Einzige Liebe: Frankfurter Fußball-Krimi - Gerd Fischer - E-Book

Einzige Liebe: Frankfurter Fußball-Krimi E-Book

Gerd Fischer

4,9

Beschreibung

Die Eintracht, ihre Fans, Siege und Niederlagen, Triumphe und Skandale. Euphorie und Verzweiflung liegen oft dicht beieinander. Doch als Björn Schlicht, Eintracht-Fan mit Leib und Seele, tot aufgefunden wird – ausgerechnet auf dem Stadiongelände – ist das Entsetzen riesengroß. Die Frankfurter Kripo ermittelt. Und dann kommt auch noch die Liebe ins Spiel. Kommissar Rauscher hat neben seiner Liebe zum Apfelwein eine neue gefunden: Kommissarin Jana Kern, Eintracht-Fan von Kindesbeinen an. Ihr macht der Fall besonders zu schaffen und sie beginnt daher, auf eigene Faust zu ermitteln ... Schießt sie damit ein Eigentor? Während der Ermittlungen kristallisiert sich zunehmend eine Frage heraus: Kann die Liebe zum Verein zu diesem Verbrechen geführt haben? Und dann kommt auch noch Lajos Detari ins Spiel ... Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: "Mord auf Bali" 2006 (Neuauflage 2011), "Lauf in den Tod" 2010, "Der Mann mit den zarten Händen" 2010, "Robin Tod" 2011, "Paukersterben" 2012, "Fliegeralarm" 2013, "Abgerippt" 2014, "Bockenheim schreibt ein Buch" (Hrsg.) 2015, "Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi" Februar 2017, "Ebbelwoijunkie" Dezember 2017, "Frau Rauschers Erbe" 2018 und "Der Apfelwein-Botschafter" 2021. Zudem der Thriller "Rotlicht Frankfurt" 2019.

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Das Buch

Der Frankfurter Kommissar und Apfelweinliebhaber Andreas Rauscher sitzt Samstag nachmittags in seiner bevorzugten Apfelweinwirtschaft, schaut das Eintracht-Spiel und wird unverhofft an einen Tatort gerufen. Ausgerechnet auf dem Stadiongelände wurde eine Leiche gefunden.

Als sich kurz darauf herausstellt, dass es sich bei dem Opfer um einen Eintracht-Fan handelt, ist das Entsetzen umso größer.

Auch bei Jana Kern, Kommissarin aus Königstein. Rauschers neue Liebe und glühende Eintracht-Anhängerin, die seit Kindheitstagen Körbel, Binz, Bein, Yeboah, Okocha und viele, viele weitere Eintracht-Spieler verehrt, darf jedoch nicht mit ermitteln – auf strikte Anweisung vom Leiter der Mordkommission Markowsky.

Die Liebe zum Verein aber lässt sie ihre Füße nicht stillhalten und bevor Markowsky ihr die Rote Karte zeigen kann, hängt sie mitten drin, das Spiel läuft und bis zum Abpfiff werden noch etliche Fouls begangen …

Der Autor

Gerd Fischer wurde 1970 in Hanau geboren, spielte von seinem 6. bis zu seinem 25. Lebensjahr Fußball und hat es immerhin bis zum Kapitän der Bezirksliga-Mannschaft des VFB Höchst/ Nidder gebracht. Er studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt.

Weitere Krimi-Veröffentlichungen im mainbook Verlag: „Mord auf Bali“ 2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013, „Abgerippt“ 2014, „Bockenheim schreibt ein Buch“ (Hrsg.) 2015.

Gerd Fischer

Einzige Liebe

Der achte Fall für Kommissar Rauscher

Frankfurter Fußball-Krimi

Mein besonderer Dank gilt den Eintracht-FansRoger Schäfer und Elisabeth Schick sowie Jeffe Mangold.

Copyright © 2017 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Mia Beck

Layout: Anne Fuß

Titelbild (bearbeitet): © anekoho – Fotolia.com

ISBN: 978-3-946413-38-7

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

Signierte Bücher können ohne zusätzliche Versand- und Portokosten direkt beim Verlag auf www.mainbook.de bestellt werden.

Inhalt

Vorbemerkung

Warmlaufen

Anpfiff 1. Halbzeit

Halbzeitpfiff – Pause

Anpfiff 2. Halbzeit

Abpfiff nach 90 Minuten

Verlängerung

Elfmeterschießen

Abpfiff

Vorbemerkung

Es gibt nur wenige Vereine, um die sich so viele Legenden ranken wie um die Frankfurter Eintracht, die „Diva vom Main“. Eine Geschichte, die wahrscheinlich niemals aufgeklärt wird, ist der Verbleib der Detari-Millionen. Nachdem die Eintracht 1988 durch einen Freistoßtreffer von Lajos Detari den Pokalsieg in Berlin mit 1:0 gegen Bochum geholt hatte, wurde der ungarische Mittelfeld-Star in einer Nacht- und Nebel-Aktion nach Griechenland verkauft; für die bis dahin unvorstellbar hohe Summe von über siebzehn Millionen Mark. Bis heute weiß niemand genau, wohin diese Millionen geflossen sind, wer sie sich eingesteckt hat oder wofür sie verwendet wurden.

Diese Episode der Eintracht-Historie war Inspirationsquelle und Ausgangspunkt für den vorliegenden Frankfurter Fußball-Krimi, der sich im Laufe des Schreibens in eine ganz andere Richtung entwickelt hat. Ich möchte betonen: Die Geschichte ist frei erfunden, enthält jedoch einen wahren Kern …

„… un ab demit“

Wir singen Yebo - ha - ha und schwören Stein und Bein, Wir tanzen Oko - cha - cha - cha, und die Diva macht ihn rein. Eintracht hin und Zwietracht her, FFM bleibt stets am Ball, Und wirst du hier nicht angespielt, dann ist Frankfurt nicht dein Fall.

(Auszug aus einem unveröffentlichten Song von 1994 zur 1200-Jahr-Feier Frankfurts, Text Jeffe Mangold)

Benjamin Kuhlhoff in ‚11Freunde‘ vom 25.9.2013:

„… des wohl langweiligsten DFB-Finales der jüngeren Vergangenheit. Die monotonen Gesänge von der Tribüne, die einschläfernde Kommentierung von Heribert Faßbender. Auf dem Feld wogt das verschwitzte Maulfwurfhaar von Wlodzimierz Smolarek hin und her, tapst Uwe Leifeld hauchzart ins Abseits und glänzen die bunten Schuhe von Lajos Detari, mit denen der Ungar in der 81. Minute den entscheidenden Zauberfreistoß in den Giebel schmeichelt. Wunderbare Erinnerungen an stumpfen Arbeiterfußball, an eine unbeschwerte Fußballzeit fernab der Superlativierung heutiger Tage.“

Lajos Detari im Interview: „Sie waren Held in Frankfurt – sind es heute noch. Warum verließen Sie die Eintracht nach nur einer Saison?“

„Ich wollte eigentlich nicht weg. Die Zeit bei der Eintracht war sehr schön. Natürlich habe ich gehört, dass einige Vereine Interesse gezeigt haben, aber da war auch viel Politik im Spiel. Ich war ja nicht einmal definitiv verkauft an Frankfurt, sondern nur vom Verband ausgeliehen. Eintracht hatte in dieser Zeit auch viele Schulden, gerade beim Eishockey. Und das war für den Verein ganz einfach auch eine gute Möglichkeit, mich zu verkaufen, um an frisches Geld zu gelangen. Am Ende waren es siebzehn Millionen Mark … Das war ein super Geschäft für den ungarischen Verband und den Sportminister, die sagten: „Wir möchten, dass du nach Griechenland gehst.“ (11Freunde vom 25.3.2013, das Interview führte Maximilian Hendel)

Warmlaufen

Obwohl sich der junge Mann schon tagelang wie ein Kleinkind auf die Begegnung gegen die Hertha aus Berlin gefreut hatte und den Anpfiff kaum erwarten konnte, bekam er fünf Minuten vor Spielbeginn Panik. Er stand im Waldstadion, Block 36. Seine Blicke huschten nach rechts und links. Zwischen all den fahnenschwenkenden Fans trat bei ihm ein plötzliches Unwohlsein auf.

Langsam sog er die Luft ein, die ihm so vertraut war. Sie roch nach seiner Eintracht, nach Zweikämpfen und Zuckerpässen, nach Grasnarbe und Übersteiger. Aber auch der vertraute Geruch konnte sein unruhiges Gemüt nicht beruhigen, zumal im Stehblock, unterhalb seines Standortes, ein paar Pyros brannten. Rauchschwaden vernebelten die Sicht und der beißende Geruch ließ die Lungen pfeifen.

Im weiten Rund erklang der altbekannte G-Block-Klassiker, und alle sangen mit: „Schwarz-weiß wie Schnee, das ist die SGE-E-E-E-E“. Auch er summte leise vor sich hin und hörte, dass wie immer einige Fans „schwarz-weiß – wie schee“ sangen, die Strophe auf Frankfodderisch.

Als das Lied beendet war, murmelte er vor sich hin: „Eintracht vom Main … nur du sollst heute siegen … Eintracht vom Main …“ Seine Augen zuckten dabei und die Lippen flatterten. Hinter ihm im Block schubste ihn jemand, sodass er die Balance verlor und erst zwei Stufen abwärts wieder zum Stehen kam. Wenige Minuten vorm Spiel waren bereits knapp 50.000 Leute auf ihren Plätzen und fieberten dem ersten Kopfball von Russ, dem ersten Flankenlauf von Aigner und dem ersten Torschuss von Meier entgegen.

Nur er nicht. Nicht mehr.

Der Freistoß ins Glück führte ins Verderben, sieh zu, dass es dir nicht ebenso geht!, schoss ihm die Botschaft durch den Kopf.

Er zog die Basecap mit dem Eintracht-Adler etwas tiefer ins Gesicht, als wolle er sich darunter verstecken. Seinen Eintracht-Schal lockerte er, weil es ihm vorkam, als bekäme er kaum noch Luft. Er war eindeutig zu dick angezogen. Über dem Eintracht-Shirt trug er eine Jeansjacke mit etlichen Eintracht-Stickern. Schwarz-weiß und schwarz-rot, wohin das Auge fiel.

Die Lautstärke auf den Rängen erreichte ein Level, dass einem Hören und Sehen vergehen konnte. Die Spannung stieg, und die Stimmung kletterte parallel zum Alkoholpegel nach oben.

Irrsinnigerweise war er vollkommen nüchtern, was ihn jetzt ärgerte. Hätte er zu Hause noch einen Joint geraucht, wäre er jetzt sicher ruhiger. Stattdessen galoppierte sein Puls weiter und sein Herz fühlte sich an, als würde es gleich in die Magengrube rutschen. Jetzt bekam er auch noch einen Schweißausbruch.

Die Hertha kocht auch nur mit Wasser, aber anschließend geht‘s ans Eingemachte!

Als ihm die Worte des letzten Briefs wieder in den Sinn kamen, stiegen ihm noch mehr Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe. Mit einem Male hielt er es nicht mehr auf seinem Platz aus.

Nur weg hier, dachte er.

Er wischte sich so gut es ging den Schweiß ab, drehte sich entschlossen um und drängte sich durch die Menge auf der Stehplatztribüne Richtung Ausgang. Treppen hoch, durch den Einlass, Treppen runter. Bei jedem Schritt ärgerte er sich, aber er musste raus aus der Enge. Hektisch blickte er sich nach allen Seiten um. Am Block-Eingang sah er die Kartenkontrolleure. Einer von ihnen war Moritz Voigt. Nanu! Was machte der denn hier? Hatte er etwa einen neuen Job? Eigentlich hätte er dringend mit ihm reden müssen, aber dazu hatte er jetzt keinen Nerv.

Er stürmte an ihm vorbei und wandte dabei sein Gesicht ab, damit Voigt ihn nicht erkennen konnte. Noch eine Treppe. Da, die Stadionarkaden. Vier Stufen, freier Himmel, endlich. Er atmete kurz durch, sprintete aber weiter, hatte jetzt fast freie Bahn. Nur wenige Leute hetzten ihm entgegen, zu spät Gekommene, die den Anpfiff nicht verpassen wollten. Schließlich war er allein und schnaufte noch einmal tief durch. Er nahm den Weg Richtung Haupteingang. Vor ihm lag das kleine Wäldchen. Plötzlich spürte er etwas in seinem Nacken. Nur der Wind? Oder war es etwas anderes? Zum Teufel, da war doch jemand! Wurde er etwa verfolgt? Er blickte sich um, doch der Weg hinter ihm war leer. Keine Menschenseele war zu sehen. Als er die ersten Bäume des Wäldchens erreichte, klopfte sein Herz bis zu Hals.

Fuck! Was war bloß los mit ihm? Bildete er sich das alles nur ein? Das konnte doch nicht sein. Im Stadion. Beim Heimspiel. Nein. Niemals!

Noch einmal blickte er sich um. Als er erneut niemanden hinter sich entdecken konnte, atmete er erleichtert aus, lief jetzt noch schneller. Doch kaum war er fünf, sechs Schritte weiter, stolperte er über etwas … und fiel der Länge nach hin. Was war das? Eine Wurzel? Ein Fuß? Hatte ihm jemand ein Bein gestellt? Offensichtlich, denn kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, fühlte er einen beißenden Schmerz in seinem Rücken, als würde ein brennendes Schwert in weiche Haut fahren. Er ging auf die Knie, aber der Schmerz war so stark, dass er sich kaum mehr rühren konnte. Auch den Angreifer konnte er nicht ausmachen, nicht mal aus den Augenwinkeln.

In diesem Moment rammte ihm jemand erneut etwas Scharfes in den Rücken.

Er kippte nach vorne, schrie, obwohl er kaum noch konnte. Schwang seine Arme in der Luft, griff ins Leere, spürte Blätter unter sich und nahm den Geruch nassen Waldbodens wahr. Er versuchte sich umzudrehen und dem Angreifer in die Augen zu blicken, doch dann war da wieder dieser teuflische Schmerz, der ihm die Kraft raubte, ihn lähmte und unfähig machte, sich zu wehren.

Jemand zerrte ihn zwischen die Bäume. Er schrie nur noch einmal und dann … kam das Nichts.

Anpfiff 1. Halbzeit

1

„Wie der Meier den wieder reingemacht hat – irre!“, rief Jana Kern voller Freude. Sie war wie aufgelöst, warf ihren Eintracht-Schal um Andreas Rauschers Hals, zog ihn an sich heran und gab ihm einen Schmatzer auf den Mund. Sie wirkte dabei, als wolle sie die ganze Welt mit ihrer Liebe zur Eintracht überschütten.

„Der hat ihn doch fast versemmelt“, erwiderte der Kommissar und strich über ihre raspelkurzen, blondgefärbten Haare. An den Anblick ihres neuen Schnitts musste er sich erst gewöhnen.

„Quatsch, das war klasse. Meier – Fußballgott!“, schrie Jana.

In Frankfurt-Sachsenhausen, im überdachten Hof des Gemalten Hauses, einer der traditionellen Apfelweinwirtschaften der Stadt, brodelte die Stimmung. Auf der Großbildleinwand wurde das Eintracht-Spiel übertragen. Soeben war gegen Mitte der ersten Halbzeit das 1:0 für die SGE gefallen. Ringsherum an den Tischen sprangen ein paar ältere Semester euphorisch auf, was man ihnen gar nicht mehr zugetraut hätte. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen und schrien ihre Siegesgewissheit heraus. Selbst Susanne, die Kellnerin, stellte den Schoppenträger mit den goldgelb glänzenden Gerippten für eine Weile ab und blickte gebannt auf die Wiederholung der Torszene, um mitjubeln zu können. Im Hintergrund lief Axel vorbei, Kellner seit einer Ewigkeit, Eintracht-Fan und der gute Geist des Hauses. Auch er stoppte kurz, warf einen Blick auf die Leinwand und freute sich diebisch.

Die Stimme des Reporters überschlug sich. „Toooooor für die Eiiiiiiiiintracht. Und wieder mal der Meier!“

Immer mehr Gäste sprangen auf und ließen ihrem Jubel freien Lauf. Andere freuten sich nur innerlich oder stießen mit ihren Schoppen an. Die Stimmung an diesem vorgerückten Samstagnachmittag hätte kaum besser sein können. Ein Mann hatte sein Geripptes beim Jubelschrei umgeworfen, das goldfarbene Stöffche tropfte vom Tisch.

„Champions League“, rief einer vom Nachbartisch.

„Meister!“, kam prompt die Antwort aus den hinteren Reihen.

Rauscher grinste. Typisch! Der Eintracht-Fan, wie er leibt und lebt. Kaum waren drei Spiele am Stück erfolgreich verlaufen, schwebten schon einige auf der Fußballwolke gen Meisterschaft. Wer wollte es ihnen verdenken? Die Sehnsucht war groß. Immerhin wartete man in der Stadt seit 1959 auf einen Deutschen Meistertitel. Und an den letzten Pokaltriumph konnte sich auch nur die drittletzte Generation erinnern. Wann war das noch mal, überlegte Rauscher einen Moment lang. Klar! Die Saison 1987/88. In Berlin. Gegen Bochum. Freistoß. 1:0 Detari. Das waren noch Zeiten!

An den Nachbartischen bestellten die Gäste die nächsten Runden bei Susanne.

Als Stendera etwa zehn Minuten vor Abpfiff einen Traumpass auf Meier spielte, der den Ball im Sechzehner sanft annahm, ihn fast streichelte, um erneut in eine gute Schussposition zu gelangen, vibrierte Rauschers Handy. Er ließ sich davon ablenken, wie er bedauernd feststellte, griff in seine Hosentasche und erkannte Kollege Krauses Nummer. Meiers Schuss schrammte haarscharf rechts am Torpfosten vorbei, was Rauscher aber nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte. Ärgerlich sprang er auf und lief rasch vor die Tür auf den Bürgersteig, denn bei der Lautstärke im Innenhof hätte er kein Wort verstanden.

„Passt gerade gar nicht!“, nahm er den Anruf entgegen.

„Wie immer bei dir … Wo seid ihr denn?“

„Wir sind Schoppen.“

„Was? Du und Einkaufbummel?“

„Quatsch. Wir trinken Ebbelwoi im Gemalten Haus und ich schaue mit meiner neuen meine alte Liebe an, die Eintracht.“

„Na, das passt ja. Du musst sofort zum Stadion kommen.“

„Wieso? Das Spiel ist doch gleich vorbei.“

„Wir haben einen Toten. Im Wäldchen hinterm Haupteingang.“

„Nee!“

„Doch.“

Drinnen erschallten in diesem Moment laute Rufe, Pfiffe und Unmutsäußerungen. Etwa der Ausgleich? Rauschers Herz setzte fast aus.

„Das glaub ich jetzt nicht“, rief er ins Telefon. „Warum hast du mich angerufen? Ich hab keinen Bereitschaftsdienst heute. Ingo ist dran!“

„Pass auf, Andreas! Wenn du herkommst und es dir ansiehst, weißt du, warum. Reicht dir das als Erklärung?“

„Nö … ich will …“

„Komm einfach!“, unterbrach ihn Krause und klickte das Gespräch weg.

„In Ordnu …“, wollte Rauscher gerade antworten, realisierte jedoch, dass Krause ihn schon nicht mehr hören konnte. Nanu? Was war so wichtig, dass Krause ihn in seiner Freizeit kontaktiert hatte? Er rätselte einen Moment darüber, kam aber zu keinem Ergebnis und ging wieder zurück in die Wirtschaft. Er würde es ohnehin bald erfahren.

Rauscher kehrte an Janas Tisch zurück. Es waren nur noch wenige Minuten zu spielen. Alle fieberten mit. Als kurz darauf das Spiel abgepfiffen wurde, setzte ein Murren unter den Zuschauern im Hof ein. Endstand 1:1.

„Übles Gekicke in der zweiten Halbzeit“, vernahm Rauscher vom Nachbartisch.

„Die tauche aafach nix“, war die niederschmetternde Antwort.

„Schick den Seferovic zurück in die Schweiz, da gehört er hin!“

„Dass die so en Schrott spiele, da dran is nur de Veh schuld.“

„Ach, geh fort“, grölte ein alter Frankfurter aus einer der hinteren Reihen. „Schuld is die Redaktion von de Rundschau, die hawwe de Schaaf weggemobbt. Sonst wär unsern Vorstand doch gar ned uff die Idee komme, en neue Drainer zu suche.“

Rauscher musste lächeln. Ja, ja, die Eintracht-Fans. Wussten immer alles besser als der amtierende Trainer.

„Drainer hin oder her. Unser Abwehr is de dilettandischsde Haufe seit Tasmania in de Bundeslischa gewese is!“, kam es wutschnaubend aus einer Ecke ganz hinten links. Rauscher überschlug kurz im Kopf. Das war anno dazumal im Jahre 1965/66 gewesen, als der längst in Vergessenheit geratene Berliner Verein die schlechteste Runde aller Zeiten gespielt hatte.

„Das 1:1 fiel knapp zehn Minuten vorm Abpfiff“, sagte Jana. „Danach ging nichts mehr. So ein Mist!“ Sie schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel.

Doch so schnell ließen sich die Frankfurter nicht unterkriegen. Das Spiel war bei den meisten Zuschauern bereits abgehakt. Sie widmeten sich wieder ihren Schoppen oder ihrem Handkäs mit Musik, um dem Tag wenigstens noch etwas Pepp zu verleihen.

„Wer hat angerufen?“, wollte Jana wissen, als Rauscher der Kellnerin winkte, um die Rechnung zu ordern.

„Kollege Krause. Ich muss zum Stadion. Kommst du mit?“

„Zum Stadion? Wieso?“

„Kapitalverbrechen.“

„Ausgerechnet heute!“

„Ja“, seufzte Rauscher und ließ seine Augen über die Tische im Hof wandern. Der Abend würde sicher in einem gemütlichen Ebbelwoischwoof ausklingen. Allerdings ohne sie.

2

Es wehte ein frischer Abendwind, als Rauscher und Jana am Stadionwäldchen ankamen. Den konnte Rauscher gut gebrauchen. Irgendwie musste er den Hebel umlegen, um den Kopf frei zu kriegen. Ein Tatort war etwas anderes als das Gemalte Haus, obwohl auch in der traditionellen Wirtschaft schon so manche Tat vollbracht worden war.

Während er gemeinsam mit Jana zu der von Krause beschriebenen Stelle im Wäldchen ging, musste er an die vergangenen Wochen mit ihr denken, die er sehr genossen hatte. Er hatte Jana bei einem Fall zum Thema Mietwucher im Sommer kennengelernt. Sie lebte in Eschborn, war Kommissarin in Königstein und hatte es fertiggebracht, seine Gedanken von dem wohl schmerzlichsten Tag seines Lebens abzulenken: dem Tag seiner vermeintlichen Hochzeit. Elke Erb, Rauschers Fast-Angetraute, hatte es an jenem Tag im Mai vorgezogen, mit seinem Sohn Max in ihre Heimatstadt Hamburg zurückzukehren, nachdem Rauscher sie vorm Traualtar hatte stehen lassen, um sich um eine potenzielle Selbstmörderin zu kümmern. Das hatte ihm Elke bis zum heutigen Tag nicht verziehen, und er zweifelte mehr denn je daran, ob sie es jemals tun würde. Darunter litt er sehr, zumal er durch Elkes Umzug seinen Sohn Max kaum noch sehen konnte.

Rauscher verzog das Gesicht, wurde jedoch von Krauses Worten unsanft in die Tatortrealität zurückgeholt. „Tötungsdelikt … Es ist ein Eintracht-Fan.“

Die Worte pfiffen ihm um die Ohren, bis ihr Klang vom seichten Wind übers Stadiondach hinweggetragen wurde.

Jana schlug sichtlich geschockt die Hand vor den Mund. Rauscher blickte Krause starr an, als hätte er es geahnt. Der hagere, gertenschlanke Krause, der sich vor nicht allzu langer Zeit eine Glatze rasiert hatte, weil er keine Lust mehr auf seinen Haarkranz hatte, kratzte sich an der Schläfe.

„Guck nicht so. Genau deshalb habe ich dich angerufen. Damit kennst du dich besser aus als ich altes Fischbrötchen.“

Rauscher brachte immer noch kein Wort heraus, verstand aber Krauses Anspielung auf dessen Hamburger Herkunft.

Nachdem sich Rauscher nachdenklich der Leiche zugewandt hatte, setzte Krause erneut an. „Okay, also … männliches Opfer, 27 Jahre alt. Name Björn Schlicht, wohnhaft in der Jordanstraße in Bockenheim. Bislang konnten wir drei Einstiche ausmachen, die wahrscheinlich von einem Messer stammen und mutmaßlich die Todesursache darstellen. Übrigens: Es ist kein Raubmord. Portemonnaie mit Geld und Perso sind vorhanden. Außerdem hat er eine Uhr an, die scheint mir ein paar Euro gekostet zu haben.“

Rauscher spürte, wie sich Widerwillen in ihm regte. Frischer Leichenfund an einem Samstagnachmittag während eines Spieltags. Und dann auch noch ein Eintracht-Fan. Konnte es schlimmer kommen? Hinzu kam, dass es sich offensichtlich um eine Tat handelte, die noch nicht allzu lange her sein konnte. Vor dem Spiel mussten durch diesen Wald Tausende von Zuschauern Richtung Stadion marschiert sein. Jemand hätte die Leiche sehen müssen. Der direkte Weg zum Stadion durchs Wäldchen lag nur vier bis fünf Meter entfernt.

„Irgendwelche Zeugen?“

„Niemand. Sind ja alle im Stadion gewesen.“

„Hast du Markowsky verständigt?“

„Der Chef weilt dieses Wochenende nicht in Frankfurt, aber er wird seinen Kurztrip abbrechen und morgen hier erscheinen“, antwortete Krause. „Staatsanwalt Konetzke habe ich auch informiert. Er zieht es vor, hier nicht aufzuschlagen. Die Sache sei eindeutig, meint er, und hat die Leiche bereits zur Obduktion freigegeben. Er verlässt sich voll und ganz auf uns.“

„Schöner Zug von ihm.“

Die Kollegen der Schutzpolizei hatten den Bereich weiträumig abgesperrt. Sie bemühten sich, die zahlreichen Schaulustigen – viele mit Schals um den Hals und Eintracht-Mützen auf dem Kopf – hinter den rot-weißen Absperrbändern zurückzuhalten.

Wolfgang Andres, Leiter der Spurensicherung, trat auf Rauscher zu, während seine Leute akribisch ihrem Job nachgingen. Er war ein kleiner, gedrungener Mann, der auch als Ringer keine schlechte Figur abgegeben hätte. Ein Berti Vogts-Typ, ein Arbeiter, der sich in einen Tatort und eine Spurensuche hineinbeißen konnte. „Von der Tatwaffe fehlt bislang jede Spur.“ Rauscher nickte.

Andres fuhr fort: „Die Stiche sind wahrscheinlich vorne auf dem Weg erfolgt. Dann wurde er an den Beinen geschnappt, hier zwischen die Bäume gezerrt und liegengelassen.“ Vom Kopf der Leiche bis zum Weg war im Laub eine deutliche Schneise zu erkennen.

„Also wollte der Täter die Leiche nicht verstecken“, folgerte Krause, „sondern hat zugesehen, dass er Land gewinnt, ne!“

„Oder er ist beim Ablegen von jemandem überrascht worden“, schaltete sich Jana ein. Sie schien zu überlegen. Ihre Nasenflügel bewegten sich, während sie atmete.

„Dagegen spricht, dass der Täter die Kleidung durchsucht hat“, konterte Andres.

„Wie kommt ihr darauf? Habt ihr kein Handy gefunden?“

„So isses!“, bestätigte Andres. „Vorsicht, wenn ihr an die Leiche rangeht. Es gibt viele Fußspuren, die könnten vom Täter stammen.“

„Puhhh, hier wimmelt es doch von Fußspuren!“

„Leider! Der Boden im Wäldchen ist sehr feucht und ziemlich matschig. Viele Fans gehen hier vor dem Spiel noch mal austreten.“

„Dann wird es schwierig, die Fußspuren des Täters zu identifizieren.“

„Richtig, aber nicht unmöglich.“

Der Pathologe und Gerichtsmediziner Karsten Quast beugte sich gerade über die Leiche, die auf dem Bauch lag, umgeben von Blättern und Matsch.

„Hinterrücks erstochen“, wandte er sich an Rauscher. „Kampfspuren Fehlanzeige. Es gibt auch keinerlei Abwehrverletzungen. Sieht so aus, als hätte er keine Gelegenheit gehabt, sich zu wehren. Das Opfer wurde eindeutig überrascht.“

„Und wie ist der Angriff genau erfolgt?“

„Anhand der Einstiche kann ich es exakt festlegen: von hinten. Der erste könnte ihn unterhalb des Halses getroffen haben. Das Opfer ist danach auf die Knie gesackt. Einstich zwei und drei dann in Brusthöhe. Einer von beiden könnte das Herz getroffen haben. Wenn keiner der Stiche tödlich war, könnte er innerlich verblutet sein. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung. Wir müssen die Ergebnisse der Obduktion abwarten.“

„Eine Chance auf Fremd-DNA an Körper oder Kleidung der Leiche?“

„Eher unwahrscheinlich. Der Täter hat ihn zwar hierher gezerrt, aber ansonsten wohl wenig oder gar keinen Körperkontakt gehabt. Und falls er Handschuhe und eine Mütze getragen hat, finden wir erst recht nichts. Aber wer weiß … Mit ein bisschen Glück finden wir vielleicht ein Härchen in der Fleischsuppe.“ Er schmunzelte über seinen eigenen Wortwitz, wurde aber schnell wieder ernst, da niemand mitlachte.

„Todeszeitpunkt?“

„Kann noch nicht lange her sein, die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt. Es gibt aber schon einige Totenflecken. Ich habe gerade die Temperatur gemessen. Mein Tipp: vor etwa zweieinhalb Stunden.“

„Also zu Beginn des Spiels“, erklärte Jana, die um die Leiche herum ging. „Aber warum war er hier und nicht im Stadion?“

„Genau das müssen wir rausfinden.“

„Merkwürdig, er musste ja eine Eintrittskarte haben, um überhaupt aufs Stadiongelände zu kommen.“

„Richtig. Vielleicht war er im Stadion und ist früher gegangen?“

„Wie kommst du darauf?“

„Wir müssen die Fußspuren auf dem Weg prüfen, aber es scheint mir, als wäre er vom Stadion gekommen und Richtung Ausgang unterwegs gewesen.“

„Also wollte er fort, vielleicht fliehen?“

„Vor was?“

„Vor seinem Mörder?“

„Das würde ja bedeuten, er kannte ihn.“

„Oder er ahnte etwas. Ist nicht auszuschließen.“

Als Quast seine Arbeit beendet hatte und die Fotos von der Leiche und dem Umfeld geschossen waren, kam das Unvermeidliche. Rauscher warf einen flüchtigen Blick auf das Opfer und bekam eine Gänsehaut. Obwohl der Kommissar von den schwarzen, kurzen Kopfhaaren bis zur Fußsohle ziemlich genau 1,80 m groß war, fühlte er sich gerade furchtbar klein. Dies waren die jämmerlichsten und traurigsten Momente seines Jobs.

Er pustete zweimal kurz durch, ging in die Knie und wandte sich dem jungen Mann eingehender zu. Der Kopf lag auf der Seite. Das Erste, was er registrierte, war das Milchbubigesicht mit den rötlichen Wangen, dann die braunen, glatten Haare. Kein Bart, keine Brille, leblose, matte Augen. Der Tote trug eine Jeansjacke, unter der ein Eintracht-Trikot hervorlugte. Um seinen Hals war ein Eintracht-Schal gebunden. Beim Sturz hatte er seine Eintracht-Mütze verloren. Sie lag nun etwa zwei Meter neben ihm auf dem Waldboden. Am rechten Handgelenk erkannte Rauscher ein Eintracht-Armband. Der Tote wirkte ein wenig wie ein Eintracht-Maskottchen. Auf dem Rücken waren die blutumrandeten Einstichstellen deutlich erkennbar.

Der junge Mann sah unbedarft, fast unschuldig aus, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Wieso geriet so jemand in den Fokus eines Mörders?

Extrem fiese Nummer, dachte Rauscher. Björn Schlicht hatte keine Chance gehabt, sich zu wehren. Die Frage war: Hatte ihm der Täter hier im Wäldchen aufgelauert? Und wenn ja, woher wusste er, dass Schlicht eben zu diesem Zeitpunkt hier vorbeikommen würde?

Irgendetwas störte Rauscher.

„Ziemlich unergiebig bisher“, kommentierte Andres und seufzte. Jana trat neben ihn, ihr stand das Entsetzen noch ins Gesicht geschrieben. „Wer bringt denn einen Eintracht-Fan um?“ Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Die Ermittlungen in diesem Fall hatten noch nicht begonnen, doch schon jetzt setzte er ihnen zu.

„Vielleicht ein Kickers-Fan?“, fragte Krause.

„Das wär zu einfach“, kommentierte Rauscher.

„Auch wieder wahr.“

Rauscher wandte sich an Andres: „Wer hat ihn denn gefunden?“

„Thomas Klotz, ein Zuschauer, dessen Frau schwanger ist und die ihn während des Spiels angerufen hat, weil irgendwelche Komplikationen aufgetreten sind.“

„Und wo ist der Mann jetzt?“

„Bei seiner Frau. Er hat den Notruf per Handy verständigt, ist aber nicht hiergeblieben, was ja verständlich ist. Er musste seine Frau zu Hause abholen und ist mit ihr ins Krankenhaus gedüst.“

„Mit dem müssen wir reden.“

„Klar“, fügte Krause an. „Eine Streife hat sich nach dem Anruf sofort auf den Weg hierher gemacht, natürlich auch der Rettungsdienst. Inzwischen hatten die Kollegen der Rettungsleitstelle aber schon die Kollegen der Bereitschaftspolizei hier vor Ort verständigt, die schieben ja bei Heimspielen Dienst am Stadion. Die haben den Toten auch gefunden und anschließend die Polizeizentrale angerufen.“

„Hallo!“, hörte er in seinem Rücken.

Rauscher drehte sich um. „Hi, Ingo.“

In diesem Moment trat Ingo Thaler zu der Gruppe. Er war Kommissar in Rauschers Team bei der Mordkommission. Krause hatte ihn während seines Bereitschaftsdienstes in der Squash-Halle erreicht. Thalers Figur wirkte in letzter Zeit etwas gedrungen. Er war für seine Anfang dreißig eindeutig zu mollig geworden und wollte sich künftig mehr bewegen. Würde mir auch gut tun, dachte Rauscher und fasste sich an den Bauch. Da waren etliche Kilo zu viel zu ertasten. Er musste etwas unternehmen. Ihm schwebte seit langer Zeit eine Ebbelwoi-Diät vor. Die war gesund und schmeckte köstlich. Fast schon wie Heilfasten. Im Stöffche war alles drin, was der Körper brauchte. Nur umgesetzt hatte er seine Idee noch nicht, dazu hatte er bisher keine Muße gehabt. Er nahm sich vor, in seinem nächsten Urlaub damit anzufangen.

Thaler schaute sich am Tatort um. Seine Augen leuchteten. „Ein Eintracht-Fan!“

„Richtig. So siehst du sie am liebsten, ne!“, bemerkte Krause.

„Quatsch!“, verteidigte sich Thaler.

„Da du in Offenbach geboren bist, müssen wir dich leider von dem Fall abziehen“, sagte Rauscher im Scherz.

Doch Thaler nahm es für bare Münze: „Was? Äh … Wieso denn das?“

„Befangenheit.“ Rauscher konnte ein feistes Grinsen nicht unterdrücken.

„Du Döskopp!“, rief Thaler und boxte ihm auf den Oberarm. „Aber … eigentlich wär’s mir sogar recht.“

„Wie jetzt?“

„Na OFC, olé! Ewige Feinwdschaft zur SGE.“

„Du hörst dich an, als meintest du das wirklich ernst, ne!“, bemerkte Krause.

„Hört sich nicht nur so an …“, polterte Thaler weiter und wollte gerade noch eins draufsetzen, als Rauscher dazwischenfuhr. „Jetzt ist’s aber mal gut!“ Er wandte sich an Krause. „Habt ihr schon Infos zu seiner Familiensituation?“

„Ja“, sagte Krause. „Seine Eltern wohnen im Seniorenheim in Niederrad.“

„Das liegt ja quasi um die Ecke.“

„Richtig. Und Björn Schlicht wohnt in Bockenheim zusammen mit einer Frau Hartfeld, Meike Hartfeld. Vielleicht seine Freundin.“

„Okay“, sagte Rauscher. „Beide übernehme ich. Das Seniorenheim liegt auf dem Weg und nach Bockenheim muss ich später sowieso. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr zur Lagebesprechung im Präsidium.“

Er verabschiedete sich und zog gemeinsam mit Jana kurz darauf von dannen. Als sie im Gehen noch einen letzten Blick zurück aufs Waldstadion warfen, hatten beide ein Gefühl wie noch nie zuvor an diesem Ort. Eigentlich war das Stadion immer das Symbol der großen Fußballtriumphe gewesen. Die Erinnerung daran hatte stets nur gute Gefühle ausgelöst. Aber plötzlich war alles anders.

3

Die Sonne stand schon tief und der Himmel färbte sich purpurn, als sich Rauscher und Jana ins Auto setzten, das vorm Haupteingang des Stadions geparkt war. Schon bald würde es stockfinster sein. Das spiegelte vorzüglich die Stimmung wider, die heute über der Stadt lag.

„Mist“, seufzte Jana, während sie sich anschnallte. „Ich hatte mich so auf unser freies Wochenende gefreut.“

„Ein Toter kommt immer zum falschen Zeitpunkt“, sagte Rauscher und ließ den Opel an. Jana strich ihm durch seine kurzen, schwarzen Haare und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund. „Du schmeckst nach mehr.“ Sie grinste.

„Später“, antwortete Rauscher. „Vielleicht.“ Er schloss sich ihrem Grinsen an.

Auf der Mörfelder Landstraße ging es in Richtung Innenstadt, bis Rauscher im Kreisel links abbog und gleich wieder rechts in die Schwarzwaldstraße nach Niederrad hineinfuhr, einen Frankfurter Stadtteil, in dem viele Alteingesessene wohnten. Weiter unten auf der Straße, nahe des Stadtkerns, lag die kleine Buchhandlung Erhardt & Kotitschke, die Rauscher sehr mochte. Sie fiel ihm ein, weil eine der beiden Inhaberinnen eine glühende Eintracht-Anhängerin war.

Sie ließen die Galopprennbahn, die bald einem Komplex des Deutschen Fußball-Bundes mit Ausbildungszentrum, Hotels und Gastronomie würde weichen müssen, rechts liegen. Die Stadt hatte viele Gesichter, sie änderte permanent ihr Aussehen. Das war schade, fand Rauscher. Er würde sich nie daran gewöhnen.

Über die Niederräder Landstraße bog er in den Schleusenweg ein und parkte unmittelbar vor dem Seniorenheim. Sie stiegen aus. Rauscher blickte sich um. Das moderne Gebäude mit der langen Fensterfront lag vor ihm. Hier war nichts von Großstadthektik zu spüren. Alles wirkte ruhig und entspannt. Etwas weiter links begann der Elli-Lucht-Park.

Auf dem Weg zum Empfang fragte Jana: „Was hältst du von dem Fall?“

„Täter und Opfer kannten sich“, antwortete er spontan. „Das steht für mich fest.“

„Sehe ich genauso. Da es offenbar kein Raubmord war, kann es kein Zufall sein, dass sie sich auf dem Stadiongelände begegnet sind.“

Rauscher zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn Sekunden später der Empfangssekretärin vor die Nase. „Rauscher, Kripo Frankfurt. Das ist meine … Kollegin Jana Kern.“ Er deutete auf sie. „Wir müssen mit dem Ehepaar Schlicht sprechen.“

„Sind Sie angemeldet?“

„Nein. Es geht um ihren Sohn Björn.“

„Hmmm, ja also, Moment bitte. Die Herrschaften hatten bestimmt gerade Abendbrot. Manchmal drehen sie danach noch eine Runde im Park. Am besten schauen Sie selbst nach. Es ist Apartment 121 im ersten Stock.“

„Danke sehr.“

Auf der Treppe begegnete ihnen niemand, aber vor dem Aufzug im ersten Stock stand eine Traube älterer Personen, die sich unterhielten.

„Entschuldigung“, schaltete sich Rauscher ein. „Wir suchen das Ehepaar Schlicht.“

Ein Mann und eine Frau, beide etwa Ende 60, drehten sich herum. Zwei Augenpaare musterten die beiden Kommissare scharf.

„Worum geht’s denn?“, fragte der Herr, dessen weißes Haar bis fast auf die Schultern fiel.

„Sind Sie Herr Schlicht?“

„Herrmann Schlicht“, antwortete er. „Und das ist meine Frau Irmgard.“ Er nahm sie an der Hand.

„Andreas Rauscher, Kripo Frankfurt.“ Er zückte nochmals seinen Dienstausweis und stellte Jana Kern erneut vor. „Wir müssten uns kurz mit Ihnen beiden unterhalten.“

„Schießen Sie los!“

Rauscher blickte die anderen Personen an. „Nicht hier. Irgendwo, wo wir ungestört sind.“

„Sie machen es ja spannend. Ist was passiert?“, fragte Frau Schlicht. Ihre trüb wirkenden Augen flatterten leicht. Sie packte die Hand ihres Mannes etwas fester. Er ging zwei Schritte vor und zog sie mit sich. „Komm Irmchen, wir gehen zu uns.“

„Aber wir wollten doch spazieren gehen …“

„Das machen wir danach.“

Herr Schlicht gab Rauscher ein Zeichen, ihnen zu folgen. Sie liefen um zwei Flurecken und gelangten zu einem Apartment. Drinnen bot Herr Schlicht den beiden zwei Stühle an, aber Rauscher zog es vor stehenzubleiben.

„Hören Sie, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn Björn verstorben ist. Er wurde Opfer eines Gewaltverbrechens“, begann er ohne Umschweife.

Die beiden Senioren schauten ihn gleichgültig an.

„Welcher Sohn?“, fragte Frau Schlicht. „Ich kenne niemand mit diesem Namen.“ Sie hob die Nase und schaute demonstrativ weg.

Rauscher und Jana schienen angesichts dieser Aussage hochgradig verwirrt dreinzublicken, denn schon im nächsten Augenblick sprach Herr Schlicht weiter. „Seitdem dieser Mensch, der einmal unser Kind war, uns hierher abgeschoben hat, haben wir keinen Sohn mehr.“

„Abgeschoben?“, erkundigte sich Rauscher.

Herr Schlicht zögerte, als ob er einen Entschluss fassen wollte. „Meine Frau leidet unter beginnender Demenz, hat hier und da Aussetzer. Ich bin auch nicht mehr der Fitteste. Da unser … also da dieser Mensch sich nicht kümmern konnte …“

„Er wollte nicht!“, fuhr sie ihm ins Wort. „Hat er ja früher auch nie getan!“

„Du hast ja recht“, bestätigte Herr Schlicht. „Also, es blieb nur diese Möglichkeit hier.“

„Ja, ja, uns einen Platz im Heim zu suchen“, sagte Frau Schlicht trotzig, „darin war er eifrig.“

„Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?“

„Oh, das ist schon lange her“, antwortete Herr Schlicht.

„Wir haben ihm verboten, uns zu besuchen“, fügte Frau Schlicht hinzu. „Jedes Mal, wenn wir uns gesehen haben, haben wir uns in die Haare gekriegt.“

So sah er gar nicht aus, dachte Rauscher im Stillen. „Ich möchte einen Eindruck von Björn Schlicht bekommen. Was für ein Mensch war er?“

„Er war kein Mensch“, platzte Frau Schlicht heraus. „Sondern ein Teufel. Besessen von der Eintracht.“

Rauscher hob die Augenbrauen, Jana Kern ebenso.

„Und außerdem möchten wir nicht über ihn reden, sondern unsere Ruhe haben“, brach Herr Schlicht das Gespräch ab. „Verstehen Sie das, junger Mann?“

So hatte ihn schon lange niemand mehr genannt. Rauscher musste lächeln.

„Kennen Sie Meike Hartfeld, mit der er in der Jordanstraße in Bockenheim zusammen wohnt?“

„Nie gesehen“, antwortete Herr Schlicht. „Aber wir haben von ihr gehört. Seine Freundin.“

„Soll sie sich um die Formalitäten kümmern? Beerdigung und so weiter?“

„Das wäre die beste Lösung.“

„Sie müssten sich mit ihr in Verbindung setzen. Wir können sie auch vorab informieren, weil wir jetzt ohnehin zu ihr fahren.“

Sie einigten sich auf diesen Ablauf und verabschiedeten sich.

Mit einem merkwürdigen Grummeln im Magen stieg Rauscher einige Minuten später in seinen Wagen.

„Hoppla“, rief Jana und schwang sich auf den Beifahrersitz. „Da liegt ja einiges im Argen.“

„Kannst du laut sagen“, antwortete Rauscher. „Sie ist ja eine ganz schöne Schreckschraube, oder?“

„Könnte aber an ihrer Erkrankung liegen.“

„Stimmt. Ich hatte übrigens ein ganz anderes Bild von Björn Schlicht, bevor wir uns mit seinen Eltern unterhalten haben.“

„Ging mir genauso.“

„Ich bin wirklich gespannt, was uns diese Meike auftischen wird.“ Rauscher blickte Jana mit Fragezeichen in den Augen an. „Irgendwie hab ich das Gefühl, das war noch lange nicht alles.“

„Oh, oh, oh … du und deine Gefühle.“ Sie grinste.

„Wie meinst du das denn jetzt?“

Da Jana schwieg, ließ sich Rauscher vom Verkehr ablenken. Er konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Ein, zwei Tiefgespritzte hatte er intus, zu mehr war er zum Glück nicht gekommen. Aber einen Unfall wollte er trotzdem unbedingt vermeiden.

Die Nacht legte sich langsam über Frankfurt und hüllte die Straßen und Häuser in Dunkelheit. Lichter glitzerten von überall her. Eigentlich sah das sehr schön aus, fand Rauscher. Schade, dass er für romantische Stimmung gerade keine Zeit hatte.

Im Kreisel vor der Festhalle bog er in die Hamburger Allee ein, hielt sich gleich rechts und fuhr in die Gräfstraße. An der nächsten Kreuzung lenkte er den Wagen links in die Robert-Mayer-Straße, da er von der Gräf- nicht in die Jordanstraße einbiegen konnte. Über die Kiesstraße erreichten sie kurz darauf die Jordanstraße, in der es üblicherweise nie einen Parkplatz gab. Heute hatten sie Glück. Eine kleine Lücke war frei und Rauscher stellte sich halb aufs Trottoir.

Die Jordanstraße war typisch für Bockenheim. Viele Altbauten mit drei oder vier Stockwerken. Hier und in den umliegenden Straßen gab es zahlreiche Restaurants, Kneipen, Cafés und kleine Läden. Als sich der Uni-Campus noch in unmittelbarer Nähe befunden hatte, hatten hier viele der Studenten in WGs gewohnt. Die Karl-Marx-Buchhandlung hatte überlebt, auch einige Copy-Shops. Das legendäre Café Bauer in der Gräfstraße hingegen nicht, dafür aber das Albatros in der Kiesstraße und das Pielok in der Jordanstraße. Die Gegend kam ihm fast ein wenig idyllisch vor. Aber die Gentrifizierung Frankfurts würde auch vor diesem Stadtteil nicht Halt machen. An die gegenüberliegende Hausfassade hatte jemand ein Graffiti in Neonpink gesprüht: „Stadt für alle!“ Schien ein hyperaktiver Sprayer zu sein, denn seine Signatur prangte inzwischen gefühlt an jedem fünften Haus. Hin und wieder sah Rauscher einen Hausmeister beim Wegschrubben der Kunst im öffentlichen Raum.

Kurz darauf klingelten sie bei ‚Schlicht/Hartfeld‘. Der Summer ertönte unmittelbar. Als sie im zweiten Stock vor der Wohnungstür ankamen, stand eine junge Frau im Türrahmen. Sie trug eine enge schwarze Jeans sowie eine elegante weiße Bluse und wirkte auf Rauscher etwas verhuscht, denn sie strich sich alle paar Sekunden die blonden Haare aus dem Gesicht. Unsicher blickte sie Rauscher und Jana an.

„Wer sind Sie denn?“, fragte die Frau.

„Andreas Rauscher, Kripo Frankfurt. Dies ist Jana Kern, eine Kollegin. Hatten Sie jemanden erwartet?“