Eine Melange für den Schah - Sabina Naber - E-Book

Eine Melange für den Schah E-Book

Sabina Naber

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Beschreibung

Wien, Februar 1965. Die Stadt fiebert der Ankunft des persischen Schahs entgegen, doch Chefermittler Wilhelm Fodor beschäftigt eine Mordserie an Mitgliedern einer linken Studentengruppierung. Eskaliert hier ein Streit mit nationalsozialistischen Kommilitonen? Als Fodor in einem Drohbrief nahegelegt wird, die Nachforschungen einzustellen, greift er zu unkonventionellen Ermittlungsmethoden – und gerät dabei selbst zwischen die Räder der internationalen Politik.

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: istockphoto.com/TheresaTibbetts; Nina Schäfer

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Carlos Westerkamp

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-452-0

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR.

DIENSTAG

1

Orange. Die Farbe leuchtete derart überraschend zwischen dem Grau von Wintermänteln, Himmel, Häusern und Asphalt, dass Wilhelm Fodor, noch im Halbschlaf auf dem Weg in die Sicherheitswache, die Augen zusammenkniff. Und sie leuchtete ungestört, weil die auf die Straßenbahn Wartenden Abstand hielten und eine Art Halbkreis um die Frau gebildet hatten. Also um die Frau und ihren Begleiter, bei dem sie sich untergehakt hatte – eine Gepflogenheit, die bei diesem Pärchen seltsam verspielt wirkte. Der Mann war zwar ebenso unkonventionell gekleidet, doch seine in Kobaltblau schillernden Hosen und der haselnussfarbene Lammfellmantel waren im Vergleich zur Kleidung der Frau opernballwürdig.

Die Bim bremste sich bei der Station ein, und der Wagen, in dem Wilhelm saß, blieb genau neben dem Pärchen stehen. Er merkte, dass er sich aufrecht hinsetzte, und ärgerte sich über seine Neugier. Trotzdem konnte er seinen Blick, der sich an der Tür festsaugte, nicht beherrschen. Natürlich wusste er dank Elisabeth, was in der großen weiten Welt en vogue war, weil ihm seine Halbschwester immer die neuesten Gazetten und Modezeitschriften in die Wohnung schleppte, aber Wien war nicht London oder New York. Nicht einmal Graz. Und bislang hatte er so ein kurzes Kleid nur einmal in Wirklichkeit gesehen, also so richtig in Wirklichkeit, nicht bloß in der Wochenschau oder in einem Film – als er nach einer Einvernahme am Gaußplatz nach Hause geschlendert und in der Perinetgasse an so einer seltsamen Ansammlung von Menschen vor einem Kellereingang vorbeigekommen war. Ungepflegte Schnurrbärte, etwas zu legere Kleidung, viel zu lautes Geschnatter und zwei Frauen, deren weiße Röcke weit oberhalb des Knies geendet hatten. Aktivisten seien das, hatte ihn sein Nachbar, der Navratil, damals aufgeklärt. Er habe sich geweigert, über diese Rotzbuben einen Artikel zu verfassen.

Aktionisten hatte er gemeint, wie Wilhelm später bei der Zeitungslektüre erkannte. Eine Art Künstler, die mit Blut und anderen Scheußlichkeiten arbeiteten – oder, laut Navratil, Irrenhauskandidaten, denen einmal Respekt beigebracht gehörte, vor allem den schamlosen Weibern, die es mit ihren kurzen Röcken ja nur darauf anlegten, dass man sie wie Luder behandelte.

Wilhelm seufzte, legte seine Handschuhe Finger auf Finger. Wenn solche Leute seinen Nachbarn derart auf die Palme brachten, sollte er sich wohl einmal mit ihnen beschäftigen. Alles war gut, was dieser alte Faschist verteufelte. Überhaupt sollte er sich mehr in der Welt jenseits seiner Tatorte umsehen, in Ausstellungen, zu Konzerten und ins Theater gehen, aber allein war das eine zu langweilige Angelegenheit, und Elisabeth, die einzige Frau, mit der er fortgehen konnte, ohne dass daraus gleich ein Rendezvous würde … ja, sie war ein eigenes Kapitel.

Er seufzte erneut und ließ seinen Blick zu dem Paar schweifen, das beim vordersten Einstieg flüsternd, aber heftig gestikulierend diskutierte. Dieser Mantel! Im Vergleich zu ihm gingen jene weißen Röcke vor dem Keller als Nonnengewand durch. Er bestand zwar aus wilden Strähnen, wirkte wie das Fell eines ungeschorenen Schafs und verhinderte so jeden Blick auf die Figur darunter, lenkte ihn aber, dank seiner Kürze, zwingend auf die Beine der, nun ja, Dame. Und die waren schlank und straff, umhüllt von dunkelorangefarbenen Strümpfen. Nein, wohl Strumpfhosen. Zudem steckten sie in langen orangegelben Stiefeln. Wie bei einer Professionellen von der Kärntner Straße. Die beiden waren sicherlich keine Wiener, obwohl Touristen um diese Uhrzeit selten unterwegs waren. Aber vielleicht wollten sie einen Blick auf den Schah erhaschen, der heute, Dienstag, am Nachmittag in Schwechat landen sollte, und waren deswegen so zeitig aufgestanden.

Sie kämpften sich in den hinteren Teil des Wagens durch, erstanden beim Schaffner zwei Fahrkarten und setzten sich zwei Reihen vor Wilhelm nieder. Erneut blieb der Raum um sie herum frei, als wären sie ansteckend. Und wieder einmal fühlte sich Wilhelm hin- und hergerissen. Der Stil der Frau war, nun ja, gewöhnungsbedürftig. Zugleich war er aber auch interessant. Eine Wohltat in diesem Grau, das überall herrschte, wohin er auch blickte. Gut, es war gerade Winter, Mitte Februar, aber nicht einmal im Frühling schienen die jungen Blätter an den Reben hinauf zum Wienerwald zu leuchten. Und es musste auch einmal Schluss sein mit diesem … diesem … Wilhelm suchte wie so oft nach dem richtigen Wort. Er hatte es noch immer nicht gefunden. Also sprach er nie darüber, diskutierte mit niemandem, wenn beim Bauernschnapsen das Geplauder auf gesellschaftliche Veränderungen kam. Außer mit Elisabeth, denn mit ihr kommunizierte er ohne Worte.

Wilhelm betrachtete die anderen Fahrgäste. Am unverhohlensten musterte ein älterer Herr in grauem Lodenmantel das Pärchen. Er strich sich immer wieder über den Spitzbart und murmelte irgendetwas in denselben hinein. Wilhelm war sich sicher, dass die Floskel »Verfall der Sitten« dabei den Hauptanteil hatte. Denn der Mann war derselbe Typ Mensch wie sein Vorgesetzter: gesetzt, grau, aus einer anderen Zeit, ein Mann ohne Eigenschaften. Und der gute Franz Wiesinger hatte erst letzten Freitag diese Redewendung bis zum Erbrechen bemüht, nachdem seine Großnichte bei einer Familienfeier in einer eng anliegenden Hose erschienen war – ebenfalls so eine Mode aus England. Das ganze Sicherheitsbüro wusste jede Einzelheit von diesem Geburtstagsessen im Intercont. Das neue, großartige Hotel am Heumarkt. Eine Vision der Zukunft.

Wilhelm war seit seiner Eröffnung letztes Jahr sicher an die siebzig Mal daran vorbeigekommen, lag es doch unweit seines Büros. Und er fand es nach wie vor spannend und hässlich zugleich. So aalglatt. Aber auch so unangestrengt. Auf jeden Fall hatte Wiesinger nicht mitbekommen, dass er sich durch dieses Detail wieder einmal verraten hatte. Er, der immer so tat, als wäre die Monarchie die letzte legitime Zeit gewesen, hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich so schnell wie möglich an einem der umstrittensten Plätze der Stadt sehen zu lassen – und das nur, weil es eine amerikanische Angelegenheit war. Erbärmlich, wie er sich den Amis andiente, nur damit niemand fragte, was er im Krieg getan hatte.

Wilhelm entschlüpfte schon wieder ein Seufzer.

»Ja, ausgschamt. Alle. Diese jungen Dinger.« Die Dame neben ihm strich mehrmals mit einer energischen Handbewegung über ihre beige Handtasche. Dann nickte sie ihm zu.

»Ich finde die junge Dame sehr attraktiv.« Wilhelm registrierte, dass sein Ton etwas scharf ausgefallen war, doch er bereute seine Entgegnung nicht. Die Alte war ja nur neidisch. Wie so viele.

Sie schenkte ihm einen ausführlichen Blick. Abschließend zog sie die Augenbraue hoch. »Ja, ja, die Männer. Sind immer …« Sie seufzte.

»Was, gnädige Frau?«

»Leicht zu beeindrucken. A Paar grade Haxn, ohne Genierer präsentiert, und schon ist alles tulli.«

»Na, dann wissen Sie ja, was Sie tun müssen. Sie gestatten?« Wilhelm wurstelte sich an den Knien der Alten vorbei zum Ausgang.

»Also … also …«, tönte es hinter seinem Rücken. »So a Frechheit!«, hörte er, als sich die Straßenbahn quietschend einbremste.

Die Tür öffnete sich viel zu langsam. Er riss an ihr, stolperte hinunter auf die Straße. Luft. Viel mehr Luft. Er nestelte den Schal locker, löste ein klein wenig den Knoten seiner Krawatte. Atmete durch. Sah sich um. Er war eine Station zu früh ausgestiegen. Oder auch nicht. Wie man es eben betrachtete. Üblicherweise fuhr er bis zum Lueger-Platz und ging dann zurück zum Parkring Nummer sechs. Jetzt musste er eben vorwärts.

Wilhelm schaute auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten vor halb acht. Er war gut in der Zeit. Direkt neben ihm befand sich einer der Eingänge in den Stadtpark. Er könnte noch eine Runde drehen, bevor ihn die Mühlen des Alltags in Anspruch nahmen, die schon zu lange einen Höhepunkt, sprich einen interessanten Fall vermissen ließen. Ja, eine schnelle Runde, den Hut vor dem Schani lüften und dabei an Elisabeth denken, mit der er schon immens lange keinen Walzer mehr getanzt hatte.

Er marschierte los. Grau. Auch im Park war alles grau. Zum Verzweifeln. Und natürlich war auch das Standbild des Walzerkönigs grau. Irgendwer müsste sich endlich erbarmen und dem guten Strauß wieder sein goldenes Gewand spendieren, ohne das der jetzt schon über dreißig Jahre dahinvegetierte, wie er vom alten Navratil erfahren hatte. Was musste der Meister in seinem einst glänzenden Frack für eine Pracht gewesen sein. Und er würde auch jetzt der Umgebung ein bisschen mehr Grandezza verleihen. Aber entweder hatten die Leute kein Geld oder kein Interesse daran, einem über hundert Jahre alten Meister die Ehre zu erweisen.

Ein Triller durchbrach seine Gedanken. Wilhelms Blick folgte dem Geräusch. Und drüben bei den Pappeln am Teich sah er eine Menschenansammlung, in der sich verdächtig viele Gestalten mit ihm sattsam bekannten Kappen befanden. Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Es könnte in Erfüllung gehen. Wilhelm verbot der Stimme seiner Mutter den Mund. Bislang hatte sie nur in seinem Privatleben genervt, bei seiner Arbeit musste sie wirklich nicht auch noch auftauchen.

2

»So a fescher Bub. Schad drum. So rank und schlank. A richtig fescher Volksgenosse.« Das war das Erste, was Wilhelm hörte. Es kam von einer rundlichen Frau weit jenseits ihrer besten Jahre, die die Lederriemen ihrer Einkaufstasche fest umklammert hielt.

Das Zweite war: »Ja, der gfallat mir. Ein bissel jung vielleicht. Aber ich, ich hätt aufpasst auf ihn.« Eine Mittzwanzigerin mit aufgesteckten Haaren, die jedoch leider bei Weitem nicht so elegant wie bei Audrey Hepburn wirkten. Hoffentlich wärmten sie die Trägerin wenigstens anstelle des nicht vorhandenen Huts.

Wilhelm drängte sich an der verhinderten Leibwächterin vorbei und zückte vor dem neben ihr stehenden Streifenpolizisten seine Kokarde. »Chefinspektor Fodor.«

Der Kollege neigte den Kopf und ließ ihn durch das Absperrungsband schlüpfen. Wenigstens hatte er nicht salutiert. Seit diesem Bombenangriff in jenen letzten Tagen konnte Wilhelm die Geste nicht mehr sehen, ohne einen Magenkrampf zu bekommen. Im Grunde eine untragbare Empfindlichkeit bei seinem Beruf.

Mitten im spurensichernden Geschehen, von Reiser, dem Chef der Abteilung, mit halblauten Kommandos dirigiert, machte Wilhelm Lukaschek aus. Sein zweiter Assistent, den Notizblock wie immer auf seinem kugeligen Bauch abstützend, diskutierte mit Waller, der bereits die zugeklappte Ärztetasche in der Hand trug. Die Sache war offensichtlich glücklicherweise an seine Truppe gegangen, aber inzwischen gegessen und er, Wilhelm Fodor, nicht dabei gewesen. Das konnte doch nicht sein. Er stellte sich neben sie. Sie bemerkten ihn nicht. Er räusperte sich.

Lukaschek fuhr herum. Riss die Augen auf. »Fodor!« Er wedelte mit dem Arm Richtung Ring. »Der Fischer, der wartet vor dem Büro auf dich. Damit er dich gleich herholen kann.«

»Jetzt bin i ja da.«

»Ja.«

Sie sahen einander an. Eine kleine Ewigkeit.

»Lukki?«

»’tschuldige. Ich hab mich nur gefragt …«

»Was?«

»Nix.« Lukaschek schüttelte den Kopf und wandte sich dem weißen Leintuch zu, das zwischen den Stämmen der Pappeln einen Körper verbarg. Der süßlich-herbe Geruch seines Rasierwassers mischte sich aufreizend mit jenem nach Eisen und Urin, der von der Leiche ausging. »Laut Pass ein gewisser Harald Porony. Welthandelstudent.« Er betonte das letzte Wort. »Das hat er wirklich so als Beruf eintragen lassen. Na ja.« Er seufzte. »Einundzwanzig Jahre.«

Wilhelm merkte, wie er sich schlagartig anspannte. Offensichtlich sagte ihm der Name etwas, auch wenn er ihn im Moment noch mit niemandem in Verbindung bringen konnte.

»Der Mann da vorne hat ihn gefunden«, berichtete Lukaschek unterdessen weiter. »Kurz vor sieben ist er direkt drüben bei uns aufgetaucht. A Komischer, wirklich ein ganz ein Komischer. Ordentlich antitscht.« Er wedelte vor seiner Stirn und nickte dann Richtung Rand der Menschenansammlung.

Wilhelm ließ seinen Blick entlang der Geste schweifen und bemerkte einen Endvierziger, der komplett in Weiß gekleidet war. Er hielt die gefalteten Hände vor die Nase, die Augen waren geschlossen. Ein entsprungener Patient von Steinhof. Sicherlich. Allerdings hatten die Irren wohl kaum weiße Wintermäntel in ihrer Garderobe. Schien ein Tag der seltsamen Gestalten zu werden.

»Der wollt da am Teich«, Lukaschek holte tief Luft, »mit der Sonne reden.«

»Ah ja.« Eine Bemerkung von Wilma fiel Wilhelm ein. Seine Leib- und Magenwirtin hatte vorgestern beim Abendessen …

»Ja. Obwohl s’ ja gar net da ist, die Sonn. Schon gar net um diese Zeit, da war ’s ja noch net einmal aufgangen. Theoretisch. Egal. Und er wollt irgendwie die Energie … von den Bäumen … also das hat er gesagt, nicht ich«, neuerliches tiefes Atmen, »ja, die wollte er irgendwie … und deswegen wollte er den Burschen bitten, ihm Platz zu machen und … ja.«

»So, so.« Wilma hatte von einer ähnlichen Erscheinung im Augarten berichtet. War es derselbe Mann, oder gab es schon ein ganzes Nest von diesen Spinnern?

Lukaschek verzog den Mund zu einem halben Lächeln. »Ich sag ja, net ganz dicht in der Marille. Sollen wir die Truppe vom Berg verständigen? Damit s’ ihn wieder einfangen?« Er runzelte die Stirn. »Oder vielleicht war er es ja selber?«

»Das werden wir noch sehen. Und?« Wilhelm wandte sich an Waller. »Was haben wir?«

»Wir haben dich daheim einfach nicht mehr erwischt«, jammerte Lukaschek weiter. »Zuerst war ständig besetzt –«

»Ja, da ist anscheinend wer Neuer.« Wilhelm lächelte ihm zu. »Und der redet und redet ununterbrochen. Was soll ich machen? Vierteltelefon ist nun einmal Vierteltelefon.«

»Eh. Aber du als leitender –«

»Ja, ja, ich weiß, aber ich mag diese Privilegien nicht. Hab ich dir schon oft genug gesagt.« Jedoch anscheinend nicht eindringlich genug. Was sicherlich daran lag, dass der Grund für seine Weigerung, sich per Ausnahmegenehmigung einen Einzelanschluss installieren zu lassen, ein ganz anderer war. »Und jetzt beruhig dich, Lukki. Hol den Fischer her, damit er uns dort vor der Tür nicht abfriert, wenn er nur so herumsteht.«

Bei der Erwähnung des Wortes »frieren« fühlte Wilhelm selber wieder die Kälte, die Wien, nein, Österreich, ach was, ganz Europa und die Welt seit Wochen fest im Griff hatte. Er zog den Krawattenknopf und dann den Schal fest zu. Schob den Hut tiefer in die Stirn und stopfte die Hände in die Manteltaschen.

Nachdem Lukaschek abgezogen war, wandte er sich neuerlich Waller zu. »Also, Bertl?«

»Engelbert, wenn ich bitten darf.«

»Entschuldigen S’, Herr Medizinalrat Professor Dr. Waller.«

»Na, geht ja, Herr Chefinspektor Fodor.« Der Arzt grinste, stellte die Tasche ab und offerierte eine seiner kurzen Smart.

Wilhelm nahm sie und ließ sich Feuer geben. Der erste Zug brannte höllisch. Es war einfach ungemütlich, in der Kälte zu rauchen. »Also?«

Waller zog das Leintuch weg und schwenkte den Arm, als wollte er etwas besonders Schönes präsentieren.

Wilhelm sah einen schlanken Mann mit ordentlich frisiertem, dichtem dunkelblonden Haar, blauen Augen und einer nicht ganz kleinen, scharf geschnittenen Nase, die den feinen Gesichtszügen etwas Herrisches verlieh. Er saß mit angezogenen Beinen an den Baum gelehnt. Die dunkelblauen Stoffhosen wirkten frisch gebügelt, die weißen Socken und dunkelblauen Mokassins wie aus der falschen Jahreszeit. Der Bursch schien im Anblick des Teichs versunken. Nur der dunkelrote Fleck auf dem eisblauen Kurzmantel Harald Poronys störte das Bild der Idylle. Und die eisblaue Schirmkappe, die sich in einem eingefrorenen Zweig nahe dem Ufer verfangen hatte.

»Irgendwelche Anzeichen für Betäubungsmittel? Oder andere Drogen?«

Waller schüttelte den Kopf. »Du denkst in die richtige Richtung.« Er nahm das Opfer an der Schulter und drückte es nach vorn.

Wilhelm sah einen weiteren dunkelroten Fleck. »Verstehe. In welcher Reihenfolge?«

Waller zog an seiner Zigarette und brummte. »Mein lieber Freund, das ist eine –«

»Unnötige Frage«, ergänzte Wilhelm. Er hockte sich zur Leiche und betrachtete die Hände und Arme. Sie waren unversehrt. »Zuerst von hinten also. Und das vor nicht allzu langer Zeit.«

»Ja, der Rigor ist noch nicht einmal im Kiefer.« Er sah auf die Uhr. »Und jetzt haben wir drei viertel acht.«

»Das heißt, wir können die Tatzeit auf drei viertel sechs bis circa drei viertel sieben eingrenzen.«

»Genau so ist es.« Waller verschränkte die Arme und wippte mit dem Bein.

»Ich weiß, was du meinst. Der Leichnam wurde höchstwahrscheinlich drapiert.«

»Nahezu mit Sicherheit.« Nun hockte sich Waller zu den Händen und deutete auf winzige Spuren von Erde und Blätterresten. »Und bei den Knien scheint mir die Hose auch nicht ganz sauber zu sein. Das werden aber dann die Kollegen mit dem Mikroskop verifizieren können. Ich denke, sie wurde abgewischt. Was schließen wir daraus?«

Wilhelm lachte. »Wenn ich es weiß, Herr Professor, bekomme ich dann ein Sternchen in mein Heft?«

Waller lachte mit. »’tschuldige, Willi, ich hab gestern ein paar Doktoranden bei mir gehabt.«

»Ist schon in Ordnung … Bertl.« Er zwinkerte dem Arzt zu. »Um deine Frage zu beantworten: Wir schließen daraus, dass Porony auf die Knie gefallen und dann wahrscheinlich umgekippt ist. In dieser Lage hat ihm der Mörder dann den Rest gegeben. Warum hat er ihn nicht einfach liegen gelassen und ist so schnell wie möglich davongelaufen? Um die Zeit war es noch finster, höchstens dämmrig, also beste Bedingungen.«

Waller wuchtete sich in die Höhe. »Ja, warum hat er ihn drapiert und auch noch abgeputzt?«

»Das herauszufinden ist jetzt mein Job, Herr Doktor.«

»Ich weiß. Und bedaure neuerlich, im falschen Metier gelandet zu sein.«

»Nicht doch.« Wilhelm schnippte den Rest der Smart auf den Teich. »Ohne deine messerscharfen Analysen hätte ich nur halb so viel Erfolg.«

Waller ließ seine Zigarette der von Wilhelm folgen. »Dann sollten wir einmal über eine Prämie verhandeln.«

3

In jüngster Zeit fühlte er sich immer, wenn er von Fischer links und von Lukaschek rechts flankiert auf einen Zeugen zuschritt, wie einer der Bösewichte aus diesen James-Bond-Filmen. Oder wie einer der Gangster aus »High Noon«. Wahrscheinlich, weil Elisabeth, als sie bei einem ihrer seltenen Ausflüge den Film heimlich draußen in Breitensee bei einem Spezialabend angesehen hatten, gemeint hatte, er wirke bei seinem Kampf um Gerechtigkeit genauso entschlossen und mutig. Dass sie sozusagen die Figuren verwechselt hatte, tat der Sache keinen Abbruch. Mit zwei Hilfssheriffs war der Mann ein Held.

Wilhelm blieb knapp vor dem Weißbekleideten stehen und schob ihm die Kokarde ins Blickfeld. »Chefinspektor Fodor. Leiter der Ermittlung. Wir würden Sie gern kurz sprechen.«

Der Zeuge nickte, entfaltete seine Hände und sah ihn an. Dann nichts.

Wilhelm war, als tickte über ihnen ein riesiger Sekundenzeiger. Und das viel zu oft.

»Name«, schnarrte Fischer. Seine Stimme war so gequetscht, dass sie wirklich auf jedermann, außer vielleicht auf durch schneidiges Auftreten und ein schönes Gesicht leicht zu beeindruckende junge Mädchen, unangenehm wirkte. Aber man konnte einem Menschen wie Fischer nicht empfehlen, bei einer der Burgtheatergrößen Unterricht zu nehmen. Er würde denken, dass man vermutete, er sei ein Heimlicher vom anderen Ufer.

»Welchen?«, fragte der Weiße.

Ein Scherzbold, dieser Mann, denn natürlich konnten sie streng genommen auch meinen, ob er den Namen des Opfers kannte. Wilhelm unterdrückte ein Seufzen.

»Na, den Ihren«, präzisierte Fischer.

»Den bürgerlichen oder meinen wahren?«

Fischer sagte nichts mehr, schaute nur. Genauso wie Lukaschek.

Wilhelm musterte jeden Zentimeter des Gesichts ihm gegenüber. Er sah ein entspanntes Lächeln, aber keinerlei Zucken oder sonstige Anzeichen für einen Scherz. Doch aus Steinhof entlaufen.

Er räusperte sich. »Den bürgerlichen, wenn’s recht ist.« Einen Irren durfte man keinesfalls in Zorn versetzen, sonst tobte der herum. Zugleich stellte sich aber nun die Frage, ob sie sich mit diesem offensichtlich nicht zurechnungsfähigen Zeugen überhaupt abgeben sollten.

»Professor Dr. Ehrenhoff. Franz Ehrenhoff. Und falls Sie bei der Überprüfung meiner Personalien entgegen meinem Wissen über einen zweiten Franz Ehrenhoff stolpern sollten –«

»Professor Doktor«, konnte sich Wilhelm nicht verkneifen.

Ehrenhoff wirkte nur kurz irritiert. »Also falls dies der Fall sein sollte: Meine Frau heißt Theresa, meine Kinder hören auf Marianne und Manfred.«

Wilhelm ließ ein paar Augenblicke verstreichen. »Sie haben’s schon gern ein bissel kompliziert, nicht wahr?«

»Die Illusion des Ichs ist immer kompliziert.«

»Ah ja.« Wilhelm verspürte den starken Drang, den Mann zur Schnecke zu brüllen, damit er mit seinen Spielereien aufhörte. Aber zugleich hatte er das Gefühl, dass das nichts bringen würde. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Gut, dann kommen wir jetzt zu den einfachen Dingen. Sie haben das Opfer gefunden.«

»Einfach … Opfer …« Ehrenhoffs Blick schweifte zu den Baumwipfeln.

Wilhelm stellte sich knapp vor ihm hin. »Hören Sie, das ist eine Amtshandlung! Und wenn Sie jetzt nicht sofort wie ein normaler Mensch mit uns reden, haben S’ ein Verfahren wegen Behinderung der Ermittlungen am Hals. Oder eine Überweisung zum Amtsarzt. Ganz einfach.«

Ehrenhoff sah ihn an. Und jetzt schien in den Augen ein Kobold zu tanzen. »Verstehe.«

»Na, hoffentlich«, brummte Lukaschek.

Wilhelm wandte sich ab, um sich zu sammeln. Er hasste es, herumzubrüllen. Es vernebelte die logischen Gedanken. Und noch mehr brachte ihn in Rage, wenn ihn jemand offensichtlich auf den Arm nehmen wollte. Aber der Mann war Akademiker und sein Gerede, abseits vom Verrückten, nicht das eines dummen Mannes. Er knetete seine Hände.

»Man kann auch nicht erwarten, dass die Staatsgewalt das große Ganze versteht.«

Alles umsonst. Und so mühsam, ausgerechnet auf einen Spaßvogel als Zeugen zu treffen. »Packts ihn ein, Burschen.« Er sah den Witzbold an. »Gefahr in Verzug. Feststellung der Identität.«

Lukaschek winkte einem der Streifenbeamten. Fischer umfasste den Arm des Mannes.

Der hob die Handflächen. »Ich ergebe mich. Was wollen Sie wissen?«

»Nix da«, knurrte Fischer. »So weit waren wir schon einmal.«

Der Mann neigte den Kopf. »Ich bitte förmlich um Entschuldigung. Manchmal …« Er suchte sichtlich nach den richtigen Worten.

Der Streifenbeamte kam zu ihnen und zückte die Handschellen.

Wilhelm gebot mit erhobener Hand Einhalt. »Was?«

»Ich habe meditiert, wie jeden Tag. Und manchmal«, Ehrenhoff zuckte mit den Schultern, »brauche ich etwas länger, um wieder in diese … in die Realität zurückzukommen.«

»Meditieren«, schnaufte Lukaschek.

»Sie schauen aber gar net wie a Mönch aus«, meinte Fischer.

»Das bin ich auch nicht.« Ehrenhoff lächelte ihn an. »Es ist eine fernöstliche Philosophie.«

»Wie a Schlitzaug wirken S’ aber a net.« Fischer ging einen Schritt auf ihn zu, und sein Unterton war böse gewesen, wie immer, wenn er mit etwas außerhalb seiner täglichen Erfahrung konfrontiert war – und das war alles jenseits von Verbrechen, seiner Tochter, Fußball, Rudern und jungen Frauen.

Wilhelm stellte sich zwischen die beiden. »Also, wie war das mit der Leiche?«

»Nun ja, der junge Mann ist mir sofort aufgefallen, als er den Park betreten hat.«

Weg war sie, die Attitüde. Na bitte, ging ja. Man musste nur die Hierarchie klären. »Wann war das?«

»Das muss so um viertel sieben gewesen sein.« Ehrenhoff kniff die Augen zusammen. »Ja, ungefähr. Ich bin wie immer um sechs Uhr daheim weg, brauche zehn Minuten in den Park und bin auf meiner ersten Runde gewesen. Und vorne beim Lehár habe ich ihn bemerkt, da ist er gerade vom Ring her eingebogen.«

Wilhelm versuchte sich die Situation vorzustellen. »Entschuldigen Sie die persönliche Frage, aber was treibt jemanden zum Meditieren in einen Park, wenn es da noch stockfinster ist?«

Ehrenhoff deutete auf eine Laterne. »Es ist nicht wirklich dunkel, aber ruhig. Und bei meinen Übungen bin ich lieber so gut es geht allein.«

»Weil S’ sonst gleich von der Psych einkassiert werden«, ätzte Fischer.

»Verstehe«, beeilte sich Wilhelm zu versichern, was glatt gelogen war. Aber jedem Tierchen sein Pläsierchen. »Zurück zu diesem jungen Mann. Warum ist er Ihnen aufgefallen?«

»Es ging von ihm so eine unangenehme …« Ehrenhoff sah zu Fischer und dann Wilhelm in die Augen. Er beugte sich zu ihm und sagte leise: »Könnten wir vielleicht … etwas abseits …? Ihr Kollege scheint mir … Und mir werden immer wieder Begriffe entschlüpfen, die er … Bitte. Der Mann scheint mir sehr impulsiv zu sein.«

So konnte man das nennen, wenn jemand lieber zuschlug, bevor er fragte. Fischer war definitiv das Gegenbild zur Werbekampagne der Polizei als Freund und Helfer. Aber auch solche Leute brauchte man.

Und Wilhelm hatte mittlerweile das Gefühl, dass Ehrenhoff ihnen trotz seines Spleens eine Hilfe sein würde. Er zog ihn zur Seite. »Also?«

»Ja, er ist mir aufgefallen, weil er eine unangenehme Aura hatte. Angespannt, voller Aggression. Immer wieder hat er Steine weggekickt und auf eine der Pappeln geschlagen, während er dort gewartet hat.«

»Er hat auf seinen Mörder gewartet? Sie haben ihn gesehen?« Wilhelm konnte sein Glück nicht fassen.

»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe den Mann gesehen, auf den er gewartet hat. Der ist plötzlich nach ein paar Minuten da gewesen. Wie ein Geist.« Ehrenhoff kniff die Lippen zusammen. »Ich habe gerade eine Übung gemacht und nicht hingeschaut.« Er schüttelte den Kopf. Ein Bild purer Selbstunzufriedenheit.

»Und können Sie sich erinnern, wie der in etwa ausgeschaut hat?«

»Natürlich. Groß, schlank, vorderasiatischer Typus. Also irgendwo zwischen Nahem Osten und Pakistan. Mitte zwanzig in etwa. Er war dunkel gekleidet, Hose, Mantel, Hut, alles unauffällig, bis auf den grünen Schal. Seltsame Farbe für einen Schal.«

»Aber das ist doch wunderbar, damit können wir einmal arbeiten!«

»Ich kann Ihnen auch ein Phantombild zeichnen, wenn Sie möchten. Und außerdem …« Ehrenhoff war wie verwandelt, seine Augen glänzten, und jede Faser seines Körpers sprühte vor Lebendigkeit, als er sich plötzlich mit steifen Armen zwei Meter vor Wilhelm positionierte. »Außerdem hatte er eine markante Art zu gehen. Sehr eckig und die Arme nicht gegengleich zu den Beinbewegungen, wie es üblich der Fall ist«, er ließ die seinen weit ausschwingen, »sondern fast im Passgang. Der ist für den Menschen ja eigentlich sehr unbequem.« Er schaute Wilhelm erwartungsvoll an.

»Ihr Meditieren möchte ich auch lernen, wenn einem dabei so viel auffällt.«

Ehrenhoff lachte. »Ich war nicht ganz bei der Sache, weil ich – ich muss es gestehen – neugierig war.«

»Ah so?«

»Ja, Menschen, die um diese Uhrzeit im Park … Man kennt einander mehr oder weniger. Und die beiden waren fremd.«

Wilhelm hatte schon wieder das Gefühl, sich erst einmal sammeln zu müssen. Zuerst dieses Theater bei der Personalienangabe und jetzt eine der besten Beschreibungen seit Langem. »Trotzdem, die meisten Zeugen können sich nicht einmal bei der Haarfarbe festlegen.«

Ehrenhoff trat wieder zu ihm. »Ich muss Sie sehr verwirrt haben. Wahrscheinlich haben Sie gedacht, ich sei ein Entsprungener.«

Wilhelm sagte nichts.

»Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Manchmal reitet mich einfach … so ein kleiner Teufel. Da will ich schlicht nur Sand ins Getriebe streuen. Mich nicht benehmen. Kindisch, ich weiß.«

Wilhelm musste an die Szene mit der Sitznachbarin in der Bim denken.

»Aber das hat wahrscheinlich mit meinem Beruf zu tun, wie auch meine Beobachtungsgabe. Ich bin Soziologe.« Er lachte auf. »Das Beobachten von Menschen liegt mir im Blut. Und außerdem nehme ich Kunstunterricht. Privat bei Rainer.« Die gesetzte Pause war fett wie ein Heumarktringer.

Rainer. Der Name kam Wilhelm tatsächlich bekannt vor, obwohl er mit Malern nichts am Hut hatte. Aber es musste schon ein paar Jahre her sein, dass er ihn gehört hatte. Ehrenhoff schien ihm jedoch nicht helfen, sondern vielmehr in dezenter Zurückhaltung den Abglanz der Berühmtheit genießen zu wollen. Sollte er doch, der Name seines Lehrmeisters tat nichts zur Sache. Dennoch. »Würden Sie mir freundlicherweise …?«

»Roland Rainer.«

Die Alliteration brachte Wilhelms Hirn in Schwung. »Der die Stadthalle gebaut hat? Aber der ist doch Architekt.«

»Er bringt mir auch nur freundschaftlich die Anfänge bei.«

Eitler Tropf. Es war einfach nur lächerlich, sich mit dem Zeichenunterricht bei einem Häuselbauer zu brüsten. »Na, dann hoffen wir, dass Sie kein Tafelklassler mehr sind.«

Die Spitze ging offensichtlich ins Leere, denn Ehrenhoff schüttelte lächelnd den Kopf. Dann zog er die Stirn kraus. »Aber ich weiß nicht, ob Ihnen die Zeichnung wirklich helfen wird, denn dieser Mann ist wieder weggegangen.«

»Hm. Haben die beiden gestritten?«

»Ja. Nein.«

»Was jetzt?«

»Der blonde Mann, also das Opfer, der hat heftig gestikuliert. Der andere ist ganz ruhig danebengestanden, schien ihm nicht einmal richtig zuzuhören, denn er hat alles andere im Park studiert«, er lachte, »auch mich beim Beobachten beobachtet, aber er hat den Blonden kaum angesehen. Und dann ist er gegangen. Die ganze Begegnung hat sicher nicht länger als eine Minute gedauert. Vielleicht zwei. Mehr aber nicht.«

Wilhelm fühlte sich wie ein Ballon, dem die Luft entwich. »Wann war das ungefähr?«

»Vielleicht halb sieben? Kurz danach?«

»Und dann haben Sie niemanden mehr gesehen?«

»Nein. Ich habe mich auch wieder den Bäumen gewidmet.«

4

Wilhelm stellte sich in den Windschatten des Wetterhäuschens und zündete sich eine Zigarette an. So liebte er seine Arbeit. Aufgrund der erhöhten Plattform, auf der er stand, kam er sich noch mehr wie der Kapitän eines Schiffes vor als sonst. Er hatte den Überblick, und alle anderen summten fleißig wie Bienen herum. Reiser und seine Spürhunde suchten Zentimeter um Zentimeter die Wege zum Tatort und das Gebiet rund um den Teich nach Spuren ab. Lukaschek verschwand gerade jenseits der Büsche mit dem Zeugen Ehrenhoff in Richtung Büro, um ihn eine Phantomzeichnung anfertigen zu lassen. Fischer klapperte die Schaulustigen ab, denn vielleicht gab es ja noch weitere Zeugen, die sich ihrer Beobachtung bislang nicht bewusst waren. Und der Leichenabholdienst transportierte just in diesem Moment das Opfer ab. Die eisblaue Schirmkappe blieb beim eingefrorenen Zweig zurück. Wilhelms Fuß zuckte. Er ging nicht. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Reiser sollte sie später einpacken … obwohl Porony sie kaum mehr benötigen würde.

Ein Welthandelstudent also, der sich mit einem Ausländer gestritten hatte. Naher Osten. Irgendwo da drüben halt. Das könnte etwas mit Drogen zu tun haben. Opium kam aus dieser Region, Haschisch auch. Er musste sich bei seinen Kollegen erkundigen, was gerade so en vogue war. Aber wahrscheinlich handelte es sich wieder einmal schlicht und rührend um Methamphetamin. Klara hatte ihn jüngst darüber aufgeklärt, dass sie inzwischen sogar schon zwei Fälle von Schülern gehabt hatte, die sich für den Prüfungsstress drüben in der Stubenbastei vollgepumpt hatten. Einer der beiden war daraufhin so überdreht gewesen, dass er mit einem ihm zufällig im Weg stehenden Holzlieferanten einen Raufhandel begonnen hatte, worauf die jungen Männer bei seiner Kollegin gelandet waren. Die hatte dann auch noch herausgefunden, dass der Raufer die Tabletten seinem Vater gestohlen hatte, der nach dem Krieg am Pervitin hängen geblieben war. Von der Schlacht um Charkow zur Schlacht um Bestnoten. Das könnte auch zu diesem Studenten passen.

Wilhelm nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Sie schmeckte deutlich besser als die erste mit Waller.

Allerdings war der Ausländer ruhig weggegangen. Logischer wäre, er hätte gefuchtelt und geschrien, etwa weil Harald Porony zu wenig Geld gehabt hatte. Die Möglichkeit mit den Drogen präsentierte sich nicht wirklich rund. Trotzdem würde er Waller noch einmal extra darauf aufmerksam machen, dass er das Blut auf diverse Substanzen testen sollte. Man konnte nie wissen. Vielleicht hatte sich Porony ja auch über die Qualität beschwert.

Jedenfalls musste der Araber oder Inder unterhalb des Soziologenaugenradars von Ehrenhoff zurückgekommen sein, denn es war kaum anzunehmen, dass sich Porony mit zwei Personen am Teich verabredet hatte. Hoffentlich fand Reiser etwas Weiterführendes, einen Zigarettenstummel oder einen abgeknickten Ast vielleicht, im besten Fall sogar mit einem winzigen Stoffrest oder dergleichen, sonst hatten sie sehr schlechte Karten. Morde im Suchtmilieu waren ungleich schwerer aufzuklären als jene im Familien- oder Freundeskreis.

Durch die Rauchwolke sah er Fischer heranmarschieren, sehr stramm, mit hochgezogenen Augenbrauen. Das konnte nur bedeuten, dass er fündig geworden war.

Wilhelm zertrat die Zigarette und ging seinem Kollegen entgegen. Der hielt prompt inne und winkte ihm zu folgen. Er strebte auf die andere Seite des abgesperrten Gebietes und blieb vor einer alten Frau im Rollstuhl stehen. Erst als Fischer das Absperrungsband hob, um die potenzielle Zeugin hereinzulassen, sah Wilhelm die blonde Frau, die den Stuhl schob. Sein Herz machte einen Sprung. Die Frisur, die schlanke Figur, der eng geschnittene schwarze Mantel, die halbhohen Pumps mit dem Riemchen über dem Rist …

Die Blondine drehte den Kopf zu ihm. Und natürlich war sie nicht Elisabeth. Die junge Frau hatte auch bei Weitem kein so hübsches Gesicht wie seine Halbschwester – nein, das war unfair. Sie hatte einfach ein anderes, ehrlicherweise ebenso hübsches. Und außerdem war es vollkommener Schmarrn, auch nur den Hauch einer Sekunde angenommen zu haben, dass Elisabeth um diese Uhrzeit eine Behinderte beim Spaziergang begleitete, denn das wüsste er. Seltsam, dass er bei der bloßen Vermutung, sie hier zu treffen, derart körperlich reagiert hatte. Sie ging ihm wohl ab. Zum Glück hatte sie sich für den Abend spontan angesagt.

»Das ist Frau Matelka. Frau Hofrat Karoline Matelka«, begann Fischer die Vorstellung.

Die Dame im Rollstuhl nickte und streckte Wilhelm die hängende Hand entgegen. Er vollzog einen Diener und deutete einen Handkuss an.

Indessen hatte sich Fischers Mund zu einem breiten Grinsen verzogen. »Und dieses Fräulein ist Brigitte –«

»Brigitta«, unterbrach ihn die Blondine.

Fischers Kopf fiel zur Seite. Die Frage, warum sie ihn wegen so eines blöden Buchstabens unterbrochen hatte, stand fett in seinen Augen. »Brigitta Pointner«, knurrte er.

Der arme, arme Mann. Da hatte er sich höchstwahrscheinlich bereits in allen Farben ausgemalt, wie er nach Dienstschluss die Holde mit seinem Sportlercharme in ein Häufchen schmelzender Erwartung verwandelte und danach ihren Mantel aufknöpfte, und nun stellte sich das Kitz als Zicklein heraus.

Wilhelm lächelte die junge Frau an. »Brigitta wie die Heilige.«

Sie lächelte zurück und senkte den Blick. »Nein, nach Adalbert Stifter. Meine Mutter wollte, dass ich ihre Stärke bekomme.«

»Natürlich, denn das Aussehen kann unmöglich der Grund sein.«

Jetzt wurde sie rot. Entzückend. Wilhelms Blick verfing sich mit jenem von Fischer, in dem blanke Verwirrung stand. Kurz überlegte er. Doch nein, er wollte ihn nicht über die Novelle des Altmeisters aufklären, das wäre Perlen vor die Säue werfen. Stattdessen nickte er ihm zu. »Nun?«

»Nun …«, schnarrte es lang gezogen vom Rollstuhl her, »Ihr Assistent scheint zu denken, dass ich Ihren Mörder gesehen habe.«

»Meinen wohl kaum, gnädige Frau«, konnte sich Wilhelm nicht verkneifen.

Im Gesicht der Alten, das bislang steinern gewesen war, zuckte die linke Augenbraue in die Höhe – was eine gewisse Beachtung verdiente, denn normalerweise zuckten die Menschen mit der rechten. »Ein kleiner Scherzbold, der Herr Inspektor.«

»Chefinspektor«, keifte Fischer korrigierend dazwischen.

Die Frau Hofrat wedelte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, mit der Hand wie eine Fürstin, die sich von Geschmeiß befreien wollte. »Nun, ein Päpstlicherer denn der Papst. Also wollen wir festhalten: den Mörder des armen jungen Burschen dort …« Ihr Blick wanderte zu den Pappeln. Sie schloss den Mund.

»Er ist bereits in der Sensengasse«, erklärte Wilhelm. Auf ihren verständnislosen Blick hin ergänzte er: »In der Gerichtsmedizin. Die ist dort beheimatet. Am Alsergrund beim Allgemeinen Krankenhaus.«

»Wie treffend.« Es schüttelte die Frau Hofrat, und ein leises Schnauben wurde hörbar. Sie schien zu lachen, doch der Mund hatte sich nicht verzogen.

»Gut, gnädige Frau, was also haben Sie gesehen?«

Die Lady wedelte wieder einmal mit der Hand, dieses Mal in Richtung ihrer Begleiterin.

»Wir waren gerade wie üblich auf unserem Morgenspaziergang …«

»Darf ich fragen, was zwei so reizende Damen um solch eine finstere Uhrzeit in den Park treibt?«

»Die Ruhe.« Brigittas Antwort klang nicht nach Herzensüberzeugung.

»Und meine senile Bettflucht«, ergänzte die Frau Hofrat. »Nicht unpraktisch. So haben wir bis neun Uhr alles erledigt, inklusive Honneurs im Kaffeehaus und Besorgungen. Den restlichen Tag habe ich dann meine selige Ruhe von den Menschen.« Sie spitzte den Mund.

Dich möchte ich nicht als Feindin haben. Wilhelm wandte sich wieder an Brigitta. »Sie spazierten also …«

»Ja, und wir waren gerade zwischen Makart und Stolz, als die gnädige Frau mir befahl zu stoppen. Und dann deutete sie –«

Wilhelm hob die Hand, worauf die Zeugin auch sofort schwieg. Makart und Stolz. Richtig, der Maler und der Komponist hatten wie Lehár und Strauß auch ein Denkmal in diesem Park. Nur wo waren sie?

»Nun«, schnarrte es aus dem Rollstuhl, »um die Ecke können wohl auch Polizeibeamte nicht sehen. Sie müssen von diesem unserem Standort aus Ihre Phantasie bemühen, verehrter Herr Chefinspektor.«

Brigitta streckte den Arm aus. »Da drüben. Man kann von ihnen aus direkt zum Teich blicken.«

»Gut.« Wilhelm sammelte sich. »Sie haben von dort aus also etwas gesehen?«

Die Blondine nickte eifrig. »Ja, einen Mann, der einen anderen Mann am Baumstamm einer der Pappeln angelehnt hat und dann weggegangen ist.«

Der Mörder. »Und das ist Ihnen nicht seltsam vorgekommen?«

»Is es ja, sonst hätten die Damen mir das ja net erzählt.«

Während Wilhelm seinen vernichtendsten Blick Richtung Fischer manövrierte, registrierte er, dass auch die beiden Damen die volle Breitseite auf ihn abschossen. Zwischentöne und Psychologie waren definitiv nicht die Stärken seines Assistenten. Aber immerhin kapierte er nun die Stimmung, denn er beugte sich mit leicht dunklerer Gesichtsfarbe über seinen Notizblock.

Die Frau Hofrat wedelte wieder mit der Hand, eine Geste, die eindeutig den Untertitel »Erledigt. Lasst uns fortfahren« hatte. Die alte Dame erinnerte ihn zunehmend an Elisabeths Mutter, die Frau seines Vaters. In gewissen Kreisen aufgezogene Menschen hatten einfach eine unglaubliche Gabe, mit Gesten, Blicken und Tonlagen Situationen schlagartig zu klären oder gar Romane zu erzählen. In adeligen Kreisen, um genau zu sein. Aber der Name Matelka war ihm diesbezüglich nicht bekannt. Offensichtlich hatte sie des Geldes wegen – oder vielleicht gar aus einem pikanten Grund? – unter Stand geheiratet.

Jedenfalls gehorchte Brigitta brav, indem sie fortfuhr: »Natürlich ist uns das seltsam vorgekommen, vor allem, weil wir beide Männer nicht gekannt haben. Denn wissen Sie, in so einem Park und um solch eine Uhrzeit, da kennt man einander. Irgendwie.«

Dasselbe hatte Ehrenhoff behauptet.

»Und man betrachtet Neue natürlich etwas intensiver, denn man möchte doch wissen, ob da vielleicht Ärger in der Luft liegt.«

»Ärger?«

Brigitta wiegte den Kopf. »Nun, es könnte sich ja um Menschen mit unlauteren Absichten handeln.«

»Kriminelle. Prostituierte.«

»In der Art. Jedenfalls dachten wir uns dann, dem Herren am Baum sei vielleicht schlecht, weil er eventuell die Nacht zuvor zu viel über den Durst …« Brigitta Pointner senkte den Blick. »Und da möchte man nicht unbedingt zu nahe kommen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe. Wie sah der Mann aus, der ihn an den Baum lehnte?«

Brigitta schaute zu Matelka.

Die schürzte die Lippen. »Nun, er war dunkel.« Wieder die linke Augenbraue. »Mir ist, als wäre da ein Schnurrbart gewesen. Ja, irgendwie erinnerte er mich an den Ehemann meines Kindermädchens damals in Ägypten.«

Wieder diese Gegend oder zumindest fast, denn eigentlich war Ägypten Afrika und nicht Asien. Egal, es handelte sich offensichtlich um denselben, der ruhig weggegangen war. Und eben dann zurückkehrte! Wilhelm beglückwünschte sich zu seiner Kombinationsgabe.

»Nachdem Sie Mehmed nicht kennen, schulde ich Ihnen wohl eine etwas detailliertere Beschreibung. Nun, er schien mir leicht untersetzt …«

Ehrenhoffs Mann war schlank gewesen! Wilhelms Blick saugte sich an den knochigen Knien der alten Dame fest, an ihrer mageren Gestalt. Vielleicht lagen schlank und untersetzt ja auch nur im Auge des Betrachters.

»… man könnte sogar sagen, er litt unter einem breiten Becken. Er trug einen Hut und war dunkel gekleidet. Mit mehr Details kann ich Ihnen leider nicht helfen, es ging alles sehr schnell.«

Es fehlten die wichtigsten Details! »Und sonst? Wie hat sich der Mann bewegt? Trug er vielleicht irgendetwas Außergewöhnliches?«

Die Frau Hofrat wandte den Kopf ab und wedelte wieder einmal.

»Da fällt uns wirklich nichts Besonderes ein«, sprang Brigitta eifrig in die Bresche. Sie knabberte an der Unterlippe – und sah allerliebst aus.

Wilhelm bedankte sich, stellte die offizielle Einvernahme durch Fischer auf der Dienststelle in Aussicht, was die Frau Hofrat mit einer extrem hochgezogenen Augenbraue kommentierte, bat weiters um eine Phantomzeichnung und verabschiedete sich. Er marschierte zu Makart und Stolz. Stellte sich zwischen die zwei Ikonen und sah zum Teich. Es waren nicht mehr als dreißig, vierzig Meter. Auf diese Entfernung musste ein grüner Schal erkennbar sein. Und auch ein Passgang. Also entweder log einer der Zeugen, oder es waren zwei verschiedene Menschen gewesen, die Porony heimgesucht hatten. Oder es war wieder einmal der Klassiker von Zeugenaussagen: Befrage drei Personen zu einem Vorfall, und du bekommst fünf verschiedene Aussagen.

5

Wie üblich schenkte er dem Wachhabenden vor der Nummer acht ein freundliches Nicken, wie üblich strich er dem steinernen Wachhund links vom Portal über die Schnauze, wie üblich wurde er mit einem großen Nicken, das beinahe schon eine Verbeugung war, am benachbarten Eingang zu seiner Dienststelle begrüßt. Er nahm die Stiege zu seiner Etage mit zwei Stufen pro Schritt, stellte fest, dass er nicht so sehr keuchte wie am Vortag, und beglückwünschte sich, den Vorabend ruhig, sprich mit nur zwei Bieren und gezählten vier Zigaretten, verbracht zu haben. Er wurde noch nicht alt, er hatte in letzter Zeit nur zu wenig auf sich geachtet.

Als er um die Ecke bog, sah er Kollegin Klara vor seinem Büro gerade die Hand senken und an der Tür lauschen. Da mussten sie in der Jugendabteilung einen wahrlich verzwickten Fall haben, wenn sie sich persönlich herbemühte.

Sie blickte zu ihm und strahlte auf. »Wilhelm! Gut, dass du kommst!«

»Klara! Brauchst sozusagen Amtshilfe?« Er zwinkerte ihr zu, öffnete die Tür und ließ sie eintreten.

Sie stopfte eine imaginäre Strähne ihres fuchsbraunen Haars in den riesigen Nackenknoten. »Nein, nein, eher umgekehrt, dachte ich.«

Wilhelm blieb auf dem Weg zu seinem Schreibtischsessel bei ihr stehen. »Umgekehrt? Was habe ich verpasst?«

»Deine Parkleiche, Wilhelm. Sie soll noch recht jung sein, hat mir Lukaschek gesagt.«

»Ja, und?«

Sie befeuchtete sich die Lippen und sagte nichts. Ihre Augen wirkten sehr dunkel.

Sie waren grau, das fiel ihm das erste Mal auf. Und er benahm sich unmöglich, indem er sie derart zappeln ließ, denn natürlich wusste er, warum sie so herumdrückte. Klara war eine gute Polizistin und wollte auch endlich als solche eingesetzt werden. Aber für sie als Frau blieben nur die Bereiche Fürsorge und Jugendliche. Auffällige Jugendliche. Wenn sie tot waren, wie der Student, der mangels Volljährigkeit ansonsten ihr Revier wäre, wurden sie hingegen zu einer Männerangelegenheit. Bei der letzten Weihnachtsfeier im Esterházykeller hatte sie ihm nach fünf Achteln ihre ganze Bitterkeit über diesen Umstand umgehängt – und er sich schuldig gefühlt, obwohl es dafür wahrlich keinen Grund gab. Denn das waren nun einmal die Regeln. Die Polizei präsentierte sich ohnehin schon sehr liberal, indem sie überhaupt Frauen aufnahm. Und er selbst hatte Klara auch nie von oben herab behandelt. Für die Kollegen konnte er nichts.

Er wandte sich ab und ging hinter seinen Schreibtisch, spürte ihren Blick, kam sich noch unmöglicher vor, ging am Sessel vorbei und kehrte zu ihr zurück.

Er verschränkte die Hände am Rücken und sah sie an. »Bis jetzt gibt es leider keinerlei Umstände, die mich dich hinzuziehen lassen könnten.«

Sie nickte. Sehr aufrecht, sehr stolz.

»Klara, wenn sich im Laufe der Ermittlungen –«

»Ist in Ordnung, Wilhelm. Ich wollt nur einmal kollegial nachfragen.« Zartes Lächeln.

Er lächelte zurück.

Sie machte keinerlei Anstalten, das Büro zu verlassen. Sie sah zur Wanduhr, die laut tickte, zum Fenster, durch das Straßenlärm hereinschwappte, ließ den Blick über seinen Schreibtisch schweifen und senkte ihn, gerade als er sich räuspern wollte, schließlich auf sein Gesicht. Ihr Mund zog sich in die Breite. »Ich spreche dich jetzt zum letzten Mal darauf an …«

Und Wilhelm wurde heiß. Ihr Geburtstagsgeschenk an ihn! Seit über einem Monat versuchte sie, mit ihm einen Termin auszumachen. Eine Kaffeejause im Imperial. Daran war an sich nichts Ehrenrühriges, auch, weil es zugleich ein Dankeschön für seinen Beistand beim Schießunterricht war, als dieser vertrottelte Stipschitz … Und dennoch … mit weiblichen Kollegen ging man nicht privat … und außerdem hatte Klara so einen üppigen Busen. Und die falsche Haarfarbe. Wobei das natürlich überhaupt nicht wichtig war, er hegte kein Interesse, es ging ums Prinzip. Und überhaupt.

Er legte seine Hand auf ihren Oberarm und wusste in derselben Sekunde, dass das ein riesiger Fehler war, weil sie sich jetzt vielleicht einbildete, dass er auf sie reflektierte, ließ die Hand aber dort, weil ein schnelles Wegziehen noch missverständlicher wäre, und brabbelte während dieser psychologischen Kraftübung ohne Kontrolle darauf los.

Sie zog die Stirn kraus. »Geh, Wilhelm, bitte sei nicht so altvaterisch.«

Was, um Himmels willen, hatte er gesagt?

»Also wirklich, wir leben im 20. Jahrhundert, nicht mehr im Biedermeier.« Sie grinste. »Und außerdem ist es ein Kollege, der dich einlädt, und nicht eine Frau.«

Diese Ausrede hatte sich also aus ihm herausgewürgt. Hervorragend, auch wenn sie ihn jetzt für ein verzopftes Überbleibsel hielt.

Er neigte den Kopf. »So bin ich halt einmal. Und außerdem müsste ja vielmehr ich dich einladen, als Wiedergutmachung für den Stipschitz, den Trottel. Trifft selber einmal die Scheibe nicht und macht sich über deinen Fünferschuss lustig.« Und während noch das letzte Wort nachhallte, wurde Wilhelm klar, dass er sich nun endgültig ausgeliefert hatte.

Prompt wandte sich Klara lächelnd zur Tür. »In Ordnung, wenn du unbedingt den Gentleman spielen willst, zahlst eben du.« Als sie ebendiese geöffnet hatte, sah sie ihn an. »Samstag? Um vier?«

Wilhelm nickte. Und erst als das Schloss einschnappte, fiel ihm ein, dass er mit der Ausrede des neuen Falls alles in Schwebe hätte halten können.

Lächerlich. Diesen einen Kaffee würde er überleben.

Wilhelm schleppte sich hinter seinen Schreibtisch. Betrachtete die dünne Vase mit der Auerhahnfeder, die ihm Elisabeth letzten Herbst geschenkt hatte.

Nein, ein Kaffee war schon zu viel. Da ging sicherlich sofort die Tratscherei los, denn in genau solchen Situationen wurde man immer von Leuten gesehen, die einen nicht sehen sollten. Also bösartigen Kollegen.

Die Tür sprang auf. »Und bevor ich es vergesse: Wir haben jetzt eine aktualisierte Liste von Lokalen, in denen sich Jugendliche so herumtreiben. Sortiert nach Gruppen. Sozis, Kummerln, Rocker, Bourgeois, Schlurfs, Nazis und was es halt noch so alles gibt. Soll ich eine Abschrift machen?«

»Ich melde mich.«

Lächeln. Abgang Klara.

Selber Trottel. »Ja«, hätte er sagen sollen, damit wäre die Sache erledigt gewesen. Nun hatte sie eine Ausrede, sich erneut einzumischen.

Wilhelm ließ sich auf den Sessel plumpsen. Er reagierte in letzter Zeit höchst verwirrt und aggressiv auf seine Kollegin. Das war früher nicht der Fall gewesen, denn eigentlich mochte er sie und hielt auch große Stücke auf sie. Eigentlich. Ein Bild von der Weihnachtsfeier drängte sich ihm auf. Klaras Blick, als er ihr nach der Frauen-voran-Suada ebendieses gesagt hatte. Um sie zu trösten. Und dann dieser Blick.

Wilhelm zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch vernebelte die aufkeimende Erkenntnis nicht, sondern machte sie vielmehr glasklar: Die Gute war in ihn verliebt.

Er nahm einen tiefen Lungenzug. Und noch einen. Die Erkenntnis verdrückte sich nicht, nein, sie blähte sich auf. Wenn er am Samstag tatsächlich mit Klara auf einen Kaffee ging, hatte er massive Probleme. Sie würde alles daransetzen, ihn in ihr Bett zu locken. Auf diese Art an die Kandare zu nehmen. Denn eine Frau für eine Affäre war sie nicht. Oh Gott, irgendwie musste er aus dieser Geschichte wieder hinaus!

Asche fiel auf den Tisch. Er betrachtete sie.

Es klopfte. Im nächsten Moment schwang die Tür auf, und Lukaschek wirbelte herein. Er ließ sie offen, wie immer, aber Wilhelm hatte sich schon daran gewöhnt.

Sein Assistent wedelte mit einem Blatt Papier. »So schaut er aus, unser Mann!« Er legte es auf den Tisch, und zwar genau auf die Asche.

Wilhelm seufzte und betrachtete es. Ein vorderasiatischer Mann, wie es Ehrenhoff so schön ausgedrückt hatte, nicht mehr und nicht weniger. Ob sie ihn mit dieser Zeichnung wiedererkennen würden? Irgendwie sahen die doch alle gleich aus mit ihren markanten Nasen und den dunklen Brauen, so wie die weiter drüben mit ihren Schlitzaugen. »Warten wir auf das zweite Phantombild, vielleicht wird es dann eindeutiger.« Er klärte Lukaschek über die neue Zeugin auf.

»Sehr schön, da hamma ja echt Glück gehabt, dass die da schon alle unterwegs waren. Um die Uhrzeit.«

Jetzt stand Berner in der Tür, ihrer aller Innendienstmann, weil er bei der sinnlosen Ardennenoffensive, als ohnehin schon alles verloren gewesen war, ein Bein verloren hatte und nun keinem Verbrecher mehr nachlaufen konnte. Er war besser als jede Sekretärin.

Auch Berner wedelte mit einem Blatt Papier. »Porony. Und natürlich …«, er zog die andere Hand hinter dem Rücken hervor, »… ein Muntermacher.«

Wilhelm schnupperte und fühlte sich selig. Keiner wusste, wie es der alte Mann anstellte, aber sein Kaffee war der beste im ganzen Amt. Und man durfte sich glücklich schätzen, zu Berners Auserwählten zu gehören.

»Ma, geh, wieso hast für Fodor einen und für mi net?«, jammerte Lukaschek prompt.

»Weil er da Chef is.« Berner platzierte die Kaffeetasse neben das Phantombild. »Der schaut aus wie der Murl.«

»Murl?« Der Kater von Wilhelms Hausmeisterin hieß so.

»Der Kolporteur, bei dem i immer den Kurier kauf.«

»Du liest den Kurier?«, entfuhr es Lukaschek.

Auch Wilhelm konnte sich nicht beherrschen und starrte seinen Kollegen an. Er selbst studierte die Zeitung zwar auch regelmäßig, aber es war höchst ungewöhnlich, dass ein alter Kämpe mit Verdienstkreuz am Revers dieses Blatt las, das sich für die Restitution von Juden einsetzte und auch sonst manch unangenehme Fragen stellte. Wilhelm konnte sich noch gut erinnern, wie am Tag von Chruschtschows Ankunft in Wien, als er Kennedy getroffen hatte, auf der Titelseite ein Gedicht abgedruckt gewesen war von diesem … wie hieß er noch? Dicker Roman, große Liebe, Nobelpreis, Arzt … ja, ›Doktor Schiwago‹ … Pasternak. Und das Ganze auch noch in Russisch. Eine enorme Provokation für den Herrn Generalsekretär, der ständig und leidenschaftlich gegen den Schriftsteller hetzte. Das musste man sich erst einmal trauen. Dieser Portisch war ein wilder Hund. Hoffentlich blieb er noch lange Chefredakteur.

Berner zuckte mit den Schultern und senkte den Blick. »Stehen manchmal gscheite Sachn drin.«

»Na, i waß net«, zweifelte Lukaschek.

»Mit deiner Gartenrundschau kann’s der Kurier natürlich net aufnehmen«, feixte Wilhelm und nahm einen Schluck von dem schwarzbraunen Gebräu. Nicht bitter, nicht sauer, schlicht purer Genuss. Und so stark, dass der sprichwörtliche Löffel stecken blieb.

»Ja, gift nur herum, Fodor, aber meine Äpfel nimmst immer mit Handkuss.«

»Sind ja auch die besten«, beeilte er sich, seinen Assistenten wieder gewogen zu stimmen. Er nickte Berner zu. »Und was hamma über den Porony?«

»A Goldlöffelkind«, rapportierte der Rechercheur. »Sohn von dem Porony.« Angesichts von Lukascheks gerunzelter Stirn ergänzte er: »Der in sämtlichen Großbauprojekten in die letzten Jahr seine Finger dringehabt hat.«

Daher kannte er den Namen! Da war doch etwas mit Verdacht auf Korruption gewesen. Offensichtlich hatte er deswegen unbewusst so alarmiert reagiert.

»Musst halt do ab und zu den Kurier lesen.« Berner grinste Lukaschek an, der die Augen verdrehte, und tippte dann auf die Adresse. »Ihr habts Glück, beide sind daheim, Elfriede und Franz Porony. Der Chef kommt wegen einer Unpässlichkeit erst zu Mittag ins Büro, hat die Sekretärin gesagt. Ich hab euch bei der Haushälterin avisiert.« Er deutete eine Verbeugung an. »Man wohnt auf der Hohen Warte. Man gönnt sich ja sonst nix.«

Und Wilhelm fühlte sich wieder einmal darin bestätigt, seine eigene, wahre Herkunft vor den Kollegen tunlichst zu verschweigen. Zum Glück trug er nicht den Namen seines leiblichen Vaters. Würde der bekannt, konnte er sich einen neuen Job suchen. Denn einem Halbadeligen würde bei der Polizei das Leben vergällt.

6

Bereits am Schwedenplatz war Wilhelm heiß. Und das lag nicht nur an der leidlich guten Heizung des Autos, sondern an demselben an sich. Drei normal große Männer in dieser Dose von Wagen zog unweigerlich die Entwicklung von Stallhitze nach sich. Er knöpfte den Mantel auf, lockerte die Krawatte und verfluchte zum sicher hundertsten Mal die Polizeiverwaltung, die letztes Jahr ausgerechnet den Puch 500 als Einsatzwagen flottiert hatte. Da war Schmiergeld geflossen, anders ließ sich diese widersinnige Entscheidung nicht erklären. Und weil er, Wilhelm Fodor, Gott-sei-bei-uns-Wiesinger just zum Vergabezeitpunkt wieder einmal bei irgendeiner blödsinnigen Kleinigkeit zu vehement widersprochen hatte, war ihnen, obwohl keine Pflasterhirschen, sondern Ermittler, dieses Spuckerl zugewiesen worden.

Aber schlechte Laune bei der Hinterbringung einer Todesnachricht war kontraproduktiv, also visualisierte Wilhelm das Briochekipferl, das die Krenek ihm vorhin als Jause gebracht hatte, passend zu Berners Kaffee. Mit dieser kulinarischen Wohltat und der Lektüre der Nachteinsätze hatte er bestens die Wartezeit auf das zweite Phantombild überbrücken können. Für diese Angewohnheit wurde er von den anderen belächelt, denn was gingen Kriminalbeamte von Leib und Leben irgendwelche Raufereien an? Doch er wusste gern darüber Bescheid, was sich so in seiner Stadt abspielte. Und zwei Mal schon hatten ihm diese Informationen dann bei einem Mordfall geholfen. Die letzte Nacht war allerdings diesbezüglich uninteressant und auch sehr ruhig gewesen, denn eine Rauferei in Favoriten, ein versuchter Einbruch bei einem Juwelier in der Innenstadt und ein toter alter Säufer bei der Stadtbahnstation Nußdorfer Straße waren für eine Großstadt nicht viel … Es schleuderte ihn zu Fischer.

Wilhelm zog sich auf seinen Sitz zurück. »Kannst bitte den Jochen Rindt wieder einpacken und wie ein normaler Mensch fahren?«

Fischer knurrte. »Wenn schon Vergleiche, dann bitte Jack Brabham.«

»Deswegen sitz ich immer hinten!«, ließ Lukaschek verlauten.

Wilhelm schaute über die Schulter. Sein Kollege knotzte seitlich, hatte die Beine halb auf dem Sitz abgelegt und grinste. »›Immer‹ ist hiermit beendet, Lukki. Das nächste Mal gehst du auf den Schleudersitz.«

»Geh, wie schaut denn das aus, Fodor, wenn der Chef vom Rücksitz rauskrabbelt?«

Wilhelm schleuderte es zum Fenster und dann zu Fischer. »Jetzt reicht’s aber!«

»Wenn der Trottel da auch einfach stehen bleibt!«

»Vielleicht auch stehen bleiben? Warten? Wennst so weitermachst, fährt das nächste Mal der Lukaschek.«

Jetzt knurrten beide. Und Wilhelm hoffte, dass die Drohung eine positive Reaktion nach sich zog, damit er sie nicht in die Tat umsetzen musste, denn Fischer fühlte sich zwar als verhinderter Rennfahrer, doch er fuhr sicher und bislang unfallfrei. Lukaschek hingegen hing hechelnd über dem Lenkrad und hatte bei seiner bislang einzigen Dienstfahrt auch sofort beinahe einen Mopedfahrer umgemäht, trotz einer Geschwindigkeit, die Schnecken als rasende Bestien erscheinen ließ. Wilhelm mochte sich gar nicht vorstellen, wie Lukaschek größere Strecken, etwa die Besuche bei seinen Eltern in Amstetten, bewältigte.

Natürlich könnte er auch selbst fahren, aber er hing lieber seinen Gedanken nach. Grübelte über die Fälle. Wie zum Beispiel über die Phantombilder. Sie wirkten nahezu ident, irgendwie nullachtfünfzehn. Beide Männer mit dunklen Glutaugen, einer mit, einer ohne Schnurrbart. Und in Wilhelm keimte der Verdacht, dass die drei Zeugen einfach ihre Vorstellung von einem Mann des Ostens hatten zeichnen lassen und nicht das tatsächliche Aussehen des Verdächtigen.

Fischer schlich inzwischen die Döblinger Hauptstraße hinauf.

»So langsam brauchst auch nicht fahren, wir wollen schon noch heute ankommen.«

Sein Kollege reagierte nicht.

Aus dem Augenwinkel sah Wilhelm, wie Lukaschek sich vorbeugte und, freudig fuchtelnd wie ein Kind, das ein Lebkuchenhaus entdeckt, auf einen Gemeindebau deutete. »Hast du da net gwohnt, Fischer?« Der reagierte nicht. Lukaschek tippte ihm auf die Schulter. »Du hast doch da amal gwohnt, oder? Das hat mir die Krenek erzählt, weil eines ihrer Enkerl geht da in den Kindergarten.«

»Ja, und? Is lange her.«

Wilhelm legte all seine Beschwörungskunst in den Blick, mit dem er auf Lukaschek einstach. Gar kein gutes Thema, ein sehr schlechtes sogar. Lass es! Und glücklicherweise schien die Botschaft anzukommen, denn Lukaschek lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

Wilhelm atmete aus und wandte sich wieder nach vorn.

»Ja, aber was ist so schlimm, wenn ich nach deiner ehemaligen Wohnung frag?«

Wilhelm sah zu Fischer, der vor sich hin starrte. »Sag’s ihm. Besser, er hört’s von dir als von irgendeinem Kollegen.«

Fischer vollzog ein Nicken zwischen Verneinung und Aufforderung.

Also drehte sich Wilhelm zu Lukaschek um. »Seine Frau hat sich da vom Balkon geschmissen.« Er spürte, wie Fischer zusammenzuckte. Aber ein sanftes Drumherumreden brachte ja auch nichts.

»Sie ist nicht einfach gestorben? An einer Krankheit?«

»Nein, Kindbettdepression.«

Lukaschek schluckte und warf einen beinah scheuen Blick auf seinen Kollegen, mit dem er seit einem halben Jahr zusammenarbeitete und den er wohl zu kennen geglaubt hatte. Er schwieg.

Wilhelm ahnte, welche Gedanken ihm durch den Kopf schossen, wahrscheinlich ähnliche wie ihm selbst einst. Zu einem Rabauken wie Fischer passte solch ein tragisches Schicksal irgendwie nicht. Es fügte ihm eine Facette zu, die man ihm nicht zugestehen mochte.

»Sagts, der Großkopferte, zu dem wir jetzt fahren, is das nicht der, der sich stark dafür gemacht hat, dass ma Tschuschen ins Land holen?«, fragte Fischer unvermittelt.

»Was willst, wenn wir net genug Leut für die ganze Hackn haben?«, ließ Lukaschek vernehmen. »Is doch leiwand, dass uns so gut geht.«

Wilhelm verkroch sich in den Sitz. Die Vorstellung, dass die Stadt alsbald von finster dreinblickenden Hinterwäldlern vom Balkan überschwemmt war, behagte ihm ebenfalls nicht, doch Fischers beinharte Ausländerverachtung ging zu weit.

»Ja, aber müssen des ausgerechnet die Lammfresser sein?«, kam es vom Fahrersitz.

»Das sind hauptsächlich Christen«, korrigierte Wilhelm ihn. Inzwischen befanden sie sich auf der direkten Straße zur Hohen Warte. Er studierte die Hausnummern und Seitengassen.

»Was mich viel mehr stört«, sagte Lukaschek, »is, dass wir die jetzt durchfüttern, nur weil die Kommunisten da unten nix zsammbringen. Der Tito muss a Wappler sein, denn sonst tätn s’ ja net zu uns raufkommen, damit s’ was zum Arbeiten haben.«

»Die fahren nach ein paar Jahren eh wieder heim. Heißen wohl nicht umsonst Gastarbeiter. Und jetzt gebts eine Ruhe.« Wilhelm zeigte auf eine dreistöckige Villa. »Wir stehen gleich trauernden Eltern gegenüber, da hat Politik nichts verloren.«

Fischer hielt direkt vor dem schmiedeeisernen Tor des Anwesens. Sie wutzelten sich aus dem Auto und läuteten. Es tat sich nichts. Fischer drückte nochmals die Klingel. Wilhelm spürte, wie die Kälte den Schweiß auf seiner Stirn in Kristalle verwandelte. Ein Wunder, dass er nicht öfters krank wurde. Sein Blick glitt sehnsüchtig über das Porony’sche Domizil, in dem sicher gut geheizt war. Der Gründerzeitbau protzte nicht nur in der Beletage mit Balkonen, deren Gitter kunstvoll geschmiedet waren, sondern auch mit identen Terrassen im Erdgeschoss. Die Fenster im zweiten Stock wiesen passende Gitter für Blumenkisterln auf, und das Ganze war in Schönbrunnergelb gestrichen. Mit dem alten Baumbestand rundherum schrie der Bau förmlich: Ich bin reich, das schon sehr lange, und das ist gut so.

Nach einer Unendlichkeit öffnete eine ältere Dame in schwarzem Kleid mit weißer Schürze die Haustür. »Sie wünschen?«

Sie zückten alle drei die Kokarden, und Wilhelm schnarrte sein übliches Sprücherl herunter.

Die Haushälterin verschwand im Dunkel des Hauses, kehrte mit einer Stola um die Schultern zurück, hastete durch den Vorgarten, öffnete ihnen und rannte förmlich in die rettende Wärme zurück – nicht besonders distinguiert, doch Wilhelm konnte es ihr nicht verdenken.

Eilig schloss sie hinter ihnen die Tür. »Wenn Sie bitte einen Augenblick Geduld haben?« Damit diffundierte sie in der Tiefe des Hausflurs.

Wilhelm hörte sie klopfen und etwas sagen. Dann wieder nichts. Aufwendiger konnte ein Besuch bei der Queen wahrlich auch nicht sein.

»Schauts amal«, meinte Lukaschek und deutete mit dem Kopf auf die linke Wand des Vorzimmers.

Da hingen Ölbilder von Gebäuden. Anhand der Bildunterschriften wurde Wilhelm klar, dass es sich um besondere Bauwerke handelte, für die Porony verantwortlich zeichnete. Die rechte Wand war ebenfalls mit Ölschinken vollgepfropft. Sie zeigten Porträts. Wahrscheinlich die Familienahnen. Der Boden war schwarz-weiß gekachelt, neben der Eingangstür standen ein Schirmständer, in dem ein Spazierstock mit silbernem Fuchs als Knauf lehnte, und ein Kleiderständer, wie man ihn üblicherweise im Kaffeehaus fand. An ihm hing ein einsamer Lodenmantel.

Die Haushälterin tauchte wie ein Geist wieder auf. »Ich darf Sie bitten?«

Sie folgten ihr den Gang entlang zur letzten Tür rechts, die bereits offen war. Licht strahlte ihnen entgegen. Die Helligkeit im Raum stammte von einem immensen Fenster, das auf den Garten gerichtet und lediglich mit Stores umrahmt war. Der Salon war vollgestopft mit Möbeln von Rokoko bis Moderne, auf denen sich eine graue Strickjacke, Nippes, Fotografien, ein Schlüsselbund, eine Dokumentenmappe, eine Vase mit violett gefärbten Disteln, gehäkelte Deckchen und ein Humidor befanden. Alles sehr privat und nicht repräsentabel. Der Flügel im hintersten Eck knickte beinahe unter der Masse der Notenblätter zusammen.

Vor dem Fenster stand ein dunkler, großer Tisch für mindestens zehn Personen. In seiner Mitte glänzte ein Samowar. Und neben dem Teezubereitungsgerät saß ein leicht angegrauter Mann mit ausuferndem Schnurrbart im scharf geschnittenen Gesicht, das er augenscheinlich seinem Sohn vererbt hatte. Typ attraktiver Oberst.

Franz Porony stand auf, nickte kurz und sah ihnen mit zusammengezogenen Augenbrauen entgegen. »Was verschafft mir die Ehre der Polizei? Hat sich ein Arbeiter von uns etwas zuschulden kommen lassen?«

Wilhelm machte einen Schritt aus dem Gegenlicht und sah nun die Gesichtszüge. Sein Herzschlag verholperte sich. Diesem Herren hatte er einst vor langer Zeit ein Glas Rotwein über die Frackbrust geschüttet. Unabsichtlich, aber dennoch. Unwillkürlich wandte er sich ab, um scheinbar die Disteln auf der Anrichte neben der Tür zu betrachten. Bei der Erwähnung des Opfernamens war also nicht der Polizist in ihm alarmiert gewesen. Und gleich – jetzt – in der nächsten Sekunde würde der Alte ihn per Namen ansprechen, per vermeintlichem Namen, per Namen des Erzeugers, und gleich würden seine Kollegen ihn mit großen Augen anstarren.

Nicht gut. Gar nicht gut.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er einmal bei Bekannten seines Vaters beziehungsweise seiner Stiefmutter ermitteln musste. Und doch hatte er sich bis zu dieser Sekunde keine Strategie zurechtgelegt, um mit einer derartigen Begegnung umgehen zu können. Gehofft, ja, das hatte er, dass er rechtzeitig davon erfuhr und mit irgendeiner Ausrede seine Kollegen allein zum Betreffenden schicken konnte, aber diese Vagheit durchdacht, geschweige denn etwas Handfestes geplant, hatte er nicht. Vogel Strauß ließ grüßen. Aktuell war seine einzige Chance, der Beichte gegenüber seinen Kollegen zu entgehen, dass nicht nur für ihn dieses Ereignis weit über fünfzehn Jahre zurücklag und Porony sich höchstwahrscheinlich nicht mehr an den pickelgesichtigen Jüngling unter vielen im Haushalt seiner Gastgeber erinnern konnte.