Eine Messe für all die Toten - Colin Dexter - E-Book
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Eine Messe für all die Toten E-Book

Colin Dexter

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Beschreibung

Seit Ewigkeiten ist in der verschlafenen Gemeinde St. Frideswide's nichts Aufregendes mehr passiert. Jeden Sonntag pilgern die Schäfchen brav in die Kirche, werfen ein paar Pence in die Kollekte, beichten die üblichen Vergehen und lassen sich von ihren Sünden freisprechen. Bis eines Tages der Kirchenvorsteher ermordet wird - während des Gottesdienstes. Das kommt Chief Inspector Morse ganz gelegen, der sich in seinem Urlaub fürchterlich langweilt. Als kurz darauf der Pfarrer höchstselbst vom Kirchturm in den Tod springt, stehen Morse und sein treuer Sergeant Lewis vor einem kriminalistischen Rätsel.

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Über dieses Buch

Seit Ewigkeiten ist im verschlafenen St. Frideswide’s nichts Aufregendes mehr passiert. Bis eines Tages der Kirchenvorsteher ermordet wird - während des Gottesdienstes. Als kurz darauf der Pfarrer höchstselbst vom Kirchturm in den Tod springt, stehen Chief Inspector Morse und sein treuer Sergeant Lewis vor einem Rätsel.

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Colin Dexter (1930-2017) studierte Klassische Altertumswissenschaft. Er ist der Schöpfer der vierzehnteiligen Krimireihe um Inspector Morse. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem CWA Diamond Dagger und dem Order of the British Empire für Verdienste um die Literatur ausgezeichnet.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Colin Dexter

Eine Messe für all die Toten

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ute Tanner

Ein Fall für Inspector Morse 4

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die englische Originalausgabe erschien 1979 bei Macmillan, London.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1986 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek.

Für die vorliegende Ausgabe hat Eva Berié die deutsche Übersetzung nach dem Original überarbeitet.

Originaltitel: Service of All the Dead

© by Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International 1979

Übernahme der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Reinbek

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Colin Underhill (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31027-8

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Version vom 02.06.2022, 15:12h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

EINE MESSE FÜR ALL DIE TOTEN

DAS ERSTE BUCH DER CHRONIK1 – Matt schüttelte Pfarrer Lionel Lawson die letzte behandschuhte …2 – Harry Josephs tat, als schliefe er noch …3 – Für die letzte Stunde der Woche hätte man …4 – Der Bus, ein ausladendes Luxusgefährt, sollte um halb …5 – Es war der Mittwoch danach. Niemand achtete auf …DAS ZWEITE BUCH DER CHRONIK6 – Wäre Detective Chief Inspector Morse weniger zögerlich und …7 – Als Schuljunge hatte Morse ein paar Shilling in …8 – Morse trat ins Freie und schlenderte zu dem …9 – Ruth Rawlinson wich dem Blick des Mannes aus …10 – Reverend Keith Meiklejohn stand an der Tür des …11 – Medien und Hellseher behaupten, größere Fähigkeiten zu haben …12 – Als Morse am Montagmorgen mit klarem Kopf aufwachte …13 – Was, zum Teufel, wollen Sie denn hier?« …14 – Morse ging an Christ Church vorbei zum Cornmarket …15 – Nein, tut mir leid, Inspector, da haben Sie …16 – Am nächsten Mittag saß Morse allein im Bulldog …17 – Morse klopfte energisch an die Tür, auf der …18 – Am nächsten Morgen holte das Läuten des Telefons …19 – Am gleichen Nachmittag gingen gegen halb fünf zwei …20 – Am Freitag der gleichen Woche, nachmittags um halb …21 – Obgleich ihr Mann ohne ihr Wissen einen Kredit …22 – Am Samstagmorgen kam Morse auf Seite zwei des …23 – Ein Großteil der Besucher waren ältere Damen …24 – Morse ließ sich ungewöhnlich viel Zeit, und es …25 – Am gleichen Tag saß kurz nach acht abends …26 – Es heißt ja, dass man diese industriell hergestellte …27 – Lewis kam am nächsten Morgen um Viertel nach …28 – Als Ruth um fünf vor eins noch nicht …29 – Morse schloss die Tür am Nordportal hinter sich …30 – Die Entscheidung, nach Shrewsbury zu fahren, fällte Morse …31 – Die Ereignisse der letzten Tage waren Pfarrer Keith …32 – Das dicke, ledergebundene Kirchenbuch stand, wie Meiklejohn gesagt …33 – Lewis hatte einen geschäftigen Vormittag hinter sich …34 – Trotz ihrer Sorgen fand Ruth Rawlinson am nächsten …35 – Was machst du hier?«, fragte sie scharf. »Ich …36 – Schmutzige Spinnweben hingen an den Steinstufen über seinem …37 – Morse merkte, dass etwas Wundersames geschah. Der Körper …DAS BUCH RUTH38 – Aussage von Miss Ruth Rawlinson, Manning Terrace 14 …39 – Aussage von Ruth Rawlinson (Fortsetzung)40 – Aussage von Ruth Rawlinson (Fortsetzung)DAS BUCH DER OFFENBARUNG41 – Der Friar Bacon Pub liegt ein bisschen abseits …42 – Auszug aus dem Protokoll der Verhandlung gegen Ruth …43 – Ich muss mich doch immer wieder wundern« …44 – Im folgenden Jahr nahm Morse seinen Urlaub später …

Mehr über dieses Buch

Über Colin Dexter

Colin Dexter: »Ich liebe es, von einem Krimi an der Nase herumgeführt zu werden.«

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»Ich will lieber die Tür hütenin meines Gottes Hause als wohnenin den Zelten der Frevler.«

84. Psalm, Vers 11

DAS ERSTE BUCH DER CHRONIK

1

Matt schüttelte Pfarrer Lionel Lawson die letzte behandschuhte Rechte, die schmal und schlank war und Mrs Emily Walsh-Atkins gehörte. Jetzt, wusste er, war das Gestühl der alten Kirche hinter ihm leer. Es war immer dasselbe Lied. Während die anderen aufgeputzten Damen die Köpfe zusammensteckten, um über Gartenfeste und Sommerhüte zu plaudern, während der Organist sein Nachspiel auf der Orgel anstimmte und die Chorknaben, ihrer Soutanen ledig, die T-Shirts in die Jeans steckten, verharrte Mrs Walsh-Atkins unweigerlich noch einige Minuten auf den Knien – eine leicht übertriebene Demutsgeste gegenüber dem Allmächtigen, wie Lawson zuweilen dachte. Doch da war eine Menge, wofür sie dankbar sein konnte. Sie war einundachtzig, doch geistig und körperlich noch beneidenswert rege. Nur ihr Sehvermögen hatte sich in letzter Zeit verschlechtert. Sie wohnte in Nord-Oxford in einem Heim für alte Damen, das ein hoher Zaun und eine Fichtenpflanzung vor neugierigen Blicken abschirmten. Hier sah sie vom Fenster ihres Wohnzimmers, in dem es nach welkem Lavendel und Silberputzmittel duftete, auf die gepflegten Wege und Rasenflächen, von denen allmorgendlich der Hausmeister unauffällig Coca-Cola-Dosen, Milchflaschen oder leere Kartoffelchipstüten auflas. Hinterlassenschaft jener seltsamen, unbegreiflich sittenlosen jungen Leute, die in Mrs Walsh-Atkins’ Augen eigentlich kein Recht hatten, frei herumzulaufen – und schon gar nicht in ihrem geliebten Nord-Oxford. Das Heim war entsetzlich teuer, aber Mrs Walsh-Atkins war eine reiche Frau, und jeden Sonntag enthielt ihr sorgsam zugeklebter brauner Umschlag, den sie behutsam auf den Kollektenteller legte, eine gefaltete Fünf-Pfund-Note.

»Haben Sie Dank für Ihre Botschaft, Herr Pfarrer.«

»Gott segne Sie.«

Dieser kurze Dialog, der sich in den zehn Jahren, seit Lawson die Pfarrstelle in der Gemeinde von St. Frideswide’s übernommen hatte, stets wortwörtlich wiederholte, war die letzte Stufe der Nichtkommunikation zwischen Pfarrer und Gemeindemitglied. In den ersten Wochen seiner Amtszeit hatte Lawson die Sache mit der »Botschaft« einiges Unbehagen bereitet, wusste er doch nur zu gut, dass seine Predigt an keiner Stelle von besonderem evangelistischen Feuer durchglüht war. Im Übrigen musste sich ein Geistlicher wie Lawson, ein gemäßigter Anhänger der anglikanischen Hochkirche, in der Rolle eines vom lieben Gott eingesetzten Telegrafenboten fehl am Platz, ja, ausgesprochen unwohl fühlen. Doch anscheinend vernahm Mrs Walsh-Atkins das Summen der himmlischen Drähte, wie immer sein Predigttext auch lauten mochte, und brachte jeden Sonntag von Neuem dem ahnungslosen Überbringer froher Kunde ihre Dankbarkeit zum Ausdruck. Es war purer Zufall, dass Lawson nach dem ersten Gottesdienst auf diese viersilbig-schlichte Antwort verfallen war, drei magische Worte, die Mrs Walsh-Atkins zusammen mit ihrem Gebetbuch auch an diesem Sonntag wieder glücklich an den Busen drückte, während sie in gewohnt flotter Gangart der St. Giles Street zustrebte, wo ihr gewohnter Taxifahrer in der Parkbucht am Martyrs’ Memorial schon auf sie wartete.

Der Pfarrer von St. Frideswide’s sah nach rechts und nach links die heiße Straße hinunter. Hier hielt ihn nichts mehr, aber er zögerte sichtlich, den verschatteten Kirchenraum wieder zu betreten. Eine kleine Gruppe japanischer Touristen kam auf der anderen Straßenseite vorbei. Ihr kleiner, bebrillter Führer zählte mit abgehackter Stimme die Sehenswürdigkeiten der alten Stadt auf. Sein Singsang war noch vernehmbar, während die kleine Gruppe sich an dem Kino vorbei entfernte, das dem verehrten Publikum stolz die Chance offerierte, die Intimitäten eines Partnertauschs à la française mitzuerleben. Doch in Lawson regte sich kein Hauch von Sinnlichkeit, seine Gedanken waren anderweitig in Anspruch genommen. Sorgsam nahm er den Talarüberwurf mit dem weißen Seidenfutter (M. A. Cantab.) von den Schultern und sah zur Carfax hinüber, wo die Tür zum Ox schon offen stand. Doch Gasthäuser übten seit jeher wenig Reiz auf ihn aus. Gewiss, bei der einen oder anderen Gemeindeveranstaltung trank auch er sein Glas süßen Sherry, doch falls Lawsons Seele sich irgendeiner Sünde wegen zu verantworten hatte, wenn der Engel des Jüngsten Gerichts in seine Posaune stieß, dann gewiss nicht wegen der Sünde der Trunksucht. Ohne das sauber gescheitelte Haar durcheinanderzubringen, zog er das lange weiße Chorhemd über den Kopf und betrat wieder die Kirche.

Außer Paul Morris, dem Organisten, der jetzt bei den letzten Takten seines Stückes angelangt war – Mozart, konstatierte Lawson –, war nur noch Brenda Josephs zu sehen. Sie saß in einem ärmellosen grünen Sommerkleid ganz hinten, eine Frau von Mitte oder Ende dreißig. Ihr nackter, gebräunter Arm lag auf der Lehne der Kirchenbank, die Fingerspitzen streichelten über das glatte Holz. Sie lächelte pflichtschuldig, als Lawson vorbeikam, und Lawson seinerseits neigte in einer beiläufig segnenden Gebärde den schlanken Kopf. Sie hatten sich vor dem Gottesdienst offiziell begrüßt; beiden schien nicht viel daran zu liegen, das unverbindliche Gespräch von vorhin wieder aufzunehmen. Auf dem Weg zur Sakristei blieb Lawson kurz stehen, um ein heruntergefallenes Kniekissen an der Kirchenbank einzuhaken. Dabei hörte er, wie die Tür neben der Orgel zuschlug. Vielleicht ein wenig zu laut? Ein wenig zu hastig?

Der Vorhang teilte sich, als er zur Sakristei kam, und ein Junge mit rötlichem Haar und Sommersprossen lief Lawson direkt in die Arme. »Nicht so hastig, Junge. Wohin so schnell?«

»Entschuldigung, Sir, ich hatte nur vergessen …« Die atemlose Stimme hielt inne. Die rechte Hand, die eine halb leere Tüte mit Fruchtgummis umklammerte, verschwand rasch hinter dem Rücken.

»Ich will doch nicht hoffen, dass du während der Predigt genascht hast?«

»Nein, Sir.«

»Na ja, übel zu nehmen wärs dir nicht. Ich bin manchmal ganz schön langweilig, was?« Lawson legte dem Jungen die Hand auf den Kopf und verstrubbelte ihm das Haar ein bisschen.

Peter Morris, einziger Sohn des Organisten, sah vorsichtig lächelnd zu Lawson auf. Für Untertöne hatte er kein Ohr, aber dass der Pfarrer nicht böse war, so viel war wohl klar. Rasch lief er zum Ausgang.

»Peter!« Der Junge blieb wie angewurzelt stehen und sah sich um. »Wie oft soll ich dir das noch sagen! Man rennt nicht in der Kirche!«

»Ja, Sir. Äh – ich meine, nein, Sir.«

»Und vergiss den Ausflug am nächsten Sonntag nicht.«

»Bestimmt nicht, Sir.«

Lawson hatte natürlich gesehen, dass Peters Vater und Brenda Josephs sich am Nordportal in angeregtem Flüsterton unterhielten. Inzwischen aber war Paul Morris leise seinem Sohn nach draußen gefolgt, und Brenda besah sich mit ernster Miene das Taufbecken. Es stammte von 1345 und war, wenn man dem »Kurzgefassten Führer durch St. Frideswide’s« glauben durfte, die größte Sehenswürdigkeit der Kirche. Lawson drehte sich um und betrat die Sakristei.

Harry Josephs, der Kirchenvorsteher, war fast fertig. Nach jedem Gottesdienst trug er unter dem entsprechenden Datum zwei Zahlen in das Kirchenregister ein, erstens die Besucherzahl, auf fünf auf- oder abgerundet, zweitens den Betrag der Kollekte, auf den letzten halben Penny genau. St. Frideswide’s war alles in allem eine florierende Gemeinde. Ihre Mitglieder gehörten zur gehobenen Mittelschicht, und selbst in den Universitätsferien war häufig die Hälfte der Plätze besetzt. Die Beträge, die vom Kirchenvorsteher gezählt, vom Pfarrer überprüft und danach zur Filiale von Barclays Bank in der High Street gebracht wurden, waren daher nicht unbeträchtlich. Die Einnahmen dieses Morgens, nach Nennwerten sortiert, lagen auf Lawsons Schreibtisch in der Sakristei. Eine Fünf-Pfund-Note, etwa fünfzehn Ein-Pfund-Noten, zwanzig Fünfzig-Pence-Stücke und kleinere Münzen, ordentlich zu überschaubaren Beträgen gestapelt.

»Wieder eine treffliche Beteiligung, Harry.« Trefflich war eins von Lawsons Lieblingswörtern. Obgleich es in Theologenkreisen von jeher umstritten ist, ob der Allmächtige Wert auf die bloße Anzahl der Gottesdienstteilnehmer legt, war es aus weltlicher Sicht erfreulich, Hüter einer zumindest zahlenmäßig einigermaßen starken Herde zu sein. Und das Wort »trefflich« hielt auf unverbindliche Art und Weise die Mitte zwischen einer rein rechnerischen und einer geistlich-seelsorgerischen Beurteilung.

Harry nickte und trug eine Zahl ein. »Wenn Sie mal eben nachsehen würden, Sir. Nach meiner Rechnung sind es 135 Besucher und 57 Pfund 12 Pence in der Kollekte.«

»Heute keine halben Pence, Harry? Da hat sich wohl der eine oder der andere der Chorknaben meine kleine Standpauke zu Herzen genommen.« Mit der Geschicklichkeit eines gelernten Kassierers ließ er die Pfundnoten durch die Finger gleiten und strich dann über die aufgetürmten Münzen wie der Bischof bei der Einsegnung über die Häupter seiner Konfirmanden.

»Irgendwann müssen Sie sich doch auch mal verrechnen, Josephs, oder nicht? Bin gespannt, wann Sie mich damit überraschen.«

Josephs warf dem Pfarrer einen raschen Blick zu, aber der setzte gerade seine Unterschrift an den rechten Rand des Kirchenbuchs und machte ein harmlos freundliches Gesicht.

Zusammen packten sie das Geld in eine abgegriffene Keksdose von Huntley & Palmer, für so viel Geld ein recht ungeeignetes Behältnis. Doch als bei einer der letzten Sitzungen des Gemeindekirchenrats Sicherheitsprobleme zur Sprache gekommen waren, hatte niemand eine bessere Lösung gehabt, wenn man von dem Vorschlag absah, sich einer etwas moderneren Ausgabe der Dose zu bedienen, um den Eindruck glaubhafter zu machen, der Blechkasten auf dem Rücksitz von Josephs’ Allegro enthalte nichts Wertvolleres als ein paar von der letzten Gemeindeveranstaltung übrig gebliebene Ingwerplätzchen und Butterkekse.

»So, ich muss los, Herr Pfarrer. Meine Frau wird schon warten.«

Lawson nickte und sah seinem Kirchenvorsteher nach. Ja, Brenda Josephs würde warten. Das musste sie ja wohl. Vor einem halben Jahr hatte Harry wegen Trunkenheit am Steuer vor Gericht gestanden, und hauptsächlich Lawsons Vermittlung war es zu verdanken, dass der Richter ein relativ mildes Urteil gefällt hatte – fünfzig Pfund Geldstrafe und ein Jahr Führerscheinentzug. Die Josephs wohnten in Wolvercote, einem drei Meilen nördlich von der Stadtmitte gelegenen Dorf, und dort waren Busse am Sonntag seltener als Fünf-Pfund-Noten auf dem Kollektenteller.

Das kleine Fenster der Sakristei ging nach Süden. Lawson setzte sich an den Schreibtisch und sah mit leerem Blick auf den Friedhof hinüber. Krumm und schief standen die grauen, verwitterten Grabsteine da, die Inschriften waren längst vermoost oder von Wind und Regen vieler Jahrhunderte ausgewaschen. Man sah dem Pfarrer an, dass er Sorgen hatte. In der heutigen Kollekte hätten zwei Fünf-Pfund-Noten sein müssen. War es denkbar, dass Mrs Walsh-Atkins doch einmal die Fünf-Pfund-Noten ausgegangen waren und sie fünf einzelne Pfund in die Kollekte gegeben hatte? Allerdings wäre das seit vielen Jahren das erste Mal gewesen. Nein, es gab eine viel naheliegendere Erklärung, die Lawson schwer zu schaffen machte. Doch noch blieb eine kleine Chance, dass er sich irrte. »Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.« Zumindest nicht bis zum Vorliegen eindeutiger Beweise. Er holte seine Brieftasche hervor und nahm einen Zettel heraus, auf dem er sich heute früh die Nummer der Fünf-Pfund-Note notiert hatte, die von ihm selbst in einen kleinen braunen Umschlag gesteckt und in die Kollekte gegeben worden war. Erst vor zwei oder drei Minuten hatte er die letzten drei Zahlen der Fünf-Pfund-Note geprüft, die Harry Josephs in der Keksdose verstaut hatte. Sie stimmte nicht mit den Endziffern überein, die auf seinem Zettel standen. Damit hatte sich der Verdacht bestätigt, den Lawson schon seit etlichen Wochen hegte. Natürlich hätte er Josephs an Ort und Stelle auffordern sollen, seine Taschen auszuleeren. Es wäre seine Pflicht gewesen, als Priester und Freund (Freund?), denn Josephs musste die Fünf-Pfund-Note, die er aus dem Opfergeld gestohlen hatte, noch bei sich haben. Jetzt besah sich Lawson noch einmal die Zahl auf seinem Zettel: AN 50 405 546. Dann hob er langsam den Blick und sah wieder auf den Friedhof hinaus. Der Himmel hatte sich bezogen, und als er eine halbe Stunde später das Pfarrhaus in der St. Ebbes Street betrat, lag Regen in der Luft. Es war, als habe jemand die Sonne ausgeschaltet.

2

Harry Josephs tat, als schliefe er noch, hatte aber sehr wohl gehört, wie seine Frau kurz vor sieben aufstand, und konnte ihre Bewegungen präzise verfolgen. Sie hatte den Morgenrock übers Nachthemd gezogen, war in die Küche hinuntergegangen, hatte den Kessel gefüllt und sich dann an den Küchentisch gesetzt, um ihre erste Zigarette zu rauchen. Erst in den letzten zwei, drei Monaten hatte Brenda wieder angefangen zu rauchen, was ihm gar nicht passte. Ihr Atem roch schal, und der Anblick eines Aschenbechers voller Kippen ekelte ihn an. Wer Sorgen hatte und nervös war, hieß es, rauchte viel. Zigaretten waren ein Betäubungsmittel wie Aspirin oder Schnaps oder Pferdewetten. Erneut von seinen eigenen Sorgen überwältigt, vergrub er den Kopf im Kissen.

»Tee.« Sie stupste sanft seine Schulter an und setzte den Becher auf das Tischchen, das zwischen den Ehebetten stand.

Josephs nickte, grunzte und drehte sich auf den Rücken. Er sah zu seiner Frau hinüber, die vor dem Ankleidetisch stand und sich das Nachthemd über den Kopf streifte. Sie wurde allmählich ein bisschen breiter um die Hüften, war aber noch immer von langbeiniger Eleganz, und ihre Brüste waren fest und voll. Dennoch sah Josephs sie nicht direkt an, als sie jetzt sekundenlang nackt vor dem Spiegel stand. In den letzten Monaten war es ihm zunehmend peinlich, ihren Körper zu betrachten, als dringe er damit in eine Privatsphäre ein, in die sie ihn nicht mehr ausdrücklich einlud. Er setzte sich auf und trank seinen Tee, während sie den Seitenreißverschluss an ihrem braunen Rock hochzog. »Die Zeitung schon da?«

»Hätte ich mitgebracht.« Sie beugte sich nach vorn und nahm ein paar Verschönerungsaktionen an ihrem Gesicht vor. Josephs hatte nie viel Interesse für die Reihenfolge aufbringen können.

»Hat tüchtig geregnet in der Nacht.«

»Regnet noch«, meinte Brenda.

»Gut für den Garten.«

»Hm.«

»Schon gefrühstückt?«

Sie schüttelte den Kopf »Aber Schinken haben wir noch reichlich, wenn du …« Sie trug Lippenstift auf. »Und Pilze sind auch noch ein paar da.«

Josephs trank seinen Tee aus und legte sich zurück. Es war fünf vor halb acht, in fünf Minuten musste Brenda los. Sie arbeitete vormittags im Radcliffe-Hospital, wo sie vor zwei Jahren wieder als Krankenschwester angefangen hatte. Vor zwei Jahren, kurz nachdem …

Sie kam zu ihm ans Bett, streifte mit den Lippen leicht seine Stirn, griff sich den Becher und verließ das Zimmer. Aber gleich darauf war sie wieder da. »Fast hätte ichs vergessen, Harry. Ich bin heute Mittag zum Essen nicht hier, kannst du dir was machen? Ich muss mir unbedingt in der Stadt was besorgen. Aber spätestens um drei bin ich zurück. Ich bring auch was Schönes zum Tee mit.«

Josephs nickte stumm. Sie stand noch an der Tür.

»Brauchst du was? Aus der Stadt, meine ich.«

»Nein.« Einen Augenblick lag er ganz still und horchte nach unten auf ihre Schritte.

»Tschüs!«

»Wiedersehen.« Die Haustür schlug hinter ihr zu. »Wiedersehen, Brenda.«

Er zog die Bettdecke zurück, stand auf und spähte seitlich durch den Vorhang. Der Allegro rollte vorsichtig im Rückwärtsgang auf die stille, nasse Straße hinaus, gab noch ein Auspuffwölkchen von sich – dann war er verschwunden. Zum Radcliffe waren es genau 2,8 Meilen, das wusste Josephs. Drei Jahre lang war er selbst genau dieselbe Strecke gefahren, zu dem Gebäude der Stadtverwaltung unterhalb des Krankenhauses, in dem er nach zwanzig Jahren bei der Army tätig gewesen war. Vor zwei Jahren, nach den neuesten Kürzungen der öffentlichen Haushalte, war es zu Personaleinsparungen gekommen, und drei der sieben Mitarbeiter, darunter auch er, hatten ihre Stellung verloren. Er war weder der Älteste noch der Unerfahrenste, doch von den Älteren hatte er die wenigste Erfahrung, und von den weniger Erfahrenen war er der Älteste. Ein leicht versilberter Händedruck, ein Abschiedsfest und eine kleine Hoffnung, einen neuen Job zu finden. Nein, falsch: fast keine Hoffnung, einen neuen Job zu finden. Damals war er achtundvierzig gewesen, genau genommen noch nicht besonders alt. Doch ganz allmählich hatte er die traurige Wahrheit begriffen: Niemand wollte ihn mehr haben. Nach über einem Jahr deprimierender Untätigkeit hatte er dann doch eine Stelle gefunden, in einer Apotheke in Summertown, aber die Filiale war kürzlich geschlossen worden und er fast froh gewesen, dass damit auch sein Arbeitsverhältnis auslief. Er, ein Mann, der sich in der Kommandotruppe der Königlichen Marine bis zum Hauptmann hochgearbeitet hatte, der im malaysischen Dschungel zur Terroristenbekämpfung eingesetzt gewesen war, hatte dienstbeflissen hinter einer Theke stehen und Pillen und Pülverchen an irgendein mageres, bleichsüchtiges Bürschchen verkaufen müssen, das bei den Übungen seiner Einheit nicht fünf Sekunden durchgehalten hätte. Und dann hatte der Chef auch noch verlangt, dass er bei jedem Einkauf »Vielen Dank, Sir!« sagte.

Er schob den Gedanken beiseite und zog den Vorhang zurück.

An der Ecke hatten sich Leute an der Bushaltestelle angestellt, mit aufgespannten Schirmen, denn ein stetiger Nieselregen ging auf die strohfarbenen Felder und Wiesen nieder. Ein Vers, den er in der Schule gelernt hatte, kam ihm in den Sinn. Er passte zu seiner Stimmung und zu dem trostlosen Bild, das sich ihm bot.

Und schaurig durch den Nieselregen bricht

auf kahlen Straßen an der leere Tag.

Er fuhr mit dem Halb-elf-Bus nach Summertown, betrat das Wettbüro und besah sich das Feld von Lichfield Park. Um 14.30 Uhr lief The Organist, und um 16.00 Uhr Poor Old Harry. Komischer Zufall. Meist gab er nicht viel auf Namen, was vielleicht ein Fehler war. Mit dem verbiesterten Starren auf die Form der Gäule war er jedenfalls bisher noch nicht auf einen grünen Zweig gekommen. In den Vorwetten war The Organist einer der Favoriten, Poor Old Harry war nicht mal erwähnt. Josephs ging an den Tageszeitungen entlang, die an der Wand hingen. In einigen wurden The Organist gute Gewinnchancen eingeräumt, Poor Old Harry schien keine Fürsprecher zu haben. Josephs grinste etwas kläglich. Wahrscheinlich würden sie beide nicht als Erste die Ziellinie passieren, aber versuchen konnte man es ja mal. Er füllte den weißen Wettzettel aus und ging mit seinem Geld an den Schalter.

Lichfield Park, 16.00 Uhr

2 Pfund auf Sieg, Poor Old Harry.

Vor etwa einem Jahr hatte er im Supermarkt, als er zwei Dosen Bohnen in Tomatensoße erstanden hatte, Wechselgeld für ein Pfund bekommen und nicht für die Fünf-Pfund-Note, die er der Kassiererin hingelegt hatte. Sein Protest hatte zu einem Kassensturz und einer peinlichen halben Stunde geführt, ehe sich die Berechtigung seiner Reklamation herausgestellt hatte. Seither prägte er sich, wenn er mit einer Fünf-Pfund-Note zahlte, immer die drei Endziffern ein. Er sagte sie vor sich hin, während er auf das Wechselgeld wartete: 546 … 546 … 546 …

Der Nieselregen hatte praktisch aufgehört, als er um 11.20 Uhr ohne Eile die Woodstock Road hinunterging. Fünfundzwanzig Minuten später stand er auf einem der Parkplätze des Radcliffe und hatte sehr bald den Wagen entdeckt. Er schob sich zwischen den dicht an dicht parkenden Fahrzeugen hindurch und sah durch das Fenster auf der Beifahrerseite. Meilenstand 25 622. Jawohl, das hatte seine Richtigkeit. Als sie weggefahren war, waren es 25 619 gewesen. Und wenn sie sich jetzt benahm wie jeder vernünftige Mensch, würde sie von hier aus zu Fuß zum Einkaufen gehen, und dann würde der Meilenzeiger, wenn sie heimkam, auf 25 625, höchstens 25 626 stehen. Er zog sich hinter den Stamm einer moribunden Ulme zurück und sah auf die Uhr. Und wartete.

Zwei Minuten nach zwölf öffneten sich die Zelluloidklappen, die zur Ambulanz führten, und Brenda Josephs ging rasch auf ihren Wagen zu. Sie schloss auf, lehnte sich vor und besah sich ein paar Sekunden im Rückspiegel, dann nahm sie ein Parfümfläschchen aus der Handtasche und betupfte damit ihren Hals, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite. Sie war nicht angeschnallt, als sie ein wenig ungeschickt im Rückwärtsgang aus der schmalen Parklücke herausfuhr. Dann blinkte sie nach rechts, rollte vom Parkplatz herunter und fuhr die Woodstock Road hinauf, dort blinkte sie nach links (links!) und fädelte sich in den Verkehrsstrom ein, der nach Norden aus der Stadt herausführte.

Wie es von dort aus weitergehen würde, wusste er: zum Kreisverkehr an der Northern Ring Road, dann über den Five Mile Drive zur Kidlington Road. Auch sein nächster Schritt war nun klar.

Die Telefonzelle war unbesetzt. Das Telefonbuch war zwar längst geklaut, aber er kannte die Nummer auswendig.

»Hallo?« Eine Frauenstimme. »Roger Bacon School, Kidlington. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich hätte gern Mr Morris gesprochen, Mr Paul Morris. Er ist Musiklehrer bei Ihnen, soviel ich weiß.«

»Ja, das stimmt. Moment bitte, ich schau nur mal auf den Stundenplan … Augenblick … Nein, er hat eine Freistunde. Ich seh mal nach, ob er im Lehrerzimmer ist. Mit wem spreche ich bitte?«

»Äh – Mr Jones.«

Eine halbe Minute später war sie wieder dran. »Tut mir leid, Mr Jones, er scheint nicht im Haus zu sein. Kann ich ihm was ausrichten?«

»Nein, es ist nicht weiter wichtig. Können Sie mir sagen, ob er über Mittag in der Schule sein wird?«

»Moment noch.« Josephs hörte Papier rascheln. Die Mühe hätte sie sich sparen können, er wusste, wie die Antwort ausfallen würde. »Nein. Er hat sich nicht zum Essen angemeldet. Sonst bleibt er meist hier, aber – «

»Macht nichts. Entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Herzklopfend wählte er eine andere Nummer. Auch dies war ein Anschluss in Kidlington. Dem sauberen Pärchen würde er mal ein bisschen einheizen. Wenn er sich nur in einen Wagen setzen könnte … Das Telefon läutete endlos. Waren sie am Ende doch nicht …? Doch dann meldete sich jemand.

»Hallo?« Klang das nicht etwas gezwungen?

»Mr Morris?« Es fiel ihm nicht schwer, in den breiten Yorkshire-Dialekt seiner Jugend zu verfallen.

»Ja?«

»Hier sind die Stadtwerke. Könnten wir wohl mal vorbeikommen? Wir – «

»Heute?«

»Ja, jetzt über Mittag.«

»Ah – nein – das passt leider nicht. Ich bin nur mal eben zu Hause vorbeigefahren, um mir ein – äh – Buch zu holen. Es war reiner Zufall, dass Sie mich überhaupt erwischt haben. Ich – äh – muss sofort wieder zurück in die Schule. Worum geht es denn?«

Josephs legte grinsend auf. Sollte der Arsch ruhig ins Schwitzen kommen.

Als Brenda zehn nach drei heimkam, beschnitt Harry Josephs gerade mit hingebungsvoller Gründlichkeit die Ligusterhecke. »Tag, Schatz. Alles in Ordnung?«

»Ja, danke. Der übliche Betrieb. Ich hab was Schönes zum Tee mitgebracht.«

»Hört man gern.«

»Hast du mittags was gegessen?«

»Einen Happen Brot und Käse.«

Das war gelogen. Brenda wusste, dass sie keinen Käse im Haus hatten. Leise Panik regte sich in ihr. Oder war er weg gewesen? Rasch ging sie mit ihren Einkaufstüten ins Haus.

Josephs setzte seine pingelige Arbeit an der hohen Hecke fort, die sie von den Nachbarn trennte. Er hatte es nicht eilig, und erst als er auf der Höhe des Autos angelangt war, warf er durch das Fenster der Beifahrertür einen beiläufigen Blick auf das Armaturenbrett. Meilenstand 25 633.

Wie immer wusch er nach dem Abendessen allein ab, einen weiteren Punkt seiner Ermittlungen vertagte er auf später, denn dass seine Frau sich unter irgendeinem Vorwand früh hinlegen würde, stand für ihn fest. Trotzdem war er jetzt fast guter Laune. Endlich mal saß er am längeren Hebel (das dachte er jedenfalls). Nach dem Nachrichtenüberblick in BBC 1 kam das, was er erwartet hatte: »Ich glaube, ich nehme noch ein Bad und lege mich dann bald hin, Harry, ich bin ziemlich erledigt.«

Er nickte teilnahmsvoll. »Soll ich dir eine Tasse Ovaltine bringen?«

»Nein, danke, ich schlafe bestimmt sofort ein. Lieb von dir.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und sekundenlang standen Selbstvorwurf und Reue in ihrem Blick.

Als das Wasser im Bad nicht mehr lief, ging Josephs wieder in die Küche und sah in den Mülleimer. Fest zusammengeknüllt und ganz unten im Abfall lagen vier weiße Papiertüten. Was für ein Leichtsinn, Brenda. Er hatte am Morgen schon einmal den Mülleimer überprüft. Die vier Tüten waren neu, und auf allen prangte der Namenszug des Quality-Supermarkts von Kidlington.

Als Brenda am nächsten Morgen weggefahren war, machte er sich Kaffee und Toast und nahm sich den Daily Express vor. Die starken nächtlichen Regenfälle hatten vielen Favoriten einen Strich durch die Rechnung gemacht, die Tippgeber hatten sich mit ihren weit danebenliegenden Voraussagen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Mit boshafter Freude stellte er fest, dass The Organist als siebentes von acht Pferden ins Ziel gegangen war. Und Poor Old Harry – hatte gewonnen. Sechzehn zu eins. So leer war der Tag also doch nicht gewesen.

3

Für die letzte Stunde der Woche hätte man sich kaum einen erfreulicheren Abschluss vorstellen können. Es waren nur fünf Teilnehmer, alles Mädchen, die sich in diesem Kurs für den Realschulabschluss im Fach Musik vorbereiteten, und alle fünf waren fleißig und strebsam. Während sie sich ernsthaft vorbeugten, die Partitur der Klaviersonate Opus 90 auf den Knien, bewunderte Paul Morris flüchtig, wie fantastisch Gilels Beethoven spielte. Aber ästhetische Fragen beschäftigten ihn im Augenblick weniger. Nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen ertappte er sich bei der Frage, ob er wirklich zum Lehrer taugte. Gewiss, die Mädchen würden alle recht gut abschneiden, er hatte die Prüfungsanforderungen unermüdlich mit ihnen gepaukt – Thema, Entwicklung, Reprise. Aber sowohl seinen Erklärungen als auch der Interpretation seiner Schülerinnen fehlte es an Schwung und echter Begeisterung. Und die traurige Wahrheit war, dass das, was bis vor Kurzem eine große Leidenschaft gewesen war, jetzt allenfalls noch den Wert angenehmer Hintergrundmusik hatte, von der Kunst zur Berieselung – in drei kurzen Monaten.

Morris hatte seinen früheren Posten vor fast drei Jahren hauptsächlich deshalb aufgegeben, um die Erinnerung an den schrecklichen Tag loszuwerden, an dem der junge Constable ihm die Nachricht gebracht hatte, dass seine Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Jenen Tag, als er in die Schule gegangen war, um Peter abzuholen und seine lautlosen, hoffnungslosen Tränen gesehen hatte, als er in hilflosem Zorn gegen die grausame Launenhaftigkeit des Schicksals aufbegehrt hatte, durch die ihm seine junge Frau genommen war. Aus wochenlanger verzweifelter Benommenheit war dann der Entschluss erwachsen, sein einziges Kind um jeden Preis zu schützen und zu bewahren. Der Junge war das Einzige, das er noch hatte, woran er sich halten konnte. Und noch ein Entschluss war in Morris gereift. Er musste auch räumlich weg von diesen Erinnerungen. Wie ein Besessener hatte er Woche für Woche die Stellenanzeigen in Times Educational Supplement durchgeforstet, die ihm neue Straßen, neue Kollegen, eine neue Schule – vielleicht sogar ein neues Leben verhießen. Und so war er schließlich an der Roger-Bacon-Gesamtschule in einem Vorort von Oxford gelandet. Das ungezwungene Einstellungsgespräch hatte nur eine Viertelstunde gedauert, er hatte sofort eine ruhige Doppelhaushälfte mieten können, alle waren sehr nett zu ihm – nur an seinem Leben hatte sich nicht viel geändert. Bis er Brenda Josephs kennengelernt hatte.

Den Kontakt zu St. Frideswide’s verdankte er Peter. Einer von Peters Freunden war begeistertes Chormitglied, und es dauerte nicht lange, bis er auch Peter dort eingeführt hatte. Als der alte Kantor in den Ruhestand ging, wusste man in der Gemeinde inzwischen, dass Peters Vater Organist war, und er hatte, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, eingewilligt, die frei gewordene Stelle zu übernehmen.

Gilels verharrte pianissimo bei den letzten Tönen, als es läutete. Die Schulwoche war zu Ende. Eine von Pauls Schülerinnen, ein langbeiniges Geschöpf mit dunklem Haar, ließ die anderen vorangehen und fragte ihn, ob sie sich die Platte übers Wochenende ausleihen könne. Sie war ein Stück größer als Morris, und als er in die schwarz umrandeten, deutlich verliebten Augen sah, spürte er wieder diese Macht in sich, von der er bis vor ein paar Wochen nichts geahnt hatte. Sorgsam nahm er die Platte vom Plattenteller und schob sie in die Hülle.

»Danke«, sagte sie leise.

»Schönes Wochenende, Carole.«

»Ihnen auch, Sir.«

Er sah ihr nach, als sie die Stufen von der Bühne herunterstieg und auf hohen Keilabsätzen durch den Musiksaal klapperte. Wie würde die melancholische Carole das Wochenende verbringen? Und wie würde sein eigenes verlaufen?

Das mit Brenda war vor einem Vierteljahr passiert. Natürlich hatte er sie schon vorher häufig gesehen. Nach dem Gottesdienst am Sonntagmorgen wartete sie immer auf ihren Mann, um ihn nach Hause zu fahren. Doch dieser Morgen war anders verlaufen als sonst. Sie hatte sich nicht wie üblich in eine der Kirchenbänke, sondern direkt hinter ihn in den Chor gesetzt, und beim Spielen hatte er sie im Orgelspiegel beobachtet. Sie hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt, und in ihrem Lächeln lagen Glück und Sehnsucht zugleich. Während die tiefen Klänge in der leeren Kirche verhallten, wandte er sich zu ihr um. »Hat es Ihnen gefallen?«

Sie nickte und sah zu ihm auf.

»Möchten Sie es noch einmal hören?«

»Haben Sie Zeit?«

»Für Sie schon.«

Ihre Blicke trafen sich, und in dieser Sekunde versank die Welt.

»Danke«, flüsterte sie.

Die Erinnerung an dieses erste kurze Zusammensein war auch jetzt noch tief beglückend für Morris. Sie stand neben ihm, blätterte die Noten für ihn um, und ab und zu streifte ihr Arm den seinen.

So hatte es angefangen, und dabei, hatte er sich damals gesagt, muss es auch bleiben. Aber das ging einfach nicht. In jener Nacht und in allen folgenden Nächten ging ihr Gesicht durch seine Träume und ließ ihm keine Ruhe. Am Freitag danach hatte er sie im Krankenhaus angerufen. Ein kühner, ein unwiderruflicher Schritt. Er hatte sie geradeheraus gefragt, ob er sich irgendwann einmal mit ihr treffen könnte. Und ebenso geradeheraus hatte sie geantwortet: »Ja, natürlich.« Wie Jubelchöre waren die Worte in seinem Kopf widergehallt.

In den kommenden Wochen war ihm nach und nach die erschreckende Tatsache aufgegangen, dass er fast alles tun würde, um diese Frau für sich allein zu haben. Er hegte keinen Groll gegen Harry Josephs, aber kein Wort, keine noch so eindringliche Beschwörung Brendas vermochte die irrationale Eifersucht zu besänftigen, die in ihm brannte. Gewiss, er wollte Harry Josephs aus dem Weg haben, das war ja verständlich. Aber erst vor Kurzem hatte er es fertiggebracht, sich der grausamen Realität zu stellen. Er wollte Josephs nicht nur aus dem Weg haben, er wäre ausgesprochen froh über seinen Tod gewesen.

»Bleiben Sie noch lange, Sir?«

Es war der Hausmeister, und den brachte man zweckmäßigerweise nicht gegen sich auf. Es war Viertel nach vier, Peter würde schon zu Hause sein.

Das traditionelle Abendessen am Freitagabend – Fisch und Chips, tüchtig mit Essig getränkt und mit Ketchup übergossen – lag hinter ihnen. Sie standen zusammen an der Spüle, der Vater hatte das Abwaschen, der Sohn das Abtrocknen übernommen. Morris hatte zwar lange und sorgfältig bedacht, was er sagen würde, trotzdem fiel es ihm nicht leicht. Er hatte bisher noch keinen Anlass gehabt, mit seinem Sohn über Sex zu sprechen, aber jetzt ließ es sich nicht mehr aufschieben. Nur zu deutlich erinnerte er sich noch daran (er war damals erst acht gewesen), wie zu den beiden Nachbarsjungen die Polizei gekommen und wie einer der Pfarrer seines Heimatorts vor Gericht gestellt worden war. Und er erinnerte sich an die neuen Worte, die er damals gelernt hatte. Auch seine Mitschüler hatten sie gelernt und lachten auf der Toilette darüber. Schmierige, eklige Worte, die sich in seinem jungen Geist festgesetzt hatten.

»Ich schätze, dass wir in zwei Monaten das Rennrad für dich kaufen können.«

»Ehrlich, Dad?«

»Du musst versprechen, sehr vorsichtig zu sein …«

Aber Peter hörte kaum hin. Seine Gedanken rasten schon mit dem Rennrad um die Wette. Er strahlte. »Wie bitte, Dad?«

»Freust du dich auf den Ausflug morgen?«

Peter nickte – durchaus aufrichtig, aber ohne übertriebene Begeisterung. »Nur die Rückfahrt ist bestimmt unheimlich öde, das war letztes Jahr auch so.«

»Ich möchte, dass du mir etwas versprichst.«

Noch was? Und wie ernsthaft das klang … Peter rieb ganz unnötigerweise immer wieder über den Teller, den er in der Hand hielt. Er machte sich auf einen dieser vertraulichen Erwachsenensprüche gefasst, die ihm meist unwillkommen waren.

»Du bist noch jung, weißt du, auch wenn du meinst, dass du schon ziemlich groß bist, und hast noch viel zu lernen. Es gibt im Leben sehr nette Menschen, und es gibt andere, die sind nicht so nett. Sie machen einen netten Eindruck, aber das täuscht.« Das klang fast rührend in seiner Unzulänglichkeit.

»Meinst du Verbrecher?«

»Ja, in gewissem Sinn sind es Verbrecher. Ich rede von Leuten, die innerlich verdorben sind. Sie verlangen nach seltsamen Dingen. Sie sind nicht normal, sind nicht wie andere Menschen.« Er holte tief Luft. »Als ich in deinem Alter war, sogar noch ein bisschen jünger …«

Peter hörte sich die kurze Geschichte anscheinend ungerührt an. »Du meinst, er war schwul, Dad?«

»Ja, er war homosexuell. Weißt du, was das bedeutet?«

»Klar.«

»Hör zu, Peter, wenn ein Mann jemals so was bei dir versucht, lässt du es dir nicht gefallen, ist das klar? Und du sagst es mir.«

Peter war ehrlich um Verständnis bemüht, aber bei seiner begrenzten Erfahrung konnte er mit der Warnung nicht viel anfangen.

»Siehst du, Peter, es geht nicht nur darum, dass ein Mann dich vielleicht – anfasst (schon das Wort war unsagbar widerwärtig) oder so. Manche Leute reden zuerst nur oder … oder zeigen einem Fotos oder …«

Peter blieb der Mund offen stehen. Das sommersprossige Gesicht entfärbte sich. Das also meinte der Vater. Das letzte Mal waren sie zu dritt vom Jugendklub aus zum Pfarrhaus gegangen und hatten auf dem langen, schwarz glänzenden Sofa gesessen. Es war alles ein bisschen sonderbar und aufregend, und da waren diese Fotos. Großaufnahmen in Schwarz-Weiß, fast schärfer als im richtigen Leben. Aber es waren nicht nur Fotos von Männern gewesen, und Mr Lawson hatte so – so natürlich darüber geredet. Und überhaupt … Am Zeitungsstand hatte er solche Bilder schon jede Menge gesehen. Er wurde immer ratloser, während er dort an der Spüle stand und noch immer das Handtuch festhielt. Dann hörte er die Stimme seines Vaters, rau und misstönend, spürte die Hand seines Vaters auf der Schulter, die ihn zornig schüttelte. »Dann sagst du es mir. Hast du mich verstanden?«

Aber Peter sagte seinem Vater nichts. Er brachte es nicht fertig. Und – was gabs da eigentlich groß zu erzählen?

4

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