Ein stiller Gruß von Dir... - Natalie Katia Greve - E-Book

Ein stiller Gruß von Dir... E-Book

Natalie Katia Greve

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Beschreibung

Drei Jahre ist es jetzt her, dass sich mein Freund nach schweren Depressionen das Leben genommen hat. Drei lange Jahre habe ich darum gekämpft, meinem Leben einen neuen Sinn zu geben und zu verstehen, was passiert ist. Ich habe es geschafft, mit dem Suizid zu leben und wieder glücklich zu werden. Dies ist meine Geschichte.

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Natalie Katia Greve

Ein stiller Gruß von Dir...

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein stiller Gruß von Dir…

Impressum

Ein stiller Gruß von Dir…

Ich widme dieses Buch Knut Hartmann.

Ich danke Dir für die wunderschöne Zeit und wünsche Dir Frieden.

Ich werde Dich immer lieben, mein Stern! Deine Natalie

Hallo mein großer Schatz!

Jetzt ist es schon mehr als zwei Jahre her, dass Du Dir nach schweren Depressionen das Leben genommen hast. Mehr als zwei Jahre – so eine lange und gleichzeitig so eine kurze Zeit. Mir ist, als wäre es gestern passiert und im gleichen Moment habe ich das Gefühl, dass ich schon eine Ewigkeit mit Deiner Entscheidung leben muss. Aber egal wie viele Monate, Wochen, Tage und Stunden seitdem ins Land gegangen sind – ich vermisse Dich noch immer so sehr.

Ich bin einen weiten Weg der Trauer und der Neuorientierung gegangen, durch soviel Schmerz und Verzweiflung. Als Du starbst, ist mein ganzes Leben zusammengebrochen. Nichts hatte mehr Bestand und es waren unzählige Fragen im Raum.

Du hast mich mit Deinem Suizid vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt: Ich musste für mich einen Weg zurück ins Leben finden und eine Antwort auf das immer wiederkehrende „Warum?“

Es gibt ein Leben vor dem Suizid und ein Leben danach – das ist mir heute klar. Nichts ist mehr, wie es war und es wird auch nie wieder so werden.

In dem Moment, als ich von Deinem Tod erfuhr, war ich davon überzeugt, dass die Welt sich nicht mehr weiterdrehen würde. Ich war erschrocken festzustellen, dass sie es dennoch tat. Jeden Morgen geht die Sonne wieder auf und jeden Abend legt sie sich schlafen. Das war für mich unfassbar, denn ich konnte mir keinen Tag ohne Dich an meiner Seite vorstellen.

Heute hat dieser Kreislauf etwas Tröstliches und ich habe verstanden, dass Du zwar nicht mehr an meiner Seite, aber auf ewig in meinem Herzen bist.

Ich habe meinen Frieden mit Deinem Tod gefunden, das heißt nicht, dass der Schmerz nicht manchmal immer noch kaum auszuhalten ist. Ich habe Antworten und einen Weg entdeckt, aber ich habe mich dabei oft über meine eigenen Reaktionen und Entscheidungen erschrocken. Ungewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen – das habe ich manchmal so selbstverständlich gesagt und jetzt erst erkannt, wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckt.

Ich bin eines Morgens aufgewacht und habe gewusst, dass ich Deine und meine Geschichte für die Gesellschaft festhalten muss. Du hast dabei meine Hand geführt und ich bin mir sicher, dass Du gewollt hättest, dass die Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Themen Depression und Suizid bekommt.

Trotz aller Tragik, am Ende ist unsere Geschichte eine Zeit voller Liebe und ich bin dankbar dafür, dass mir das Schreiben dieses Buches vor Augen geführt hat, dass uns unsere gemeinsamen Jahre immer bleiben werden. Nach Deinem plötzlichen Tod habe ich nur noch Deinen Suizid und die Traurigkeit gesehen. Jetzt darf ich wieder fühlen, wie schön die Zeit mir Dir war und wie dankbar ich dafür bin, dass Du mich einen Teil meines Lebens begleitet hast. Nichts und niemand kann mir meine Erinnerungen nehmen und sie helfen mir dabei, weiterzugehen – mal mit Tränen im Gesicht und mal mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ich wünsche Dir, mein Stern, Deinen Frieden und Deine Ruhe, wissend, dass ich Dich immer lieben werde.

Deine Natalie

Vorwort:

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie halten mit diesem Buch einen ganz persönlichen und wertvollen Teil meiner Lebensgeschichte in Ihren Händen. Darüber freue ich mich sehr.

Als meine große Liebe sich das Leben nahm, da glaubte ich, nicht mehr atmen und nicht mehr weiterleben zu können. Zu groß war der Schmerz und zu unvorstellbar die Tatsache, dass ein junger Mann in der Blüte seines Lebens nicht mehr weitermachen wollte.

Ich konnte nicht verstehen, dass die Depression eine schwere Krankheit ist, die manchmal tödlich endet. Depressionen sind so wenig greifbar, sie finden im Inneren statt und sind für Nichtbetroffene so schwierig nachzuvollziehen.

Depressionen sind der Krebs der Seele – diese Aussage hat mir ein wenig geholfen, zu begreifen, wie schlimm die Erkrankung für die Betroffenen ist, aber auch für die Angehörigen und das Umfeld.

Als Knut sich das Leben nahm, da blieb in mir immer der Gedanke, dass er noch da sein könnte, wenn er es nicht selbst beendet hätte. Ich habe mir oftmals gewünscht, er wäre anders gestorben, nicht weil das weniger schlimm gewesen wäre, sondern weil er seinen Tod dann nicht selber herbeigeführt hätte. Wenn ein geliebter Mensch sich das Leben nimmt, dann treten Fragen auf, die niemand mehr beantworten kann. Diese Fragen hat dieser Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten und seiner Erkrankung für sich selbst geklärt.

Das lässt uns fassungslos und hilflos zurück. Traurig und wütend zugleich mit immer derselben Frage nach dem „Warum?“.

In Deutschland haben wir mehr Suizidtote als Verkehrstote pro Jahr, aber noch immer nimmt die Gesellschaft das Thema Depression und Suizid nicht ernst genug. Depressionen und ihre Folgen können jeden treffen und jeder kann sich in seinem Leben als Hinterbliebener nach Suizid wiederfinden.

Ich möchte mit diesem Buch zeigen, dass Suizid auch für die Hinterbliebenen furchtbare Folgen hat und dass es wichtig ist, dass wir das verstehen. Ich möchte zeigen, dass es bei dem Weg durch die Trauer kein Richtig und kein Falsch gibt, sondern nur das, was der oder die Einzelne braucht. Dabei bestimmt nur der oder die Trauernde selber das Tempo, die Entscheidungen und den eigenen Willen zu überleben. Schritt für Schritt, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Es dauert so lange wie es dauert, das habe ich gelernt, egal was das Umfeld darüber denkt. Niemand, der nicht einen wichtigen Menschen durch Suizid verloren hat, kann sich vorstellen, was in den Köpfen und Herzen der Hinterbliebenen vor sich geht. Suizid ist eine sehr spezielle Form des Todes und zieht eine sehr spezielle Form der Trauer nach sich, was leider kaum jemand weiß. Selbst Ärzte und Therapeuten sind mit diesem Thema oftmals überfordert.

Ich habe auf meinem Weg einige Menschen verloren, die meine Entscheidungen oder mein Verhalten nicht nachvollziehen konnten. Einige wussten mit mir nach Knuts Tod auch einfach nicht mehr umzugehen. Das ist in Ordnung, auch wenn es schmerzhaft war. Schicksalsschläge ziehen Veränderungen jeder Art nach sich und ich hatte das Glück, neben den Verlusten auch ganz tolle neue Menschen kennenzulernen, die mich heute begleiten.

Depression wird auch als die „Selbstmordkrankheit“ bezeichnet, aber die wenigsten machen sich Gedanken darüber, was das bedeutet.

Ich selber benutze das Wort „Selbstmord“ nicht. Das hört sich für mich wie ein Verbrechen an und diese Menschen haben kein Verbrechen begangen. Auch spreche ich nicht von Freitod, da ich der Meinung bin, dass sie zwar im Rahmen der Krankheit ihren eigenen Tod beschließen, ihr Handeln aber von dieser ausgelöst wird und das hat für mich nichts mit einer ganz freien Entscheidung zu tun.

Jemand hat sich selbst getötet, das kann ich so stehen lassen, auch spreche ich davon, dass ein Mensch Suizid begangen hat, denn das ist wertfrei und diese Wertfreiheit ist mir wichtig. Am Richtigsten ist für mich jedoch die Aussage, dass ein Mensch sich das Leben genommen hat, denn er oder sie hat durch diese Entscheidung etwas Wunderbares aufgegeben.

Ich wünsche allen Betroffenen Kraft und allen Hinterbliebenen Mut, den Weg durch das Unvorstellbare zurück in ein neues Leben zu finden.

Herzlichst, Ihre Natalie Greve

Ich sitze auf dem Balkon und blicke in den sternenklaren Nachthimmel. In der linken Hand ein Glas Rotwein, in der rechten Hand eine Zigarette.

Unzählige Gläser Rotwein habe ich in den letzten zwei Jahren getrunken und unzählige Zigaretten habe ich geraucht. Nicht, dass es geholfen hätte, zumindest nicht auf lange Sicht, aber es bringt eine vermeintliche, kurzfristige Ruhe. Und Ruhe ist in den letzten zwei Jahren mein größter Wunsch gewesen.

Heute Nacht ist etwas anders. Die Kirchenuhr hat schon Mitternacht geschlagen und in den Fenstern der Wohnungen mir gegenüber ist nach und nach das Licht ausgegangen. Vereinzelt höre ich ein Auto oder ein paar Menschen, die müde von einer Feier nach Hause kommen.

Unser Kater liegt auf der Sofalehne und schläft. Sein ruhiger Atem passt zu dieser ruhigen Nacht.

Auch ich bin ruhig. Zum ersten Mal seit Deinem Tod habe ich eine innere Ruhe gefunden. Nicht durch den Alkohol oder die Zigaretten, nicht durch Medikamente. Die Ruhe ist in mir und ich genieße sie in vollen Zügen. Ich schmecke den Wein, seinen fruchtigen, leicht herben Geschmack und ich sehe den Rauch der Zigarette, der sich langsam den Weg nach oben bahnt.

Mein Blick fällt auf den großen Wagen am Himmel und auf einmal zieht eine wunderschöne Sternschnuppe ihre langgezogene Bahn am klaren Himmelszelt. Es ist ein stiller Gruß von Dir und er trifft mich mit geballter Kraft mitten ins Herz - da wo du immer Deinen Platz haben wirst.

So intensiv das Gefühl gewesen ist, so schnell weicht es wieder der unglaublichen Ruhe der Nacht. Tränen laufen über mein Gesicht. Tränen der Traurigkeit, aber auch der Freude, Tränen der Erinnerung und Tränen der Liebe.

Die Wiener Autorin Gitta Deutsch hat einmal geschrieben: „Du warst es wert so sehr geliebt zu werden, Du bist es wert, dass so viel Traurigkeit geblieben ist an Deiner Stelle“. Dieses Zitat schießt wie ein Blitz in meine Gedanken und ich war mir seiner Richtigkeit noch nie so bewusst wie heute.

Während mein Blick sich irgendwo im Nachthimmel verliert, wandern meine Gedanken zurück zu jenem unfassbaren Tag im August 2009, als Du Deinem Leben ein Ende setztest. Dieser Tag, der sich auf alle Ewigkeit in mein Hirn gebrannt hat, der unsere gemeinsame Zukunft auf Erden beendete und der der Anfang eines schwierigen und traurigen Weges für mich werden sollte.

Wie hatte das passieren können? Wir waren jung, hatten Pläne und Visionen, träumten von einer gemeinsamen und langen Zukunft.

„Irgendwann sitzen wir mit hundert gemeinsam auf einer Parkbank“, hast Du mir oft gesagt. Und ich erwiderte lachend, dass ich ein paar Jahre vorher abdanken würde, damit Du den ganzen Ärger mit der Beerdigung hättest und nicht ich. Wir waren fest davon überzeugt, dass es so kommen würde, zumindest dachte ich das.

Wir lernten uns 2005 in einer psychosomatischen Klinik in Malente kennen. Ich befand mich nach meiner damaligen Meinung am absoluten Tiefpunkt meines Lebens, konfrontiert mit einem schweren Kindheitstrauma, das ich jahrelang verdrängt hatte.

Du sahst aus, wie das blühende Leben. Athletisch, stets lachend und unternehmungslustig. Deinen Tiefpunkt hattest Du zu diesem Zeitpunkt bereits überwunden und ich stellte mir oftmals die Frage, ob Du wirklich depressiv warst. In meinen Augen war davon nichts wahrzunehmen. Ich beneidete Dich um Deine Leichtigkeit des Seins, die Du nach außen zeigtest, um Deinen Tatendrang und Deine Lebensfreude.

Du hattest Dich in eine Mitpatientin verliebt, obwohl Du noch eine Freundin hattest. Trotz der Tatsache, dass ich diesen Wesenszug nicht besonders schätzte und Dich, wie ich es Dir später zu Deiner Entrüstung erzählte, für einen „Machoarsch“ hielt, ging von Dir eine Faszination aus, die ich nicht erklären konnte. Du geistertest durch meine Gedanken und Träume, obwohl ich eigentlich andere Probleme hatte.

Wir sprachen viel, spielten zusammen Volleyball und wäre da nicht das klinische Umfeld gewesen, dann würde ich fast sagen, es war eine unbeschwerte Zeit mit Dir, die mir Kraft gab weiterzuleben.

Nach ein paar Wochen trennten sich unsere Wege und außer einem sporadischen Kontakt per SMS gab es keine Verbindung.

Das sollte sich bald ändern. Es war ein Sonntag, Du hattest Dich von Deiner Freundin getrennt, als ich einen Anruf von Dir erhielt. Du warst in Kiel beim Handball und fragtest mich, ob Du im Anschluss zu mir nach Hamburg kommen dürftest. Obwohl ich gerade eine Feier bei einem Freund abgesagt hatte, weil ich lieber einen ruhigen Abend verbringen wollte, änderte ich in diesem Moment meine Meinung und sagte zu.

Es war ein merkwürdiger Start für ein Kennenlernen im freien Leben. Du klagtest mir Dein Leid in Bezug auf Deine Trennung, wir gingen Essen, ins Kino und dann noch die halbe Nacht an den Landungsbrücken spazieren.

Obwohl es in Deinem Kopf noch eine andere Frau gab und ich mir das eigentlich nicht antun wollte, entwickelte sich eine unglaubliche Nähe zwischen uns, die ich bis heute nicht erklären kann. Es sollte so sein und wir sollten über solch holperige Wege einen Weg zueinander finden.

Am Wochenende darauf bliebst Du über Nacht. Es ging nicht um Sex, zumindest noch nicht. Wir hielten uns fest, wie zwei Menschen, die beieinander Schutz und Beistand suchen. Wie zwei Menschen, die wissen, dass sie einander brauchen und einander gut tun.

Und so stolperten wir in etwas, was sich Beziehung nennt oder wie Du und ich es später nannten: Die große Liebe. Es sollte so sein. Es gab keinen Knall, keine große Erkenntnis, keinen Himmel, der auf uns fiel. Es gab eine Entwicklung, ein miteinander geteiltes Leben, mittlerweile auch eine Körperlichkeit - aber lange Zeit kein Bekenntnis.

Wir liefen um ein Bekenntnis herum, wie die Katze um den heißen Brei. Jeder hatte Angst, verletzt zu werden und Du hattest, das ist mir heute klar, vor allem Angst vor Bindung, Verantwortung und vor einer Entscheidung. In Deinen Augen war alles gut so, wie es war.

Aber ich wollte ein Bekenntnis zu mir und zu uns. Im Gegensatz zu Dir gaben Entscheidungen und Bekenntnisse mir eine Form der Sicherheit.

Ich drohte Dir mit Trennung, obwohl mir bis heute klar ist, dass ich nicht ohne Dich leben konnte. Du versuchtest mich davon zu überzeugen, dass alles so bleiben sollte, wie es war. Nichts von beidem war richtig, aber das erkannten wir erst, als andere Menschen uns die Augen öffneten. Von da an war alles klar. Wir waren zusammen und wollten es bleiben.

Kurze Zeit später lag ich abends in Deinem Arm und war gerade dabei selig einzuschlummern, als Du mir sagtest „Ich liebe Dich“. So warst Du. Angst vor Entscheidung, aber dann gabst Du alles.

Unser Leben war ein einziges auf und ab, was auch viel an meiner Vergangenheit und meinen daraus resultierenden Ängsten nach vielen Jahren sexuellen Missbrauchs lag. Aber Du warst wie ein Fels an meiner Seite. Du gabst niemals auf, Du konntest kämpfen wie ein Löwe, zumindest, wenn es um mich ging.

Ich sollte leben, das hast Du immer wieder betont, wobei ich zu keiner Zeit an Deiner Seite etwas anderes wollte als das. Ich wusste, dass ich mit Dir alles schaffen konnte. Deine Liebe und Dein Optimismus waren alles, was ich brauchte, um weiterzumachen, auch wenn es oftmals sehr schwierig und traurig war. Du halfst mir durch meine Angst, führtest mich durch meinen Schmerz und schenktest mir Vertrauen in das Leben und Dich, etwas, das mir vorher nie beschert war.

Es wurde zu Deiner Aufgabe, mich zu retten und das machte mir immer öfter Angst. Ich bat Dich, Dich um Deine Krankheit zu kümmern, an Deiner Gesundung zu arbeiten, nicht zu vergessen, dass auch Du etwas aufzuarbeiten hattest. Es ist nicht so, dass Du es nicht tatest. Du gingst zu einem Therapeuten, Du hattest Stimmungsschwankungen und Versagensängste, aber nie während unserer Beziehung bist Du soweit abgerutscht, wie zum Schluss. Du betontest immer, dass es Dir gut ginge, dass alles bestens war und ich wollte Dir so gerne glauben.

Wir sprachen über alles, dachte ich, auch über Dinge, die nicht angenehm waren und doch hast Du mir die letzte Wahrheit bis zum Schluss verschwiegen.

Du warst ein großer, athletischer Mann, Ende dreißig und sehr intelligent. Und doch quälte Dich immer wieder die Angst, beruflich nicht gut genug zu sein, Verantwortung zu übernehmen und erwachsen zu werden. Du warst manchmal wie ein großes Kind und wie bei Kindern gab es auch bei Dir zwischen dem Wollen und dem Können große Unterschiede. Du wolltest ein erwachsenes und selbstständiges Leben an meiner Seite führen. Aber Du konntest Dich nicht aus alten Strukturen lösen und etwas Neues beginnen. Es schien, als hättest Du Dich nicht von Deiner Kindheit und dem Bedürfnis nach Schutz gelöst.

Und noch etwas konntest Du nicht. Du konntest die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Je mehr ich meine Vergangenheit aufgearbeitet hatte und je mehr ich mich einer Zukunft mit Dir zuwandte, desto mehr hieltest Du an ihr fest. Du wolltest das Alte nicht loslassen, weil Du Dich dann dem Neuen hättest stellen müssen.

Das wurde mehr und mehr zum Problem. Wir hatten viel Zeit, da wir beide krank geschrieben waren, aber ich wollte das für mich wieder ändern. Und ich wollte auch, dass Du es änderst. Ich hatte den Wunsch, eine Zukunft aufzubauen, Familie zu haben und „normal“ zu leben.

So sehr ich Dir auch bis heute glaube, dass Du das auch wolltest, so sehr kann ich nur ahnen, wie viel Angst es Dir gemacht haben muss.

„Wie soll ich die Verantwortung für ein Kind übernehmen, wenn ich sie nicht mal für mich übernehmen kann?“, fragtest Du manchmal.

Es war grotesk. Die Kinder Deiner Schwester, Dein Patenkind und seine Geschwister, die Kinder der Handballer Deiner Mannschaft, sie alle verehrten Dich und wollten ständig an Deiner Seite sein. Ich weiß, Du hast jedes dieser Kinder geliebt, aber Du konntest die Verantwortung für ein eigenes nicht übernehmen.

Es tat mir weh und ich empfand es als Zurückweisung, dass es so war. Noch immer lebten wir nach fast drei Jahren Beziehung in getrennten Wohnungen. Wir waren stehen geblieben. Unsere Liebe hatte sich verfestigt, aber das Leben war nicht weiter gegangen. Wir stritten uns immer häufiger, wissend, dass eine Trennung für uns nicht in Frage kam. Wir wollten es schaffen. Also ließ ich Dir Zeit, nach einer Lösung zu suchen, auch wenn diese vielleicht das Ende meiner Träume von einer Familie bedeutet hätte. Dich zu verlieren, wäre für mich unendlich viel schlimmer gewesen, auch wenn ich manchmal mit diesem Gedanken spielte.

Aber auch zu diesen Zeitpunkten warst Du nicht schwerstdepressiv, zumindest nicht so, wie ich mir einen depressiven Menschen zu diesem Zeitpunkt vorstellte. Du gingst kerzengerade durch die Welt, die Menschen schätzten Dich, Du hattest für jeden ein offenes Ohr, Du interessiertest Dich für alles, spieltest engagiert Handball und warst ein großer Fan des FC St. Pauli.

Unsere Wochenenden wurden um Handballspiele und St. Pauli-Spiele herum geplant. Ich habe so viel Zeit in eiskalten Hallen verbracht, wie ich es mir vorher niemals hätte träumen lassen.

Und noch etwas war kennzeichnend für uns. Wir waren fast immer die Letzten in der Halle. Nicht weil Du so lange brauchtest, um Dich fertig zu machen, sondern weil Du erst einmal mit allen anwesenden Kindern gespielt hast. Als deren Väter dann fertig geduscht waren und die Familien nach Hause gingen, gingst Du in die Kabine. Oftmals wurde das Licht ausgemacht, als ich noch auf der Tribüne saß. Ich erinnere mich mit einem Lächeln, aber auch mit einer großen Traurigkeit an Deine Liebe und Verbindung zu diesen Kindern.

Zwischen uns war, trotz einiger Streitigkeiten, ein festes Band, eine große Liebe und ein riesiges Vertrauen. Wir gehörten zusammen. Wir verletzten uns nicht wissentlich und wir sorgten füreinander. Wir unternahmen viel, gingen ins Theater, zu Ausstellungen und verbrachten wunderschöne Reisen miteinander. Es war fast perfekt.

Vielleicht ahnte ich, dass tief unten in Dir die Krankheit lauerte, aber ich war mir nicht einmal im Ansatz darüber im Klaren, was das bedeutete. Ich nahm an, wir würden einen gemeinsamen Weg finden und im Alter auf unserer Parkbank auf ein erfülltes, wenn auch schwieriges Leben zurück schauen. Ich sollte mich sehr irren…

Ich stecke mir eine neue Zigarette an und sehe in die sternenklare Nacht hinaus. Es war fast perfekt, ja das war es. Nie hätte ich damals geahnt, dass Du heute nicht mehr an meiner Seite sein würdest, dass ich diese Nacht und noch so viele weitere ohne Dich verbringen würde. Dass mein Kontakt zu Dir kein körperlicher mehr sein würde, sondern die Zuversicht, dass es Dir dort, wo Du heute bist, gut geht und dass Du mir von Zeit zu Zeit einen stillen Gruß schickst.

Wir hatten fast dreieinhalb wunderschöne Jahre miteinander verbracht, als das Unheil, das sich gar nicht als solches ankündigte, seinen Lauf nahm.

Es war Sonntagmorgen, Du warst bereits aufgestanden, hattest mich aber ausschlafen lassen. Die Sonne schien, als ich zu Dir ins Büro kam. Du saßt an Deinem Rechner und schriebst Bewerbungen an Firmen, die Dir empfohlen worden waren. Auf Deinem Bildschirm sah ich die Adresse eines Verlages in Soltau, der einen Sportredakteur suchte. Das Profil entsprach genau dem, was Du wolltest und gesucht hattest. Kleiner Verlag, viel regionaler Sport und ein übersichtliches Arbeitsfeld. Das kam Deiner Angst vor Verantwortung sehr entgegen und ich war verblüfft, mit wie viel Engagement Du Deine Bewerbung formuliertest. Du hattest eine gewisse Begeisterung und das, obwohl wir schon seit einiger Zeit gar nicht mehr über die Zukunft sprachen. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass mit der Zeit die Lösung einen Weg zu uns finden würde.

Du fragtest mich, ob ich mir vorstellen könnte, mit Dir nach Soltau zu gehen und ich bejahte es von ganzem Herzen. Während ich ganz euphorisch war und mir auszumalen versuchte, wie unser Leben dort wohl aussehen könnte, wolltest Du nicht weiter darüber reden. So war es häufig, zu viel reden und träumen setzte Dich unter Druck. Du schicktest die Bewerbung ab und bereits am nächsten Tag lud der Verlag Dich zum Vorstellungsgespräch ein. Wir fuhren nach Soltau, ich wartete im Auto auf Dich. Schon eine halbe Stunde später warst Du wieder da mit einem Vertrag in der Tasche. Sie wollten Dich, Du konntest Dir den Job gut vorstellen und fühltest Dich geehrt. Soltau sagte uns zu und so sprach nichts gegen einen Neuanfang. Wir waren glücklich, es sollte so sein.

Einige Tage später saßen wir abends auf dem Sofa, Du hattest unseren Kater auf dem Schoß. Mit einem Mal saßt Du mir fest in die Augen und fragtest mich, ob ich Dich nächstes Jahr heiraten wollte. Natürlich wollte ich das, nichts wollte ich mehr. Ich witzelte, dass ich den Antrag zwar von ganzem Herzen annehmen, mich aber doch noch über einen romantischeren freuen würde. „Natürlich. Ich wollte nur erstmal wissen, ob Du Ja sagst“, war Deine Antwort. Und zu unserem Kater gerichtet sagtest Du „Nicht wahr, Réglisse, etwas romantisches fällt uns noch ein“. Wir fingen an, unendlich lange Gästelisten zu schreiben, Details zu planen und waren vergnügt und glücklich. Wir wollten in Deiner Heimatstadt heiraten, in dem Dom, den Du so sehr liebtest. Wir wussten sogar schon, bei wem wir ein Eisbuffet für den Nachtisch bestellen würden.

Aber das Glück hielt nicht lange an. Wir suchten nach einer Übergangswohnung in Soltau, wollten vorerst nicht mit Sack und Pack umziehen, auch um den Druck für Dich nicht zu groß werden zu lassen. Wir fanden eine kleine Wohnung, beschlossen, dass ich und unser Kater Dich von Anfang an begleiten würden und dass ich, sobald feststand, ob Du den Job behalten wolltest, mich nach einer größeren Wohnung oder einem Haus umsehen würde. Erst dann würden wir unsere beiden Wohnungen auflösen.

Je mehr wir planten und entschieden, desto trauriger und ruhiger wurdest Du. Du hattest Angst zu versagen, Angst, dass die Leute im Verlag Dich nicht akzeptieren würden, obwohl es für all das keinen Grund gab. Du hattest nie Schwierigkeiten mit Menschen gehabt und dem Verlag hatten Deine Berichte aus Deiner vergangenen Berufszeit sehr gut gefallen.

Aber ich kam nicht mit Vernunft an Dich heran. Du ändertest Deine Begründungen so schnell, wie ich häufig nicht umdenken konnte. Mal fragtest Du Dich, ob Du es schaffen würdest, nicht mehr in Deiner Heimatstadt zu wohnen, mal warst Du Dir nicht sicher, ob Du den Job schaffen würdest, dann wieder war alles perfekt und der richtige Weg. Ich war verwirrt. So schnell, wie Du zwischen Angst und Euphorie wechseltest, kam ich nicht hinterher.

Du nahmst mehrere Gespräche mit Deinem Therapeuten wahr und ich hoffte, sie würden Dir die nötige Zuversicht für einen Neuanfang geben. Aber Du wurdest immer stiller und in mir begann sich eine Angst breit zu machen, die ich weder deuten noch verstehen konnte. Ich hoffte, alles würde sich legen, wenn wir erstmal vor Ort wären.

Und noch etwas änderte sich. Du ließt mich nicht mehr so nah an Dich ran. Es war kaum spürbar und ich habe es erst im Nachhinein gemerkt. Während wir sonst nur aneinander geschmiegt einschliefen, drehtest Du Dich jetzt weg. Du schliefst nicht mehr mit mir. Es war so, als wenn beides nicht möglich war. Auf der einen Seite der berufliche Neuanfang, auf der anderen Seite unsere Beziehung. Du konntest nur eines beruhigte ich mich in Erinnerung an einige vergangene Zeiten, obwohl mir Deine Zurückweisung sehr weh tat.

Du solltest Deinen neuen Job am ersten Juli des Jahres 2009 antreten. Wir waren drei Tage vorher mit einem Transporter nach Soltau gefahren und hatten uns unsere Übergangswohnung soweit es ging gemütlich gemacht. Noch immer war tiefe Traurigkeit in Dir. Ich schob es darauf, dass die Hausfassade trotz der Zusage des Vermieters nicht gemacht worden war und bot Dir an, bunte Blumen zu pflanzen. Es war der verzweifelte Versuch, wieder an Dich heranzukommen. Aber das wurde mir erst viel später klar. Für Außenstehende waren wir uns nach wie vor ganz nah, aber ich spürte, dass Du mir entglittst, auch wenn ich für den damaligen Zustand keine Worte hatte.

Als wir im Baumarkt waren und ich Dich fragte, welche Blumenfarbe Du haben wolltest, sagtest Du mir: „Es ist doch egal, ich sehe eh nichts mehr“. Ich habe diesen Satz später immer und immer wieder in meinem Kopf bewegt, aber ich muss zugeben, dass er mich zum gesagten Zeitpunkt nicht darüber aufklärte, dass es Dir wohl schon sehr schlecht ging. Und Du sprachst nicht darüber und wolltest nicht darüber sprechen.

Der Morgen Deines ersten Arbeitstages war sonnig. Ich traute mich nicht, Dir eine kleine Nachricht per SMS zu schreiben, weil Du schon während unserer morgendlichen Umarmung geweint hattest. Aber Du gingst zum Job und ich verbrachte den Tag damit, unser zu Hause wohnlich zu machen, aber vor allem damit, ganz fest an Dich zu denken und Dir Kraft und Zuversicht zu schicken.

Als Du abends nach Hause kamst, warst Du zwar traurig, aber ruhiger. Du erzähltest von einem sehr erfolgreichen und ansprechenden Tag, als hätte ich Dich nach einer Beerdigung gefragt. Aber Du erzähltest. Wir hatten zwei Stühle auf die Terrasse gebracht und genossen die Abendsonne, als plötzlich das Telefon klingelte.

Deine Mutter wollte hören, wie es gelaufen war, aber mehr als ein „Gut“ und „Ich weiß auch nicht, sprich bitte mit Natalie“, bekam sie nicht zur Antwort. Du weintest und ich erschrak. Mir wurde schlagartig klar, dass hier etwas ganz elementares nicht in Ordnung war.

Ich versprach Deiner Mutter, mich zu kümmern und wählte die Nummer Deines Therapeuten, der mich davon in Kenntnis setzte, dass er vergessen hätte, Dich wieder auf Medikamente zu setzen. Da wurde mir etwas klar, was ich nicht wusste. Du nahmst seit April keine Antidepressiva mehr. Ich bekam Panik, aber Dein Therapeut beruhigte mich, dass wir ja sofort wieder damit anfangen konnten und wir zusätzlich am Wochenende zu ihm kommen sollten, damit er Dir den Wirkstoff spritzen konnte. Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir, dass das nicht reichen würde, da Antidepressiva eine lange Vorlaufzeit haben, bevor sie wirken, aber ich versuchte Deinem Therapeuten zu vertrauen. Du nahmst sofort Deine Medikamente und wir hofften zumindest auf eine beruhigende Wirkung. Aber das Gegenteil war der Fall.

Eine Stunde später ranntest Du schweißgebadet durch die ganze Wohnung, bekamst keine Luft mehr und griffst Dir immer wieder an die Brust, auf der sich ein immer schlimmer werdender Druck breit machte. Als Du anfingst, mit dem Kopf auf die Matratze zu schlagen und ich Dich nicht beruhigen konnte, fuhr ich mit Dir in die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses. Du wehrtest Dich nicht und ich war getrieben durch eine Energie, die aus Panik und Verzweiflung resultierte. Ich wusste nicht, was hier geschah.

Die Ärztin spritzte Dir ein Beruhigungsmittel, sagte mir, dass Du und ich ein paar Stunden schlafen und dann zurück in Deine Heimatstadt zu Deinen Ärzten fahren sollten. Das gespritzte Mittel sollte Dich lange schlafen lassen, aber dem war nicht so. Ich hatte in meiner Angst und Verzweiflung mitten in der Nacht eine Freundin angerufen, die mir ihre Unterstützung zusagte und mir Mut zusprach. Dann hatte ich mich kurz hingelegt und war gerade eingeschlafen, als Du schweißgebadet und panisch vor meinem Bett standest. „Ich muss hier weg, ich muss hier sofort weg“, waren Deine einzigen Worte. Ich versuchte einen klaren Kopf zu behalten, packte die notwendigsten Dinge zusammen und versuchte Struktur in das Chaos zu bringen. Mir war klar, dass wir so schnell nicht wiederkommen würden. Zu diesem Zeitpunkt reagiertest Du schon nur noch auf Anweisungen. Du konntest nicht mehr selber denken und warst total hilflos. Wir nahmen unsere Sachen, unseren Kater und fuhren bei Nacht und Nebel zurück an die Nordsee.