Ein sonderbarer Gast - Franziska König - E-Book

Ein sonderbarer Gast E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Wieder ist der Leser dazu eingeladen, eine Spitzengeigerin zwei Monate lang auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen teilzunehmen die ein Leben und sein Umfeld zu einem einzigartigen Wimmelbild, einem Lied oder gar einer Symphonie machen.

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Für meinen lieben Onkel Hartmut

Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.

„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.

Und drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.

Erzählt werden Geschichten aus ihrem Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.

Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis Hier die engste Familie vorweg:

Oma Ella, (*1913) Omi väterlicherseits in Hessen

Buz (Wolfram), mein Papa (*1938) Professor für

Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), meine Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Orte der Handlung:

Ofenbach, unscheinbares Dorf in Niederösterreich

Grebenstein, bezaubernde Kleinstadt in Nordhessen

Aurich, Hauptstadt von Ostfriesland

Inhaltsverzeichnis

Juni 2002

Juli 2002

Personenregister

Juni 2002

Samstag, 1. Juni Bad Honnef - Bad Sobernheim

Wunderschön. Tiefblauer Himmel und ganz warm

Ich verbrachte eine bergende Nacht neben meinem Vetter Friedel im Ehebett, wo bis vor kurzem noch die Doris zu nächtigen pflegte.

Am Morgen räkelte ich mich wohlig und beplauderte den Friedel mit einer erfundenen Geschichte, die aber hätte stimmen können: Daß ich geträumt häbe, ich sei die entblößte Doris, die sich nach dem Erwachen kurz gewundert habe, daß sie ja doch bloß die Kika ist.

Gutmütig, aber für mein Empfinden nicht lang genug, lachte der Friedel über mein sprudelndes Geplapper, erhob sich und öffnete das Fenster.

Zu meinem Lieblingsgefider zählt die Laufente:

Von angenehmem Äußeren, gilt sie als unerschrocken und höchst aufmerksam. Erinnernd an Rehlein, meine Mutter! Und im Friedel als Neffen scheint einiges von Rehleins Erbmasse angelegt, denn gerade diese so überaus angenehmen Eigenschaften scheint er geerbt zu haben?

Er ließ ein Wannenbad in wohltuender Temperierung für mich einlaufen, reichte mir ein Handtuch, das bislang nur von meinem Bruder Ming benutzt worden war, und von der Küche aus frug er mich, was ich wohl für einen Aufstrich auf mein Brot wünsche?

"Ich will Nutella!" rief ich in ungeschliffenen Worten aus dem Wannenbehagen heraus, und erinnerte mich dabei selber an „den Schweizer“, als der HERR ihm Kühe geschenkt hatte, wie ich erst unlängst einem Buch von Dietmar Schwanitz entnommen habe. („Ich will Milch!“ habe der Schweizer hernach ausgerufen, und darüber ganz vergessen sich zu bedanken).

Als ich wieder an Land geschwemmt worden war, hatte der rührende Friedel mir tatsächlich ein großformatiges Hochglanznutellabrot geschmiert.

Zudem hatte er den Läptop angeworfen, und alsbald wurde eine Fotografie aufgepixelt, auf der sich die Claudia, eine ganz frische Bekannte aus Hamburg, in einem geblümten Kleide verpackt anmutig über die Balkonbrüstung ihrer kleinen Wohnung in die Freiheit hinab beugt.

Dem Friedel gefällt die Sanftheit ihres Wesens, und als ich frug, ob er sich verliebt habe, antwortete der Friedel, der kein Mann großer Gefühlsduseleien ist: "Sagen wir mal so: Ich bin sehr interessiert an der Claudia!"

Ich erfuhr, daß die Claudia z.Zt. arbeitslos, darüber hinaus jedoch Webseitengestalterin von Beruf sei.

Ferner erzählte der Friedel, daß seine Exe Leslie mit ihrem neuen Lover „Brad“ nach Kalifornien zieht – und mit denen die Kinder.

Die kleine Maika hatte dem Friedel einen Brief auf der Schreibmaschine getippt. Darauf stand zu lesen: "I miss you alot!" und der Friedel wird immer still und traurig, wenn die Rede auf die kleine Maika geschwenkt wird.

Die Doris hatte mir ein Kärtchen mit warmen Worten vor die Türe gelegt. Ich fand das so rührend, und mein Vorhaben, sie auf ihrer Arbeitsstätte - dem Hospital gegenüber - zu besuchen, wurde dadurch stark befeuert.

Der Friedel geleitete mich in den dritten Stock des Hospitals, um sich dann wieder zu entfernen. Dort fand ich die Doris, die sich soeben einen Kaffee am Automaten gezapft hatte bald.

Die Doris begrüßte mich unglaublich nett und warm und sagte gleich zu Beginn: "Du hast sicher schon gehört, was passiert ist?? Ich wünsche mir so sehr, daß der Friedel zu mir zurückkehrt!"

„Das wäre wunderbar!“ schloß ich mich dem schönen Wunsch mit Inbrunst an, doch dies hofft ja die Doro (ihre Vorgängerin) wiederum auch.

Am besten wäre somit, wenn sich der Friedel einen Harem zulegen würde. ← Doch dies wiederum sagte ich nicht.

Ein kurzes Wiedersehen nur, da Krankenschwestern ihre Zeit zusammenhalten müssen. Ein Bruchteil einer Sekunde in der "Seins-Sekunde Leben", wenn man sich dereinst wieder in alte Erinnerungen schmiegt.

Ich bescherzte den Friedel damit, wie das wohl sei, wenn man all die Anfangsbuchstaben seiner Exfreundinnen zusammenlegte? Ob sich zur allgemeinen Verblüffung folgender Satz ergäbe?

"FRIEDEL, DU LIEBESSCHUFT!“

Dann reiste ich zu meinem Konzert nach Bad Sobernheim.

Sonntag, 2. Juni Bad Sobernheim – Helmstadt bei Würzburg

Sagenhaft schön

Ich nächtigte bei den Eheleuten Guischard.

Nach so vielen gemeinsamen Ehejahren inmitten Stürmen an unterschiedlichsten Wahrnehmungen, Empfindungen und Erfahrungen ist das eheliche Glück nun leider etwas ramponiert.

Heute würde man diesen bedeutsamen Schritt einer Eheschließung ganz sicher nicht nochmals wagen.

Man fährt sich oft, und zuweilen fast barsch über den Mund und desavouiert einander vor dem Gaste dran!

Beim Frühstück erfuhr ich durch die flinke Zunge einer Frau Guischard, daß Herr Rehling, der Kantor mit der blankpolierten Glatze, der mich gestern auf der Orgel begleitet hat, 39 Jahre alt und unverheiratet sei. Er hält sich Hühner, und ist zu seiner 88-jährigen Großmutter gezogen, um die er sich ganz rührend kümmere.

Neben mir saß der milde, freundliche Herr Guischard, den ich so gerne hab, während mir die knorrige Frau in ihrem gestärkten Dirndl etwas weniger gefällt. Sie wirkt jedoch sehr lebendig und mitteilungsfreudig, so daß es mich nicht wundern sollte, wenn ihr Mann nach meiner Abreise vielleicht etwas solcherart zu ihr gesagt haben könnte:

"Was du immer erzählst, Frau!?! Das interessiert doch die jungen Leute nicht!"

Nach dem Frühstück schleppte die eifrige Frau das Buch mit den Tageslosungen herbei, und ich erbot mich, die Losung zu lesen.

"Hoffentlich lese ich auch mit dem richtigen Ausdruck!" sagte ich.

"Da sprechen die Worte für sich", meinte der milde Mann, und nachdem die Losung verklungen war, sagte er schon wieder etwas leicht Unwirsches zu seiner Frau.

Draußen auf der Terrasse standen zwei schwere geflochtene Stühle um ein Tischlein herum, und man schaute auf ein häßliches Backsteinhaus mit nur einem kleinen düstren Fenster drauf, von dem man sich mißbilligend beäugt fühlte.

Der liebe Herr unternahm einen kleinen Spaziergang mit mir, und ich hätte so gerne seine wahrscheinlich warme und trockene Hand ergriffen, weil von ihm, losgelöst von seiner Frau, so ein angenehmer Friede ausgeht.

Er zeigte mir beispielsweise die Straße auf der ich meinen Lebensweg gleich fortsetzen würde, und wenn man über die sonntäglich leergefegte Straße hinüberschaute, blickte man auf eine breite Reihe üppigen Klatschmohns drauf, und es schaute wunderschön aus – wie auf einem Gemälde von Monet.

Wenig später verabschiedete ich mich von dem Ehepaar, und es hieß, mein Auto habe geölt. Etwas, das ich abklären lassen solle.

"Sonst geht ratzfatz der Motor kaputt!" mahnte die eifrige Frau.

"Mach ihr doch keine Angst!" sagte der milde Mann, und dann fuhr ich ab und ließ tatsächlich nach 48 Minuten mein Öl von einem ganz jungen Spund kontrollieren.

Er, wenn zwar vielleicht jung und unreif, befand, daß noch genug Öl im Tank sei, so daß ich von seinen Worten gleich fröher gestimmt wurde.

In der Zeitung las man, daß jene besonders hübsche Lehrerin in den USA, die eine Affäre mit ihrem 12-jährigen Schüler begann, von ihm zwei Kinder bekam und dafür sieben Jahre brummen muß, den mittlerweile 18-jährigen Exschüler in wenigen Tagen im Knast heiraten wird.

Viel Zeit bleibt ihnen allerdings nimmer, da die hübsche Frau schwer krebskrank sei.

Montag, 3. Juni Helmstadt - Ofenbach

Schön

Auf der Reise nach Ofenbach:

In Bayern 4 wurde ein Konzert von Vivaldi geboten, und der Reporter erzählte, daß Vivaldi die Hörer mit diesem Werk in eine frohe Stimmung versetzen wollte.

Die Lastwägen auf der Autobahn ächzten und stöhnten wie altgewordene Dickhäuter, und in der glitzernden Morgensonne schaute es aus, als bemühe man sich zwar, käme jedoch kaum vom Fleck. Und dann sah man, daß der aufgeregt blinkende Polizeiwagen, der an mir vorbeigefahren war, nun am Wegesrand hielt.

Ein schwarzverkohltes Auto schaute bloß mehr aus wie ein Stück komprimierter Zieharmonika, und im Grase daneben lag ein umgekippter und wie verendet wirkender Lastwagen.

Ofenbach am Nachmittag:

Im Garten hängte Rehlein die Wäsche auf, und bemerkte mich nicht, weil ich meine Aura eingerollt hatte, und ganz lautlos ins Haus lief.

Onkel Döleins Kinder aus Übersee waren zu Besuch, und der David saß in einem stillen Winkel im Garten und zupfte leise auf einer Gitarre, die Ming von einem Nachbarn entlehnt hatte, um den Jüngling bei Laune zu halten. Auch an ihm schlich ich unbemerkt vorbei.

Oben im Ashram nahm ich die jüngst verstorbene Omi Mobbl von der Wand, hielt sie mir vor´s Gesicht, und begrüßte auf diese wunderliche Weise die bezaubernde Julie, die soeben mit ihrem Freund Tim telefonierte.

Der süße Ming spielte Klavier, unterbrach sein Spiel jedoch freudig, um mich willkommen zu heißen.

Das Wiedersehen mit Rehlein hatte ich bewußt hinausgezögert und als krönenden Abschluß der allgemeinen Begrüßungszeremonie gesetzt, denn auch wenn man sich nur ein paar Wochen lang nicht gesehen hat – uns schienen Äonen vergangen! Je durften wir uns fühlen wie Totgeglaubte, die nach Jahrzehnten doch noch aus Rußland zurückgekehrt sind – so groß und überwältigend war die alles umschlingende Freude.

Rehlein erzählte mir, daß die Julie z.Zt. sehr verliebt sei, denn sie schreibt ihrem Freund unzählige Postkarten, und auf einer hatte sie in ein großes Herz unzählige kleine Herzchen hineingemalt.

Ich stellte mir bildhaft vor, wie Rehlein wohl in zwanzig Jahren am Herd steht: Mit etwas Watte auf dem Haupt, leicht eingeschnurrt und vielleicht ein wenig krümmer geworden?

Schon heute mußte man sich von den Verwandten in Übersee wieder verabschieden, die dem nächsten Kapitel ihrer Reise entgegenstrebten: Einem Besuch in Berlin.

Dienstag, 4. Juni

Zunächst sagenhaft schön. Doch am Nachmittag zogen weiße Wolken auf

Gestern hatte mir Rehlein Opas Bett noch so luftig frisch und duftend bezogen, und in einem historischen Nachtgewand Mobblns steckend, stieg ich hinein.

Am Morgen schaffte ich den Ausstieg aus dem Bette kaum.

Wie aus großen dunkelgrauen Nilpferdnüstern bepustete mich die kühle Angst vor meiner fast unbeherrschbaren Lahmheit, gepaart mit bangen Vorfürchtungen, wie ich die Arbeit am Mödlinger Programm wohl gestalten solle, denn viele Musikanten, darunter auch ich, neigen dazu, sich in Unwichtigkeiten zu verlieren und verzetteln?

Schließlich erhob ich mich doch und versuchte meine innere Batterie an Rehlein wieder aufzuladen, bevor man etwas von meinem desolaten Zustand bemerkt.

Wir saßen auf der großen Terrasse, und Rehlein hatte so einen köstlichen Kathreiner-Malz-Kaffee aufgebrüht.

Rehlein erzählte, daß sie einen regelrechten Schrecken bekommen habe, als die Kinder aus Übersee ankamen: Zwei gänzlich verschiedene Kulturen prallten aufeinander. Der David hatte ein ganz rotes, leeres Gesicht, und ging als allererstes, noch bevor er seine Tante begrüßt hatte, an den Kühlschrank, da dies in Amerika usus ist. Dort sagt man: „Help yourself!“, so daß ein höflicher Gast aus Europa mitunter eine Unterzuckerung erleidet – denn in amerikanischen Kühlschränken findet man vielleicht Cola-light, Erdnußbutter und gekühltes Weißbrot, und im Tiefkühlfach vielleicht ein paar Burger für die Mikrowelle?

Als sich der David zuende gehelpt hatte, sagte Rehlein:

"Du hast den Kühlschrank umarmt, und mich nicht?“ und von diesen Worten wachgerüttelt, mußte der David wiederum herzlich lachen.

Onkel Dölein habe seinen Kindern aufgetragen uns auch einmal einzuladen, berichtete Rehlein, doch das Geld - 500$ pro Person, das er ihnen mit auf den Weg ins Ungewisse gegeben hatte - hatten die Kinder schon allzubald verjubelt, so daß der Onkel am Telefon schwer schlucken mußte. Er glaubt, daß die Julie das ganze Geld für Klamotten ausgegeben hat, und der begeisterte Biertrinker David womöglich für Bier?

Wir erwarteten ein Fräulein, das Rehlein etwas aufgeschwatzt hatte, von dem Rehlein bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas gehört hatte: „Sich strömen lassen!“ Und in den Lüften lag, daß dieses Fräulein nun gleich zum "Strömen" käme.

"Ach, wäre das schön, wenn das Fräulein nicht käme!" sagte ich laut in den Garten hinein – hoffend, meine Worte könnten gehört werden und die Strömerin zur Umkehr bewegen.

Dann kam die Dame aber doch: Sie brachte ein großes kofferartiges Gebilde mit, und zusammen mit diesem Gebilde schaute sie aus, wie eine entrüstete Frau, die bei ihren Freunden ankommt und schon in der Türe sagt: "Der sickt mi fei nimmer!" Der sieht mich fei nimmer….

Doch bei dem Koffer handelte es sich um ein Klappbett, auf dem Rehlein hernach geströmt wurde. (Eine Massagenunterart, die den Massierten bzw. Geströmten mit frischer Energie befüllen soll.)

Ich saß dazu auf der Terrasse und mümmelte an meinem wahren Kriminalfall über Betty Broderick herum. (Einer Dame, die ihren Exmann Dan und seine neue Frau Linda im Schlaf erschoss.)

Währenddessen wurde ich von Panikwellen umspült, ob ich überhaupt noch den Dreh schaffe, und mit der Arbeit anhebe, und was ich bloß machen soll, wenn meine Anfangsscheu irgendwann mal krankhafte oder gar pathologische Züge annimmt?

Aus lauter Angst, dies vielleicht feststellen zu müssen, traute ich mich gar nicht, mit der Arbeit überhaupt anzuheben!

Einmal rief der Onkel Andi an.

"Rothfuß", meldete ich mich wie einst die Omi-Mobbl, so daß es für einen kurzen Moment so schien, als sei die Mobbi doch noch unter uns.

Der Onkel Andi klang sehr vergnügt und vermeldete, daß Julie & Dave gut angekommen seien.

Darüber, daß die Lisel kein Englisch versteht, freute sich der Andi, für den das Leben ein einziges Räuber- und Gendarmenspiel ist, wie ein Kind, weil es ihm spannend und lustig schien, mit den jungen Leuten in einer Geheimsprache zu sprechen.

Doch die Lisel in ihrer postoperativen Krise sehnt womöglich nur das Ende dieses seltsamen Besuches herbei?

Mittags kehrte Ming von der Chemieprüfung zurück.

Ming hatte freiwillig vorzeitig Schluß gemacht, weil ihm die Fragen zu schwierig erschienen waren, und ich konnte es nicht fassen, weil Ming doch Tag und Nacht studiert! Doch Ming hat ja noch eine Chance, und möchte wenn, dann eine gute Note haben.

Abends schalteten wir den Fernseher ein:

Paul Spiegel, der Zentralrat der Juden, lieferte sich mit einem Herrn namens „Möllemann“ im Rahmen der aufgeflackerten Antisemitismusdebatte – fußend auf Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ - ein Wortduell. Einen ehezwistartigen Streit.

Nicht ein einziges Mal wurde sein faltenschlagendes grämliches Gesicht von einem Sonnenstrahl erhellt.

Mittwoch, 5. Juni

Graumeliert überzogen. Sehr windig

Fast genußvoll stellte ich mir vor, wie es wohl sei, wenn die Lungenspitzen mit Wasser vollgesogen sind, und der heißersehnte Exitus, das Entschweben in die nächste Dimension somit nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen wird? Dies, da ich im Moment einen leicht bronchitisch angehauchten, feuchten Husten habe, der mir das Leben in eine Last verwandelt hat.

Im Bad stand ich so rum und versuchte eine gute Aura für Rehlein zu bündeln und zu entfalten.

Eine andere, viele würden wohl sagen „weithergeholte“, Sorge gesellte sich meinem Sorgenbündel noch hinzu: Ich könnte das seltene Leiden von meinem Onkel Eberhard geerbt haben, das seiner Seltenheit zufolge noch gar nicht erforscht ist? Immer öfter komme ich zum völligen Stillstand. Das Leben um mich herum geht weiter, und ich friere innerlich und äußerlich fest.

Einmal war ich im Keller und blieb einfach stehen. Ich schien mich in eine Statue verwandelt zu haben.

Am Nachmittag kam die kleine Greta zu Besuch.

Ich las ihr aus der Lesefibel die Geschichte von einer kleinen schwarzen Katze vor, deren Verwandte alle weiß waren. Als sie auf die Welt gekommen war, leckte ihre Mutti über eine Stunde lang an ihr herum - vergebens!

Die Greta darf leider keine Milch trinken. Etwas, was sich aber vielleicht auswächst, wenn sie mal groß ist?

„Die Greta will doch wohl lieber jung bleiben!" ergriff ich anwaltsgleich das Wort für die Greta.

Doch die Greta freut sich doch schon darauf, eines Tages erwachsen zu sein.

Dann darf sie Kinder haben so viel sie will, und braucht nicht mehr in die Schule zu gehen, wie sie uns in schlichter Vorfreude schilderte.

Die Greta will später „Wolteschirlehrerin“ werden, und ich verstand "Schilehrerin", weil ich ja nicht mehr ganz jung bin.

Rehlein las der Greta "Zwerg Nase" vor, und nach einer weiteren Weile kam Gretas Mutti Barbara mit ihrer prächtigen Lockenhaube auf dem Kopf.

Die Greta hatte mich angesteckt, und ich hatte mich in ein fröhliches kleines Töchterlein verwandelt.

Rehlein erzählte, daß sie heute bereits das Kommunionsfoto von der Greta bestaunt habe.

"Und du siehst darauf richtig gerührt aus!" sagte Rehlein gerührt zu Mutti Barbara.

"Ich war auch gerührt. I hob nur g´heult!" sagte die Barbara und kräuselte beim Lachen so verbindend und gleichsam entzückend die Nase.

Die Greta sagte zu ihrer Mutti: "I hob a guate Nochricht…" so daß auch ich freudig nach Hundeart die Ohren spitzte, obwohl´s nur irgendwas mit Pferden war, das für mein Leben keinerlei Bedeutung hatte…

Abends entführte mich Ming noch zu einem Nachtspaziergang, weil die Luft draußen so schön und warm war wie zu unserer Kindheit in Japan.

In dem schönen großen Haus am Fuße der Kalgasse war ein Fenster geöffnet, und warmes Licht flutete in die Dunkelheit, als wolle es sich ein Beispiel am Mond nehmen.

Mir kam´s vor, als promeniere man durch einen lang vergangenen Abend vor 70 Jahren, und Ming verwandelte sich in Omi Mobblns lang verstorbenen Bruder Paul.

Donnerstag, 6. Juni

Gelblich bewölkt. Abends prasselnder Regen

Rehlein war etwas erunwirscht, daß Ming das Vesper, das sie ihm zubereitet hatte, vergessen hat. Doch ich gab zu bedenken, daß man einen Gesichtsausdruck bekommt wie ein Hühnchen, das ständig überlegt welches Korn man noch aufpicken sollte, wenn man immer an alles denkt?

Rehlein rief Buz in Aurich an.

In meinem Kopf ploppte augenblicklich folgendes Szenarium auf: Die Koreanerin meldet sich mit einem verschlafen gehauchten "Halloooh?"

"Ist das die……Gloria?" frägt Rehlein leicht konsterniert, und hinzu auf eine Weise, als müsse sie erst an dem Namen herumringen. "Ich bin die Frau König! Ich würde doch bitte gern mal meinen Mann sprechen!" sagt Rehlein sodann, und eine morgenmüffelige Stimme mit asiatischem Einschlag ruft einfach nur: "Uooooruflamm!" (Wolfram!)

Mittags durfte ich "Vera" schauen, und freute mich, daß es mir Rehlein immer so nett erlaubt.

Man lernte einen Herrn kennen, der im Schatten seiner tüchtigen Ehefrau, die sogar mal einen Callboy bemüht hat, so dick geworden war (Kummerspeck), und nun stand er so da, und mußte in aller Öffentlichkeit an den Trümmern seiner Ehe herumknabbern.

Mittagessen:

Es gab Bohnen, Zwirbelnudeln und Seitan, und wir sprachen darüber, daß Ming im Sommer Urlaub in Frankreich machen möchte.

Ming scheint mir sehr urlaubsbedürftig zu sein.

Über das Lindalein, das heute Geburtstag hat, sprachen wir natürlich auch.

Ming erzählte, daß der Jim der Linda zuliebe versucht, sich für klassische Musik zu interessieren, und im Gegenzug dazu besuchte die Linda mit dem Jim ein Baseball-Spiel.

Außerdem meint Ming, daß die Linda jetzt zwanzig Jahre lang so tun muß, als sei in ihrer Beziehung alles in Ordnung, da dies ein ungeschriebenes Familiengesetz ist.

Am Nachmittag kam etwas Bewegung in die vielen losen Briefe die ich begonnen habe, auch wenn zur Stund noch kein einziger fertig geworden ist.

Leider fiel mir nicht viel zu schreiben ein, und der Brief an Frau Picker geriet gar leicht seltsam, weil ich mein Fähnchen nach dem Wind gehängt hatte (etwas, was man eigentlich nicht tun sollte), nämlich nach Frau Pickers Wind. Ich verwandelte mich in Frau Picker, eine weise gute Frau, die vom Schicksal jedoch sehr getreten und geprüft wurde, so daß sie an Seelenfrost laboriert. Statt einen fröhlichen und ermuntenden Tonfall einzuschlagen, schimmerte Trübsinn durch meine Zeilen:

„Wir denken oft an Sie in Ihrem leider nicht immer freudvollen Leben!“ schrieb ich beispielsweise etwas seltsam. Nur mein Brief an das Lindalein wirbelte etwas Schreibschwung in mir auf, obwohl ich auch damit Schwierigkeiten hatte, da es ja heißt, es gäbe auch „eine amerikanische Linda".

Und diese Linda sei leider fremd.

Ming hat eine Eigenschaft Rehleins geerbt:

Die Neigung, sofort fragend loszupoltern, wenn er etwas nicht gleich versteht, statt - so wie ich es an seiner Stelle täte - kurz zu warten, und das Unverständliche ins Gehirn einsickern zu lassen, bis der Groschen fällt.

Die Probe am Abend stimmte mich mürrisch, da Ming so oft unterbrach, und immer Dinge anmerkte, in denen man sich gar nicht so recht wiedererkennen wollte. Ständig nimmt er mitten in der Phrase die Hände von der Tastatur und ruft Dinge wie: „Aber ohne Betoooonung!“ singt es demütigend vor, und hernach heißt es nach dem Konzert von berufener Zunge, vieles habe zu undeutlich geklungen?

Ich befand mich unter der Knute eines grämlichallwissenden Professoren und fühlte mich dadurch unfroh. Sicher spiegelte sich die Unfröhe auch auf meinem Gesicht, obwohl ich sie gern verborgen gehalten hätte. Ich bemerkte allerdings auch: Wenn Ming nichts sagt, so ist mir das auch nicht recht, so daß man sich frägt, was ich eigentlich will, und ob´s wohl Leute gibt, die unzufrieden sind um des Unzufriedenseinwillens?

Und ob ich auch dazu gehöre?

Freitag, 7. Juni

Oftmals starker Regen. Tropfend

Ming hatte am Morgen schon mit dem Lindalein telefoniert.

Dann erzählte er mir, wie ihm die Linda immer so farblos erzählt: Sie sagt beispielsweise: "Gestern war ich essen". „Und??“ ← (denkt Ming)

Oder "dann war ich auf der Arbeit".

Mein Buch über die Brodericks fesselt mich inzwischen so, weil´s ein ganz normales Ehepaar - im Prinzip ein anderer Aufguß von Buz & Rehlein - gewesen ist.

Die dicke Betty, eine Frau wie Mobbl, die Herzlichkeit, Gemütlichkeit und selbst auf dem Foto den speziellen appetitlichen Duft einer begeisterten Jung-Oma ausströmt, die die köstlichsten Backwerke zu zaubern versteht – kurzum, eine Dame, die man sehr gerne als Omi hätte – hatte ihren Exmann und dessen neue Ehefrau erschossen.

Vormittags probten Ming & ich Beethovens siebte Sonate in c-moll. Im zweiten Satz wollte Ming die Töne in einer vogelig-zwitschernd klingenden Stelle immer ganz kurz haben. Ich dachte, es sei schon kurz, und als wir wieder an diese Stelle kamen, hab ich extra aufgepasst.

"Jetzt klingt´s doof!" sagte Ming, und ich fühlte eine Raserei in mir aufzüngeln, daß Ming immer so seltsame Anmerkungen macht, und dann so beharrend insistiert.

Mein rechter Fuß war leider ohne erkennbaren Grund dramatisch geschwollen, und das süßeste Rehlein war so entsetzt! „Mit sechzig wirst Du in keinen Schuh mehr passen!“ prophezeite Rehlein unglücklich, salbte mir den Fuß mit Kytta-Salbe ein, und zog einen weißen Strumpf drüber, mit dem ich ausschaute, als stüke ich in einem Gipsfuß, und ein Gipsfußkranker wird doch nun erstmal für einige Wochen auf Sparflamme gesetzt?

"Wie geht´s dir denn so allein?" frug Ming solcherart, als habe man im Auto über mich und mein seltsames Leben psychologisiert.