Robin Tod: Frankfurt-Krimi - Gerd Fischer - E-Book

Robin Tod: Frankfurt-Krimi E-Book

Gerd Fischer

4,5

Beschreibung

Was wäre, wenn in Frankfurt ein moderner Robin Hood auftauchen würde? Dein Leben. Dein Blut. Meine Rache. Als in Frankfurt zwei Investmentbanker tot aufgefunden werden - jeweils mit einem Pfeil in der Brust - rechnet Markowsky, Leiter der Mordkommission, mit einem Serientäter, der die Straßen unsicher macht. Kommissar Andreas Rauscher unterbricht seinen Urlaub, obwohl seine ganze Aufmerksamkeit der bevorstehenden Geburt seines ersten Kindes gilt. Als Leiter der Soko-"Robin" kümmert sich Rauscher fortan um den Fall und stößt während der Ermittlungen auf mysteriöse Geldgeschenke, Mordaufrufe in einem Fan-Blog und fremde Federn. Während der Geburtstermin immer näher rückt, nimmt der Fall "Robin" eine unerwartete Wendung und endet in einem fulminanten Showdown.

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Gerd Fischer

Robin Tod

Krimi

maincrime No.4

mainbook Verlag

Das Buch

Es ist Frühling in Frankfurt und alles könnte so schön sein: Kommissar Andreas Rauscher hat Urlaub und gemeinsam mit seiner Freundin Elke kann er die unmittelbar bevorstehende Geburt seines ersten Kindes kaum erwarten. Doch ein mysteriöser Fall hält die Frankfurter Polizei in Atem. Die zwei Gründer des Beratungsunternehmens Money Inc. werden tot aufgefunden, erschossen mit einem Pfeil. Und da die Mordkommission unterbesetzt ist, kehrt Rauscher zurück in den Dienst, was Elke gar nicht recht ist, und macht sich an die Aufklärung.

Bei den Ermittlungen rückt der Bruder des ersten Opfers, Ralf Terzlaff, ins Visier, denn er ist Mitglied in einem Bogenschützen-Verein. Aber als ein weiterer Mord geschieht, verschwimmen die Spuren. Handelt es sich um einen Serientäter, der in Frankfurt sein Unwesen treibt? Ist der Täter auf einem Rachefeldzug gegen Money Inc., der noch nicht beendet ist? Oder steckt tatsächlich der Bruder hinter den Morden?

Rauscher muss fortan nicht nur den Fall lösen, sondern auch für Elke da sein und darf keinesfalls den Geburtstermin verpassen.

Der Autor

Gerd Fischer wurde 1970 in Hanau geboren. Er studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt. Krimi-Veröffentlichungen: „Mord auf Bali“ 2006; „Lauf in den Tod“ 2010; „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010

Mein ganz besonderer DANK gilt

meiner Schwester Claudia, Ingeborg, Anne, Anke, Ute, Elisabeth, Claudia L., Thomas und Uli, Astrid, Andrea und Alex, Daniella, Uwe und Frank.

Copyright © 2011 Mainbook Verlag, Gerd FischerAlle Rechte vorbehalten

Signierte Bücher können ohne zusätzliche Versand- und Portokosten direkt beimVerlag auf www.mainbook.de bestellt werdenLektorat: Ingeborg BellmannLayout: Anne FußTitelbild (bearbeitet): © Ungor – fotolia.com

Besuchen Sie uns im Internet:www.mainbook.de

ISBN 978-3-9813571-4-1

Dem besten Getränk der Welt gewidmet

Prolog

Feierabend.

Endlich Wochenende und Zeit für Kathrine. Die Vorstellung, nur für sie da zu sein, gefiel ihm. Und als Highlight hatte er für Samstagabend zwei Opernkarten besorgt. Verdi, den liebte sie.

Freude und Sehnsucht begleiteten ihn nach Hause. Er schloss die Haustür auf, trat ein und rief ein freudiges „Hallo“ Richtung Wohnzimmer. Die Tür fiel hinter ihm zu.

Er lief geradewegs ins Bad und schaute in den Spiegel. Frisch machen, ihr gegenübertreten, sie in den Arm nehmen und die Wochenendpläne offenbaren. Würde sie sich freuen? Er nickte sich selbst zu.

„Kathrine?“, rief er und bekam keine Antwort.

Er trocknete das blasse Gesicht und den schmalen Hals ab. Ein bisschen Deo unter die Achseln. Ein Spritzer Dolce & Gabbana. Er knöpfte das weiße Hemd zu und gab den kurzen Haaren mit Wachs ein wenig Pfiff. Das Kinn war noch angenehm glatt. Er rasierte sich jeden Morgen, bevor er ins Büro ging.

Eigentlich müsste Kathrine zu Hause sein, überlegte er. Es war kurz vor 18 Uhr. Beim Verlassen des Bades rief er wieder und bekam keine Antwort.

Hatte sie sich versteckt? Bestimmt würde sie ihn gleich überraschen. Manchmal spielte sie mit ihm.

Er schaute ins Wohnzimmer. Dort war sie nicht.

„Kathrine?“ Sein Ausruf hallte von den Wänden zurück.

Etwas störte ihn. Die Wohnung war grabesstill. Ihm fehlten die vertrauten Geräusche. Der Fernseher. Musik aus der Küche. Oder Kathrines Stimme, wenn sie telefonierte oder ein Liedchen summte beim Kochen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Er lief in die Küche. Auch kein Lebenszeichen von ihr. Ebenso keines in der Abstellkammer.

Wo war sie? Freitagabends traf sie sich gelegentlich mit Freundinnen. Obwohl, wenn er recht überlegte, das letzte Mal lag schon lange zurück.

„Kathrine?“, seine Stimme flog nun laut durchs ganze Haus.

Hatte sie sich hingelegt? In letzter Zeit klagte sie häufig über Kopfschmerzen und Übelkeit. Und überhaupt: Die vergangenen Wochen waren hart gewesen. Du bist so still in letzter Zeit. Er hörte plötzlich seine eigene Stimme, die mit ihr sprach. Ziehst dich immer mehr zurück. Tausendmal hatte er versucht, mit ihr zu reden. Du solltest mehr unter Leute gehen.

Er hetzte hoch ins Schlafzimmer und erlebte einen albtraumhaften Moment. Ein schneller Blick, der ihm das Herz brach.

„Kathrine!“, schrie er und hechtete zum Bett.

Sie lag dort wie Dornröschen in einem weißen Kleid. Ihre rechte Hand hing heraus, die Wunde war noch nicht versiegt und Blut tropfte.

Seines erstarrte zu Eis.

Vor dem Bett hatte sich ein kleiner roter See gebildet. Daneben lag eine Rasierklinge. Bald würde die Lache sie schlucken.

Ihre Augen waren geschlossen, als sei sie friedlich eingeschlafen. Puls spürte er keinen an ihrem Hals. Geschockt begriff er, dass sie tot war.

Er weinte, setzte sich neben sie und streichelte ihre Wange. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr. Nur noch, dass ihre Hülle wie eine Silhouette gen Himmel schwebte.

Auf dem Nachttisch lagen ein leeres Blister Schlaftabletten und ein Zettel. Er enthielt nur ein paar Worte. Das Schlimmste, was er je gelesen hatte: „Ich gehe, weil ich nicht bleiben kann. Kuss Kathrine.“

Warum hatte er sie nicht beschützt? Warum hatte er nicht auf sie aufgepasst? Warum?

Plötzlich wusste er, dass dieser Märztag, der 15., sein künftiges Leben bis zum Ende bestimmen sollte.

Ein Griff neben das Bett zur Rasierklinge. Scharf war sie und tödlich. Mit Kathrine ins Jenseits gehen, diese Vorstellung entzückte ihn. Er setzte an. Ein kleiner Schnitt. Die ersten Tropfen.

Durch das Fenster fiel letztes Licht. Das Ende des langen Winters stand bevor. Die Sonne wärmte die Tage schon.

Er ließ die Klinge fallen und drückte sein Hemd auf die Wunde. In diesem Moment fasste er einen Entschluss. Er küsste Kathrine auf die Stirn und schwor, nicht eher zu ruhen bis ihr letzter Blutstropfen vergolten war.

DIENSTAG 21.5.

1

Kriminalkommissar Andreas Rauscher streckte Klaus Markowsky die Hand entgegen und bat ihn herein.

„Schön Sie zu sehen.“

„Glaub‘ ich nicht“, murrte Markowsky durch seinen Bart, den er sich in den letzten Monaten hatte stehen lassen. „Ich störe Ihren Urlaub. Außerdem wissen Sie doch gar nicht, warum ich hier bin.“

„Kann’s mir denken“, sagte Rauscher. „Ich habe mit Krause telefoniert.“ Er führte seinen Chef ins helle Wohnzimmer seiner Bockenheimer Altbauwohnung und bot ihm einen Platz auf der Ledercouch an, während er sich auf einen Stuhl setzte.

Die Mittagssonne schien herein und hinterließ Schatten auf dem Parkett. Markowsky sah sich verwundert um: großflächige Bilder über dem neuen Sideboard und der Couch, Vorhänge in frischem orange, elegante Tischdekoration. An die hohe Glasvitrine in der Ecke konnte er sich nicht erinnern. Elke Erb schien der Wohnung ihren Stempel aufzudrücken.

„Wie geht’s Elke?“

„Hat sich hingelegt.“

„Wann ist der genaue Termin?“

„In vier Tagen. Wir können es kaum erwarten.“

Markowsky streckte die Beine aus und rieb sich die Augen. Der Leiter der Mordkommission sah aus, als würden ihm seine Gedanken einen Streich spielen.

„Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder was anderes?“, fragte Rauscher. Markowsky schaute Rauscher aus großen Augen an und beugte sich nach vorne.

„Nein, danke. Ich möchte nichts.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Haben Sie zugenommen, Rauscher?“ Der Frankfurter Kommissar schaute an sich herunter und zuckte die Achseln. „Ihr Gesicht ist ganz schön rundlich geworden.“

„Gut möglich“, knurrte Rauscher, fasste sich an den Bauch und unterdrückte seinen Ärger, „ein, zwei Kilo vielleicht. Wir haben in den letzten neun Monaten oft zusammen gegessen.“

„Aha“, Markowsky lächelte, „ist ja nicht dramatisch. Ich bin jedenfalls richtig froh, dass Sie jetzt in festen Händen sind. Das wird Ihren Leistungen sicher einen Schub geben.“ Rauscher konnte sich denken, was Markowsky eigentlich von ihm wollte, aber wozu dieses Geplänkel? Markowsky schien Rauschers Gedanken zu erraten, denn er wechselte das Thema. „Ich bin hier wegen …“ Rauscher nickte:

„Die Zeitungen schreiben über nichts anderes.“ Markowsky nickte gequält.

„Zwei Männer …“, fuhr Rauscher fort.

„Zwei Banker“, präzisierte Markowsky.

„Erschossen mit einem Pfeil.“

„Auf offener Straße und exakt im Abstand einer Woche“, stöhnte Markowsky, „zur selben Zeit, abends um 19 Uhr. Es gibt keinerlei Spuren vom Täter. Außer den beiden Pfeilen haben wir absolut nichts. Und zu allem Überfluss ist Thaler vor zehn Tagen suspendiert worden.“

„Stand auch in jeder Zeitung: ‚Polizist schießt auf Kurden‘. Was hat ihn nur geritten?“

„Keine Ahnung. Jedenfalls sind wir akut unterbesetzt. Elke hochschwanger, Sie im Urlaub, Thaler bis auf Weiteres aus dem Verkehr gezogen. Die Ermittlungen stagnieren. Krause schafft das nicht alleine. Wir brauchen Sie, Rauscher!“

„Aber die Geburt…“, sagte Rauscher.

„Ich gönne Ihnen von ganzem Herzen jede Sekunde mit Ihrer neuen Familie, glauben Sie mir, aber …“ Rauscher atmete tief durch:

„Ich weiß nicht, Herr Markowsky, wie soll ich das Elke erklären?“

„Wir sitzen in der Scheiße, Rauscher. So tief wie noch nie.“ Am liebsten hätte Markowsky ihn gleich mitgenommen.

Rauscher stand auf, ging ans Fenster und schaute hinaus. Die Spitze des Fernsehturms ragte über die Dachwipfel der gegenüberliegenden Häuserzeile. Im Umdrehen sagte er: „Gibt es denn niemand anderen, der das in die Hand nehmen könnte?“

„Wäre ich sonst hier? Sie kennen doch die personelle Situation der anderen Abteilungen. Und wenn der Geisteskranke nächste Woche wieder zuschlägt, dann haben wir das absolute Chaos. Die Journaille tobt jetzt schon. Sie stürzen sich jeden Tag auf uns. Wir haben nur sechs Tage, Rauscher. Sie müssen ihn schnappen, sonst ist hier der Teufel los.“

2

Liebe Kathrine,

ich erinnere mich genau an den kurzen, zischenden Moment, das leise ‚Flopp‘ und Verbeutens leichtes Stöhnen. Treffer! Tot!

In diesem Augenblick spürte ich keinen Hass in mir, nur Freude. Ich genoss dieses unbeschreibliche Gefühl, den Bogen zu spannen, zu zielen, loszulassen und den Pfeil davonzischen zu hören.

Mit dem nächsten Pfeil erwische ich wieder einen von ihnen. Und jeder weitere tilgt ein Stück Schuld und bringt mich ein Stück näher zu dir. Das Einzige, was mich am Leben hält, ist der Gedanke, bald wieder bei dir zu sein.

Ich habe keine Angst zu sterben, glaub mir!

Du musst verzeihen, dass ich dir nicht sofort folgen kann. Erst werde ich deinen Tod sühnen. Die Schuldigen müssen zur Verantwortung gezogen werden. Nummer eins und zwei haben bezahlt. Den Rest recherchiere ich noch. Diese Dinge muss ich erledigen, bevor wir wieder vereint sind.

3

Nachdem Klaus Markowsky, Leiter der Frankfurter Mordkommission, gegangen war, schaute sich Rauscher im Spiegel an, befühlte seine Wange und sein Kinn. Tatsächlich. Man sah es. Vor drei Wochen hatte er sich zuletzt gewogen und beschlossen, es künftig sein zu lassen. Zehn Kilo mehr waren es gewesen. Ein echter Schock. Aber eigentlich logisch, ständig Fertiggerichte oder Pasta vom Italiener, weil Elke nicht kochen konnte und in den letzten Monaten auch nicht mehr wollte. Ihr Rücken.

Etliche Kilo waren bei Rauscher auf die Kalorienbomben zurückzuführen, also zwangsläufig und unvermeidlich. Zudem keinen Meter gelaufen oder Fahrrad gefahren. Er fühlte sich eingerostet und mochte sich nicht länger anschauen.

Als er ins Schlafzimmer ging, stand er vor einer schwierigen Entscheidung. Vielleicht der schwierigsten seines bisherigen Lebens. Ihm war klar, dass Markowskys Wunsch ein kleines Erdbeben auslösen würde.

Er setzte sich auf den Rand des Bettes. Elke schwitzte.

„Ich hab‘ die Tür gehört“, sagte sie verschlafen und hielt sich den dicken Bauch. „War jemand bei dir?“

„Markowsky.“

„Oh! Was wollte er?“

„Es gibt ein Problem in der Mordkommission.“

„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“

„Du weißt schon, die toten Banker.“

„Und jetzt?“ Elke setzte sich schwerfällig auf.

„Keiner weiß, wann Thaler seinen Dienst wieder antreten kann. Markowsky will, dass ich den Fall übernehme und eine Soko leite.“

„Du hast doch Urlaub“, platzte Elke ungläubig heraus.

„Aber wir müssen ihn kriegen.“

„Hallo? Wir bekommen ein Baby!“ Jetzt hörte sich Elke besorgt und gleichzeitig panisch an.

„Sollen noch weitere Morde geschehen?“ Rauscher fuhr sich über die Augen, als sei er unendlich müde, erhob sich und ging in die Küche. Der Sauergespritzte, den er sich halb Wasser, halb Apfelwein mixte und schluckweise trank, bitzelte im Hals. Das beste Getränk der Welt. Das tat gut.

Rauscher dachte voller Wehmut an die letzten Monate. Elkes wachsender Bauch, den sie gemeinsam beobachtet hatten. Die ersten Tritte. Das Ultraschallbild, auf dem man den kleinen Herrn oder die kleine Frau Rauscher sehen konnte. Aber auch die Fressattacken. Die Schreie auf der Waage oder vorm Spiegel. Die Launen, wenn der Rücken zwickte. Elke bewegte sich seit Wochen im Schneckentempo durch die Wohnung. Auch sich selbst hatte er kaum wiedererkannt. Die Zeitschrift „Eltern“ hatte er gelesen, manchmal sogar mit Interesse. Selbst der Schwangerschaftskurs hatte zeitweise Spaß gemacht.

Er fand es mittlerweile toll, neben Elke aufzuwachen und sie ständig um sich zu haben, aber an das Zusammenleben mit ihr hatte er sich erst gewöhnen müssen. Schließlich hatte er sich die Jahre vorher in seinem Singledasein eingerichtet. Die Schwangerschaft verkomplizierte die Situation zusätzlich. Anfangs war Elke gelassen, aber mit jedem Kilo mehr war ihre Laune schlechter geworden. Er spürte, dass er mit den Veränderungen nicht so klar kam, wie er sich das gewünscht hatte.

Trotz allem freute er sich wahnsinnig auf das Kind und wollte von Anfang an dabei sein. Als er Elke vor zwei Monaten berichtet hatte, dass sein Urlaub genehmigt worden war, sah er in ihren strahlenden Augen, wie glücklich sie darüber war, ihn in der entscheidenden Phase neben sich zu wissen.

Jetzt waren es noch vier Tage bis zum Geburtstermin.

Er hatte sich seine Urlaubszeit, die Entbindung im Markus-Krankenhaus, das Heimkommen als kleine Familie so nett ausgemalt. Und jetzt? Ein Spinner scheuchte die halbe Frankfurter Polizei vor sich her. Ausgerechnet zum ungünstigsten Zeitpunkt, den sich Rauscher denken konnte. Oder doch nicht? War es wirklich so schlimm, jetzt raus zu müssen? Ermitteln. Sondieren. Zuschlagen.

Elke verlangte nach einem Wasser. Er brachte es ihr ins Schlafzimmer und streichelte über ihren Bauch:

„Tritt er wieder?“

„Bist dir ja sehr sicher, dass es ein Junge wird.“

„Klar“, sagte Rauscher, „sowas spürt man als Mann.“

„Aha! Vielleicht hast du sogar recht. Den Tritten nach könnte es ein Fußballer werden.“ Beim Trinken schaute sie ihn mit sorgenvoller Miene an und sagte: „Du hast dich schon entschieden, stimmt‘s?“

„Weißt du, es ist ….“ Er wollte sich erklären. Aber er wusste nicht wie. Er wusste nur, dass etwas in ihm war, das ihn spaltete und fast zerriss.

„Es geht hier um unser Kind“, erboste sich Elke, „um mich und um dich. Um uns. Und nicht um irgendeinen Verbrecher.“ Rauscher nahm aus seinem Portemonnaie das Ultraschallbild seines noch ungeborenen Kindes heraus und betrachtete es lange. Es war eine Aufnahme, als Elke im sechsten Monat war. Er fuhr mit dem Finger die gepunktete Linie entlang, laut Arzt die Wirbelsäule, und über den winzigen Punkt in der Mitte, den man nur schwer als kleinen Menschen identifizieren konnte. Aber so war es. Das war ihr Nachwuchs und er bewegte sein Herz.

„Ich bin erreichbar übers Handy“, sagte er leise, „vertrau mir. Und wenn es losgeht, bin ich ruck, zuck zur Stelle und bleibe bei euch.“ Elke seufzte und stellte das Glas auf den Boden.

„Rauscher“, sagte sie, „du bist nicht ganz dicht.“

4

Im Garten wehte ein leichter Wind durch die Blätter der Birken und Apfelbäume und ließ die Grashalme zittern. Der Mai hatte mit Sommertemperaturen begonnen und bis heute war es heiß geblieben.

Er hatte die Zielscheibe auf dem Grillplatz am Ende der Rasenfläche neben dem mit Backsteinen gemauerten Grill platziert. Zwanzig Meter entfernt ging er an der Abschusslinie in Stellung und schoss. Zisch! Eine Acht zu Beginn. Nicht schlecht. Sein Arm hatte ein wenig gezittert, die nötige Stabilität fehlte. In den letzten beiden Jahren hatte er das Schießtraining etwas vernachlässigt, um mehr Zeit mit Kathrine verbringen zu können.

Die Sonne war wie die Liebe, dachte er, umfing uns ganz und gar. Elf Jahre, zweihundert Tage, einige Stunden. Ein Leben, eine Liebe.

Der Blick zur Nidda, über die Wiesen hinweg, tat weh, erinnerte ihn an die glückliche Zeit mit Kathrine. Wie viele Tage und Stunden hatten sie dort gemeinsam verbracht? Wie viel Spaß hatten sie gehabt, sich im Gras zu wälzen oder ihre eigenen Radieschen, Paprika und Zucchini wachsen zu sehen und zu ernten?

Beim letzten Trainingsschuss kam ihm ein Eichhörnchen dazwischen. Es sprang über die Zielscheibe von einem Baum zum anderen und machte sich flink den Ast entlang davon. Kurze Konzentrationsstörung. Mist, sagte er sich, das durfte nicht passieren, vor allem nicht, wenn’s drauf ankam.

Er zielte kurz auf das Eichhörnchen. „Zong!“ Der Laut zischte zwischen seinen Lippen, den Pfeil behielt er in den Fingern. Getroffen hätte er! Er nahm die Zielscheibe ins Visier, spannte den Bogen. Und schoss. Mitten in die Zehn.

Die Sonne verlor hinter den Taunushängen ihre Kraft. Dunkelheit legte sich wie ein düsterer Schatten über den Garten und die Wiesen bis zur Nidda. Er war – wie so oft in letzter Zeit – in Gedanken versunken. Wie viele Male hatten sie gemeinsam diesen Blick genossen?

Die Haustürklingel schellte und lenkte ihn ab. Wer mochte das sein? Er erwartete niemanden und wollte auch niemanden sehen. Schon wieder klingelte es. Er legte den Bogen ab und bedeckte ihn mit einer Plane, bevor er durchs Haus ging und die Tür vorsichtig öffnete.

Monika, die Nachbarin, stand vor ihm und hielt ihm eine Kuchenplatte unter die Nase:

„Riech mal, Jerry, frischer Erdbeerkuchen.“ Er hasste es, wenn Monika ihn so nannte. Und ihre Piepsstimme ganz besonders.

„Habe ich heute vom Markt geholt. Magst du ein Stück?“ Wie oft hatte er Monika schon erklärt, dass ihn der Kosename an Tom & Jerry erinnerte und er einfach nicht so genannt werden wollte. Aber sie ließ sich einfach nicht davon abbringen.

Monika übergab ihm die Platte mit dem Kuchen, in die andere Hand drückte sie ihm eine Schüssel mit Schlagsahne, durch die sie mit ihrem Zeigefinger fuhr und ihn danach genüsslich zwischen ihren roten Lippen ableckte.

Sie hatte sich Zöpfe gebunden, Rouge und Lippenstift aufgetragen. Der Ausschnitt der Bluse fiel ihm ins Auge und war, für seinen Geschmack, entschieden zu tief. Überhaupt passte ihr gesamtes Auftreten eher zu einer Zwanzigjährigen. Monika war aber schon 37, blond, alleinstehend, anlehnungsbedürftig und anschmiegsam. Das hatte er nicht nur einmal zu spüren bekommen, aber er hatte sie nie angefasst. Gelegenheit hat sie ihm oft gegeben.

Nach kurzem Zögern bat er sie herein. Sie tischte den Kuchen im Wohnzimmer auf. Er aß zwei Stücke, um keinen Verdacht zu erregen.

Monika sah sich um und er musste sich in der Folge einiges anhören: Er mache einen mitgenommenen Eindruck. Die Wohnung ebenso. Sie könne es nicht ertragen, dass er sich so gehen lasse. Sie wolle sich ein wenig um ihn kümmern. Um die Wohnung ebenso. Einmal Großreinemachen. Wäre ja schon eine Zeit lang her. Kann ja nicht alles verlottern. Müsse eine Frau ran. Ob ihm das recht sei?

Sie störte ihn. Er wollte seine Ruhe haben. Wollte seine Trauer ausleben. Seine Recherchen vorantreiben. Immerhin waren noch weitere Schuldige zu finden und zu erledigen. Er schob Unwohlsein vor, behauptete, das Kantinenessen heute in der Bank sei ihm nicht bekommen. Was Besseres fiel ihm nicht ein. Er vereinbarte mit ihr, dass sie sich gleich morgen früh um die Wohnräume kümmern solle, wenn er in der Bank sei. Dann komplimentierte er sie sanft hinaus. Widerwillig ging Monika. Er spürte, dass sie sich mehr erhofft hatte.

5

In der Kindertagesstätte Bockenheim war der Teufel los. Kinder fegten durch die Flure, spielten Fangen. Andere trommelten auf selbstgebastelten Bongos herum. Zwei Mädchen und zwei Jungen spielten Polonaise Blankenese und sangen dazu.

Ines Grawitz, die Kita-Leiterin, verfolgte das Treiben und freute sich. Sie mochte ihre Kinder, jedes einzelne, auch wenn die Schreihälse, Krawallmacher, Radaubrüder, Heulsusen, Unruhestifter, Raufbolde, Püppchen und Muttersöhnchen ihr manchmal tierisch auf den Geist gingen.

Wie jeden Mittag ging sie zum Briefkasten, der am Hoftor hing, und schaute nach, ob Post gekommen war.

Heute waren nur wenige Menschen in der Bockenheimer Falkstraße unterwegs. Die Luft trug einen Hauch Frühling in ihre Nase. Vereinzelte Sonnenstrahlen hatten sich zwischen die vierstöckigen Häuser verirrt.

Ines Grawitz holte fünf Briefe aus dem Briefkasten, davon drei Rechnungen, mehrere Werbeflyer und ein Anzeigenblättchen, von denen jede Woche mindestens vier kamen.

Gerade fuhr der Mann vom Paketdienst, den sie seit Jahren kannte, vorbei und grüßte sie herzlich mit einem bübischen Grinsen und einem zackigen Winken.

Ines Grawitz sog die Frankfurter Frühlingsluft ein, die eine Art Hitzewallung in ihr auslöste, und sie musste an Carlo – ihren Mann – denken, der heute zu Hause war, leicht verschnupft. Plötzlich hatte sie Lust auf Sex. Hoppla, dachte sie, solche Bedürfnisse um die Mittagszeit, das kannte sie gar nicht von sich. Zwei kurze Sekunden lang fragte sie sich, was sie wohl geweckt hatte, fand aber keine Erklärung. War sie so ausgehungert? Eigentlich hatten sie regelmäßig Sex. Also regelmäßig einmal die Woche. Mehr war nach 15 Jahren Ehe nicht aus ihrem Kater Carlo rauszuholen.

Carlo würde sich heute Abend auf einiges gefasst machen können. Sie überlegte, ob sie vorher noch zum Friseur und zur Kosmetikerin gehen sollte, um etwas Schwung in ihre halblangen braunen Haare zu bringen und ihrem Gesicht ein wenig Farbe zukommen zu lassen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Musste auch so gehen. Sie nahm sich vor, ihrem Herzbuben gleich eine SMS zu schreiben, erinnerte sich wieder an die Post in ihrer Hand und blätterte sie durch.

Unter den Briefen fiel ihr einer ins Auge, dick und schwer, ein DINA5-Umschlag, hellbraun. Keinerlei Absender, weder vorne noch hinten. Sie schüttelte ihn, aber er schien lediglich Papier zu enthalten.

In ihrem Büro setzte sie sich an ihren Schreibtisch, legte die Post auf einen Stapel neben die Computertastatur und widmete sich dem ominösen Brief.

Kaum hatte sie ihn mit einem Brieföffner aufgeschlitzt, den Inhalt gepackt und auf den Tisch gelegt, setzte kurz ihre Atmung aus.

Vor ihr lag ein Bündel Geldscheine. Und keine kleinen. Überwiegend Hunderter. Auch einige Fünfziger waren darunter.

Ines Grawitz holte tief Luft, was sie vor lauter Aufregung vergessen hatte, und überlegte.

Von draußen drangen Schreie herein. Durchs Fenster inspizierte sie den Raum mit den Kindern, die etwas hektischer geworden waren. Zwei Jungs rauften miteinander. Aber Frau Kessler, die betreuende Pädagogin, saß seelenruhig auf ihrem Stuhl, beobachtete ihre Gruppe und machte keinerlei Anstalten, eingreifen und beschwichtigen zu wollen. Manchmal wünschte sich Ines Grawitz Ohrstöpsel, die sie einfach reinstecken konnte, um sich akustisch von der restlichen Welt abzuschotten.

Ines Grawitz konzentrierte sich wieder auf ihren Fund und prüfte erneut den Umschlag. Die Adresse ihrer Kita stimmte. Wieder suchte sie nach dem Absender. Fehlanzeige.

Nachdenklich saß sie auf ihrem Stuhl und betrachtete das viele Geld. Sie strich mit den Händen darüber. Wie viel mochte das sein? 20.000? 30.000? Mehr? Auf jeden Fall war sie sicher, nie zuvor eine solche Menge auf einem Haufen gesehen zu haben.

Ihre Gedanken überschlugen sich. War das die Chance, die Kita aus den roten Zahlen zu holen? Endlich konnten sie sich einige wirklich wichtige Dinge anschaffen. Neues Mobiliar, eine Rutsche im Garten und einen Sandkasten.

Frau Kessler, die plötzlich hinter ihr stand, holte sie mit einem Schrei aus ihren Träumen zurück in die Wirklichkeit:

„Nein! Was ist das denn?“

„Das siehst du doch: Geld. Und zwar jede Menge“, sagte Ines Grawitz und fuhr mit den Händen durch den Geldberg. Dabei stieß sie auf ein gefaltetes, weißes Blatt, das sie sofort herauszog. Es war ein Computerausdruck, auf dem nur ein Satz in mittelgroßen Lettern stand: „Den Reichen nehmen, den Armen geben.“

„Damit müssen wir zur Polizei“, sagte Frau Kessler, während sie sich rücklings in einen Sessel plumpsen ließ.

MITTWOCH 22.5.

6

Rauscher kam frühmorgens in sein Büro. Krause war noch nicht im Präsidium, also stürzte er sich auf die Ermittlungsakte im Banker-Fall. Er wollte unbedingt die aktuellen Ermittlungsergebnisse kennen, bevor er mit Krause darüber sprach.

Das erste Opfer hieß Armando Terzlaff, 43 Jahre alt, verheiratet mit Ina Terzlaff, kinderlos, wohnhaft im Diplomatenviertel in Bockenheim. Angeblich großer Freundes- und Bekanntenkreis in der Frankfurter High Society.

Terzlaff war direkt nach Feierabend vom Büro nach Hause gefahren, wo es passiert war. Etwa fünfzig Leute aus seinem engeren Bekanntenkreis waren befragt worden. Keiner hatte eine Idee, warum Terzlaff ermordet worden war. Zeit seines Lebens sei er ein tadelloser Mensch gewesen, immer nett und freundlich, hilfsbereit. Überaus spendabel. Jemand, mit dem man gerne die Zeit verbrachte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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