Eine deutsche Geschichte - Andreas Herteux - E-Book

Eine deutsche Geschichte E-Book

Andreas Herteux

0,0

Beschreibung

Deutschland ist ein zerrissenes Land. Alles wird lauter und schriller. Konflikte dominieren, die Kompromisse werden rarer und die Gegensätze treten deutlich hervor. In dieser Welt ändert sich für Gregor Michael Asmas, der in jungen Jahren einst in der linken Szene sozialisiert wurde, vieles, als eine Verlagerung des Firmensitzes ihn zwingt, von der norddeutschen Großstadt in eine kleine fränkisches Gemeinde im Süden Deutschlands zu ziehen. Schnell erkennt Asmas, dass das vielleicht seine letzte Chance ist, die alten Ideale, die der graue Alltag in den Hintergrund gedrängt hat, doch noch zu leben und zu vermitteln. Und zwar allen im scheinbar rückständigen und reaktionären Dorf. Wirklich allen! Ein noble Idee, wenn da nicht die störrischen Ureinwohner wären, die mit Gregors missionarischem Eifer wenig anfangen können. Doch sein Kampf für eine bessere Welt hat gerade erst begonnen. Werden die Windräder am Ende auch in dem kleinen Dorf erblühen? Und so ist es daher nicht nur die Geschichte von Gregor Michael Asmas, sondern die des Konfliktes zwischen Stadt und Land. Eine Erzählung des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Weltansichten und Selbstverständlichkeiten. Immer zwischen Tragödie und Komödie hangelnd. Es ist die Geschichte unserer Gegenwart. Es ist eine deutsche Geschichte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 1

Blitzlichtgewitter. Eine jubelnde Masse. So viele freudige Gesichter. Schwarz, weiß, bunt. Männer, Frauen und all jene, die beides, irgendwas oder gar nichts sein wollen. Wundervolle Atmosphäre. Eine Weltgemeinschaft. Kein Hass. Keine Nationen. Keine Not. Kein Elend. Frieden. Gleichheit. Gerechtigkeit. Brüderlichkeit. Liebe. Der Kapitalismus geschlagen. Der Klimawandel besiegt. Sie alle rufen voller Ekstase seinen Namen und warten auf ihn. Vereint die Völker, lebendig der größte Traum.

Und genau das war es auch. Ein kurze Tagesillusion eines Mannes, der gerade einen Angelhaken in den Main werfen wollte: Gregor Michael Asmas. Lange Zeit hatte er sich, trotz der wiederholten Fürsprache seines Freundes Benno, einem begeisterten Jäger jener glitschigen Flossentiere, gegen den Gedanken gesträubt, harmlose Fische auf, wie er fand, brutalste Art und Weise aus der Mitte ihrer Familie zu reißen. Die Umstände, die sind es doch immer, brachten ihn jedoch dazu, die Angelegenheit zu revidieren und sich ein Sportgerät, er ließ sich das teuerste Modell mit dem eigentümlichen Namen „Fischmatscher 2412“ andrehen, zuzulegen. Große Angespanntheit braucht brachiale Ablenkung. Unsichere Zukunft, innere Ruhe. Ein Teil des großen Traumes lag sofern nicht. Er konnte Wirklichkeit werden. Schon an diesem Abend.

Hier stand er nun, am Rande des Flusses. Die Angel in der Hand, die Gummistiefel fest angezogen und den Klappstuhl geöffnet. Auch der Eimer war bereit und ein Blick auf diesen behagte Gregor, denn mit dessen Kauf unterstützte der tendenziell dickliche Mann arme Strafgefangene, die wegen einzelner Verirrungen in ihrem Leben weggesperrt wurden und nun traurig in den Gefängnissen der Republik auf ihre Freilassung warteten. Asmas runde Mütze stammte allerdings aus dem Anglergeschäft und war keinesfalls als Referenz an irgendwelche sozialistischen Führer gedacht. Sie gefiel ihm einfach und nicht für jedes Ding brauchte man, so sah er es, eine Rechtfertigung.

Schwieriger war es mit dem Köder, denn Gregor konnte es nicht verantworten, dafür das Leben „wurmischer“ Individuen zu opfern. Letztendlich dachte er erst an die veganen Würmer, die im Geschäft angeboten wurden, aber in den Tests bei den Anglern weniger gut ankamen, entschied sich aber am Ende für ein Stück seines Mittagessens und befand das Nutzen eines saftigen Schweineschnitzelstücks sogar als ein Zeichen von Respekt gegenüber den Fischen. Teilte er nicht sein eigenes Mahl mit ihnen? Eine Geste voller Symbolkraft, oder nicht?

Ja, innere Konflikte waren für Gregor keine Seltenheit und nicht immer konnten sie ohne die großen und kleinen Paradoxien des Lebens gelöst werden. Was aber war dieses anderes als pure menschliche Eigenart?

„Nun stehe ich hier und weiß auch nicht“, dachte er und sah dabei in den Main. Seine neue Hose rutschte ein wenig. Das verwunderte Gregor, da der üppige, aber noch kontrollierbare Bauchansatz in ähnlichen Fällen einen derartigen Kontrollverlust über die Kleidungsstücke eindrucksvoll verhinderte, doch beim Kauf hatte er sich offensichtlich vergriffen. Kann passieren.

Asmas strich sich durch die immer noch blonden, vollen Locken und blickte in Richtung des anderen Ufers. Dort saßen einige Enten, die fröhlich quakten. „Interessante Kreaturen. Ob sie miteinander kommunizieren?“, dachte er, aber schließlich fand er durch intensive Selbstreflexion heraus, dass die kleinen Schnabelträger ihn nur von seinem eigentlichen Vorhaben, dem Angeln, abbringen wollten. War es vielleicht, weil er selbst daran zweifelte? Konnte das sein? Hatte sein Freund Benno ihn wirklich davon überzeugt oder nur gedrängt? Vielleicht sogar, im geistigen Sinne, dazu verführt oder gar genötigt?

In seinen Augen blitzte Unsicherheit auf und erste Schweißtropfen liefen über seine Stirn, überquerten die breite fleischige Nase, erreichten schließlich den Mund und tropften über das Doppelkinn ab. Er dachte an die baldigen Ereignisse, denn da zählte es. Entspannung, Ablenkung. Mehr war die Jagd nach den Fischen nicht.

Das Finale der bisherigen Existenz war eingeläutet. Noch eine kurze Ruhephase vor dem Sturm. Irgendwo am Main. Eine Angel in der Hand. Die Zeit der Entscheidung! Endlich angebrochen! Triumph oder Tragödie! Ein Leben lang darauf hingearbeitet! Die Revolution für eine bessere Welt wird in diesem kleinen fränkischen Dorf beginnen und zum Flächenbrand werden. Veränderung! Sie naht! Bald! Bald!

Doch wir sind beim Schweiße, der Gregor über die Stirn rannte und sich unaufhaltsam seinen Weg bahnte. Manch einer der Tropfen sorgte für einen salzigen Geschmack auf seinen Lippen und eben jener ließ die Bilder der Vergangenheit wieder heraufziehen.

Kapitel 2

Ja, wir beginnen von vorne. Der Tunnel und das Licht. Babygeschrei. Menschen werden bekanntlich geboren. Grässliches Geheul! Von Gregors Geburt gibt es wenig zu berichten, denn er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Im Gegensatz zu vielen anderen war er jedoch ein Wunschkind und alle freuten sich, als er Ende der 1960er, in einem kleinen Krankenhaus, ganz im Norden des Landes in der großen Stadt, das Licht der Welt erblickte. Leider wurde er bereits kurz darauf in eine maskuline Rolle gedrängt, da Vater Asmas für seinen Sohn einen blauen Strampel-Anzug angeschafft hatte. Ein Umstand, der Gregor ein Leben lang sich selbst fragen ließ, ob seine männliche Identität, vielleicht nur eine untergeschobene war.

Die ersten Monate vergingen wie im Fluge und alsbald hatte er die ersten Entwicklungsschritte gemeistert. Sein erstes gesprochenes Wort sollte im Übrigen "Kmpf" werden. An dieser Stelle gingen die Meinungen auseinander. Während die Mutter davon überzeugt war, dass sich der Blondling auf die Kindersendung "Mungel" bezog, in der die Zecke "Kmipf" Kinder über die Gefährlichkeit ihrer Art aufklärte, behauptete Asmas später gerne, seine erste Artikulation hätte "Kampf" bedeutet. Wie auch immer.

Gregor wurde ein hinreißendes Kleinkind! Die blonden Locken, die helle Haut, das goldige Lachen und die knuffige, runde Form, gepaart mit den großen Augen und der fleischigen Nase, riefen, im Besonderen bei Frauen, echte Begeisterung hervor. Damals wusste er zwar nicht, dass der weibliche Geschmack launisch sein konnte, aber das war nichts, was einen derartigen Wonnepropen kümmern musste. König in seinem Reich! In Windeln uninteressant. Getauft, die Familie war dem Papier nach trotz der geographischen Herkunft gut katholisch, wurde der liebe Junge auf den Namen „Gregor Michael Asmas“. „Gregor“ wegen des Großvaters väterlicherseits und „Michael“ aufgrund seines Paten, den Bruder seiner Mutter. Für eine kurze Zeit war er, wie vermutlich jeder Stammhalter, ein stetig umworbener Stern, was sich jedoch ein wenig änderte, als zwei Jahre später seine Schwester Ida geboren wurde. Deren Namen rief sich nicht nur viel kürzer als der Gregors, in ihr schlummerte auch ein völlig anderes Wesen. Ständig schreiend, unangenehm dürr, kränkelnd und mit dunklen Haaren von Geburt an gezeichnet. Oft wurde Ida in den ersten Lebensjahren mit Gregor im gleichen Alter verglichen, doch diesem Vergleich konnte sie nicht standhalten, denn, wer vermochte schon neben dem blonden Engel mit dem süßen Lächeln, zu bestehen? Gregor war schlicht so ein niedliches Kind, dass man es auch an dieser Stelle noch einmal wiederholen muss: Niedlich, pausbäckig, kugelig und fröhlich.

Die Eltern wachten gelegentlich liebevoll über die Entwicklung ihrer beiden Bälger. Josef Asmas, kurz nach Kriegsbeginn geboren, und Alma Asmas, geborene Muff, fast direkt nach dem späteren Ehepartner das Licht der Welt erblickend, lernten sich während einer Italienfahrt, im Jahre 1966 kennen, stellten fest, dass sie in Deutschland nicht weit voneinander dahinvegetierten und heirateten schließlich zwei Jahre später. Im Jahre 1969 entdeckten sie dann ihre Liebe zueinander. Kinder ihrer geordneten Zeit, in der alle Dinge noch ihren natürlichen Platz hatten. Manchmal dauerte es eben eine Weile, und dabei ist es bis heute geblieben.

Josef Asmas arbeitete in einer Automobilfabrik und konnte es sich, dank eifrigen Sparens und aufgrund mehrerer Erbschaften, leisten, frühzeitig in Rente zu gehen. Fortan widmete er sich ab dem 45. Lebensjahre ganz seinen Bienenvölkern und Hasen, für die er größtes Interesse aufbrachte. Dem Grunde nach, waren es seine einzigen wirklichen Beschäftigungsformen. Sehr spät wurde der Vater auch Vorsitzender des lokalen Kleintierverbandes, legte diesen Posten aber nach zwei Jahren, aufgrund einer Fingererkrankung wieder nieder und zog sich auf das Ehrenamt des zweiten Schriftführers zurück.

Er war ein ruhiger und angenehmer Zeitgenosse. Böswillig ausgedrückt, schlicht langweilig und spießig. Dabei bar jeglichen Interesses an der großen Politik oder sonstigen Dingen, welche die Ruhe des Alltags stören konnten. Man blieb unpolitisch und damit im Trend der Zeit. Es lief doch auch alles, wenn man sich in das Privatleben zurückzog, oder? Alma Asmas blieb ihr Leben lang Hausfrau, sorgte sich um Haus, das am Rande einer großen Hanse-Stadt stand, und die Familie, hatte zu keinem Zeitpunkt in ihrem Leben berufliche Ambitionen und war mit ihrem Leben im Großen und Ganzen, stets zufrieden. Biedermeier im 20. Jahrhundert. Fröhliches oder unterdrücktes Hausfrauendasein? Wen mag es interessieren? In der Summe darf mit Recht davon gesprochen werden, dass Gregor wunderbare, geborgene erste Jahre erlebte und als glückliches Balg betrachtet werden durfte. Das umsorgte Wunschkind mit dem vergnügten Lachen. Ein richtiger blonder Lockenwuschel! Herrliche Ödnis! Gepriesen sei der Zynismus! Doch springen wir ein wenig weiter!

Kapitel 3

Mit drei Jahren kam der kleine Gregor in den Kindergarten und bezauberte mit seinen blonden Locken, die er nun etwas länger trug, die Kindergärtnerin Frau Birnbaum derartig, dass diese ihn allen anderen Kindern vorzog und ihm stets einen Extranachtisch zukommen ließ, den er auch auffällig genüsslich verzehrte. Echte Freunde fand er dagegen am Anfang wenige, allerdings war das weniger schlimm, denn die Kinder in den Gruppen wechselten häufig und Spielkameraden für kurzweilige Vergnügungen fanden sich immer. Der kleine Gregor fühlte sich wohl, allerdings änderte sich das schlagartig, als Frau Birnbaum pensioniert und durch den blutjungen Herrn Schlagmann, der gerade erst seine Ausbildung zum Kinderbetreuer beendet hatte, ersetzt wurde. Herr Schlagmann, den die Kinder „Janis“, nennen sollten, aber eigentlich Detlev mit Vornamen hieß, führte völlig neue und alternative Erziehungsmethoden ein.

Am Ende störte es den Knaben wenig, sich in Farben zu wälzen und so Kunst entstehen zu lassen. Der antiautoritäre Ansatz, dass die Kinder ihre Freizeit selbst gestalten konnten, und zwar auch auf der Schnellstraße in der Nähe des Kindergartens, wenn sie es denn wollten, war noch geradeso akzeptabel, aber, dass er nun keinen besonderen Nachtisch mehr erhielt, konnte Gregor „Janis“ nie verzeihen. Auf der anderen Seite schien Herr Schlagmann ebenso eine tiefe Abneigung gegenüber Gregors blonden Haaren und dessen blauen Augen gehabt zu haben, denn nicht umsonst zog er ihn immer wieder als „arisches Engelchen“ auf. Der zarte Knabe aber verstand das ebenso wenig, wie irgendwelche Lieder über Pioniere, den Kommunismus und den Faschismus. Er sollte erst viel später begreifen, welchen Wert dieser Teil seiner Erziehung hatte und wie ignorant er dieser doch in seinen jüngsten Jahren gegenüberstand. Aber damals war er eben noch ein Kind gewesen. Bedauerlich, doch wahr. Doch kann man existieren, ohne politisch zu sein?

Trotz seiner Probleme mit „Janis“ hatte der Lockenkopf schon früh ein Gespür für das Gute und die Gerechtigkeit. So verteidigte er die eigenen, wie fremden Butterbrote, gegen jene Rabauken, für die das Wort Gerechtigkeit keine Bedeutung hatte. Vereinfacht ausgedrückt, knuffte er die Chaoten, die mehr wollten, als ihnen zustand, kräftig in die kleinen Bäuchlein, worauf sie in der Regel aufgaben. Die Frage, ob er lediglich Hungrige von einem Mundraub abhielt, stellte er sich jedoch nicht, dafür aber Herr Schlagmann, der den Kindern gelegentlich aus dem „Kapital“von Karl Marx vorlas. Der kleine Gregor hatte davon jedoch nichts behalten, denn er spielte lieber mit den Klötzchen, anstatt zu lauschen, was „Janis“ als reaktionär befand und dessen Abneigung gegen den kleinen „Arier“ noch mehr steigerte. Doch warum musste das ein Kind schon kümmern? Jenseits des merkwürdigen Erziehers mochten ihn die Kleinen, allen voran der winzige Karsten. Die schlechterzogenen jedoch, wie der zornige Zacharias und der brüllende Bernd, konnten seine Nähe nicht ertragen, denn er maßregelte sie, wenn sie wieder über die Strenge schlugen. Beide besaßen Bäuchlein, die zum Knuffen anregten. In der Summe war alles gut so, wie es war. Nur die Sache mit dem Nachtisch tangierte nachdrücklich.

Nach gut zwei Jahren, die kleine Ida spielte nun ebenfalls im gleichen Kindergarten, wurde „Janis“ verhaftet, konnte jedoch aus dem Gefängnistransporter entkommen und sich in die Zone, von manchen DDR genannt, absetzen. Die Sache wurde von den faschistischen Medien ausführlich breitgetreten, doch an unserem blonden Knaben zog sie vorüber wie ein Sommerwind, denn zu diesem Zeitpunkt bereitete sich Gregor bereits auf seinen Übergang in die Schule vor. Mit erst sechs Jahren, denn er war nicht nur ein blondes, sondern auch ein helles Köpfchen. Zwar schmerzte ihn der Abschied von seinen jüngeren Freunden, allerdings wusste er, dass sie nun alt genug waren, ihre Butterbrote selbst zu verteidigen und konnte sie guten Gewissens zurücklassen. Mission Bauchknuffen abgeschlossen. Zeit zu gehen. Der Lotse geht von Bord.

Die Einschulung in eine Lehranstalt ganz in der Nähe und die Grundschulzeit verliefen durchaus positiv. Der kleine Mensch hatte Freude an der Schule und fand sogar einige Freunde. Merkwürdigerweise gehörten hierzu alsbald auch Zacharias und Bernd, was mit daran lag, dass sie stets bei ihm die Hausaufgaben abschreiben durften. Kinderlogik. Man sollte sie nicht hinterfragen. Das Feuer von gestern, schnell gelöscht und die Bäuchlein der beiden waren fortan knuff-befreite Zone. Ja, sie bildeten sogar eine kleine Räuberbande, die sich durch Cowboy und Indianerspiele vergnügte. Gregor wollte bei diesen Spielen lange Zeit nur einer der weißen Männer sein, weil diese über Pistolen verfügten und die Indianer nur Tomahawks benutzen durften. Kinderlogik! Später, in seiner Fast-Studentenzeit sollte er dieses jedoch bedauern, da er erfahren musste, dass es eben jene weißen Männer waren, welche die Ureinwohner des amerikanischen Kontinentes so brutal ausgerottet hatten. Generell schienen weiße Männer ein historisches und auch aktuelles Problem zu sein und im Nachhinein schämte er sich für das kindliche Verhalten, das er als Kind so kindisch an den Tag gelegt hatte, akzeptierte aber, dass man es nicht als eine individuelle Schuld, sondern als ein Versagen der Gesellschaft an einem kleinen, unschuldigen Wesen betrachten sollte. Und wäre die Rolle als Ureinwohner nicht vielleicht sogar kulturelle Aneignung gewesen? Hilfe? Aufklärung? Reflektion? Fehlanzeige! Klassisches Systemversagen!

In einem anderen Fall trat die individuelle Verantwortung allerdings deutlicher hervor und dies sollte viele Jahre später zu einer verdrängten halben Traumatisierung führen. Bei einem Sportfest, an dem Kinder von unterschiedlichsten Schulen gemeinsam antraten, nahm doch tatsächlich auch der blonde Knabe, wenngleich auch ohne rechte Motivation, teil. Das Ereignis selbst blieb ohne Eindruck, dafür aber nicht die anschließenden Ereignisse in der Gemeinschaftsdusche, denn da geschah es; ein Kind, offenbar mit türkischem Migrationshintergrund, hatte offenbar nicht alle Utensilien für den Säuberungsvorgang eingepackt und fragte in die Runde:

„Gebt mir mal der Duschgel!“

Erstes Kichern der zahlreiche und geistesgegenwärtig merkte Gregor in bester Absicht an, dass es „das“ Duschgel heißen würde. Plötzlich erschallte ein großes Gelächter in der ganzen Dusche, an dem sich auch Gregor und der türkische Junge beteiligte. Fröhliche Idylle. Eine selbstverständliche Episode?

Nicht für Asmas, der sich später, nach seinem politischen Erwachen, daran erinnern sollte. Was vielleicht wie eine kleine und harmlose Episode aussah, ließ sich auch als struktureller Rassismus charakterisieren, der vielleicht den Migrationsbub für ein Leben negative prägte. Außenseiter, verlacht von der indigenen Mehrheitsgesellschaft. Die selbstverständliche Arroganz, mit der er als kindlicher Rädelsführer, den armen Jungen belehrte – Gregor fragte sich später oft, wie er als Kind so ignorant und rücksichtlos sein konnte. Doch vergessen wir diese Episode für einen Moment.

Letztendlich verlief seine Zeit in der Grundschule frei und unbekümmert. Zu Hause gut behütetet, in der Schule akzeptiert und mit durchaus guten Noten. Das Gymnasium konnte kommen. Nur mit seiner Schwester Ida, die sich leider mit anderen Kindern etwas schwertat und sich ganz an die Mutter klammerte, stritt er sich gelegentlich. Doch das gehört bei Geschwistern vermutlich zum guten Ton. Alles sehr gewöhnlich. Springen wir daher weiter!

Kapitel 4

Alles änderte sich, als Gregors Zeit auf dem Gymnasium anbrach. Nicht nur, dass er dafür fast eine Stunde mit dem Bus fahren musste, was alles über den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, selbst in der Großstadt Hamburg zu damaliger Zeit sagte, nein, auch keiner seiner bisherigen Freunde schaffte es, seinen persönlichen Weg an dieser Stätte humanistischer Bildung fortzusetzen, denn seine Spielkameraden landeten größtenteils, aber auch wenig überraschend, auf der sogenannten Hauptschule. Schreckliche, selektierende 1970er Jahre! Relikt düsterer Tage! Leistungsdruck, der die Studenten auf die Straße trieb!

Der junge Knabe, wer kann es ihm verdenken, wäre auch lieber ein beliebter Hauptschüler geworden, als ein einsamer Gymnasiast, jedoch konnten die Grundschullehrer Asmas Eltern am Ende davon überzeugen, dass man den blonden Jungen fördern musste. Der blondgelockte Bube, der erste mit Abitur in der Familie? Eine erquickliche Vorstellung! So musste er von Zacharias, Bernd und all den anderen Abschied nehmen, denn ein neues Leben begann. Wiederum ein prägendes Erlebnis, das in Gregor später den Wunsch erweckte, sich aktiv für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen. Frühe Prägung eines wackeren Kämpfers. Frühkindliches Trauma. Schon wieder.

In den ersten Wochen gymnasialer Beglückung fand Gregor keinen Anschluss an seine neuen Klassenkameraden und das sollte sich in den folgenden Jahren auch nicht mehr ändern. Oberflächlichkeit! Viele Mitschüler aus besserem Haus und er das Arbeiterkind. Bourgeoisie! Klischee! Muffiger Humanismus in einer verknöcherten Einrichtung. Staub der Jahrhunderte, dem ein frischer Wind gutgetan hätte. Wie war das mit den Talaren? Gewälzte Probleme der Vergangenheit! Wie viel Raum erhielten Gegenwart und Zukunft?

Einzelne Bekanntschaften wurden zwar geknüpft, jedoch scheiterte das Heranwachsen von Freundschaften oft daran, dass man sich, aufgrund der räumlichen Distanz nicht zum Spielen verabreden konnte. Außerdem kam die Nachwuchselite aus dem gesamten Ballungsgebiet einer hanseatischen Großstadt. Kurzeitige Kameradschaft in gemeinsamer Not. Tiefe? Nein - und die Jahre vergingen.

Doch Gregor litt nicht etwa darunter, nein mehr und mehr spürte er, wie profan und kindisch viele seiner Mitschüler doch noch waren. Anstatt in eine schwierige, brünstige oder bockende Pubertät zu stolpern, erwachte in Gregor ein unerhörter Wissensdurst. Keinen, den man in der Schule löschen konnte, sondern einen, für den das Leben selbst herhalten musste. Mittelmäßige, niemals schlechte, Noten, kaum Anschluss, aber eine unerhörte Neugier auf die Welt. Bald schon interessierte er sich für die Natur, die Tiere, die Gesellschaft und noch so vieles mehr. Auf einmal kam ihm die Erziehung von „Janis“ durchaus zugute, denn mehr und mehr verstand er den tieferen Sinn seiner Botschaften und es machte ihn unendlich traurig zu erfahren, dass der Kindergärtner in irgendeinem südamerikanischen Land, während eines Guerilla-Krieges, von reaktionären, rechtsgerichteten Regierungstruppen erschossen wurde. Nach anderen Quellen wäre es ein Erschlagen durch einen Eispickel gewesen, was am Ergebnis aber so gar nichts ändern wollte. So erzählte man zumindest, ob es nun stimmte, wusste niemand so recht.

Zwar war Gregor nicht ganz klar, was er mit seinem Leben anfangen wollte, allerdings entwickelt er das tatsächliche Bewusstsein, dass es zumindest gut und richtig sein müsste. Sinnvoll und wahrhaftig. Einfach besser.

Ein Ziel; zumindest etwas. Sein erstes großes Thema wurde die Natur. Umweltverschmutzung. Saurer Regen. Verschmutze Wirklichkeit. Klimawandel. Ausbeutung der Erde. Der Wert des Lebens. Aller Lebewesen. Er las verschiedene Bücher, studierte die Zeitung und eines Tages fuhr er spontan, er war gerade 16 Jahre alt, mit dem Zug auf eine Demonstration gegen Tierquälerei und Baumsterben. Präsenz zeigen, schreien, auf Veränderung hoffen. Gregor for Future. Daran glauben! Was für eine brillante Zeit! Sie passte! Gleichgesinnte! Er passte. Hoffnung, auf eine bessere Welt und der blonde Junge mittendrin! Nicht alles, was Gregor in der Folge tun sollte, machte immer Sinn. Gelegentlich schoss er sogar ein wenig über das Ziel hinaus. So beispielsweise, als er des Nachts die Hasen seines Vaters von dessen Tyrannei, die er natürlich niemals diesem gegenüber erwähnte, befreien wollte, in der Dunkelheit in ein Bienenvolk fiel und die armen Langohrträger die anschließende Insektenattacke nicht überlebten. Ja, er hatte übertrieben, aber zählte nicht der gute Wille allein? Tatsächlich steckte mehr dahinter, denn Asmas war ein Überzeugungstäter, der aus vollem Herzen an eine bessere Welt glaubte. Die ersten Schritte eines Rebellen des Guten.

Als es darum ging, den Wald vom Müll zu befreien, war der blonde junge Mann einer der ersten, der auch den widerlichsten Schrott mit bloßen Händen auflas. Er saß auf den Schienen, die Güterzüge voll radioaktiven Materials stoppen sollten, stieg in verunreinigte Flüsse, um dort Proben zu nehmen und schreckte auch nicht davor zurück, in Betriebe mit Massentierhaltung einzubrechen und die Vorkommnisse dort zu dokumentieren. Über Gesetze dachte er damals noch nicht nach, sah nur das heldenhafte seines Tuns und wer sollte es ihm auch übelnehmen?

Zusätzlich demonstrierte er: Gegen das Waldsterben, gegen Tiertransporte- und Versuche, Abholzung des Regenwaldes, gegen die Erderwärmung, gegen Krieg, gegen Armut, gegen die Atomkraft, für sauberer Flüsse, gegen die wilde Müllentsorgung und noch so viele Dinge mehr. Vieles, was heute selbstverständlich erscheinen mag, war es damals noch nicht. Die große grüne Welle und Gregor Michael Asmas war ein Teil davon: Seine Gerechtigkeit, sein Weg, das Richtige zu tun. Alles war einfach! Das Böse, das den Baum am Wegesrand sterben ließ, leicht zu identifizieren. Folgen, mitschwimmen – das genügte vollauf. Zeitalter der Klarheit! Alles übersichtlich, alles simpel zu erkennen. Wenig Ablenkung, volle Konzentration!

Bei diesem Engagement lernte der junge Mann zahlreiche Leute kennen: Ehrliche Kämpfer, Mitläufer, Aussteiger und komische Gestalten. Die Szene war bunt, ganz so wie das Leben. Nicht viele sind eine Erwähnung wert. Einer davon war Axel, auch Vegan-Axel genannt. Man traf sich auf einer Demonstration, kam ins Gespräch und schon bestand eine Art ewige Verwandtschaft, eine Blutbrüderschaft ohne Blut. Wohlgemerkt sind das nicht meine Worte. Ich stehle sie lediglich aus Gregors Gedankenwelt. Wie die Leute immer gleich übertreiben müssen! Nur, weil man am gleichen Müsli-Riegel knabberte und eine Gemeinschaftstoilette auf dem Gang benutzte! Zeit der Gleichmacherei. Der kleinste Nenner siegt! Doch weiter im Takte!

Leider sorgte der Mitstreiter bald darauf für Gregors ersten großen ideologischen Konflikt. Der Tag begann vollkommen harmlos. Man protestierte gegen eine Flussbegradigung und warf einige Steine auf die Polizisten, wobei Gregor erst immer so warf, dass er niemanden traf und es dann ganz ließ, weil er sich den genauen Zweck solcher Aktionen gegen Menschen, die nur ihrer Arbeit nachgingen, nicht erschließen konnte. Andersartige Aufforderungen interessierten ihn nicht. Gewalt gegen Menschen war für ihn schlicht nicht akzeptabel und auch nicht zielführend. Er warf nie wieder einen Stein auf ein lebendes Wesen.

Aber zurück zu seinem ideologischen Konflikt. Erst gab es die Aktion und anschließend die wohlverdiente Mittagspause. Wie immer. Aber, als Asmas an einem schönen Tag sein saftiges Wurstbrot auspackte, das ihm seine Mutter am Abend zuvor liebevoll zubereitet hatte, geschah es, denn Vegan-Axel bemängelte seinen Konsum von Fleisch dermaßen wortreich, dass er, während er das Brot verzehrte, in eine schwere Gewissensnot verfiel. Durfte man Wurst essen? Überhaupt Fleisch?

Asmas lag viele Nächte wach und dachte darüber nach. Obwohl schon immer ein großer Tierfreund, kümmerte ihn bislang doch mehr das große Ganze, denn das persönliche Verhalten. Ein Fehler? Eine kurze Zeit aß er nur noch Salat und Ersatzprodukte aus Brennnesseln, aber irgendwann musste er sich eingestehen, dass er einfach zu gerne Fleisch verzerrte, als dass er es lassen wollte. Dieser Abschnitt seines Lebens war nicht einfach für ihn, doch fand er schließlich einen Kompromiss: Nur das Fleisch von glücklichen Tieren aus biologischem Anbau wollte er zu sich nehmen, denn dadurch förderte er nicht nur die bessere Behandlung dieser armen Wesen, sondern zeigte ihnen gleichzeitig Respekt. Tat er damit nicht viel mehr als jene, die ausschließlich den Weg des Verzichts gingen? Eine gute Lösung; fand er, doch sie zeigte auch Gregors größtes Problem, das in Wahrheit keines war:

Er war schlichtweg zu intelligent, um sich dauerhaft an Dogmen zu klammern, im Besonderen, wenn sie ihm innerlich nicht wirklich zusagten. Zu klug, um jegliches Hinterfragen zu vermeiden, auch wenn es manchmal dauerte. Vielleicht war es richtig, überhaupt keine Tiere zu essen, aber was war mit dem Leid der Pflanzen? Fielen die Vegetarier vielleicht nur auf das nette Gesicht einer sympathischen Kuh herein? Nur Pflanzen? Was würde das bedeuten? Monokulturen, die für die Umwelt schädlich sind! Würde das nicht ein radikales Abholzen der Regenwälder bedeuten? Eine Katastrophe für das Klima und damit ein erster Schritt zur Selbstvernichtung des Menschen? Was machte man mit dem Verzicht besser? Und das Gebiss eines Allesfressers? Mangelernährung? Glückliche Tiere? Bei jedem großen Fressen eine Gedenkminute an jene Viecher, die gequält wurden und grausam sterben mussten? Wer durfte ihm vorschreiben, dass der fleischlose Weg, der einzig wahre war? Wieso sollte es richtig sein? Ja, so war der blonde junge Mann. Reflektiert und immer für den Kompromiss bereit. Es sei aber auch erwähnt, dass manche in seinen inneren Einigungen lediglich widerliche Heuchelei und fehlende Charakterstärke sahen. Das wurde allerdings nicht seiner Gedankenwelt entnommen, sondern ist als externe Wertung zu verstehen.

Wie dem auch sei, Gregor hinterfragte, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, und besaß dafür auch, ganz vulgär ausgedrückt, den notwendigen Hirnschmalz.

Dieses zeigte sich beispielsweise daran, dass Asmas ein Buch, welches er von Vegan-Axel erhalten hatte und das den Namen „Einführung in die politische Ökonomie des Kapitalismus“ trug, genau studierte und mit der erlebten Realität verglich. Im Grunde genommen nicht sein Thema, denn bisher gab es primär eine Fixierung auf die Ökologie. Die Szene war jedoch vielfältig und der Kontakt mit Wirtschaft, Politik und anderen Themen, im Besonderen natürlich mit dem Kapitalismus, kam daher zwangsläufig und erschien unvermeidbar.

Sozialistische Ökonomie? Das erinnerte ihn an seine Kindergartenzeit bei „Janis“ Schlagmann. Das Buch selbst stammte aus der ehemaligen DDR und wurde bereits im Jahre 1975 ausgegeben, aber musste die Wahrheit nicht eine zeitlose Größe sein?

Das Werk prophezeite eine Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiterklasse und aller weiteren Schichten. Revolution! Aufstände! Gregor dachte nach. Natürlich waren die Arbeitslosenzahlen im Westen des Landes gestiegen, aber hatte sich sozial nicht so einiges gebessert? Zumindest im Vergleich zu früher. Auf welchen Zeitraum waren diese Prognosen überhaupt bezogen? Immerhin waren inzwischen über 10 Jahre vergangen, seit das Buch publiziert wurde. Von den USA hörte man in dieser Hinsicht viele negative Dinge. Niedriglohnsektor, kaum Schutz bei Krankheit, Altersarmut. Aber in Westdeutschland? Würden die Menschen nicht auf die Straße gehen, wenn der Wohlstand so extrem sank?

Trotzdem spürte er wie wichtig die Themen der wirtschaftlichen Ordnung, des Imperialismus und der Politik waren und schämte sich dafür, sich bisher nur auf die Umwelt konzentriert zu haben. Es ging um mehr! Die Gesellschaft verändern!

Sollten sie nicht auch deswegen auf der Straße? Natürlich! Und Gregor intensivierte sein Engagement. Dehnte es aus! Streiten für mehr Demokratie! Gegen den Muff! Kein Staat wird die Massen ignorieren können. In dieser Hinsicht war sich Gregor sicher, denn war er nicht Teil einer lautstarken und engagierten Jugend? Warum sollten die nächsten Generationen auf eine andere Art und Weise gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt reagieren?

So las er mehr und intensiver. Auch das Buch des veganen Kumpans, wobei ihn ein Abschnitt besonders erheiterte:

„In den Jahren bis 1980 soll nun schrittweise eine einheitliche „Wirtschafts- und Währungsunion“ geschaffen werden. In dieser Etappe der Integration werden die Widersprüche [...] erst voll ausbrechen. Bei diesen Bestrebungen stoßen nicht nur die gegensätzlichen Konkurrenzinteressen der privaten Monopole aufeinander. Es steht sich nun die konzentrierte Kraft des Staates der einzelnen Länder gegenüber, wenn über die Angleichung der Wirtschaftsund Haushaltspolitik, über eine Vereinheitlichung der Währung und anderes [...] gestritten wird. [...] Zustande gekommen auf der Grundlage und im Interesse der aggressiven Expansionsbestrebungen des Finanzkapitals der wichtigsten imperialistischen Länder [...] trug die EWG von Anfang an einen ausgeprägten antidemokratischen und antisozialen Charakter. [...] Dieser Machtapparat richtet sich vor allem gegen die Arbeiterklasse und alle demokratischen Kräfte. [...] Nach wie vor sind in allen EWG-Ländern die Werktätigen von sämtlichen ökonomischen und politischen Entscheidungen ausgeschlossen. [...] Die noch Anfang der 60er Jahre von den imperialistischen Apologeten unter der Flagge der „Integration Europas“ in der Öffentlichkeit Westeuropas weit verbreitete „Europa-Euphorie“ hat schon seit Jahren einer zunehmenden Ernüchterung über den wirklichen Charakter [...] Platz gemacht.“

Gregor war ein großer Freund der europäischen Aussöhnung und Integration und konnte daher diese Bedenken, zumal das Jahr 1980 bereits etwas länger vorübergezogen war, nicht teilen, denn wird es nicht eines Tages ein Europa der Bürger sein? Eine gewollte und geliebte Ergänzung zu den Nationalstaaten? Ein demokratisches Paradies? Und was wollte dieses Buch aus der DDR suggerieren? Was sollte die Schwarzmalerei? Glaubten sie wirklich, dass die Europäer einen neofaschistischen Staat dulden würden, dessen Geschicke primär vom Kapital gelenkt werden?

„Nein!“, dachte Gregor „das ist unvorstellbar! Wir würden das niemals zulassen! Wir würden die Ketten einer Diktatur zerbrechen! Schon im Ansatz! Wir verwandeln die Welt doch gerade! Auf die Straßen! Die Ketten der Ungerechtigkeit zerbersten, der Amboss wird zerstört, die Schmiede nutzlos!“

Zwar fand er in seinem ersten wirklichen sozialistischen Werk auch viele Worte, denen er zustimmen konnte, insgesamt jedoch, wollte er nicht jede einzelne Position annehmen. Musste man wirklich den Mehrwert der Arbeit und den Akkumulationsprozess des Kapitals aus diesem Blickwinkel betrachten? Natürlich waren Rentier-Staaten ein Problem und auch die Macht des Finanzkapitals. Selbstverständlich agierte der westdeutsche Staat immer wieder faschistisch und die alten braunen Brüder waren vielerorts noch immer da. Ob die DDR jedoch wirklich besser war? Unter der Sowjetunion? Oder waren seine Gedanken bereits durch amerikanische Propaganda durchsetzt? Gregor war gespalten, denn ihm war die Ausrichtung des Buches in der Summe zu dogmatisch und unflexibel. Auf der anderen Seite benötigte man aber doch eine geschlossene Weltanschauung; behauptete zumindest Vegan-Axel, der allerdings, nach eigener Auskunft, bisher nicht über das Inhaltverzeichnis des Buches hinausgekommen war. Oder doch nicht? Gregor las, um Klarheit zu erlangen, fand aber oft nur weitere Fragen. Was wusste Axel eigentlich von der marxistisch-leninistischen Theorie? Nichts, wenn man nachbohrte! Was wusste der größte Teil der Szene davon? Auch nicht besser! Sie schwammen alle mit. Mit der grünen Welle, der roten Flut. Immer dem Strom der Parolen nach! War er ihnen nicht allen in dieser Hinsicht überlegen? Was half totaler Glaube, wenn das Massenelend erst einmal ausblieb? Brauchte man das aber nicht für die sozialistische Weltrevolution? Also darauf hoffen?

Vielleicht ist die Wahrheit niemals ein Extrem, sondern stets eine Nuance dazwischen? Sollte nicht jeder absolute Anspruch Kritik gebären? Oder doch nicht und bedurfte es nicht des roten Fadens? Asmas dachte lange darüber nach, nutzte selektiv ausgewählte Quellen, um seine Meinung zu stützen und wollte künftig versuchen, das Beste für sich aus Allem herauszuziehen. Sein Herz schlug für das Gute und Gerechte. Nicht mehr, nicht weniger.

Am Ende stand ein Welt- und Menschenbild, in dem alle Menschen von Geburt an gleich waren. Gleicher Wert, gleiche Träume, gleiche Ängste. Erst Erziehung und Gesellschaft schufen, aus Asmas Sicht, das Individuum und dabei konnte einiges, vielleicht sogar unabänderlich, schiefgehen. Den größten Teil der Menschheit, so sein neu entworfenes Glaubensbekenntnis, musste man lediglich in die wahre Richtung erziehen, denn steckte in jedem Menschen nicht der gleiche gute Kern? „Die Sozialisierung schafft den Menschen“, war sein Credo und sprach Gregor selbst einmal von gut oder böse, dann meinte er damit eben jene Beeinflussung, die eine Person in eine bestimmte Richtung gebracht hatte und keinen von Geburt an bestehenden Makel oder Vorzug. Eine prägende Phase, gekennzeichnet durch tiefes Nachdenken und stetiger Reflexion.

Nachdem er sich innerlich gefunden hatte, konnte er auch Vegan-Axel gegenübertreten, jenem Aktivisten, der mit seinen 30 Jahren eher wie 50 aussah. Man konnte meinen, dass der jahrelange Fleischentzug seine Spuren hinterlassen hatte, aber vielleicht waren es auch die Gene. Oder der Alkohol. Oder die Drogen. Oder das ewige Schnüffeln an Auspuffen. Es folgten zahlreiche Diskussionen, bei denen Gregor stets seine fachliche Überlegenheit ausspielen konnte und es wunderte daher nicht, dass sich Axels 16-jährige Freundin, auch die dicke Brigitte genannt, mit der Zeit weitaus mehr für den kernigen blonden Jüngling interessierte als für den alternden Aktivisten. Freie Liebe und Partnertausch. Er rutschte mehr oder weniger in sein erstes Liebeserlebnis hinein. So selbstverständlich, dass die Details nur Zeitverschwendung wären. Zarte Gefühle und überwältigender Sturm. Eines Tages standen Koffer vor der Wohngemeinschaft. Wortlos zog Axel ab und ward nicht mehr gesehen. Die Dinge hatten sich eingependelt. Später davon noch mehr!

In dieser Zeit sah der junge Mann Zacharias und Bernd wieder und war erstaunt, wie weit sie sich doch auseinanderentwickelt hatten. Der zornige Zacharias, inzwischen mehrfach vorbestraft, wenn auch nur nach Jugendstrafrecht, wurde nach der 34. Straftat schließlich nach Mexiko in ein Strandcamp zur Resozialisierung geschickt. Der brüllende Bernd lebte nur noch für seine rechtsradikale Band und trank jeden Abend zwei Bier.

Einmal, Asmas traf ihn zufällig auf der Straße, kamen er und der Radikale ins Gespräch. Bernd führte den Anstoß mit der menschenverachtenden Theorie von Kulturträgern, Kulturfolgern und Parasiten aus. Gregor jedoch parierte alles glänzend mit dem Verweis auf die Leistungen der asiatischen Völker. Jedoch gab es weiter Druck über die rechte Seite, denn Bernds Flanke, die sich primär auf den Flügelspieler Darwin stützte, konnte er nur gerade so mit dem Unterschied zwischen Menschen und Tier, bei diesem Argument war Asmas keinesfalls wohl, abwehren. Des Radikalen Kritik am Kapitalismus schien zu überzeugen, jedoch tappte Gregor nicht in diese Abseitsfalle, denn es war keinesfalls richtig, einen jüdischen Verteidiger als Abwehrchef auflaufen zu lassen. Schließlich versuchte der Blonde links außen gegen den Dunkelhaarigen auf der rechten Seite, zum Angriff überzugehen, denn er durfte sich keinesfalls zu weit zurückdrängen lassen. Klug umkurvte der gewiefte Gregor die üble Propaganda von der verschwundenen Massenarbeitslosigkeit, Autobahn und Friedensliebe, ignorierte das Leugnen historischer Tatsachen und war nur darauf erpicht, zielgerichtet zum Abschluss zu kommen. Er sah die Möglichkeit, schoss und traf, denn wer einen solchen Krieg verlor, ein zerstörtes Land und so viele Tote hinterließ, der musste einfach verlieren, am Ende zählte schließlich nur das Ergebnis und das war klar und eindeutig. Schuss! Tor! Ein Abseitspfiff? Oder doch nur Latte?

Zu seinem Erstaunen musste Gregor feststellen, dass Bernd erstaunlich viel vom Topf des rechten Randes genascht hatte, kurzum sehr gut geschult war. Dessen pseudo-logischen Rassismus und Sozialdarwinismus entsetzte Asmas so sehr, dass er bei seiner Mao-Bibel, die er zwar geschenkt bekommen, aber bislang nicht gelesen hatte, schwor, sein theoretisches Wissen so auszubauen, dass die Bernds dieser Welt argumentativ keine Chance mehr gegen ihn haben sollten. Am Ende verlor der rechte Bernd zwar, doch war Asmas nicht etwa stolz auf diese Leistung, sondern schämte sich sehr, dass die Gesellschaft seine früheren Freunde, er dachte auch an Zacharias, so fallen ließ und hoffte, die Umstände irgendwann so zu verändern, dass einem jeden geholfen werden konnte. Gewonnen? Unentschieden? Knappe Niederlage? Wacker geschlagen? Ärgerlich! Unbefriedigend! Der berühmte falsche Fuß! So richtig sicher war sich Asmas dann doch nicht. Der Antifaschismus und allgemeine Gesellschaftslehren waren in seinem Kanon der Weltverbesserung bislang nur Stiefkinder gewesen, doch das konnte man ändern. Vielleicht nicht sofort, aber auf Dauer. Doch erst einmal zurück zu Gregors sonstigem Umfeld. Im Grunde genommen gab es nur wenige relevante Personen, mit denen der Kontakt über ein kurzes Grüßen, Parolen und die politischen Aktionen hinausging.

Da gab es noch den Professor, wie Leonid Mehrmann genannt wurde, weil er bereits im 25. Semester seines Politikstudiums angekommen war, der stetig über neue Formen des Protestes sinnierte. Er blieb dabei stets Theoretiker, oder wer glaubte wirklich daran, dass es etwas bringen würde, sich auf die Straße zu kleben und so die normalen Verkehrsteilnehmer am Fortkommen zu hindern? Würde das auf Dauer nicht die einfache Bevölkerung gegen die Ziele aufwiegeln und es den rechten Apologeten leichter machen, jede gute Sache zu diskreditieren? Warum den einfachen Menschen behelligen? War dieser nicht selbst Opfer der Ausbeutung? Galt es nicht, das Volk davon zu überzeugen, gemeinsam gegen Missstände zu demonstrieren und so eine Veränderung zu bewirken? Stellte nicht das den Kern der echten Demokratie dar? Nein, der Professor war Theoretiker, kam mit seinen Ideen auch nicht wirklich an und ward nach der zwangsweisen Exmatrikulation auch nicht mehr gesehen.

Eine weitere Figur aus der Szene war der beste Freund des Veganers. Auf den Namen Jens Richter getauft, schob er sich immer wieder in den Vordergrund und betrachtete sich, nach Axels Verschwinden, als Anführer der alternativen Szene. Brigitte und Gregor diskutierten oft mit ihm, das heißt die Männer redeten und die Dicke bereitete belegte Brote vor. Damals war es nicht so klar, wie sexistisch ein solches Verhalten gedeutet werden kann, im Rückblick sah es der eifernde Jungspund später deutlich kritischer.

Richters Lieblingsthema war die freie Liebe, für die er sich auch politisch einsetzte, denn in seinen Augen war fast jedes seelische Problem und jede Aggression auf die Unterdrückung der individuellen Sexualität zurückzuführen. Um auch Asmas von diesem Kurs zu überzeugen, übergab er ihm immer wieder selbstgeschriebene Gedichte und Abhandlungen, die Gregor, der von der Wichtigkeit des Themas nicht überzeugt werden konnte, lange Zeit ignorierte.

Wer schrieb damals nicht seine eigene kleine Weltenerklärung auf? Hätte man das alles lesen sollen? Der gute Jens Richter war in jedem Fall politisch aktiv und vernachlässigte sogar sein Studium, nur um überall die Handzettel und Plakate mit seinen politischen Botschaften zu verteilen. So waren eben die Zeiten und jede noch so Idee fand Unterstützer. Auch, wenn Gregor nicht zu diesen gehörte, nötigte ihm der Einsatz für die Sache doch durchaus Respekt ab.

Ein Rivale um die Gunst Brigittes war Richter jedoch zu keinem Zeitpunkt, denn dieser stand, nach eigener Auskunft, auf Frauen, die bereits Kinder hatten. Das galt für die Dicke definitiv nicht, denn diese war selbst noch ein halbes Kind. Daheim weggelaufen, keine Vergangenheit, über die sie reden wollte. Kindisch, sexuell verlangend. Braune Locken, rundes Gesicht, klein und pummelig. Schräge Stimme, kleine Ohren. Einfach da und für den Moment genug. Man traf sich in ihrer Wohnung. Also die ehemalige WG. Sie war doch noch nicht einmal volljährig! Wer zahlte eigentlich die Miete? Vegan-Axel? Egal, völlig uninteressant!

Asmas Eltern bekamen von diesen Aktivitäten wenig mit. Aus deren Sicht war er nur ein, daheim lebender, braver Schüler, der, wie alle jungen Männer es taten, gelegentlich ausging. Sorgen machten sie sich keine. Gregor festigte diesen Eindruck dadurch, dass er seine Haare stets kurzlockig trug und auch in der Klamottenwahl den Vorschlägen seiner Mutter, die jeden Tag im Bad alles bereitlegte, folgte. Wenn man nur wollte, dann konnte man alles zusammenbekommen. Parallele Welten, kein Zusammenstoß. Alles feinsäuberlich getrennt.

Da es in der Schule so halbwegs lief, Vater Josef Nacht für Nacht seinen Hasenstall gegenüber weiteren Terrorakten verteidigte und bei Lichte relativ müde war, hatte Gregor Narrenfreiheit. Selbst wenn er tagelang nicht zu Hause war, gab es keine Kritik. Der blonde Junge konnte leben und nach seiner Fasson selig werden. Seiner Schwester Ida ging es in dieser Hinsicht weniger gut, denn sie war am Ende auf der Sonderschule gelandet und galt fortan als das schwarze Schaf der Familie.

Letztendlich beendete Gregor das Gymnasium mit mittelmäßigen Noten. Lief nebenbei. Mitnahmegeschäft. Irgendwie zumindest. Man hatte Abitur. Als Erster in der Familie. Das zählte und rechtfertigte alles! Aufsteiger! Gewinnertyp! Vater und Mutter Asmas waren unsagbar stolz und selbst Onkel Michael, der inzwischen eine Schauspielkarriere begonnen hatte, schickte eine Glückwunschkarte. Die Welt stand dem Jungen mit den blonden Haaren offen und er wollte sie für sich erobern; auf seine Weise.

Kapitel 5

Gregor schrieb sich für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre ein, verbrachte aber bald mehr Zeit mit Brigitte, die sich inzwischen auch offiziell von Vegan-Axel getrennt hatte, als mit Universitätsbesuchen. Eigentlich noch zu Hause lebend, bemängelte niemand, wenn er als forscher junger Mann bei einer Frau nächtigte. Schließlich lebte man in den 80ern. Derartige Freiheiten galten jedoch nicht für seine kleine Schwester Ida, die auch noch mit 19 Jahren Rechenschaft über jeden Schritt ablegen musste und den großen Bruder in dieser Hinsicht beneidete.

Überhaupt Brigitte! Die gute Frau war knapp, aber heroisch am Hauptschulabschluss gescheitert, lief von zu Hause weg, verkaufte die eigene Ignoranz als Kampf gegen das System und öffnete Gregors Augen für all die Ungerechtigkeiten auf dem Erdenrund. Sie schrie gerne und laut, besaß stets eine Meinung und hielt diese niemals zurück. Außerdem war sie auch für andere Dinge offen, bei denen der Anstand gebietet, sie nicht näher zu beschreiben. Der Mensch vermag eigentümlich zu sein, wenn es um seine Gelüste geht.

Es verstand sich von selbst, dass der junge Asmas fortan das Studium der Wirtschaftswissenschaften völlig bewusst mied, da es, wie es Brigitte ausdrückte, nur ideologisch den Kopf „verkapitalisieren“ sollte. Das wollte Gregor natürlich nicht. Anti-Kapitalismus gehörte zum guten Ton und er war schlicht neugierig auf die andere Seite gewesen, um sie zu verstehen sowie von innenheraus zu zerstören. Wohl eine dumme Idee, oder? Was, wenn ihn das Studium vom wahren Weg abbrachte? Eine derartige Beeinflussung durch irgendwelche, vielleicht alt-braune Professoren, hatte er bereits bei seinem Privatstudium der marxistisch-leninistischen Theorie abgelehnt, aber in erster Linie war er verliebt und nichts tat er lieber, als ihrer Stimme zu lauschen, ihre Lippen zu schmecken und was es eben sonst noch so gab. Es war wieder einer diese Kompromisse. Die Welt drehte sich nur noch um sie beide und besonders Gregor wollte keinen anderen Menschen, die Familie, bei der er stets der liebe, niemals rebellische Sohn war, einmal ausgenommen, mehr sehen und sich ganz auf seine „Dicke“, das „Bodyshaming“, ausgelöst durch eine unbefriedigende Wortwahl, war in diesen Jahren der Natürlichkeit im Übrigen noch kein relevantes Thema, konzentrieren. Dass sie ihn oft an seine körperliche Leistungsfähigkeit brachte, störte ihn ebenso wenig, wie die gelegentlichen Diskussionskreise mit uninteressanten Personen, esoterischen Sitzungen und Brigittes Drogenkonsum. Für die Liebe nahm er es in Kauf, allerdings konnte er den anderen Dingen mittlerweile nichts mehr abgewinnen. Zu banal die Thesen, zu öde die Menschen, aber der Amore wegen ist schon mancher Fisch auf das Trockene gesprungen.

Zu Hause präsentierte er Brigitte nie. Er fürchtete, sie würde keinen guten Eindruck hinterlassen und schlicht dämlich wirken. Einen kurzen Moment fragte sich Gregor, ob das frauenfeindliche Gedanken waren und schämte sich sehr. Denn er war für Gleichberechtigung und zeigte das auch öffentlich auf Demonstrationen. Dann aber stellte er auch unangenehme Fragen: Wieso informierten sie sich nicht? Warum verweigerte sie jegliche Bildung? Nur Oberfläche! Nachplapperer! Das rote Spiegelbild zu den braunen Spießern und Trotteln! Wo war die Tiefe? Nein, nicht das Geschlecht war das Problem, sondern die Umstände! Ach, schwer lastete die eigene Überlegenheit auf Gregors Schultern! Und jenes bereits seit den seligen Abiturzeiten! Er beschoss sie zu erziehen, wenngleich auch jede Theoriestunde nach ungefähr 3 Minuten mit wenig filmreifen Sex endete. Auch gut, oder?

Alles, wirklich jede Kleinigkeit, war wunderbar, bis seine „Dicke“ die eine, die alles entscheidende Frage stellte:

„Gregor? Wie war das in deiner Familie mit den Nazis?“

Ein Schock und tiefer Schmerz setzten ein, denn der junge Mann hatte sich nie sonderlich mit diesem Thema befasst. Selbstverständlich verfügte er über oberflächliches Wissen und natürlich gab es einst die Auseinandersetzung mit seinem früheren Schulkameraden, allerdings war das Thema immer eines gewesen, welches er aus der Ferne betrachtete. Nicht involviert. Erst einmal zurückgestellt. Das es auch eines aus seinem direkten Umfeld sein konnte, war ihm bis zu Brigittes Frage nicht in den Sinn gekommen.

Gleichzeitig schämte er sich fürchterlich, dass er nicht von selbst darauf gekommen war, in dieser Hinsicht die Familiengeschichte zu erforschen. Erinnerungen kamen hoch. Da gab es diese Szene mit den Cowboys und Indianern und schon damals hätte er sich gegen jede Art von Rassismus stellen müssen. Ja, langsam, aber sicher wurde sein Wunsch, die Welt durch eine ökologische und ökonomische Revolution zu erneuern, was in Teilen auch geschafft war, durch die Sehnsucht nach einem allgemeinen, radikalen Humanismus ersetzt. Zumindest für den Moment, denn letztendlich ging es ja auch darum, einen Sinn im Leben zu finden. Hatte er den denn?

Die nächsten Schritte des jungen Mannes waren geprägt von gnadenlosen Recherchen und extremen Enttäuschungen: Die eigene Familie! Die Wahrheit ergründen! Schonungslos und ohne Rücksicht auf Gefühle. Die harmlosen Masken herunterreißen und den Ungeheuern ins Gesicht sehen. Mission, Streben, gegen das Böse kämpfen. Da seine Eltern 1940 und 1942 geboren, des Nazi-Anhängertums unverdächtig waren, überprüfte er seine Großeltern. Mit Entsetzen stellte er fest, dass sein Großvater bereits 1939, offenbar kurz nach der Zeugung des Vaters, als einfacher Straßenarbeiter von einem Panzerfahrer namens Karl Eisen während des Wehrmachts-Panzerfahrunterrichtes überfahren wurde. Zwar versetzte man Eisen und dieser landete am Ende bei den Fallschirmjägern, allerdings musste seine Großmutter ihren Josef fortan allein großziehen. Sie gehörte natürlich nicht der Partei an und geriet, als stramme Katholikin, im Gegenteil, immer wieder mit den Parteimitgliedern in Streit. Kirche war selbstredend auch schlecht, aber nicht übel genug.

Nicht besser sah es bei den Großeltern mütterlicherseits aus. Der Großvater war bereits ein alter Mann und wurde mehrfach wegen seiner monarchistischen Gesinnung und des Tragens eines Wilhelm-Bartes verwarnt, während seine Frau sich weigerte, die Bilder des Kaisers durch die des Führers zu ersetzen. Über etwaige Urgroßeltern oder sonstige Verwandte war nichts in Erfahrung zu bringen.

In der Summe war der junge Mann von seiner Familie gnadenlos enttäuscht, denn offenbar gab es keinen einzigen menschenverachtenden Nazi und er verfluchte sie bitterlich. Es bedurfte vieler Gespräche und viel des Sexes mit Brigitte, bis er seine Bürde schließlich ertrug und als Aufforderung verstand, die Last anderer zu tragen. So beschloss er künftig auch als Mahner und Warner zu dienen.

In jenen Tagen sah er auch den brüllenden Bernd wieder, seinen einstigen Kameraden aus Kindergartentagen. Er befand sich inmitten einer menschenverachtenden, rechtsextremen Demonstration und rief ungeniert radikale Parolen, aber es gelang Asmas einfach nicht, sich dafür die Verantwortung zu geben, so sehr er es auch innerlich versuchte. Zu einem Gespräch kam es nicht. Die Blöcke waren streng getrennt. Dort der Hass, der einst Millionen das Leben kostete und die Welt in Schutt und Asche legte und hier der Gegendruck, der ihr erneutes Aufsteigen verhindern wollte. Und im Fluss des Bösen schwamm leider auch Bernd. Unerreichbar für die Vernunft. In der Masse aus den Augen verloren. Das Rückspiel fiel aus. Gregor hätte ihn deklassiert: da war er sich sicher. Schade, dass es nicht zur Konfrontation kam.

Letztendlich hatte er auch eine andere Hoffnung, denn seine „Dicke“ besaß einen waschechten SS-Mann in der Familie. Zwar hatte sie mit dem eigenen Anhang nichts zu schaffen, aber durch eine mögliche Hochzeit, wäre das doch auch seine Angelegenheit, oder? Dass die alternative Brigitte wenig von Dingen wie einer Vermählung hielt, ignorierte er, so wie er schon manch anderen Widerspruch ignoriert hatte, denn noch schwebte er auf den Schwingen der Liebe.

So verging die Zeit und es gelang ihm temporär, zumindest im Großen und Ganzen, allem gerecht zu werden: Er war der gute Sohn, der glühende Liebhaber und über allem thronte der Kämpfer für die Gerechtigkeit. Doch konnten derart getrennte Leben auf Dauer funktionieren? Oder musste er das jeweils Beste nehmen und in sich vereinen? Überhaupt, wie sollte es weitergehen? Die Vorlesungen besuchte er nicht. Geld erhielt er von seinen Eltern und dem Staat. Für letzteres hatten sie, das heißt alle Aktivisten, gestritten. Deswegen gab es heute Bafög. Was war morgen? Was übermorgen? Doch kämpfte man nicht nur für den Moment und für eine ideale Zukunft? Alles andere waren doch Spießer, oder? Auf der anderen Seite, wieso zog man sich aus dem gerechten Krieg zurück, nur weil man ein wenig Sicherheit wollte? Ist diese Betrachtung nicht sogar scheinheilig? Vegan-Axel, Brigitte oder Jens Richter – sie alle hatten mit ihrem vorherigen Leben gebrochen. Eine Heldentat? Eine bewusste Entscheidung? Oder nur die Unfähigkeit, alles unter einen Hut zu bekommen? Sind radikale Brüche nötig? Hatten diese Kampfgenossen Familie? Vielleicht üble Spießer, alte Nazis, Reaktionäre? Im Einzelfall möglich! Doch betraf ihn das? Fuhr Gregor nicht gerne nach Hause? Er mochte seine Eltern und irgendwie auch seine kleine Schwester Ida. Auch an der Lebensweise fand er nichts Falsches. Ein schönes Häuschen mit Garten. War das nicht viel besser als eine Dusche und eine Toilette, die sich acht Leute, gelegentlich auch gleichzeitig, teilten?

„Dreck ist doch kein Merkmal eines Kämpfers für die Gerechtigkeit!“

Ein Bruch mit der Familie? Undenkbar und vor allem, selbst unter der Prämisse, dass nicht alles Gold war, was glänzte, doch gänzlich unnötig. Eine NS-Vergangenheit fand sich nicht und an der Lebensweise der Eltern war in Asmas Augen wenig Verwerfliches. Er wurde nie geschlagen, nie wirklich unterdrückt und in ihm war daher auch kein Hass. Gut, da gab es die Sache mit der frühkindlichen Prägung auf seine männliche Identität durch den blauen Strampelanzug, doch konnte man das ihnen wirklich vorwerfen? Tief innen glaubte er auch fest daran männlich zu sein und schämte sich dafür auch fast nicht.

Je mehr er darüber nachdachte, desto erstrebenswerter erschien ihm diese vorgelebte Gewöhnlichkeit. So ein Häuschen im Grünen und zwei Kinder? Was war daran verkehrt? Oder musste er es reaktionär finden? Nahm man Frauen die Rechte, wenn man sich mit ihnen Nachwuchs wünschte? Verachtete man sie vielleicht bereits mit dem Gedanken daran? Hatte die Monogamie noch Zukunft? Sollte nicht jeder alle lieben, gleich ob Männlein oder Weiblein? Konnte man nicht auch etwas anderes sein? Freie Liebe? Was war mit der Solidaritätspille für den Mann? Überhaupt, der Wunsch nach Eigentum! War das nicht kapitalistisch und geradezu abgrundtief böse? Es war wieder einer dieser Konflikte, die ihn Gregor tobten und bei dem er sich für einen eigenen Weg entscheiden musste.

Es war kein Punkt, kein Schlüsselerlebnis, aber dafür ein Prozess und er dauerte über ein Jahr, bis er wusste, dass er, im Gegensatz zu seiner „Dicken“, die halb von den Subventionen des faschistischen Staates, der inzwischen die Wohnung bezahlte, und halb von ihrer Schnorrerei bei ihm lebte, bald auf die Unterstützung der Eltern und auf das Bafög verzichten wollte.

Was änderte das auch an seiner Grundeinstellung, stets für eine bessere und gerechtere Welt einzutreten?

Vermutlich dauerte es nur eine Weile, bis er sich, zumindest grob, selbstgefunden hatte, aber zukünftig wollte er auf eigenen Beinen stehen und etwas solider werden. Abbruch des Studiums? Er stand sowieso kurz vor der Exmatrikulation. Eine kaufmännische Lehre? Etwas aufbauen? Warum nicht? Natürlich mit Brigitte; soweit möglich.

Kapitel 6

Gregor war inzwischen 23 Jahre alt, Onkel Michael hatte eine erste Nebenrolle in einem Film erhalten, eine bekannte Mauer in Berlin bröckelte und Ida war von einem Versicherungsvertreter mit dem Namen Harald „Versicherungs-Harry“ Buxler schwanger.

Ja, der potenzielle Schwager; schmieriger Typ, billige Anzüge, die dunklen Haare schön nach hinten gekämmt, grenzdebiles Grinsen und aufdringliches, kumpelhaftes Getue, samt unbeholfener Eleganz. Von Asmas aufgrund seines dünnen Oberlippenbartes gerne „Rhett-Butler-fürArme“ genannt. Das passte ganz gut, denn auf der einen Seite mochte er den dazugehörigen Film, hasste ihn aber gleichzeitig auch, weil dort die Sklaverei verniedlicht und verharmlost wurde. Also machte er es wie immer. Er sah sich derartige Produkte des Kapitalismus an, aber immer mit dem festen Ansatz diese als unbewusste Propaganda zu enttarnen. Ähnlich verhielt es sich mit Buxler. Er konnte ihn kaum ertragen, brauchte ihn aber, ohne, dass ihm das lange bewusst war, als Kontrast zu seiner eigenen Persönlichkeit. Hier das erhabene Licht, dort der Schatten! Sei es darum!