Eine kurze Geschichte der ökonomischen Unvernunft - Bernd Ziesemer - E-Book

Eine kurze Geschichte der ökonomischen Unvernunft E-Book

Bernd Ziesemer

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Beschreibung

Seit Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller hält sich unter deutschen Politikern hartnäckig der Irrglaube, durch eine regulatorische Ordnungspolitik könne man die Wirtschaft erfolgreich steuern. Die Folge sind meterdicke Regelwerke und Gesetze, die oftmals das genaue Gegenteil von dem bewirken, was sie erreichen sollen.

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Ziesemer, Bernd

Eine kurze Geschichte der ökonomischen Unvernunft

Die deutsche Wirtschaftspolitik und das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2007. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40293-2

|5|FÜR CARL

|9|Vorwort

Als Gerhard Schröder 1998 als Bundeskanzler antrat, wollte er »nicht alles anders machen« als sein Vorgänger Helmut Kohl, »aber vieles besser«. Am Ende seiner Regierungszeit stand Deutschland jedoch vor einem wirtschaftlichen Scherbenhaufen – mit der höchsten Arbeitslosenzahl seit dem Kriegsende.

Als Angela Merkel 2005 die Regierungsverantwortung übernahm, wollte sie »vieles anders machen« als Schröder, damit »alles besser wird«. Aber schon bei ihren ersten Reformen produzierte die Große Koalition ein ähnliches gesetzgeberisches Chaos wie ihre rotgrüne Vorgängerin. Man denke nur an die Gesundheitsreform.

Wie kommt es, dass aus vernünftigen Reformversprechen immer wieder schlechte Gesetze werden? Wieso entsteht so häufig aus den schönsten politischen Absichten bürokratischer Murks? Warum produzieren Gesetze in der Praxis das genaue Gegenteil der ursprünglichen Erwartungen? Das sind die Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Längst kann man sie nicht mehr mit dem bloßen Hinweis auf falsche Einzelentscheidungen oder handwerkliche Fehler in der Politik beantworten. Irgendetwas läuft ganz offenkundig systematisch falsch in der deutschen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Die Hauptthese dieses Buches lautet: Deutschland steckt nach vielen halben Reformen und grundsätzlichen Fehlsteuerungen so tief in der Komplexitätsfalle, dass weitere Teilreformen mehr Schaden als Nutzen anrichten. Angela Merkels »Politik der kleinen Schritte« funktioniert deshalb nicht. Immer häufiger schlägt bei weiteren halben Reformen das »Gesetz der unbeabsichtigten |10|Folgen« zu: Die deutsche Politik kann die Auswirkungen ihrer eigenen Entscheidungen immer schwieriger prognostizieren.

Das erste Kapitel dieses Buches zeigt an einem exemplarischen Einzelfall, den Hartz-IV-Reformen, wie sich eine politische Absicht im Laufe ihrer Verwirklichung in ihr genaues Gegenteil verkehrte. Das zweite Kapitel beschreibt anhand vieler Beispiele (etwa aus dem Steuerrecht) und einiger theoretischer Exkurse, wie das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen inzwischen unsere gesamte Wirtschaftspolitik prägt. Das dritte Kapitel liefert einen kurzen historischen Abriss, wie sich der Machbarkeitswahn in der deutschen Wirtschaftspolitik durchsetzte und das ganze Land Schritt für Schritt in eine Reformdauerbaustelle verwandelte. Das vierte Kapitel untersucht einige wesentliche Gründe für die Staatsgläubigkeit in Deutschland, die immer wieder überkomplexe bürokratische Lösungen produziert, statt auf die einfache Selbstregulation des Marktes zu vertrauen. Das fünfte Kapitel analysiert die Folgen eines Sozialstaatsmodells, das mittlerweile autonome wirtschaftliche Entscheidungen unmöglich macht und jede Sachlösung dem Diktat eines allmächtigen Gerechtigkeitsgebots unterwirft. Das sechste Kapitel wirft einen Blick auf das (Nicht-)Verhältnis zwischen politischen Entscheidern und ökonomischen Experten in Deutschland und den unglaublichen Siegeszug der wirtschaftswissenschaftlichen Ignoranz in der Alltagspolitik. Das siebte Kapitel befasst sich selbstkritisch mit dem Versagen der Medien, genau diesen Siegeszug aufzuhalten. Und das achte Kapitel schließlich plädiert für eine Rückbesinnung auf klassische Ordnungspolitik, für die Reduzierung der Komplexität in der Wirtschaftspolitik, mit dem Ziel, Deutschland überhaupt wieder reformfähig zu machen.

Was auf den ersten Blick wie die Kette einzelner Fehlentwicklungen in der deutschen Wirtschaftspolitik seit 1949 erscheint, verdichtet sich bei näherem Hinsehen zu einer einzigen Geschichte der ökonomischen Unvernunft. Sie möchte ich in diesem Buch erzählen. Als Chefredakteur des Handelsblatts beobachte ich seit Jahren immer neue Fehlentscheidungen, die unser Land weiter in die Komplexitätsfalle |11|treiben und damit die Entfesselung unserer Wachstumskräfte verhindern. Durch zahlreiche Kommentare und Essays habe ich in den letzten Jahren gemeinsam mit vielen anderen Publizisten in Deutschland versucht, eine grundsätzliche Debatte über die Fehlentwicklungen in unserem Land in Gang zu setzen. Die Themen, mit denen ich mich in diesen Meinungsbeiträgen für das Handelsblatt, das Wall Street Journal Europe und andere Zeitungen beschäftigt habe, kehren hier in neuer und fundierter Form wieder. Die Wirtschaft selbst zeigte und zeigt sich höchst interessiert an dieser Debatte. Aber auf die Politik springt der Funke nicht über. Warum die Politiker inzwischen gar nicht mehr über ihren Schatten springen können, auch das thematisiert dieses Buch.

Die deutsche Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren erheblich restrukturiert. Die großen exportorientierten Dax-30-Konzerne arbeiten in der Regel »lean and mean«, sie haben also ihre Organisationsstrukturen verschlankt und ihre Geschäftsmodelle einem härteren Wettbewerb angepasst. Die gegenwärtige Übernahmewelle zeigt, dass die deutsche Industrie global erheblich an Kraft gewonnen hat. Allein in den letzten fünf Jahren haben sich einige deutsche Unternehmen durch organisches Wachstum und Zukäufe in neue Weltmarktführer in ihren Branchen verwandelt, man denke zum Beispiel an den Industriegase-Hersteller Linde. Viele Mittelständler segeln im Windschatten der großen Konzerne ebenfalls immer erfolgreicher durch die ganze Welt. Eigentlich sind in der Wirtschaft selbst also alle Voraussetzungen für einen selbsttragenden und langanhaltenden Wirtschaftsaufschwung vorhanden. Die Politik aber fesselt das Land. Und die angeblichen Reformen, die unsere Regierungen unaufhörlich produzieren, tragen nicht zur Lösung der Probleme bei, im Gegenteil: Sie sind ein Teil unseres Problems.

Düsseldorf, im Herbst 2006

|13|Kapitel 1

Hartz IV

oder: wie ein Sparprogramm Mehrkosten in Milliardenhöhe produziert

Am 17. Oktober 2003 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetzespaket, das nach dem Willen seiner Erfinder zur »wichtigsten Reform seit Jahrzehnten« werden sollte. Diese Formulierung benutzte nicht nur der zuständige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, der SPD-Politiker Wolfgang Clement, der kurz zuvor als »Superminister« und großer Hoffnungsträger in die zweite Regierung Gerhard Schröders eingetreten war. Auch für den Bundeskanzler selbst ging es in diesen Herbstwochen nach eigenen Worten um nicht weniger als die »Reformfähigkeit Deutschlands überhaupt«. Die Folgen der geplanten Gesetze würden enorm sein: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung prophezeite apodiktisch, die beschlossenen Maßnahmen führten zu der »größten Kürzung von Sozialleistungen seit 1949«. Mit einem einzigen Befreiungsschlag wollte die rot-grüne Regierungskoalition drei Ziele gleichzeitig erreichen: die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen, den Missbrauch staatlicher Leistungen eindämmen und die Belastung der öffentlichen Haushaltskassen reduzieren.

Das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen

Nicht einmal zwei Jahre später stand fest, dass die Regierung kein einziges ihrer Ziele erreichen konnte. Im Gegenteil: Alles kam ganz anders, als sich (fast) alle gedacht hatten. Die Arbeitsverwaltung stürzte in ein bürokratisches Chaos, Zehntausende verschafften sich durch das neue Gesetz ein staatliches Zusatzeinkommen und |14|die Staatsausgaben explodierten. Ein angebliches Sparprogramm sorgte schon im ersten Jahr seiner Umsetzung für Mehrkosten in Höhe von mindestens elf Milliarden Euro. Am Ende sprach selbst Clements Nachfolger, SPD-Vizekanzler Franz Müntefering, von einer »gefährlichen Haushaltsbelastung«. Und seine Beamten beobachteten fassungslos, »dass so gut wie alles schief gelaufen ist, was schief laufen konnte«.

Schröder und Clement lieferten mit ihrer Gesetzesinitiative ein Musterbeispiel für die wachsende Unfähigkeit der Politik, die Folgen ihres eigenen Handelns einigermaßen realistisch zu prognostizieren und zu kontrollieren. Der Laie fragt sich: Geht es dabei lediglich um Einzelfälle? Geht es um schlampige Gesetze, unvorhersehbare Ereignisse oder die Unfähigkeit einzelner Politiker? Nein, es geht um viel mehr: Die Politik produziert in einer komplexen Gesellschaft systematisch und unaufhörlich andere Ergebnisse als sie möchte. Gesetze verkehren sich in ihrer Umsetzung in ihr direktes Gegenteil, kleine Verwaltungsvorschriften bringen durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ganze Industriezweige an den Rand des Ruins, europäische Direktiven befördern einzelne Unternehmen urplötzlich in eine existenzbedrohende Lage.

Wir erleben jeden Tag aufs Neue das »Gesetz der unbeabsichtigten Folgen«. Was angelsächsische Wissenschaftler zunächst eher als ironische Randbemerkung zur Politik formulierten, entwickelt sich zu einer bitterernsten Angelegenheit für uns alle: Das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen bestimmt den politischen Alltag in Deutschland mittlerweile viel mehr als die meisten von uns ahnen, unsere Medien berichten und unsere Politiker jemals zugeben werden.

Hoffnungsträger Hartz: gute Absichten

Wie das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen funktioniert, kann man an fast keinem Beispiel so schön beleuchten wie an der Kabinettsinitiative vom 17. Oktober 2003, die unter dem Namen Hartz IV viele Monate lang die ganze Republik erregte. Am Anfang stand eine persönliche |15|Entscheidung des Bundeskanzlers: Schröder betraute eine Expertenkommission unter dem Vorsitz von VW-Personalvorstand Peter Hartz mit der Erarbeitung von grundsätzlichen Reformen für den deutschen Arbeitsmarkt. Sein persönlicher Vertrauter aus der Automobilindustrie, ein Mann des Dialogs zwischen Unternehmern und Gewerkschaftern, sollte frische Ideen entwickeln. Ministerialbürokratien und Interessenverbände waren offenbar nicht in der Lage, so Schröders Diagnose, ein gemeinsames Konzept zu erarbeiten. Mit der Unterstützung seines Freundes Hartz wollte der Bundeskanzler doch noch sein leichtfertiges Wahlversprechen einlösen, die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland bis zum Ende seiner Amtszeit um zwei Millionen zu senken. Alle Versuche, die Konjunktur durch staatliche Ausgabenprogramme und Steuerentlastungen zu beleben und dadurch die Beschäftigung anzukurbeln, waren schon vorher gescheitert. Schröder suchte einen neuen archimedischen Punkt für seine Arbeitsmarktpolitik.

Im August 2002 legte die Expertenrunde unter Führung von Hartz eine Fülle von Empfehlungen vor, die Schröder und seine Minister anschließend überarbeiteten und in vier Pakete aufteilten. Mit Hartz I und Hartz III führte die Bundesregierung sogenannte Minijobs (unbürokratische Teilzeitarbeitsverhältnisse) für Geringverdiener sowie Zuschüsse für Arbeitslose ein, die sich als »Ich-AG« mit einer Geschäftsidee selbstständig machen wollten. Außerdem sollten private »Personal-Service-Agenturen« nach holländischem Vorbild flächendeckend ins Geschäft mit Leiharbeit einsteigen. Hartz III brachte vor allem einen Totalumbau der Bundesanstalt für Arbeit mit dem Ziel, die Behörde als neue »Bundesagentur« endlich mit aller Kraft auf ihre eigentliche Aufgabe auszurichten: Arbeitslosen, vor allem Langzeitarbeitslosen, so schnell wie möglich eine neue Stelle zu vermitteln.

Als Schlussstein der gesamten Reformen, die Arbeitslose stärker »fordern und fördern« sollten, war das Hartz-IV-Paket gedacht: Die Regierung legte die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammen, führte neue Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose ein, |16|drohte Jobverweigerern mit Leistungskürzungen und eröffnete sogenannte Job-Center als direkte Anlaufstellen für alle Arbeitslosen. Nach einem heftigen Gezerre mit der CDU/CSU-Opposition und den unionsgeführten Bundesländern, die diesem Gesetz zustimmen mussten, einigten sich Bundesrat und Bundestag in einer turbulenten Nachtsitzung am 14./15. Dezember 2003 im Vermittlungsausschuss auf einen Kompromiss zur Durchführung der geplanten Maßnahmen. Viele Bestimmungen des Gesetzes wurden dabei in letzter Minute noch leicht verändert, Ausnahmeregeln eingeführt und »Experimentierklauseln« für einzelne Bundesländer und Kommunen vereinbart. Nach der entscheidenden Nachtsitzung im Dezember konnten selbst Fachleute in der Regierung nicht mehr ganz eindeutig sagen, was im Detail von Koalition und Opposition eigentlich genau beschlossen worden war. Eindeutig aber schien allen Beobachtern damals, wie das Handelsblatt kommentierte, dass es zu gewaltigen Einsparungen bei den Empfängern des neuen Arbeitslosengeldes II kommen werde: »Geld verlieren werden alle«.

Ohne die Stimmen der Opposition wären die Hartz-IV-Gesetze anschließend bei der Schlussabstimmung im Bundestag gescheitert: Einige der Koalitionsabgeordneten vom linken Flügel der SPD und der Grünen sperrten sich gegen das vermeintlich »größte Republikveränderungspaket seit Jahrzehnten«, wie es die Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel nannte. Schröder verfügte damit im Parlament über keine eigene Mehrheit mehr für seine Arbeitsmarktreformen. Die CDU/CSU-Vorsitzende Angela Merkel sprang ihm jedoch zur Seite, weil sie die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld als Kerngedanken von Hartz IV ausdrücklich unterstützte und seit langem selbst gefordert hatte. Die Opposition half dem Gesetzentwurf Schröders deshalb nach langem Hin und Her über die parlamentarischen Hürden – nicht ohne allerdings an einigen Stellen noch einige weitere Veränderungen anzubringen. Dabei ging es Merkel offenbar weniger um die Sache, sondern um einen möglichen Sprengsatz für die rot-grüne Bundesregierung: Je stärkere Einsparungen im Sozialetat die Union durchsetzte und je härter sie die Zumutbarkeitsregeln |17|für Arbeitslose formulierte, umso heftiger reagierten der linke Flügel der SPD und die Gewerkschaften. Schröder geriet dadurch im eigenen Lager immer stärker in die Defensive und verlor zunehmend den Überblick über den Gesetzgebungsprozess.

Die Reaktionen: Medienschelte und Proteste

Nach der Verabschiedung von Hartz IV bestimmten die SPD-Rebellen schon bald gemeinsam mit der Medienlinken den Tenor der gesamten öffentlichen Diskussion. Mit immer neuen Berichten über einzelne »Ungerechtigkeiten« sprangen die Mainstream-Medien auf den Zug auf. Bild brachte ein Foto kleiner Kinder mit der Zeile »Nimmt uns Hartz IV unsere Sparschweine weg?« Niemand sprach noch über das »Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, wie Schröders PR-Strategen ihre Initiative offiziell überschrieben hatten. »Hartz IV« war quasi über Nacht zum Schimpf und Schreckenswort in Deutschland geworden (und blieb es bis heute). Vergeblich bemühte sich Schröders Regierungssprecher Béla Anda, das »lautmalerisch harte« Wort wieder aus der Diskussion zu bringen.

Die Proteste verstärkten sich von Tag zu Tag. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte in immer schrilleren Tönen vor einem »sozialen Klimawechsel« in Deutschland. Am 1. Dezember 2003 protestierten Tausende erstmals auf einer sogenannten Montagsdemonstration in Berlin gegen den »sozialen Kahlschlag«, der angeblich mit Hartz IV einhergehen werde. Mit tatkräftiger Unterstützung von Gewerkschaftsfunktionären, der PDS und anderen linken Gruppen kam es schon bald darauf zu ähnlichen Aufmärschen in über 80 Städten – vor allem in den neuen Bundesländern, aber auch im Ruhrgebiet. Teilweise nahmen weit über 10000 Menschen an den einzelnen Protestaktionen teil. In den wichtigen Nachrichtensendungen gehörten die Demonstrationen gegen Hartz IV fast jeden Tag zum Standardrepertoire. Die »persönliche Betroffenheit« der Arbeitslosen stand dabei immer im Mittelpunkt. Nur selten hörte man die Argumente |18|der Gegenseite. Und die wenigsten Medien analysierten ausführlich und genau, was wirklich im Gesetzgebungsprozess mit den verschiedenen Hartz-IV-Ideen passierte.

Die beiden christlichen Kirchen, Schriftsteller und Intellektuelle, Jugendverbände und die Anti-Globalisierungsinitiative Attac riefen zum Kampf gegen den angeblichen Neoliberalismus der Regierung Schröder auf. Bild titelte: »Hartz IV – Der Osten brennt«. An der SPD-Basis schlug das vernehmliche Grummeln in offene Aufruhr gegen die Regierungsbeschlüsse um. Zahlreiche Sozialdemokraten gaben ihre Mitgliedsbücher zurück, ganze Ortsvereine traten aus Protest gegen Hartz IV aus der Partei aus. Nur mit seinem Machtwort (und einer verkappten Rücktrittsdrohung) konnte Schröder die SPD noch hinter sich bringen. Die zunehmende Entfremdung zur Parteibasis aber kostete ihm anschließend den Parteivorsitz.

Und nicht nur in der SPD gärte es: Auch die CDU-Sozialausschüsse warnten vor einem »Raubritterzug« gegen Arbeitslose und prophezeiten »menschliche Katastrophen«, wenn die Regierung Hartz IV umsetze. In einigen Regional- und Lokalwahlkämpfen profilierten sich Christdemokraten als eifrigste Kritiker der Schröderschen Reformen, obwohl sie ihnen doch selbst auf Bundesebene zugestimmt hatten. Noch bis ins Frühjahr 2006 hinein gab es an einzelnen Orten in Deutschland regelmäßig Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Wer das ganze Polit- und Medienspektakel aus der Ferne beobachtete und die Prophezeiungen der Linken ernst nahm, konnte nur eine Schlussfolgerung ziehen: In Deutschland bahnte sich offenbar das Ende des klassischen Sozialstaats an, die Regierung trieb angeblich Zehntausende in die Armut. Ein eiskalter Neoliberalismus war nach Meinung der Hartz-IV-Kritiker auf dem Vormarsch.

Die öffentliche Meinung schlägt um

Wie steht es heute um die Wahrnehmung der Hartz-Reform? Selbst die öffentlichen Wohlfahrtsverbände, von Amts wegen zur Sorge |19|um die Armen und Benachteiligten in der Gesellschaft verpflichtet, sehen Hartz IV mittlerweile völlig anders. Im Mai 2006 forderten ausgerechnet sie massive Leistungskürzungen für Hartz-IV-Empfänger, weil sonst über kurz oder lang kein Geld mehr für andere Sozialausgaben in den öffentlichen Kassen zur Verfügung stehe. Diese Reaktion zeigt deutlich: Die Annahmen, die zur Zeit der Verabschiedung der Gesetze die öffentliche Diskussion prägten, haben sich beide als grundfalsch erwiesen. Schröder und die Befürworter von Hartz IV irrten, wenn sie behaupteten, die Reformen würden den Arbeitsmarkt beleben und gleichzeitig die öffentlichen Kassen entlasten. Ebenso wenig lagen die Montagsdemonstranten und Gegner von Hartz IV mit ihrer Prophezeiung richtig, das Programm stürze Millionen in die absolute Armut.

Seit dem Jahreswechsel 2005/2006 beherrschten plötzlich völlig andere Themen die Schlagzeilen: Hartz IV galt nun als »gefährliches Gebräu« (so der SPD-Politiker Thilo Sarrazin), als »zusammengeschustertes Flickwerk« (der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger), als »Murks« (der CDU-Haushaltsexperte Steffen Kampeter), als Ursache von »Chaoszuständen« (DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer) und vor allem als »Milliardengrab«, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Mai 2006 kommentierte. Nach nur einem guten Jahr ihrer Umsetzung galten die Hartz-IV-Reformen unter nahezu allen ernstzunehmenden Sozialexperten und Ökonomen, in den Medien und in der politischen Klasse als grandios gescheitert. Nur der innere Kreis der alten SPD-Führung verteidigte die Reform »an sich« und schob die vorhandenen Probleme lediglich auf die »fehlerhafte Umsetzung« einiger Schlüsselbestimmungen – eine erstaunlich schnelle Wende in der öffentlichen Debatte!

Die Folgen der Umsetzung: Sozialmissbrauch leicht gemacht

Was war zwischendurch eigentlich geschehen? Erst ungläubig, dann bestürzt und schließlich in Panik beobachteten die Sozial- und Finanzpolitiker |20|auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene nach dem Start von Hartz IV, wie ihnen das Programm von Anfang an völlig aus dem Ruder lief. Erst Tausende, dann Zehntausende und schließlich mehr als eine Million Menschen, mit denen niemand gerechnet hatte, stellten 2005 Anträge auf das sogenannte Arbeitslosengeld II. Zunächst waren es vor allem Jugendliche, die zu Hause bei den Eltern auszogen, eigene »Bedarfsgemeinschaften« gründeten, Hartz-IV-Anträge ausfüllten und teures Wohngeld für eine eigene Unterkunft beantragten. Als nächstes tauchten nach und nach immer mehr Paare bei den Sachbearbeitern vor Ort auf, um getrennte Wohnstätten anzumelden und sich damit einen doppelten Leistungsanspruch zu verschaffen. Dann sprachen Niedrigverdiener bei den Job-Centern vor, um ihre Ansprüche auf das im Gesetz vorgesehene »ergänzende« Arbeitslosengeld II anzumelden und so ihren bisherigen Verdienst aus normaler Arbeit aufzubessern. Und schließlich zog es Heerscharen von Kleingewerbetreibenden und Selbstständigen in die Ämter, die sich über Hartz IV eine kostenlose Kranken- und Rentenversicherung besorgen und ihren Verdienst aufstocken konnten. Vor allem in Ostdeutschland sprachen sich die neuen Möglichkeiten schnell herum, auf leichte Weise an »Staatsknete« zu kommen. Und aus einem stetigen Rinnsal wurde »die große Flut«, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Mai 2006 titelte.

Theorie und Praxis: was Hartz IV möglich macht

Eigentlich wollten Schröder und Clement die Leistungen für Langzeitarbeitslose auf das absolute kulturelle Existenzminimum in Deutschland zurückführen, sie also auf »Sozialhilfe-Niveau bringen« (Schröder). Gerade daraus sollten sich massive Einsparungen im Verhältnis zur bisherigen, vom vorherigen Einkommen abhängigen Arbeitslosenhilfe ergeben. In der Praxis passierte jedoch das Gegenteil: Nach dem Dauerbeschuss der linken Öffentlichkeit knickte die Bundesregierung Schritt für Schritt ein und brachte das |21|neue Arbeitslosengeld II auf eine Höhe, die von seinen Erfindern niemals vorgesehen gewesen war. Höhere Freibeträge für Vermögenswerte, Ansprüche auf bis zu zwei Autos in der Familie, größere und besser ausgestattete Wohnungen als bisher bei Sozialhilfeempfängern üblich, besondere Zuschläge für Familienväter, deren Arbeitslosengeld gerade ausgelaufen war – am Schluss war aus einer Mindestsicherung erneut eine auskömmliche Gesamtversorgung für Langzeitarbeitslose geworden.

Sie musste vielen Deutschen durchaus attraktiver als viele normale Arbeitsplätze erscheinen. Donata Riedel sprach im Handelsblatt daher nun sehr zutreffend von der »größten Sozialhilfeerhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik«. Statt die Einkommen relativ weniger, früher gut bezahlter Langzeitarbeitsloser zu verringern, erhöhte die Bundesregierung faktisch das Transfereinkommen von Millionen. Hartz IV funktionierte als großer Gleichmacher für alle Arbeitslosen und Sozialfälle in der Gesellschaft, verschob aber gleichzeitig das allgemeine Niveau nach oben und führte neue Schichten in die Abhängigkeit von Transfereinkommen. Das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen war also in Reinkultur zu beobachten.

Noch wichtiger aber war: Der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, minimierte sich in diesem System ökonomisch gesehen stark. Eine normale dreiköpfige Familie bezog nun ohne Arbeit ein staatliches Nettoeinkommen von mindestens 1400 bis 1500 Euro. Dies entsprach einem Arbeitnehmereinkommen von brutto 1700 Euro, also einem umgerechneten Stundenlohn von 12 Euro. Für viele Handwerker und Dienstleistungsberufe, vor allem in den neuen Bundesländern und in anderen strukturschwachen und ländlichen Gebieten, ließ sich ein solcher Lohn in der Privatwirtschaft nicht realisieren. Hartz IV förderte also auf dem Arbeitsmarkt vor allem eins: die Überlegung vieler Betroffener, lieber ohne offizielle Arbeit mit Steuerkarte ein staatliches Transfereinkommen anzustreben. Ökonomisch gesehen hatten die Hartz-IV-Erfinder also die Beschäftigungsschwelle auf dem Arbeitsmarkt erhöht und nicht gesenkt, wie sie ursprünglich eigentlich wollten.

|22|Als der Gesetzgeber dieses Dilemma im weiteren Verlauf zumindest theoretisch erkannte, reagierte er paradoxerweise mit einer weiteren Ausdehnung der Leistungsberechtigten: Geringverdiener sollten viel mehr Möglichkeiten erhalten, ihre Löhne durch zusätzliche Hartz-IV-Gelder »aufzustocken«, als im bisherigen Sozialrecht vorgesehen war. Und weil es ja wieder einmal um Gerechtigkeit gegen jedermann in Deutschland ging, rutschen in die Formulierungsvorschläge der Ministerialbürokraten immer neue potenzielle Empfänger: junge Menschen ohne Lehrstellen, Akademiker nach dem Studium, Existenzgründer mit zu geringen Umsätzen. Selbst die Insassen geschlossener psychiatrischer Kliniken kamen in nicht wenigen Fällen in den Genuss von Hartz IV. Der SPD-Politiker Sarrazin räumte im Nachhinein ein, den Autoren des Gesetzes sei überhaupt nicht klar gewesen, wie viele Menschen potenziell Anspruch auf derartige Hartz-IV-Leistungen erheben könnten: »Die Reform hat den Menschen vor Augen geführt, dass sie Ansprüche haben, von denen sie vorher überhaupt nichts wussten. Wir stehen am Anfang einer Ausgabenexplosion, die noch immer unterschätzt wird«, sagte der Berliner Finanzsenator in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

Vor allem die Zahl der sogenannten Aufstocker, die zusätzlich zu ihrem Lohn aus privater Arbeit Leistungen nach Hartz IV empfangen können, schnellte in atemberaubendem Tempo in die Höhe. Das Bundesarbeitsministerium hatte ursprünglich 200000 neue Empfänger prognostiziert. Doch nach gut einem Jahr zählten die Behörden bundesweit bereits eine Million. Auch die Ausgaben vervielfachten sich damit in kürzester Zeit. In manchen Landstrichen und Branchen entwickelte sich aus Hartz IV ein fast flächendeckendes System von staatlichen Lohnsubventionen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund konstatierte sogar, Hartz IV verwandele sich in eine staatliche Grundsicherung für immer größere Teile der erwerbstätigen Bevölkerung. Das galt allerdings nur für diejenigen, die schlau oder skrupellos genug waren, sich auch selbst um die Lohn- und Gehaltssubventionen zu kümmern. In der |23|Bundeshauptstadt lebte Anfang 2006 schon jeder sechste Bürger vollständig oder teilweise von Hartz IV. Links- und rechtsextremistische Parteien entdeckten die »Hartz-IV-Beratung« in Ostdeutschland als neues Betätigungsfeld. Ausgebildete Anwälte helfen den Betroffenen im Auftrag von PDS und NPD in »Bürgersprechstunden«, Gesetzesbestimmungen und Gesetzeslücken maximal auszubeuten. Demonstrationen gegen solche Praktiken und den Missbrauch von Hartz IV gab es jedoch nicht. Nirgendwo in Deutschland.

Immer mehr Menschen in Deutschland weichen seit dem Beginn der Schröderschen Reformen auf unterschiedliche Kombilöhne aus: Sie kombinieren Hartz-IV-Zahlungen entweder mit einem unbürokratischen Minijob, mit den sogenannten Ein-Euro-Jobs (die oftmals jedoch viel mehr als den berühmten Euro Stundenlohn bringen), mit offener oder verdeckter Schwarzarbeit, mit selbstständiger Tätigkeit oder mit staatlichen Transferleistungen aus anderen Töpfen. Wer am geschicktesten mit verschiedenen Kombinationen operiert, erzielt mit wenig oder ganz ohne Arbeit deutliche höhere Einkommen als viele hart arbeitende Beschäftigte auf dem freien Markt. Aus den berüchtigten Sozialhilfekarrieren, die Schröder mit seinen Gesetzen beenden wollte, werden Hartz-IV-Laufbahnen. Die Sozialbeamten in den Kommunen, die diese Entwicklung kommen sahen, konnten über die Praxisferne der neuen Regelungen nur den Kopf schütteln.

Während die Zahl der staatlichen Antragsteller also immer mehr steigt, scheitern gleichzeitig alle Versuche, Langzeitarbeitslose wieder teilweise oder ganz in den normalen Arbeitsmarkt einzugliedern. Die berühmten niedersächsischen Bauern, die nur polnische Arbeitskräfte für einen Stundenlohn von 10 Euro zum Spargelstechen bekommen, stellen keinen Einzelfall dar. Ganze Branchen wie die Gebäudereiniger oder die Pflegedienste finden keine deutschen Vollerwerbskräfte mehr. Mit Hartz IV und diversen Kombinationsmöglichkeiten im Rücken lohnt sich normale Arbeit für viele Millionen in diesem Land objektiv nicht mehr. Das also ist das Ergebnis |24|einer Reform, deren erklärtes Ziel es war, die Zahl der Vollerwerbstätigen in diesem Lande zu erhöhen. Nur mit mehr Vollerwerbstätigen, die auch Beiträge in die Sozialkassen zahlen, lassen sich die Probleme der Rentenversicherung und des Gesundheitssystems lösen.

Die Kosten explodieren

Aber nicht die offensichtlichen marktwirtschaftlichen Fehlsteuerungen durch Hartz IV führten schließlich zu einer Wende in der politischen Diskussion. Die Politiker schlugen erst Alarm, als sich die unbeabsichtigten Folgen der Reformen für die Staatskasse nicht mehr übersehen ließen: Die Kostenexplosion durch die Reformen könnte langfristig die gesamte Struktur des Bundeshaushalts gefährden. 2005 lagen allein die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II bei 25 Milliarden Euro, elf Milliarden Euro mehr als ursprünglich angesetzt. Für 2006 zeichneten sich schon im Frühjahr weitere Mehrausgaben von drei bis vier Milliarden Euro ab. Alle Mehreinnahmen des Bundesfinanzministeriums, die durch eine relativ gute Konjunkturentwicklung 2005/2006 in die Kassen gespült wurden, gingen durch die Mehrkosten der verschiedenen Hartz-Reformen wieder verloren. Hinzu kamen erhebliche ungeplante Mehrkosten in den Kommunen.

Aber nicht nur die absoluten Zahlen, sondern vor allem die geschilderte Ausgabendynamik bereiteten den Haushaltspolitikern immer neue Kopfschmerzen. Erfahrene Sozialpolitiker fühlten sich bereits an das Beispiel der Pflegeversicherung erinnert, die angesichts einer zunehmen Zahl von alten und pflegebedürftigen Menschen zur demografischen Zeitbombe geworden ist. Ähnlich bei Hartz IV: Im April 2006 lag die Zahl der sogenannten Bedarfsgemeinschaften schon bei vier Millionen,600000 mehr als bei der Umstellung auf Hartz IV erwartet. Tendenz: weiter steigend. Ein Ende der Antragsflut schien den Experten noch im Mai 2006 nicht absehbar, Abhilfe für die fiskalischen Probleme von Hartz IV war daher |25|dringend geboten. Anderthalb Jahre nach dem Start der Reformen bestand zumindest darin Einigkeit unter allen staatstragenden Parteien, dass sich die Probleme mit Hartz IV nicht von selbst lösen würden.

Vertane Chance: die Reaktion der Großen Koalition

Die neue schwarz-rote Bundesregierung reagierte auf das Gesetz, das so offensichtlich gescheitert war, wie Bundesregierungen in solchen Fällen immer reagieren: Sie verabschiedete ein Gesetz zur Verbesserung des bestehenden Gesetzes. Die Option, Hartz IV einfach abzuschaffen und den früheren Zustand wiederherzustellen, schied von vornherein aus. Es gibt so gut wie kein Beispiel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland für die einfache Rücknahme einer einmal beschlossenen, aber gescheiterten Reform. Viele Gesetze wurden nach und nach zwar so verändert, dass von ihrem ursprünglichen Gehalt kaum noch etwas übrig blieb. Doch als bürokratische Zombies existieren sie weiter. Sie erhöhen so die Komplexität der gesamten öffentlichen Verwaltung – und produzieren im Zweifel immer mal wieder in Kombination mit neuen Gesetzen ganz unerwartete Folgen.

Hartz IV bildet auch hier keine Ausnahme. Mit einem neuen »Fortentwicklungsgesetz« schlug die Große Koalition im Mai 2006 nicht weniger als 53 Änderungen am ursprünglichen Gesetz vor – mit dem erklärten Hauptziel, die Kosten für das Arbeitslosengeld II zu senken und den Bundeshaushalt um mindestens 1,2 Milliarden Euro zu entlasten. Vor der eigentlichen Ausgabendynamik kapitulierten die Politiker. Es ging bei den Reparaturarbeiten nicht darum, die grundsätzlichen Fehlsteuerungen von Hartz IV zu beseitigen. Man wollte lediglich die schlimmsten Auswüchse abschaffen. Auch dies ist bei bürokratischen Fehlentwicklungen in Deutschland leider die Regel.

Der neue Gesetzentwurf versammelte immerhin viele hehre Ziele: Die Ämter sollten nun strenger kontrollieren, Daten mit anderen |26|Behörden abgleichen und schärfere Sanktionen gegen Missbrauch verhängen. Kinder gelten künftig beispielsweise als Zeichen dafür, dass Menschen tatsächlich in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben und deshalb gemeinsam für Hartz IV zu veranlagen sind. In einigen Fällen wurde die Beweislast umgekehrt: Antragsteller müssen nun selbst nachweisen, dass sie eine eigene Bedarfsgemeinschaft bilden und nicht von den Eltern oder Partnern versorgt werden. Jugendliche dürfen erst ab einem bestimmten Mindestalter auf Staatskosten von zu Hause ausziehen.

Einige kleinere Schlupflöcher wollte der Staat mit dem »Verbesserungsgesetz« also schließen, am grundsätzlichen Leistungskatalog aber änderte sich nicht viel. Eine Absenkung der allgemeinen Leistungsansprüche lehnte die Große Koalition ab, obwohl sich die Reform nur so zu ihrem ursprünglichen Zweck zurückführen ließe: die Menschen zur Annahme eines Jobs zu bringen. Stattdessen stiegen die Detailregelungen für Hartz-IV-Empfänger weiter an. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, Umzüge ins Frauenhaus, Richtlinien für Hartz-IV-Empfänger in der Reha-Klinik: Der Staat regelte im Mai 2006 mit der gleichen bürokratischen Detaillust zurück, was er zwei Jahre vorher erst genauso bürokratisch und detailverliebt eingeführt hatte.

Könnte das neue Verbesserungsgesetz deshalb möglicherweise künftig selbst völlig unbeabsichtigte Folgen bewirken wie zuvor Hartz IV selbst? Das ist nicht nur möglich, sondern mehr als wahrscheinlich. Je größer die Fülle der Einzelregelungen, umso höher die Wahrscheinlichkeit neuer Ungereimtheiten. Gleichzeitig wächst mit jeder weiteren Detailregelung die Notwendigkeit der Kontrolle. Am Schluss entstehen dadurch neue unerwartete Folgen – zum Beispiel durch eine Kostenexplosion im Vollzugsapparat. Die wahren Gründe des Scheiterns von Hartz IV sind bisher nur ansatzweise von Wissenschaftlern untersucht oder gar von Politikern diskutiert worden. Wer ein bürokratisches Monstrum mit 53 weiteren bürokratischen Änderungen »verbessert«, zeigt recht deutlich, dass er nichts aus dem bisherigen Debakel lernen will.

|27|Versuch einer Analyse: Wo lagen die Fehler?

Es spricht für die geistige Verflachung in der tagespolitischen Auseinandersetzung, dass selbst nach einem solchen Desaster wie Hartz IV niemand in Deutschland die Kraft findet, ganz grundsätzliche Fragen zu stellen: War der Versuch einer derartigen »Großreform« mit all ihrem Social Engineering möglicherweise von vorneherein zum Scheitern verurteilt? Wieso konnten sich die Politiker und Experten mit ihren Prognosen so irren? Überschätzen wir möglicherweise die Steuerungsmöglichkeiten der Politik in einer immer komplexeren Gesellschaft? Und müssen wir uns nicht vielleicht zu einem völlig anderen Verständnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik durchringen, wenn wir immer neue Fehlschläge wie Hartz IV künftig verhindern wollen?

Bei Hartz IV überlappten sich einige grundsätzliche und viele handwerkliche Fehler der Politik. Wie so oft in Deutschland stand am Anfang eines langwierigen politischen Prozesses eine eigentlich vernünftige Idee: die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Wäre diese Idee eins zu eins umgesetzt worden, wären aller Wahrscheinlichkeit nach fast alle positiven Wirkungen eingetreten, die sich ihre Erfinder ursprünglich erhofft hatten – allerdings um einen hohen politischen Preis. Viele Arbeitslose wären direkt aus einer auskömmlichen Versorgung (der am früheren Einkommen orientierten Arbeitslosenhilfe) in eine existenzielle Mindestsicherung gefallen. Gerade für frühere Angestellte, hochspezialisierte Facharbeiter, Industriemeister oder Akademiker wäre das ein sehr harter Bruch. Menschen aus diesen Mittelschichten konnten sich bisher eine ganze Weile in der Arbeitslosigkeit einrichten, ohne ihren privaten Lebensstil grundlegend zu ändern. Arbeitslos zu sein, ohne dass die Nachbarn etwas merken – das war in Deutschland lange Zeit durchaus machbar. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hätte das mit einem Schlag unmöglich gemacht – mit allen materiellen und psychologischen Folgen.

Alle Arbeitsmarktforschungen zeigen aber, dass gerade ein solcher |28|Schock sinnvoll wäre: Je höher der Druck auf Arbeitslose ist, umso stärker sinkt das, was die Ökonomen den »Anspruchslohn« nennen. Menschen kommen schneller in Arbeit, weil sie eher bereit sind, auch berufsfremde und schlechtere Jobs anzunehmen. Und wer schnell wieder eine Anstellung findet, kann später auf einen besseren Job hoffen. Umgekehrt gilt: Wer zu lange auf den »richtigen« Job wartet, weil er die Wartezeit mit hohen staatlichen Leistungen gut überbrücken kann, findet aller Wahrscheinlichkeit nach gar keinen Job mehr. Bereits nach einem Jahr Arbeitslosigkeit gelten Menschen als äußerst schwer vermittelbar. Ökonomisch gibt es an dieser Logik wenig zu zweifeln. Politisch erwies sich ein harter Schnitt aber bei Hartz IV von Anfang an als nicht durchsetzbar. Die Arbeitslosen aus der unteren Mittelschicht, die von dieser Maßnahme am stärksten betroffenen gewesen wären, gehören zum Kernwählerpotenzial der SPD. Und zum Teil wählen sie, gerade auf dem flachen Lande und in den neuen Bundesländern, auch CDU. Kein Anreiz also für die beiden großen Volksparteien, scharfe Einschnitte durchzusetzen.