Gute Nacht Mary Ellen! Gute Nacht alle miteinander …«

Obwohl er seinen Daddy nie gekannt hatte, schloss er diesen jeden Abend in sein – wie er es nannte – ›atheistisches Abendgebet an Herrn Schlüter‹ ein: »Vielleicht treibt der sich noch irgendwo auf diesem Erdenball rum.«

Seine Mutter schwieg sich zu diesem Thema immer aus.

Incitatus machte sich derweil in der Einfahrt zum Stellplatz des Wohnwagens sehr breit, so dass der nächtlich streunende Dackel eines Nachbarn vor die eigene Haustür kackte.

ggfhh

Zweiter Tag – Dienstag, 10. April

09.25 Uhr

»Saufrüh«, wie Nusselein es formulierte, war er an diesem Morgen wach geworden. Zwei Spiegeleier auf Brot, getränkt in Butter, mussten es mehrmals in der Woche sein. Dazu wurde immer das Katzen-Schüsselchen auf den Tisch gestellt, denn gemeinsam schmeckte es einfach besser. Schnell zog der Journalist anschließend die Kleider der Vortages – und der Tage davor – noch einmal an, roch zustimmend an den Socken und beschloss, dass er die wenigen Meter bis zur ›Taverne A’Lutze‹ nicht zu Fuß gehen würde.

Er entschied sich also für den Mazda.

ggfhh

11.00 Uhr

Der April meinte es diesmal einfach gut mit den Eifelern.

Erwin Mertens saß schon an einem Tisch vor der kleinen Gaststätte.

Der ehemalige Lehrer tippte an seine Mütze: »Setz dich, Jong.«

Nusselein bestellt einen Kaffee, während vor dem Küchelscheider schon ein blondes ›Jupiler‹ stand.

»Also?«, fragte der Journalist.

»Also was?«, entgegnete Mertens.

»Sie wollten mir die Geschichten von dem Selbstmord, dem verschwundenen Toten und dem Grundstück erzählen.«

»Ich heiße Erwin«, lenkte Mertens ab.

»Ich Charly.«

»Darauf müssen wir anstoßen. Martha, zwei Jupiler.«

Nachdem die Wirtin die Biere gebracht hatte, hob Mertens feierlich das Glas: »Nun denn! Auf uns!«

»Mein Gott, braucht der, ehe er zu Potte kommt«, dachte Charly.

Mertens kratzte sich derweil am Oberschenkel, ehe er begann:

»Das ist eine sehr lange Geschichte, ich hoffe du hast Zeit mitgebracht.«

»Habe ich, den ganzen Tag, wenn es sein muss«, antwortete der Journalist.

Mertens hob abwehrend die Hände: »Man kann es auch übertreiben, so lang nun auch wieder nicht.«

Nachdem er noch einen Schluck Bier genommen hatte, begann er endlich: »Wir Eifeler sind in der Beschreibung unserer Mitmenschen sehr einfühlsam: Daher würde ich – ich war damals, 1947 rum, acht Jahre alt – den Horst-Dieter Lambertz so beschreiben:

Der hatte se zwar noch alle, brauchte se aber nicht der Reihe nach.

›Für et Jeckes in Düren hat es für unseren Horsti nicht gereicht, aber in der Volksschule mussten sie ihn nehmen‹, soll seine Mutter immer gesagt haben.«

Erwin Mertens lachte und fuhr fort: »Irgendwann nach acht Jahren hatte Horst-Dieter auch diese geschafft. In welcher Klasse er entlassen wurde, verschweig ich lieber, ist heute auch egal. Ab sofort war Horst-Dieter Fachkraft auf dem elterlichen Hof für Milchkannenandiestraßebringen, Entmisten der Rinne hinter den Kühen und Entleeren des Plumpsklos neben dem Misthaufen im Garten. Er hätte es nach einigen Jahren bestimmt auch zum Melker gebracht, wenn nicht die Fingerfertigkeit getrübt sowie der Einberufungsbefehl der deutschen Wehrmacht ins Haus geflattert wäre. Wir waren damals noch Preußen hier.«

Nusselein nickte wissend und Mertens nahm einen kräftigen Schluck Bier: »Was jetzt kommt, weiß ich nur von meinen Eltern: Horst-Dieter sollte sich am 30. April 1943 am Bahnhof in Kalterherberg einfinden. Den sah man von hier, bis er abgerissen wurde. Also ungefähr 80 Meter von seinem Elternhaus – das Haus da drüben, wo jetzt der Zahnarzt aus Aachen am Wochenende drin wohnt. Den Bahnhof konnte somit selbst Horst-Dieter nicht verfehlen. Von dort sollte er mit zwei Kalterherbergern zu einem Sammeltransport gebracht werden. Das Ziel hieß Dünkirchen. Da Horst-Dieter sich aber keine Städtenamen merken konnte, sondern nur die Namen der dort hergestellten Biere – Monschau hieß bei ihm Felsquell – Bitburg allerdings Bitburg – hielt er Dünkirchen für Diekirch und war fest davon überzeugt, dass es gen Luxemburg gehen würde.«

Mertens lachte schon wieder und schüttelte den Kopf.

»Wie verwundert muss der gewesen sein, als der Zug von Kal­terherberg nicht in Richtung Sourbrodt sondern nach Felsquell, also Monschau, fuhr und der Sammeltransport in Aachen startete.

Und die Verwunderung lag auch auf Seiten seiner Mutter, als die erste Feldpostkarte eintraf.«

Mertens zitierte, da die Mutter wohl die Benachrichtigung im ganzen Dorf rumgezeigt hatte:

›Lev Mam, fiele Jrüsse aus Diekirch. Dat Meer schön, viele Schiff. Horsti‹.

Der ehemalige Lehrer fuhr fort: »Nach der Schlacht um Dünkirchen drei Jahre vorher war nur noch eine kleine Einheit geblieben – die Kaserne lag direkt hinter den Dünen.

Horsti, der zum ersten Male im Leben sein Dorf hier verlassen hatte, traf ein erster Schock: Toiletten als Bestandteil eines Gebäudes und nicht als einsames Häuschen neben dem Misthaufen. Kurzum: Horst-Dieter verweigerte sich: ›Nee, nee, man kann doch nicht in nem Zimmer drösse, dat tut man draußen‹, wetterte er.«

Mertens schüttelte sich erneut vor Lachen und fuhr fort: »So schauten selbst die Wachen weg, wenn Horst-Dieter wieder einmal aus der Kaserne in die Dünen schlich, wo er sich seinen ganz privaten Donnerbalken errichtet hatte: ›Kein Problem, der geht nur kacken.‹

Dort saß Horst-Dieter oft und träumte von Küchelscheid – den Namen konnte er sich merken, obwohl da kein Bier gebraut wurde. Aber Schwarzbrennen von Els genügte ihm auch.«

Erwin Mertens nahm einen weiteren Schluck Bier.

»Was jetzt kommt, wurde noch jahrelang im Dorf erzählt: Eines Abends saß unser Freund wieder einmal träumend auf seinem Donnerbalken, als sich ein kleiner Trupp Franzosen und Belgier – wohl Mitglieder der Résistance – näherten. Als Horsti, die Hose in den Füßen hängend, erschrocken ›Wer da?‹ rief, schoss einer der Männer sofort und traf den Donnerbalken, der krachend zerbarst und Horsti in die Tiefe zog.«

Der ehemalige Lehrer nickte mehrmals: »Die Soldatenredewendung ›Ich habe bei Dünkirchen in der Scheiße gelegen‹ hatte damit gewaltigen Wahrheitsbestand erhalten. Sofort stürmten sechs deutsche Wachtposten, in die Luft schießend, in die Dünen, wo die Widerstandskämpfer auf einem kleinen Schnellboot die Flucht ergriffen und ihre Rucksäcke voll mit Sprengstoff zurückließen. Keine Frage: Horsti hat einen Sprengstoffanschlag verhindert – der Kompaniechef schlug ihn daher für das Eiserne Kreuz vor, und begründete dies mit einer ›überdurchschnittlich mutigen Handlung ohne Rücksicht auf das eigene Leben.‹

In der Urkunde, die wenig später eintraf, hieß es, dass der Soldat Horst-Dieter Lambertz tapfer gewesen sei und sein Bataillon aus einer Krise gerettet habe.

Kurzum: Horsti war nun ein Held mit Eisernem Kreuz.

Helden akzeptieren, dass sich Toiletten auch in Häusern befinden – auf jeden Fall hat Horsti seinen Donnerbalken nie wieder aufgesucht.«

Nusselein hörte aufmerksam zu, sah sich schon am Computer sitzen und die Geschichte ›Der brave Soldat Horst‹ in das Gerät hacken. Gut, er würde wahrscheinlich die ganze Sache noch etwas ausschmücken. Sagte doch ein Freund immer wieder ›Nusselein, du hast zu wenig Sex in deinen Geschichten‹.

Erwin Mertens riss den Geisterschreiber aus seinen Gedanken:

»Es geht aber noch weiter: Das Schicksal wollte es, dass Wochen vor Kriegsende eine Krankheit, deren genaue Schilderung ich mir ersparen möchte, den Ritterkreuzträger Lambertz auf Heimat-Genesungsurlaub zurück zu uns verschlug. Inzwischen war allerdings seine Mutter gestorben und Horsti nun Vollwaise und … Alleinerbe. Zurück in Küchelscheid stolzierte er mit seinem Ordensblech, das er an einem Schnürsenkel um den Hals trug, stolz durch das Dorf und erfuhr eher durch Zufall, dass der Krieg zu Ende und er nun wieder ein Belgier war.«

ggfhh

11.30 Uhr

Mertens machte eine Pause: »Ich könnte was vertragen, du auch?«

Nusselein nickte, wusste er doch, dass die angebotenen ›Lütticher Waffeln mit karamellisiertem Hagelzucker‹ ein Genuss waren.

Nachdem Martha Henn die Backwerke gebracht und sich der ehemalige Lehrer noch kräftig Puderzucker über das regionale Gericht gestreut hatte, fuhr der fort: »Ich komme jetzt zum eigentlichen Fall. Da kann ich mich sogar an einige Sachen und Erzählungen selbst erinnern.

Also: Lag es am Ritterkreuz, das Wallonen als Provokation empfanden, oder lag es an einer Schmidter Schmugglerbande, die Horsti für einen geheimen Spion der Zöllner hielten – kurzum, irgendjemand hat ihm das Genick gebrochen und ihn am nächsten Baum aufgeknüpft. Stunden später kamen die beiden deutschen Zöllner Hennes Witzek und Mattes Herhahn an dem Baum vorbei und riefen erschrocken aus: ›Da hängt der Kerl schon wieder!‹

Um bürokratischen Ärger zu vermeiden hatten die beiden wohl schon Stunden vorher die Leiche von dem deutschen Baum abgenommen und an einem belgischen Baum aufgeknüpft. Die belgischen Kollegen hatten in der Folgezeit wohl eine ähnliche Idee und Horsti wieder nach Deutschland geschafft. Von dort wanderte der Leichnam allerdings nun wieder nach Belgien, wo eine neue Schicht des belgischen Zolls die Kriminalpolizei in Malmedy alarmierte.«

Mertens hielt inne, da er sich die Tränen abwischen musste, die er über den damaligen Grenzvorfall gelacht hatte. Dann fuhr er fröhlich fort: »Der eintreffende Beamte, ein Wallone, der aus Namur versetzt worden war, gab sich wenig Mühe: ›Eindeutig Selbstmord.‹

Nun war es damals Sitte hier, dass die Verabschiedung nicht – wie in der Eifel damals üblich – in der guten Stube stattfand, sondern sechs Mannsleute vielmehr den Sarg von Haus zu Haus trugen, um jedes Mal ein Gläschen Hochprozentigen auf den Dahingeschiedenen zu trinken. In Horstis Fall sollen Schlangenlinien im Schnee davon gezeugt haben, dass die Träger schon einiges zu sich genommen hatten. Beim letzten Haus da oben in Küchelscheid angekommen, stellte man in der Wohnstube die Lade an die Wand und hob mehrmals – während die Flasche bis auf den Grund geleert wurde – das Glas auf den Verstorbenen: ›Auf Horsti!‹«

Erwin Mertens lachte schallend, als er fortfuhr. »Dann nahm man den Sarg, um ihn zurück zum Haus des Verstorbenen zu bringen, wo er bis zur Bestattung stehen würde.

Doch es geschah Unheimliches!!!

Nach nur wenigen Metern im dichten Schneetreiben ertönte plötzlich ein Glockenschlag, genauer: der Glockenschlag von Big Ben. Erschrocken ließen die Träger den Sarg in den Schnee krachen und sprangen in den nächsten Straßengraben, wo sie regungslos verharrten. Da der tote Soldat an der Westfront gewesen war, rief einer erschrocken aus: ›Das ist die Rache der Engländer.‹

Dann lag einige Minuten Schweigen über dem Dorf, die Träger wagten sich nicht aus ihren Verstecken. Die Stille wurde allerdings jäh durchbrochen, als plötzlich der Bewohner des letzten Gehöfts erschien und verärgert in die Nacht schrie: ›Ihr Idioten habt den Sarg vergessen und dafür meine Standuhr mitgenommen‹.«

Nun lachten beide und Mertens ließ sich viel Zeit, ehe er fortfuhr: »Den weiteren Verlauf des Abends können wir vergessen und lieber über die Pläne berichten, die die beiden grauen Eminenzen des Dorfes – namens Paul-Egon und Heinz-Willi – am folgenden Tag schmiedeten.

Die beiden sind schon lange tot, gibt aber noch Verwandtschaft hier, daher nur die Vornamen. Spielen für den weiteren Fall auch keine Rolle.

Du weißt, wir sind hier zwar in Belgien, gehört aber zur deutschen Pfarre Kalterherberg, wo sich auch der Friedhof befindet.

Da die deutschen Zöllner damals ihren Dienst preußisch-streng verrichteten, wurde jeder Kirchgänger, jeder Fahrradfahrer am Schlagbaum des kleinen Grenzübergangs nach allen Mitteln der erlaubten Kunst durchsucht. Lediglich bei einem Leichenzug öffneten die Zöllner sofort die Schranke und salutierten stramm.

Das brachte unsere beiden Schlitzohren auf den Plan: Mein Vater behauptete sogar, bei der Planung dabei gewesen zu sein. Aber der erzählte viel, wenn der Tag lang war.«

Mertens machte eine Pause und schabte mit dem Messer über den leeren Teller, um auch noch den letzten Rest Puderzucker zu ergattern. Dann fuhr er fort: »Der Plan stand: ›Wir schaffen Horsti einen Tag vor der Beerdigung nach Kalterherberg in den Kühlraum des Metzgers gegenüber der Kirche und füllen den Sarg mit Kaffee und Zigaretten.‹

Die Frage war nur, wie sollte man Horsti über die Grenze schaffen?

Da es damals nur ein Auto hier im Dorf gab, einen Opel ›Olympia‹ von Heinz-Willi, hatte der eine Idee: ›Wir setzen Horsti auf den Rücksitz, ziehen den Hut tief ins Gesicht und sagen den Zöllnern, unser Kumpel schläft.‹

›Und wenn die ihn wecken wollen?‹, warf einer der sechs Beteiligten ein. Wie gesagt – auch mein Vater.

Man dachte lange nach und Heinz-Willi hatte dann folgende Idee: ›Wir müssen die Zöllner ablenken und setzen auf den Beifahrersitz unser Schwein, die Hermine, die wir einen Tag vorher sowieso schlachten werden – mit Hut, Mantel und Brille. Dafür habe ich sogar eine amtliche Erlaubnis, da sich der einzige Metzger mit Kühlraum auf deutscher Seite befindet. Das wird die Zöllner so in Anspruch nehmen, dass sie der schlafende Horsti gar nicht interessieren wird.‹

Gesagt getan.«

Erwin Mertens lachte erneut über das damalige Schelmenstück.

»Man stelle sich das Bild mal vor: Heinz-Willi am Steuer, Hermine auf dem Beifahrersitz, Paul-Egon und der tote Horsti auf der Rückbank – so fuhr man beim Zoll vor. Jahre später hat einer der beiden Zöllner den folgenden Dialog dann erzählt:

›Die Ausweise!‹, rief streng der deutsche Zöllner Hennes Witzek und beugte sich zum Beifahrerfenster hinunter. Sofort sagte er: ›Sie können passieren!‹

Dies verwunderte seinen Kollegen Mattes Herhahn: ›Du bist doch sonst so ein ganz Scharfer.‹

Witzek schüttelte den Kopf: ›Hast du nicht gesehen, wie der Belgier auf dem Beifahrersitz aussah? Der hatte ein Gesicht wie ein Schwein. Wenn ich in dessen Pass geguckt hätte, hätte ich unter mich gemacht vor Lachen. Und dann steht in dieser belgischen Zeitung ›GrenzEcho‹ wieder, dass deutsche Zöllner sich über Belgier lustig machen.‹

Lies es dabei bewenden und ging in sein Zollhäuschen.

Als sich am nächsten Tag der Leichenzug nebst Musikkapelle und vielen Trauernden der Grenze näherte, taten die Zöllner wie angeordnet: Schranke hoch, salutieren.«

Nusselein unterbrach Mertens Redefluss: »Aber wie fand dann der Tausch statt? Oder wurden Kaffee und Zigaretten beerdigt?«

Mertens hob beide Hände: »Um Gotteswillen, da war für damalige Verhältnisse ein Vermögen drin. Die von dir angeschnittene Hürde wurde nach Eifeler Art genommen. Als der Leichenzug vor der Kirche ankam, eilte aufgeregt der Küster aus dem Gotteshaus:

›Der Pastor wurde zu einem Versehgang gerufen. Ihr könnt in der Wirtschaft der Fleischerei schon einmal den Totenkaffee vorziehen.‹

Was keiner wusste! Für jeweils zwei Pfund Kaffee hatten die beiden Schlitzohren den Pastor und den Küster zu diesem Schauspiel überreden können.

Gesagt, getan: Schon bald war der Totenkaffee im fröhlichen Gange. Man trank, man lachte. Paul-Egon und Heinz-Willi hatten genügend Zeit, Kaffee und Zigaretten beim Metzger zu verstecken und Horsti, der neben Hermine im Kühlraum lagerte, wieder in den Sarg zu legen.

Als schließlich der Pastor in vollem Ornat in der Wirtsstube erschien und laut verkündete: ›Wir wären dann soweit!‹, konnte der Leichenzug den letzten Gang nach wenigen Metern vom Gasthaus zum Friedhof beenden. Da schon kräftig gebechert worden war, fiel keinem der Trauergäste der freudsche Versprecher des Pastors am offenen Grabe auf: ›Wie steht es bei Moses geschrieben: Denn Kaffee bist du und zum Kaffee kehrst du zurück‹.

Soweit, so gut«, schloss Erwin Mertens seine Erzählung.

ggfhh

12.30 Uhr

Er schlug sich erneut lachend auf die Schenkel: »Ob alles stimmt, weiß ich nicht. Wenn et jelogen ist, ist es aber jut jelogen.«

Nusseleins Interesse ging in eine ganz anderer Richtung: »Du glaubst also, dass es kein Selbstmord war?«

»Damals glaubten wir das natürlich, aber nach und nach kamen immer mehr Bedenken. Ich wurde auch älter und habe dann viel mitgekriegt und verstanden. Das war nämlich noch ewig ein Thema im Dorf.«

»Erzähl!«

Mertens kratzte sich am Hinterkopf: »Also: Horsti war Waise, da seine Eltern gegen Ende des Krieges beide gestorben waren. Der Vater wurde von einer Granate der Amis zerrissen, die Mutter ist dann ein paar Wochen später aus Gram gestorben – wie man erzählte. Heute würde ich aber von Selbstmord reden.«

»Noch ein Selbstmord?«

»Hier vielleicht ja, bei Horsti glaube ich nicht.«

»Du machst es spannend.«

Mertens entschuldigte sich: »Ich muss in meinem Gedächtnis kramen, da ich die Sache – bis jetzt das Grundstück angeboten wurde – auch über die Jahre vergessen hatte.«

»Verstehe!«, zeigte Nusselein Verständnis.

»Ist nun mal so, manche Sachen vergisst man einfach. Also, ich habe gestern nach unserem Gespräch lange nachgedacht. Der Horsti hatte – wenigstens für damalige Verhältnisse – angeblich ein kleines Vermögen geerbt: Das Elternhaus, das ist dieses Fachwerk-Wochenendhaus da vorne, und Grundstücke, ein paar angeblich auf deutscher Seite.«

»Der wäre also damals recht reich gewesen?«, warf Nusselein ein.

»Auf jeden Fall damals!«, nickte der ehemalige Dorfschullehrer.

»Stellt sich mir die Frage«, bohrte Nusselein nach: »Wer hat geerbt?«

»Kluges Köpfchen! Das haben sich die Leute damals auch alle gefragt und schnell kam raus: Das war ein entfernterer Vetter, der in Sourbrodt eine kleine Werkzeugfabrik betrieb, die nach dem zweiten Weltkrieg natürlich auch kurz vor dem Aus stand. Der hat sich durch das Erbe von Horsti natürlich, wie wir sagen, gesund gestoßen.«

»Gibt es da einen Namen?«, fragte Nusselein.

»Klar, Roger Lejoly. Aber vergiss es. Der ist irgendwann verschwunden, wahrscheinlich schon lange tot. Wer von dem geerbt hat, weiß ich nicht. Das wird dir aber bestimmt die Aachener Telefonnummer sagen können.«

»Die Erben, wenn überhaupt, trifft ja nun auch keine Schuld mehr«.

»Du sagst es.«

ggfhh

12.45 Uhr

Nusselein lehnte sich zurück und wäre fast umgekippt: »Irgendwie hast du mit deinem schönen Beispiel von dem getrockneten Reisfladen …«

»Kuhfladen«, verbesserte Mertens.

»… ja Recht. Da sollte man nicht mehr drin stochern. Zumal die Sache nach damaligem Recht, da verjährte sogar Mord, erledigt und der mögliche Täter sowieso tot ist. Aber irgendetwas reizt mich an der Geschichte.«

»Da wirst du wahrscheinlich noch nicht einmal mehr Akten finden, da der Kripomensch aus Malmedy eindeutig Selbstmord erklärt hatte.«

»Trotzdem«, murmelte Nusselein: »Irgendetwas reizt mich an dem Fall.«

»Wenn es denn überhaupt einen Fall gibt. Denk an den Kuhfladen!«, mahnte Mertens, schob dann aber noch nach: »Es gab damals aber noch eine komische Sache hier. Ein paar Jahre nach Horstis Tod – da war ich schon größer – ist hier bei einem Treffen von Schmugglern ein Schuss gefallen. Die Gendarmerie – wie damals die Polizei noch hieß – war auch sofort da. Einer der Schmuggler hat auch gestanden, er habe auf einen unbekannten Mann geschossen. Aber man hat weder einen Verletzten, noch einen Toten gefunden. Die Sache war lange Dorfgespräch hier. Ist aber nichts mehr herausgekommen.«

Nusselein zuckte nur mit den Schultern: »Das war früher ein ziemlich kriminelles Völkchen hier in Küchelscheid. Aber noch einmal zu dem ominösen Horsti. Gibt es jemanden in Sourbrodt, der mir vielleicht doch noch etwas erzählen kann?«

Mertens dachte lange nach: »Ja, ich glaube, da habe ich was. Ich weiß allerdings nicht, wo der wohnt. Ein ganz seltsamer Typ, so eine Art Alt-Hippie, der immer wieder in verschiedenen Zeitungen und Heimatblättchen über Sourbrodt schreibt. Den nennen sie im Dorf ›Silence‹ – genau wie die Figur aus dem Comic von Didier Comès. Kennste den? Der war ein berühmter Zeichner, ein richtiger Star. Ist 2013 gestorben. Hat fast immer in Sourbrodt gelebt. Sein Vater, da kann ich mich sogar noch dran erinnern, war der letzte Wirt in der Bahnhofswirtschaft. Gibt es heute auch nicht mehr, selbst in Aachen.«

»Ja, den Comès kannte ich, also nicht persönlich. Hat man nicht oben an der jungen Rur ein Denkmal für den errichtet? Wenn man von Küchelscheid durch den Wald fährt«, grübelte Nusselein: »Gibt doch sogar ne Band, weiß aber nicht, ob die nach dem benannt ist: ›Then Comes Silence‹.«

»Könnte sein, aber genau den meine ich«, zeigte sich Erwin Mertens an Punk-Musik nicht sonderlich interessiert.

Nusselein wippte weiter auf seinem Stuhl: »Und deinen Hippie nennen die Sourbrodter nach der Comic-Figur? Übrigens eine ganz grausige Geschichte. Von Hexen und Rache, spielt alles in den Ardennen.«

Charly Nusselein dachte lange nach.

»Dann werde ich deinen Hippie mal besuchen. Irgendwie fesselt mich die Geschichte. Zumal kein Bulle dieser Welt daran noch Interesse haben wird, da kann ich vielleicht ungestört eine schöne Story schreiben, vielleicht sogar einen Roman.«

Mertens lachte: »Ja, ja, da bin ich mal gespannt. Übrigens: Zu der Zeit, als Horsti ermor…, also gestorben ist, erkannte mich jeder im Dorf, weil ich immer ein grünes Stoffhütchen trug und im Gegensatz zu den anderen Jungs im Dorf immer noch ein Fahrrad mit Stützrädern fuhr. Da gibt es unzählige Fotos von mir. Du hättest mich also sofort erkannt.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte Nusselein.

»Man weiß nie, wofür es einmal gut sein wird«, antwortete Mertens und verabschiedete sich: »Wie sagt der Eifeler? Dr. Mitdach steht auf dem Tisch.«

Nusselein winkte Martha ran: »Ich zahle dann mal!«

»Ich habe da zufällig was mitgehört. Kann ich dir auch noch was dazu erzählen, aber heute nicht. Gleich kommt noch ein Radclub aus Düren vorbei.«

ggfhh

16.15 Uhr

Nusselein saß mit seinem geliebten Kater vor seinem Wohnwagen in Ruitzhof und genoss die warmen April-Sonnenstrahlen.

»Mir steht der Sinn nach Frau«, murmelte er, holte seinen ›Storage.it‹ und blätterte die Adressen durch. Die Begegnung der Eicherscheider Art namens Gaby Armbruster, die vor Jahren einmal eine große Rolle in seinem Leben gespielt hatte, wollte er eher vergessen, hinter einige Namen hatte er ›verheiratet‹ geschrieben, zwei waren schon tot. Durchgestrichen hatte er drei Damen aus dem Aachener Rotlichtmilieu, da diese nicht mehr aktiv waren. Zu einer hatte er noch regelmäßig Kontakt, da diese inzwischen einen Frisörladen in Aachen betrieb und Nusselein nun ganz andere Leistungen von ihr in Anspruch nahm. Also stieß er wieder einmal auf den Namen Hildegard Jansen-Mutzkuss. Da er hinter dem Namen der ehemaligen Vorsitzenden der Monschauer Grünen ein freudiges ›geschieden‹ geschrieben hatte, überlegte er kurz, ob er ihr Büro im Berliner Bundestag anrufen sollte. Denn dort überwinterte die Politikerin nun schon sehr lange. Da ihr immer Listenplätze sicher waren, hatte sie ihre Eifeler Basis ganz hinter sich gelassen.

Nusselein nahm sich also fest vor, aus irgendeinem Grunde am nächsten Tag in Berlin anzurufen, sich durchaus der Tatsache bewusst, von der – wie er es formulierte – Liebe seines Lebens einen ordentlichen Anraunzer zu ernten: »Charly, was willst du denn schon wieder? Du hast doch erst vor fünf Jahren angerufen.«

ggfhh

18.15 Uhr

Die einsame Wandersfrau auf dem Eifelsteig lieferte per Mail wieder ihren Tagesbericht:

Etappe 02: