Kopflos in Reichenstein - Hubert vom Venn - E-Book

Kopflos in Reichenstein E-Book

Hubert vom Venn

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Beschreibung

Das Nachtprogramm dudelte 'Dreamer' von Ozzy Osbourne. Cornelius Damm von der Aachener Spurensicherung fluchte wie ein Rohrspatz, als er in Mützenich Richtung Reichenstein abbog. 'Ich hasse, ich hasse diese Eifel. Ewige Anfahrt, Arsch der Welt, komische Todesfälle, wochenlange Ermittlungen. In Aachen kommt einer ins Zimmer, ersticht brav seine Freundin und ruft dann von einer nahe gelegenen Telefonzelle die Polizei an. Nach zwei Tagen ist der Fall erledigt und zehn Minuten vom Tatort entfernt steht mein Bett. Aber nein, es muss ja dauernd diese verdammte Eifel sein …'

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© 2008 eBook-Ausgabe 2011RHEIN-MOSEL-VERLAGBrandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151, Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-89801-792-3

Hubert vom Venn

Kopflos in Reichenstein

Nusseleins dritter Eifel-Fall

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Prolog

Schade, dass Charly Nusselein gewaltig einen an der Waffel hat.

»Drei, zwei, eins – meins!«, jubelte er siegreich und klatschte sich – mangels menschlichem Gegenpart – mit einem lebensgroßen Lara-Croft-Pappaufsteller ab, den er sich nach einem Spätfilm mit weniger als dem erhofften Erotik-Inhalt in einem Aachener Kino frustriert einfach unter den Arm geklemmt hatte.

Lara Croft zeigte sich pappig-unbeeindruckt, zumal das Objekt der ebay-Begierde nicht unbedingt ihren eigenen Kleidervorstellungen aus grünem Body, braunen Hotpants sowie zwei »9-mm-FN Browning High Power« entsprach.

Nusselein hatte nämlich für »125 Euro (plus 5,00 Euro versicherter Versand-Service nach Deutschland)« einen fleckigen Trenchcoat ersteigert, der als »Wahnsinn! Original Kommissar-Columbo-Mantel aus Hollywoodfundus (garantiert), Herren-Größe, in vielen Folgen zu sehen« angepriesen worden war. Ihn hatte auch nicht stutzig gemacht, dass er der einzige Bieter gewesen war und der Verkäufer als Zusatz nicht nur »Aus Türkei« sondern auch noch »Hierbei handelt es sich um eine Privatauktion – jegliche Garantie oder Umtausch ausgeschlossen« dick unterstrichen hinzugefügt hatte.

Als sich sein Handy mit dem Klingelton »Old Dan Tucker« meldete, wurde Charly Nusselein zurück in die Realität gerissen – in eine brutale Realität, wie sie in der Eifel nun einmal an der Tagesordnung ist:

»Wetten, da ist ein Mord passiert!«, schlussfolgerte er messerscharf: »Der Verleger dieser Reihe will doch immer, dass der Mord auf der ersten Buchseite stattfindet. Dann wollen wir den werten Arne Houben vom Rhein-Mosel-Verlag und die unbekannte amazon-Leserin mal befriedigen.«

Stolz zitierte Nusselein eine »Ilona« aus Krefeld:

»Kein Buch zum Verschlingen …

… denn dann würde man sich um viele spitze Anspielungen bringen. Auch der zweite Fall des Duos Nusselein/Zimmermann lässt den »typischen Eifel-Charme« spüren, man kommt um’s Lachen nicht herum und darf sogar seine grauen Zellen zum Mitdenken benutzen.

»Hoffentlich kommen noch viele weitere Fälle dazu!«

»Und ein weiterer Fall beginnt jetzt!«, verkündete Nusselein laut und ungehört:

Dann hob er ab …

Schade, dass Charly Nusselein gewaltig einen an der Waffel hat.

Erster Tag – Dienstag, 4. März

»Nusselein, du Tropf«, meldete sich Elli Breuer aus der Redaktion des »Hammer« in Monschau, »aus Polizeikreisen …«

»Ah, der polizeibeamtete Ehemann hat Dienst!«

»… habe ich erfahren, dass an dem Wehr in der Rur im Rosenthal hinter Monschau ein Kopf gefunden worden ist.«

»Kannst du mich bitte anrufen, wenn der Rest auch angespült worden ist.«

Die folgenden Worte der Redaktionssekretärin führten zu einer Übersteuerung im Handynetz der Nordeifel und kamen nur noch bruchstückhaft in Nusseleins Wohnwagen in der Enklave Ruitzhof bei Kalterherberg an. Trotz gewisser Unverständlichkeiten wie »Vollidi…«, »Faule Sa…« und »sofort in deine Schrottkis…« lösten die Wortfetzen hektische Betriebsamkeit aus: Incitatus, Kater und einziger Lebengefährte des Journalisten, sprang mit einem Satz Richtung Katzenklappe, während Nusselein Sekunden später in seinem Wagen saß.

Nach noch nicht einmal zwanzig Minuten erreichte der stark verrostete Mazda mit dem – nach eigenem Bekunden – »Satan am Steuer« das Rosenthal.

»Crime Scene do not cross« stand auf einem gelben Absperrband, das quer über die Straße gespannt war und von einem gemütlich aussehenden Dorfpolizisten bewacht wurde.

»Manchmal geht mir diese Amerikanisierung zu weit«, schimpfte Nusselein, während der Polizist ihn durchwinkte. Auf dem Weg zum Fluss begegnete ihm Peter Stollenwerk von der »Aachener Zeitung«, der wieder einmal vor Nusselein am Ort des Geschehens gewesen war:

»Charly, das sieht grässlich aus. Das kannst selbst du in deinem Blättchen nicht veröffentlichen«, rief dieser ihm zu, bevor er in seinen VW-Käfer stieg.

In der Eifel hatte man sich angewöhnt, die Monatszeitschrift »dat Blättchen« zu nennen, da der Name »Der Hammer« in der Logik der Landmenschen nun wirklich keinen Sinn macht.

An der Rur wimmelte es von Polizisten. Nusselein erkannte Kommissar Gottfried Zimmermann, der in hohen Anglerstiefeln und Wathose in der Rur stand, während zwei Jung-Polizisten gerade ein Tuch über einen blutigen, runden Gegenstand legten.

»They died with their boots on – Männer, die in Stiefeln sterben«, grüßte Nusselein seinen Mitstreiter aus zwei Kriminalfällen, die er nicht ohne das Wort »spektakulär« immer wieder gerne in Erinnerung ruft.

»Du hast mir gerade noch gefehlt«, maulte der Kommissar, dessen großes Vorbild immer noch Charly Muhamed Huber ist und machte eine schnelle Kopfbewegung in Richtung der Kollegen aus dem Aachener Polizeipräsidium. Dort hatte man nämlich erst unlängst wieder seine enge Zusammenarbeit mit dem Journalisten kritisiert. Ein Vorwurf, den Zimmermann immer vom Tisch wischte:

»Dann sollen die mir wenigstens hin und wieder eine Hilfe aus dem urbanen Aachen schicken. Die lassen mich doch hier in Monschau mit allem immer hängen.«

Nusselein bemerkte erst jetzt, dass er wieder einmal total overdressed war, da er zu einem braunen Halbschuh am rechten Fuß eine schwarze Stiefelette am linken Fuß trug. Schnell machte er einige Fotos, was aber nur dazu führte, dass die beiden polizeilichen Jungspunde ein riesiges schwarzes Tuch vor dem bereits zugedeckten Etwas hochhoben.

»Das muss der Kopf sein«, schlussfolgerte Nusselein messerscharf.

Aus der Menge der Polizisten löste sich der ganz in Weiß gekleidete Cornelius Damm von der Aachener Spurensicherung und grüßte Nusselein mit stark eingeschränkter Begeisterung:

»Ach, die Pfeife gibt es auch noch!«

»Na, na. Erst einmal ein Frohes Neues Jahr, wenn ich bitten darf«, konterte der Journalist mit dem in kaiserstädtischen Polizeikreisen angeschlagenen Ruf.

»Wir haben Anfang März, du Flitzpiepe«, erwiderte Damm und ging zu seinem Wagen, während sein Kollege Berthold Ott den Monschauer Journalisten völlig ignorierte.

Zwei Bestatter, so konnte Nusselein trotz des schwarzen Tuchs erkennen, legten den Kopf in eine Zinkwanne und verschlossen diese mit einem grauen Deckel.

»Hoffentlich ein Einheimischer, sonst gibt es an der Beerdigung nichts zu verdienen«, murmelte einer der Sargträger und der Jüngere schob nach:

»Werden Köpfe eigentlich auch alleine begraben?«

»Keine Ahnung. In der Eifel stirbt man nicht kopflos.«

Gottfried Zimmermann war inzwischen aus der Rur gestiegen. Nusselein machte ein offizielles Gesicht, wenigstens hielt er es dafür, und trat an den Kommissar heran:

»Wann gibt es eine Pressekonferenz?«

»Kommt Zeit, kommt PK«, antwortete dieser und raunte Nusselein zu:

»Ich melde mich.«

»Davon gehe ich aus.«

Nusselein hörte noch, dass aus Aachen Leichenspürhunde angefordert wurden und beschloss, erst einmal zur Redaktion zu fahren. Ein Kleinkind, das an der Hand seiner schaulustigen Mutter aus der Ferne das Geschehen beobachtete, krähte:

»Guck mal, der Onkel hat einen falschen Schuh.«

»Pssst«, belehrte die Mutter bewusst hörbar, »das ist doch der Bekloppte von der Zeitung.«

***

Elli Breuer warf Nusselein neben einem bösen Blick auch mehrere Büroklammern hinterher, als dieser die Redaktion des »Hammer« gegenüber dem ehemaligen Monschauer Kino betrat:

»Wetten, die Konkurrenz war schon in der Dunkelkammer, als du noch mit dem fetten Arsch im Bett lagst!«

Nusselein gab sich beleidigt:

»Erstens wird mein Gesäßbereich gerne mit dem von Brad Pitt verglichen, zweitens gibt es keine Konkurrenz für mich, drittens kaum noch Dunkelkammern und viertens lag ich nicht im Bett, sondern habe bei ebay einen Sensationskauf getätigt.«

»Eine aufblasbare Puppe von Beate Uhse!«, stöhnte Elli Breuer.

»Gehe weg, Weib, mit deinem sündigen Sprech! Nein, ich habe den Original-Mantel von Kommissar Columbo ersteigert. Direkt aus Hollywood, wenigstens fast.«

Selbst Nusselein kamen wegen des Hinweises »Aus der Türkei« nun erste Zweifel, die er aber rasch überspielte:

»Ich werde also in Zukunft wie ein Hollywood-Star durch die Gegend laufen.«

»Musste dir nur ein Schild umhängen, sonst merkt es keiner. Der Mantel sah doch im Fernsehen immer echt Scheiße aus.«

Elli nahm tief Luft und polterte weiter:

»Ich bin sowieso sicher: Das ist eine Fälschung. Aber das interessiert mich ja auch nicht – nicht die Bohne: Was ist vielmehr mit dem Mord? Ist das was für die nächste Ausgabe, oder zieht sich der Herr wie immer wochenlang aus der Redaktionsarbeit zurück?«

Nusselein konnte nicht antworten, da das Telefon klingelte.

»Monatszeitschrift »Der Hammer«, Elli Breuer am Apparat, was kann ich für Sie tun?«

»Ich hasse diese beknackten Ansagen«, murmelte Charly Nusselein, »aber der Chef will es so.«

Der Chef ist übrigens Alex Kufka, der wegen seiner Sucht, permanent Luftpolsterumschläge zu zerdrücken, beim »Diakonischen Werk des Südkreis Aachen« mehrmals in der Woche eine Selbsthilfegruppe »Menschen mit nicht-stoffgebundenen Süchten« besucht.

Mit Erfolg: Er kauft keine Luftpolsterumschläge mehr, sondern fällt nur bei gebrauchten Zusendungen zu seiner alten Sucht zurück.

Elli Breuer hielt Nusselein den Hörer hin:

»Für dich. Kommissar Maigret! Direkt aus Paris.«

Kommissar Zimmermann meldete sich aus seinem Büro an der Monschauer Laufenstraße:

»Wir müssen auf die Spürhunde warten. Da wollte ich schnell bei Helga im ›Schwarzen Krug‹ einen Happen essen. Sollen wir uns da treffen?«

»Wenn ich das junge Glück nicht störe«, maulte der Journalist und unterdrückte die Bemerkung, dass man sich seit dem Beginn der Beziehung zwischen der schönen Wirtin und dem Kommissar kein einziges Mal mehr zu einem »Auf-ein-Gläschen-Abend« mit besten Rotweingewächsen von der Tankstelle in Nusseleins Wohnwagen getroffen hatte.

»Dann also bis gleich«, beendete Zimmermann das Gespräch, »in einer halben Stunde. Und zieh dir ausnahmsweise zwei gleiche Schuhe an.«

Nusselein bearbeitete noch schnell die Anzeige einer Kesternicherin für die Rubrik »Sie sucht Ihn«:

»Ich habe große Sehnsucht nach starken Armen, die mich festhalten, Sehnsucht, dich endlich zu finden, mit dir einzuschlafen, von dir gestreichelt zu werden, dir meine ganze Liebe zu geben. Ich bin blond, 40, 173 cm groß, hübsch, allein erziehend, berufstätig, romantisch, großherzig, lustig, frech und liebe es, stundenlang zu kuscheln, küssen und streicheln, eng aneinander zu liegen und den anderen zu spüren. Schreibst du mir? PS: Ich bin ein Vollweib.«

»Vollweib? Ich bin der Meinung, dass neben Schleiden auch Kesternich zerstört werden muss«, schimpfte Nusselein vor sich hin.

Nach dieser aufreibenden Arbeit ging er die wenigen Meter zum »Krug« zu Fuß und ließ eine schmollende Redaktionssekretärin zurück:

»Ja, bravo. Der eine ist bei den anonymen Luftpolsterfurzern, der andere geht fressen. Und wer macht wieder die ganze Arbeit? Die blöde Frau Breuer.«

Danach schloss sie die Redaktion ab, hängte das Schild »Bin gleich wieder da« ins Fenster und ging zum nahen »Türkmen Döner-Kebap«.

Rheinischer Sauerbraten stand dort nicht auf der Karte.

***

Es war nicht Columbos Mantel, sondern eine Soutane mit dreiunddreißig Knöpfen, in der ein hoch gewachsener Priester steckte, der den kleinen Raum betrat. Das Zimmer war mit einer Liege, die entfernt an die der Ärzte erinnerte, einem Gebetsstuhl, einem Holzkreuz und einem Druck des Bildes »Der heilige Antonius im Kampf mit dem Dämon« recht karg eingerichtet.

Der Priester nickte gönnerhaft.

Eine Frau, die aussah, als hätte sie sich fürs Hochamt C&A-fein gemacht, fiel auf die Knie, während ein vielleicht 16-jähriger Teenager in H&M-Uniform trotzig stehen blieb. Die Frau griff unterwürfig nach dem Saum der Soutane und versuchte diesen zu küssen. Der Geistliche unterband das schroff, während das junge Mädchen die Augen verdrehte.

Mit milder Stimme sprach der Priester die kniende Frau an:

»Lass das! Ich bin ein Gleicher unter Gleichen. Du hast nach meiner Hilfe gerufen, hier bin ich.«

Er zog die Frau hoch:

»Sprich, wie kann ich dir helfen?«

»Meine Tochter ist vom Teufel besessen …«

Der Teenager verdrehte erneut die Augen und machte einen Schritt auf die Tür zu:

»Die hat eine totale Vollmeise, ich gehe jetzt.«

»Du bleibst!«, befahl der Priester scharf, zumal in der Tür ein bulliger Mann erschien und den Ausgang versperrte.

Wieder ergriff die Frau das Wort:

»Sie hurt, sie klaut, sie spricht böse Worte. In der Hülle meines Kindes steckt der Leibhaftige.«

Der Priester nickte wissend. Der Teenager tippte sich hilflos an die Stirn.

Der bullige Mann betrat auf einen Wink des Geistlichen das Zimmer und drückte das Mädchen auf die Liege.

Der Priester stellte sich an das Fußende und besprengte die Jugendliche, die sich heftig wehrte, mit Weihwasser.

»Lasset ab von Satanismus, von Hexen, von Dämonen …«

Ein kräftiger Tritt des Mädchens verpasste nur deshalb den Genitalbereich des Priesters, weil dieser gerade einen Schritt nach hinten ging. Der bullige Mann packte kräftiger zu.

Der Priester trat an das Kopfende und salbte den Teenager, indem er ein Kreuzzeichen auf die Stirn zeichnete. Dann rief er aus:

»Dämon, wie ist dein Name? Aschmodai? Beelzebub? Gib dich zu erkennen, Satan. Wie heißt du?«

»Arschloch!«, schrie das junge Mädchen, während ihre Mutter wieder auf die Knie fiel:

»Verzeihet, oh Herr, verzeihet. Das ist nicht die Stimme meines Kindes, das ist die Stimme des Teufels!«

»Die gehört doch in eine Geschlossene!«, schrie die Tochter.

»Mit Hilfe von Johannes Paul II. – mit Hilfe der allerunbeflecktesten Jungfrau Maria – Dämon, lasse ab von diesem unschuldigen Kind.«

»Trittst du mit dieser Nummer auch auf der Kirmes auf?«, lästerte das Mädchen.

Der Priester machte einen Schritt zurück:

»Ich habe die Stimme des Teufels gehört, jedoch er verweigert sich mir. Erst wenn er mir seinen Namen genannt hat, kann ich ihn besiegen.«

»Versuchs doch mal mit Pete Doherty«, spottete das Mädchen und spuckte den Priester an.

»Genug! Für einen Exorzisten ist es noch zu früh. Ihr müsst beten, beten, beten. Erst dann werde ich euch helfen können.«

»Ich werde den Teufel dran tun!«, äffte das Mädchen, während ihre Mutter sich eilig bekreuzigte.

»Ich werde nun ein Gebet sprechen, das ihr ab sofort täglich beten müsst.«

Der Priester kniete vor der Liege nieder:

»Herr, allmächtiger und barmherziger Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, befreie mich von allen Einflüssen des Bösen. Vater, im Namen Christi bitte ich dich, dass du jede Kette, die der Teufel über mich hat, zerbrichst. Vergieße das kostbarste Blut deines Sohnes über mich, damit sein unbeflecktes und heilbringendes Blut jegliche Einflüsse über meinen Körper und meinen Geist vernichtet.«

Danach stand der Priester auf und wandte sich der Mutter zu.

»Das ist das Befreiungsgebet. Nehmet da vorne eine Fotokopie mit nach Hause.«

Den Geldschein, den die Frau ihm zusteckte, ließ er schnell in seiner Soutane mit den dreiunddreißig Knöpfen verschwinden:

»Für die Armen. Habt Dank.«

Dann verließ er mit seinem Gehilfen den Raum und ließ Mutter und Tochter alleine zurück.

In der Ferne war Orgelmusik und Mönchsgesang von einer CD zu hören – Johann Sebastian Bachs »Komm oh Tod du Schlafes Bruder!«.

***

Den »Schwarzen Krug« an der Monschauer Laufenstraße bevölkerten zu diesem Zeitpunkt nur wenige Gäste: Während ein älteres Ehepaar »Kassler mit Sauerkraut« und »Monschauer Senfrahmschnitzel« bestellte, bestand eine achtköpfige Gruppe Niederländer darauf, lediglich viermal den Beilagenteller »Pommes Frittes mit Majonäse« mit acht Gabeln zu bekommen. Die Kellnerin erfüllte auch diesen Wunsch.

Gottfried Zimmermann saß mit Helga Preim, der schönen Wirtin der Traditionsgastwirtschaft, in einem Erker mit Blick auf die Rur. Das Fenster stand weit offen, da die März-Sonne ihr erstes Kraftpaket geöffnet hatte. Der Kommissar hatte, während er die Hand seiner Freundin schweigend streichelte, einen Tagtraum: Gemeinsam mit Charly Muhamed Huber, der schon vor zig Jahren beim alten »Alten« als ZDF-Seriendarsteller ausgestiegen war, nahm er unter den Augen des Aachener Polizeipräsidenten Klaus Oelze einen gefährlichen Mörder fest.

Der Polizeibeamte wurde aus seinen Träumen gerissen, da in der Rur ein Angler einer frisch gefangenen Forelle mit einem Gummiknüppel auf den Kopf prügelte.

Der Kommissar und die Wirtin hielten weiter Händchen und bemerkten Nusselein erst, als dieser sich laut und vernehmlich auf einen Stuhl fallen ließ:

»Ich störe das junge Glück nur ungern, aber die Staatsmacht hat mich hierhin beordert.«

»Ich lass euch mal«, sagte Helga Preim und hob verständnisvoll die Hände, ehe sie in der Küche verschwand. Dabei blies sie sich eine Locke aus der Stirn.

Gottfried Zimmermann kam sofort zur Sache:

»Also, wie immer: Offiziell arbeiten wir nicht zusammen, sonst machen die mir in Aachen im Präsidium wieder einen Affentanz. Wir treffen uns, falls erforderlich, in deinem Wohnwagen, sonst nur Kontakt übers Handy.«

Nusselein hob beschwörend den Kopf und flüsterte:

»Da hört ja nur der Schäuble mit! Aber jetzt will der Meister der flinken Feder erst einmal wissen, was überhaupt los ist.«

»Ich weiß nicht viel mehr als du. Im Rosenthal ist an dem Wehr ein Kopf gefunden worden …«

»Von wem gefunden?«

Zimmermann griff in seine Jacke und holte das bunte Notizbuch mit dem Aufdruck »Made in Rajasthan – 100% Recycled Hand Made Paper« hervor:

»Von einem Rentner namens Hans Nießen gegen 7.30 Uhr beim Bernhardiner-Ausführen …«

»Und der Bernhardiner hört auf den Namen ›Barry vom Schlummerwölkchen‹. Die haben doch schon bei unserem letzten Fall die erste Leiche gefunden.«

»Ich weiß! Kann ich dafür, dass Krimi-Autoren so einfallslos sind. Auf jeden Fall können wir noch nicht einmal sagen, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt, so zermatscht war der Kopf. Ich tippe allerdings auf eine Frau, da an einem Ohr ein Loch war.«

»Das heißt nix. Captain Jack Sparrow hatte auch einen Ohrring.«

»Die letzten Piraten sind aber schon seit Jahrhunderten auf der Rur verschwunden.«

»Weiß mer’s?«

Zimmermann schaute Nusselein genervt an:

»Können wir uns darauf einigen, dass du in Zukunft nicht durch überflüssige Randbemerkungen unsere Gespräche unnötig in die Länge ziehst?«

»Mit mir kannst du reden wie mit einem Idioten!«

»Genau das meinte ich. Also, der Kopf wird in Aachen untersucht. Gleich kommt eine Hundestaffel und dann suchen wir die Rur und das Ufer ab. Die Spurensicherer meinen nämlich, dass die schlimmen Verletzungen an dem Kopf von den Steinen im Fluss verursacht wurden und nicht durch einen möglichen Täter.«

»Und was ist meine Aufgabe, oh Herr?«

»Das weiß ich im Augenblick auch noch nicht. Immer in der Nähe sein und Augen und Ohren offen halten.«

»Von meinem Mund sagst du nichts. Ich habe nämlich Hunger.«

»Dann bestell dir was auf meine Rechnung. Ich treffe jetzt im Rosenthal unsere Hundeleute.«

Nusselein winkte der Kellnerin:

»Einmal die Sachertorte. Aber wie gewienert.«

»Genau das meinte ich«, wiederholte sich Gottfried Zimmermann, als er den »Schwarzen Krug« verließ.

***

Abseits aller Straßen, tief in den französischen Ardennen, befindet sich das Dorf Signy-Le-Petit im Arrondissement Charleville-Mézières.

Die beiden Männer trafen fast zeitgleich gegen Mittag aus der Provence sowie aus Brüssel ein und checkten in dem kleinen, aus rotem Ziegel erbauten Hotel »La Hulotte au Lion d’Or« an der Place de l’Eglise ein.

Nachdem sie ihre Zimmer im ersten Stock bezogen hatten, trafen sie sich gegen 13 Uhr im Restaurant. Sie bestellten zunächst eine Flasche »Beaujolais«, anschließend das »Menu chouette« sowie das »Menu Grand Duc«. Dann rückten sie näher zusammen und flüsterten. In der Gaststube nahm außer dem Kellner kaum jemand Notiz von den beiden Männern, die immer ernster wurden. Der jüngere, den man auf Anfang vierzig schätzen konnte, war von schlanker Statur und fiel durch etwas längeres, leicht ergrautes lockiges Haar auf, das er nach hinten gekämmt trug. Der zweite Mann, sicherlich schon Mitte fünfzig, hatte etwas Rattenartiges an sich: Das linke Auge hielt er fast immer nur einen Spalt geöffnet, auf seinem Gesicht hatte das Leben einige tiefe Spuren hinterlassen.

Der leicht Graumelierte flüsterte:

»Das ist jetzt alles so lange her …«

»Stopp! Sie haben immer gute Geschäfte mit mir gemacht«, unterbrach ihn der Ältere und sein Gesicht verfinsterte sich.

»Das räume ich durchaus ein. Wobei es auch nie zu Ihrem Schaden war. Ich habe immer zuverlässige Arbeit abgeliefert. Ich kann es mir aber jetzt, Sie kennen die Gründe, einfach nicht mehr erlauben, dass nach all den vielen Jahren in der Sache rumgestochert wird.«

»Meinen Sie, ich will das?«, raunzte das Rattengesicht.

»Gut, dann sorgen Sie bitte dafür, dass es so bleibt.«

»Dafür habe ich schon gesorgt.«

»Verschonen Sie mich mit Details.«

Das Rattengesicht lehnte sich etwas zurück:

»Da ist allerdings noch etwas …«

Die ondulierte Silberlocke schaute erschrocken auf:

»Quasi als Abschiedsgeschenk erwarte ich noch einmal Ihre Dienste.«

»Das ist nicht Ihr Ernst?«

»Mein völliger Ernst! Und diesmal geht es nicht um Peanuts. Daher muss ich ganz sicher sein, dass die Ware unversehrt aus Frankreich rauskommt. Und das kann nur einer: Nämlich Sie mit Ihrem hübschen Diplomaten-Aufkleber am Wagen. Bisher – das war nur unbekannter Tand, quasi für die Kellerbar von ein paar Neureichen. Doch nun geht es um, wie soll ich sagen, eine recht kostspielige Bestellung.«

»Ich verstehe nicht.«

»Marie Louise Élisabeth Vigée-Lebrun.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Mein völliger Ernst«, nickte das Rattengesicht.

»Hören Sie: Das ist Erpressung!«

»Genau, das ist es, mein Freund. Ab morgen sind doch auch wieder Sitzungen in Straßburg … Wir treffen uns da.«

Die Nachmittagssonne machte sich in den Ardennen bemerkbar. Sie war aber zu schwach, um Wärme in Signy-Le-Petit aufkommen zu lassen.

***

Gottfried Zimmermann stand in hohen Anglerstiefeln in der Rur und teilte die Polizeibeamten ein: Zwölf Beamte, ebenfalls alle mit hohen Schaftstiefeln bekleidet, schritten in einer Kette die Rur hinauf, die wegen des milden Winters weniger Wasser als sonst im Frühjahr führte. Trotzdem reichte den Polizisten das Wasser bis an die Kniegelenke. Dadurch kamen sie nur mühevoll voran.

Von der zentralen Diensthundführerstaffel in Aachen, die über zwölf Tiere verfügte, hatte man zwei deutsche Schäferhunde sowie einen Bouvier und einen Dobermann in die Eifel geschickt. Während die Beamten im Wasser aufmerksam den Fluss beobachteten, suchten an jedem Ufer zwei Hundeführer das Gelände ab. Als die Häuser der Altstadt näher an die Rur rückten, umgingen die Hundeführer den Fluss und stießen erst wieder hinter der Monschauer Bebauung zu den Kollegen.

»Nichts!«, informierte Gottfried Zimmermann. »Wir sollten aber die Rur auf jeden Fall ab Dreistegen durch das Waldgebiet bis zur belgischen Grenze absuchen.«

»Das sind bestimmt noch zwei Stunden«, meuterte ein jüngerer Beamter, der sich offensichtlich auskannte.

»Wollen Sie morgen wiederkommen?«, schnauzte Zimmermann.

»Ist ja schon gut, ist ja schon gut«, beschwichtigte dieser.

Als die Polizisten die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen hatten, konnten auch die Hundeführer wieder direkt am Ufer ihre Suche aufnehmen. Vorbei an den verfallenen Fabriken, die ein hohles Lied der industriellen Vergangenheit der Eifelstadt singen, erreichte der Suchtrupp bald unwegsames Gelände. Wenige Kilometer hinter dem Jugendzeltplatz, unweit der ehemaligen Fischerhütte, in deren Nähe eine kleine Gedenktafel im Fluss an einen tödlich verunglückten Kanuten erinnert, schlugen die Hunde plötzlich an. Im Ufergestrüpp, das an dieser Stelle von keinem der Wanderwege rechts und links des Flusses einsehbar war, hing eine Leiche:

Kopflos.

Ein junger Polizist übergab sich in den Fluss, was den Unmut eines rotbesockten Wanderers in Eifelvereinsuniform, der die Leiche nicht sehen konnte, erregte:

»Als deutscher Beamter sollten Sie wissen, dass dies der Zufluss zu einer Trinkwassertalsperre ist.«

»Fick dich mit deinem Trinkwasser«, rief aufgebracht ein anderer Polizist.

»Unverschämtheit! Das wird ein Nachspiel haben!«

Gottfried Zimmermann mischte sich ein:

»Hier sind sechzehn Zeugen, die alle nichts gehört haben. Und nun verpiss dich Richtung Monschau. Das ist ein Tatort!«

Der Kommissar war sicher, dass Charly Muhamed Huber genau so gehandelt hätte. Fluchend und strammen Schrittes entfernte sich der Wanderer. Dabei schmiss er zackig seinen mit Andenken-Nägeln versehenen Spazierstock regelmäßig in die Höhe.

Mittels Handy, da sein Funkgerät in ein tiefes Funkloch gefallen war, verständigte der Monschauer Kommissar Cornelius Damm und Berthold Ott von der Spurensicherung. Beide waren erst gar nicht nach Aachen zurückgefahren, sondern hatten es sich in Zimmermanns Büro an der Laufenstraße gemütlich gemacht:

»Arbeit für euch. Ich schätze, wir haben die Leiche zum Kopf gefunden.«

Dann ließ er sich mit Polizeihauptwachtmeister Breuer verbinden:

»Bring die beiden Kollegen über Mützenich zum Kloster Reichenstein. Dort könnt ihr parken. Den Rest müsst ihr zu Fuß gehen.«

»Als wäre ich heute nicht schon genug gelaufen«, meckerte Benno Breuer, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

***

Es dämmerte bereits, als eine silberne Limousine der Mercedes C-Klasse wenige Meter vor der Rohrener Lourdes-Grotte, die vor über hundert Jahren erbaut worden ist, am Wegrand geparkt wurde. Ein kahlköpfiger, breitschultriger Stiernacken bezog vor der lokalen Pilgerstätte Stellung und beobachtete den Weg, der von Rohren zur Sägemühle am Kluckbach führt. Da kein Mensch zu sehen war, nickte der stiernackige Unsympath, der vor jeder Dorfdisco für Angst und Schrecken gesorgt hätte. Erst nach diesem Zeichen verließen zwei Männer den Wagen und betraten die Grotte. Der erste Mann, den man auf Mitte sechzig schätzen würde, trug ein winziges goldenes Kreuz am Revers seines schwarzen Anzugs. Sein Begleiter hatte einen schmucklosen schwarzen Anzug an und ging mit Sicherheit stramm auf die achtzig zu.

In der Grotte fielen die Männer auf die Knie, schlugen mehrmals hart mit dem Kopf gegen einen Stein, bis sich bei beiden auf der Stirn ein kleiner Blutstrom bildete.

»Herr, vergib uns«, rief der Jüngere und riss dabei theatralisch seine Arme in die Höhe.

»Christus, vergib uns«, antworte der Ältere.

»Die Sünder sind gekommen«, schrie der Jüngere.

»Die Sünder sind unter uns«, wiederholte der andere Mann.

Die beiden Männer standen auf und berührten mit ihrem Blut zwei mitgebrachte Kerzen, die sie anschließend in einem Kerzenständer der Grotte entzündeten.

Danach fielen sie wieder auf die Knie.

»Herr, vergib uns!«

»Christus, vergib uns!«

Erneut richteten sie sich auf und lehnten sich, sichtlich erschöpft, gegen eine Wand mit Votivtäfelchen, auf denen gläubige Eifeler Menschen dem Herrn, der Gottesmutter oder irgendeinem Heiligen für dies und das dankten.

Der Jüngere hob die Hand:

»Wir haben es nicht verhindern können. Wir wollten unsere Mutter Kirche rein halten, wir wollten treue Diener des Papstes sein, wollten jede Sorge von unserer Kirche und der Eifel fernhalten. Und nun sind die falschen Mönche des exkommunizierten Bischofs Lefebvre in unser Kloster Reichenstein eingezogen.«

»Und Bischof Mussinghoff unternimmt nichts«, rief der Ältere erbost aus. »Seit ewigen Zeiten haben wir im Aachener Dom am Ostersonntag eine feierliche Vesper nach römischem Ritus gefeiert.«

»Und nun feiert dieser Verräter eine Ökumenische Vesper mit der griechisch-orthodoxen Gemeinde.«

»Sollten uns da nicht sogar die sündigen Benediktiner des Bischofs Lefebvre näher sein? Immerhin kämpfte er bis zu seinem Tode für eine traditionelle Kirche.«

»Auch ich habe mir darüber Gedanken gemacht. Stehen uns Dienern Gottes die Mönche von Reichenstein nicht doch näher als der Bischof in Aachen?«

Die Männer fielen wieder auf die Knie:

»Herr, lass uns nicht vom Wege abkommen, Rom hat uns einen Auftrag gegeben. Wir zweifeln, wir haben den Weg zu dir verloren, erleuchte uns. Wir bitten dich …«

»… erhöre uns.«

»Was wir tun werden, werden wir für den Glauben tun.«

Nach diesem wohl eher privaten Ritus begannen die beiden Männer ein Gespräch. Bei dem älteren Mann schwangen Zweifel mit:

»Aber auch Papst Benedikt XVI. hielt seine erste Predigt als Papst in lateinischer Sprache. Müsste er nicht auch exkommuniziert werden?«

Schroff antwortete der Jüngere:

»Schweig! Der Papst ist unfehlbar. Jahrelang hat Gott mir die Gnade gegeben, an der Seite von Joseph Ratzinger in Rom zu arbeiten. Wenn er die sündigen, falschen Mönche von Reichenstein dereinst wieder in den Schoß unserer Mutter Kirche holen sollte, so ist unser Tun zu einem anderen Zeitpunkt passiert. Das Jetzt ist entscheidend.«

»Wir müssen es tun!«

»Ja, wir müssen es tun.«

»Allerdings«, so begann der Ältere, als er sich mühsam dem Ausgang zuwandte, »müssen wir auch …«

Weiter kam er nicht, da der Stiernacken die Grotte betrat:

»Da kommen Leute!«

Schnell wischten sich die beiden Männer mit ihren Taschentüchern das Blut weg, dann verließen sie – anscheinend harmlos plaudernd – den religiösen Ort.

Singend kam ihnen der Stamm »Albert-Schweizer« der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg aus Mönchengladbach entgegen:

»Auf dem Donnerbalken saßen zwei Gestalten,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der dritte, setzt sich in die Mitte,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der vierte, der sich gleich beschmierte,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der fünfte, der die Nase rümpfte,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der sechste, der sich gleich bekleckste,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der siebte, als der Balken wippte,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der achte, als der Balken krachte,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der neunte, als die Scheiße schäumte,

und sie schrien nach Klopapier, Klopapier!

Und dann kam der zehnte, brachte das ersehnte,

Klo – pa – pier !!«

Die Pfadfinder hörte man noch lange singen, während der Mercedes Richtung Rohren davonfuhr.

***

Gegen 17 Uhr gab die Pressestelle der Polizei in Aachen eine Meldung in Umlauf:

»Monschau. – Nach einer groß angelegten Suchaktion haben Polizeibeamte der zentralen Diensthundführerstaffel, die organisatorisch in der Direktion für Zentrale Aufgaben, Zentralinspektion 1, angesiedelt ist, am späten Nachmittag des heutigen Tages in der Rur zwischen Kalterherberg und Monschau den kopflosen Körper einer ca. 30 bis 35 Jahre alten Frau gefunden. Ausgelöst wurde die Aktion durch den Fund eines Kopfes in den Morgenstunden in einem Wehr bei Monschau. Hinweise auf die Identität des Opfers könnten Buchstaben geben, die auf dem linken Unterarm das Wort ›‹ – Hass auf Russisch – bilden. Die Tote hatte keine Ausweispapiere bei sich. Polizei und Staatsanwaltschaft haben Ermittlungen zur Todesursache und zur Identität der Toten aufgenommen. Die Frau ist schwarzhaarig und hat braune Augen. Sie war bekleidet mit einer blauen Jeanshose, einer weißen Kapuzenjacke und einem schwarzen T-Shirt mit einer auffälligen Applikation des Eiffelturms. Hinweise nimmt die Leitstelle der Aachener Polizei unter 0241-95770 sowie jede andere Polizeidienststelle entgegen. Die Umstände der Tat sind völlig unklar. Staatsanwaltschaft und Polizei rufen die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Eine DNA-Analyse wurde angeordnet. ›Das Ergebnis dieser Analyse wird jedoch frühestens in einigen Tagen vorliegen‹, sagte Polizeisprecher Paul Kemen.«

***

Abend über dem Hohen Venn.

In Ruitzhof herrschte eine göttliche Ruhe, die an diesem Abend ausnahmsweise mal nicht von Nusselein mit lautstarker Rock’n’Roll-Musik gestört wurde. Nur ein Motorengeräusch, von Küchelscheid hochkommend, kratzte den Frieden in der Enklave an. Mit seinem neuen Dienstwagen, einem dunkelblauen VW Passat TDI, der allerdings schon einige kupplungsverschleißende Zeit von den städtischen Kollegen im urbanen Aachen genutzt worden war, fuhr Zimmermann vor Charlys Wohnwagen und parkte in Kuhdung.

Incitatus saß auf einem Zaunpfahl und schaute den Polizeibeamten missbilligend an. Er vermutete für diesen Abend Liebes- und Aufmerksamkeitsentzug und so etwas kann ein Kater im mittleren Alter nun wirklich nicht verknusen.

Der Kommissar stellte wortlos einen »Regent Halbtrocken Rheinhessen« auf den Tisch, den er schon vor längerer Zeit bei »Aldi« in Imgenbroich »für alle Fälle« gekauft und im Kofferraum seines Dienstwagens eingekellert hatte.

Nusselein warf einen kurzen Blick auf das Etikett:

»Fuchtig, etwas marmeladig, leichte Säure, relativ langer Nachhall.«

»Dummschwätzer«, antworte Zimmermann.

»Du sagst es.«

Nusselein hatte auf dem Küchentisch bereits mit Heftzwecken ein großes Blatt Packpapier befestigt, der Edding lag griffbereit. Nachdem der entkorkte Rheinhesse für erste kreisrunde Flecken gesorgt hatte, starteten die beiden ihre Arbeit – oder wenigstens den Versuch.

Zimmermann begann:

»Also, was haben wir? Zuerst einmal einen stark geschundenen Frauenkopf …«

»… der zu allem Überfluss auch noch tot war«, warf Nusselein ein.

»… in einem Wehr in der Rur hinter der Stadt.«

Zimmermann malte recht untalentiert den Lauf der Rur sowie einen großen Kreis, in den er »Altstadt Monschau« schrieb, auf das Packpapier. Dann fuhr er fort:

»Den übrigen Körper fanden wir in einem Gestrüpp vor der Stadt, nicht weit vom Kloster Reichenstein entfernt.«

»Reichenstein? Heißt das was, könnte das eine erste Spur sein, Herr Chefermittler?«

»Das heißt überhaupt nichts. Die Tote ist so ungefähr Mitte dreißig, vielleicht slawischer Herkunft, was wir aber nicht durch das Aussehen begründen …«

»Matschgesicht ist nicht unbedingt slawisch«, warf Nusselein ein.

»Schnauze! … sondern durch eine Tätowierung in kyrillischen Buchstaben.«

»Ich liebe Putin?«

»Nein, im Präsidium meinte jemand, dass das ›Hass‹ heißen würde.«

»Das kommt fast aufs Gleiche raus«, nickte Nusselein.

»Das ist im Augenblick alles. Zur Todesursache, ob die Frau geköpft oder der Kopf von der Rur abgerissen wurde, vielleicht auch Tierbiss, können wir erst nach dem Befund der Pathologie etwas sagen. Ich hoffe, der liegt morgen im Laufe des Tages vor.«

»Sehr geschwollen gesprecht, fast beamtengerecht. Gibt es denn eine passende Vermisstenanzeige?«

»Nein, nix. Schlimm wäre natürlich, wenn die Frau irgendwo im Osten umgebracht und dann in den Westen geschafft worden wäre. Dann hätten wir die Arschkarte gezogen.«

»Wieso umgebracht?, frage ich die trappsende Nachtigall. Du hast doch selbst gesagt, dass der Kopf auch vom Fluss oder von Tieren abgerissen worden sein könnte. Kann sich Swetlana nicht einfach in die Rur gesetzt und selbst in den Orkus befördert ha-ben?«

»Möglich ist alles, aber das ist jetzt erst einmal die Sache der Gerichtsmedizin. Wieso eigentlich Swetlana?«

»Ich kenne keinen anderen russischen Frauennamen.«

»Wenn dieser Abend auch nichts bringen wird, jetzt habe ich wenigstens den Namen für die SOKO: SOKO Swetlana.«

»Hab Dank, kreatives Nusselein-Köpfchen«, jubelte der Journalist und blickte dabei gen Himmel, wo er seinen persönlichen Gott, den er »Herr Schlüter« nannte, wähnte:

»Und jetzt darf ich Schleiden zerstören.«

Gottfried Zimmermann trank sein Glas nicht aus und verabschiedet sich schnell:

»Morgen habe ich bestimmt einen langen Tag.«

»Und in der Nacht eine schöne Wirtin!«

»Der Neid der Besitzlosen!«, knurrte der Kommissar, als er den Wohnwagen verließ:

»Ich melde mich morgen bei dir, ab zehn Uhr bist du ja bestimmt in der Redaktion.«

»Um 8 Uhr sitze ich jeden Tag am Schreibtisch und schaffe«, konterte Nusselein ungehört.

Der Kommissar schimpfte noch über den Kuhdung, dann stieg er in seinen Wagen und fuhr davon. Tatsächlich zu der schönen Wirtin? Wir wissen es nicht …

»Wurde aber auch Zeit«, soll Incitatus gedacht hatte, ehe er sich durch die Katzenklappe drängte und vor dem Kühlschrank den sterbenden Schwan imitierte – allerdings in einer Fassung von Schlingensief …

***

Der Schlussdienst der »Aachener Zeitung« hatte sich kurz nach 23 Uhr verabschiedet, als eine Meldung der »Deutschen Presseagentur« einlief, die aber an diesem Abend sowieso nicht mehr ins Blatt gehoben worden wäre:

»Mehrere maskierte und bewaffnete Männer raubten am heutigen Dienstag das Gemälde ›Marie Antoinette‹ der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun, 1755 bis 1842, aus dem Musée des Beaux-Arts in Straßburg. Die Räuber waren am späten Nachmittag in die Ausstellung eingedrungen und hatten das Personal gezwungen, sich auf den Boden zu legen. Zwei Täter entwendeten das Bild aus einem Ausstellungssaal und flohen anschließend in einem weißen Fahrzeug. Das Museum geht von einem Auftragsdiebstahl aus. Nach den Räubern wird gefahndet. Für Hinweise zur Ergreifung der Kunsträuber wurde eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt.«

Der WDR streute diese Nachricht um Mitternacht in den Beritt der angeschlossenen Sendeanstalten – als vorletzte Meldung vor einem 0:0 von Olympiakos Piräus gegen den FC Chelsea.

Vor den riesigen Hallen des Zeitungsverlages Aachen machten sich derweil die ersten Auslieferungsfahrer bereit. Mit dicken Balken stand »Grausiger Mord in der Eifel« als Aufmacher auf der ersten Seite der »Aachener Zeitung«, während die »Aachener Nachrichten« neben einem Bild mit Leichenwagen und vielen Polizisten »Opfer wurde geköpft« titelten.

Ein Auslieferungsfahrer startete seinen Lastwagen und biss in ein Butterbrot mit Leberwurst: Innereien, Speck und Muskelfleisch.

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Zweiter Tag – Mittwoch, 5. März

Rolf-Dieter Klees, SPD, wollte immer Oberbürgermeister von Aachen werden: »Karlspreis« umhängen und den damit Ausgezeichneten mit einem »Alaaf« belästigen, beim »Orden-wider-den-tierischen-Ernst« eine flammende Rede auf Europa halten und beim Reitturnier Tore der Alemannia bejubeln. Kurzum: Rolf-Dieter Klees wünschte sich in den Mittelpunkt von Aachen.