Blaulicht Frankfurt - Gerd Fischer - E-Book

Blaulicht Frankfurt E-Book

Gerd Fischer

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Beschreibung

Nach dem Thriller "Rotlicht Frankfurt" (LONGLIST Crime Cologne Award 2020) ist "Blaulicht Frankfurt" die von vielen Fans mit Spannung erwartete Fortsetzung der Geschichte des Journalisten Benjamin Brick – eiskalte Spannung in der Main-Metropole! Sie töten, wen er liebt … Der Frankfurter Journalist Benjamin Brick hat mit seiner Kollegin Katharina Neubert ein kriminelles Escort-Sex-Netzwerk entlarvt und darüber eine große Reportage geschrieben, das die Frankfurter Polit- und Wirtschaftsprominenz aufgescheucht und viele Hintermänner in den Knast gebracht hat. Eigentlich hat Brick mit der Sache abgeschlossen und will sich zur Ruhe setzen. Doch dann wird Kati tot aufgefunden … Brick ist sofort elektrisiert. Alte Wunden brechen auf. Eine unsichtbare Macht treibt ihn an, er will unbedingt Katis Mörder überführen, die Hintergründe aufdecken und den Fall publik machen. Die Rechnung hat er ohne die Drahtzieher gemacht, die jeden seiner Schritte beobachten. Er kommt ihnen zwar auf die Spur, doch damit löst er eine Lawine aus, die ihn zu überrollen droht …

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Seitenzahl: 421

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Gerd Fischer

Blaulicht Frankfurt

Thriller

ISBN 978-3-911008-00-6

Copyright © 2024 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Mia Beck

Covergestaltung und Bildrechte: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Inhalt

Autor

Prolog

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL II

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Autor

Gerd Fischer, 1970 in Hanau geboren, studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt.

Fischer hat sich einen Namen gemacht mit seiner Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: „Mord auf Bali“ 2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013, „Abgerippt“ 2014, „Bockenheim schreibt ein Buch“ (Hrsg.) 2015, „Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi“ Februar 2017, „Ebbelwoijunkie“ Dezember 2017, „Frau Rauschers Erbe“ 2018 und „Der Apfelwein-Botschafter“ 2021.

Zudem die Thriller „Rotlicht Frankfurt“ 2019 (LONGLIST Crime Cologne Award ), und „Seitenwende“ 2023 (gemeinsam mit Stefan Schweizer).

Prolog

Der Lippenstift auf dem geöffneten Mund stach knallrot hervor. Kein Fältchen auf der Haut, die Augen grell geschminkt. Die Farbpalette beinhaltete gelbe, neongrüne und tiefrote Töne. Lider gesenkt, Haare hochtoupiert, Ohrringe fünf Zentimeter lang, neonpink. Die Person trug ein bauchfreies Top mit Spaghettiträgern, das ihre Apfelsinenbrüste kaum verbarg. Dazu einen Hauch von Slip. Das Piercing im Bauchnabel schimmerte brillanten. Die High Heels aus Leder hatten Pfennigabsätze.

Sie sah billig aus.

Die Stellung ihrer Extremitäten war extravagant. Ein Arm hochgestreckt, einer hing nach unten. Ein Bein war links abgeknickt, eins rechts. Sie lag auf dem Rücken.

Den rechten Oberschenkel zierte ein Wort. Die Schrift in Lippenstiftoptik: PRESSEHURE. Versalien, fett und rot.

In ihrer Brust klaffte ein Loch, aus dem Blut gesickert und getrocknet war.

Sie atmete nicht mehr.

*

„Wir müssen alles über diesen Typen rausfinden. Vor allem seine Schwachstellen.“

„Kein Problem! Der Mann ist ein Wrack.“

„Umso besser. Ich will ihn leiden sehen!“

„Am besten etwas, womit wir ihm besonders wehtun.“

„Alles klar, ich kümmere mich drum.“

TEIL I

KAPITEL 1

1

Der Frankfurter Märzhimmel hatte die Farbe von Blut angenommen. Der Sonnenuntergang über der Skyline war überwältigend. Benjamin Brick wandte sich vom Fenster ab, sonst hätte er seine Gefühle nicht mehr in den Griff bekommen. Er setzte sich zurück auf den Bürostuhl und sah Anna Frieder an.

„Wo waren wir stehengeblieben?“

„Sie waren dabei, ein persönliches Fazit zu ziehen. Nachdem Ihre Reportage die Zerschlagung des Escort-Netzwerks Starlight ausgelöst hat.“

Brick hatte ein letztes Interview zugesagt. Erstens war es von der bedeutendsten Frankfurter Zeitung gekommen, der Allgemeinen. Zweitens führte es die Chefredakteurin persönlich, der er gerade in ihrem Büro gegenübersaß. Sie hatten zwei Stunden lang gesprochen. Zwei Stunden, die ihm schwergefallen waren. Zu lebendig schien der Albtraum, zu wenig hatte er ihn abgeschüttelt, obwohl das Ganze nun über ein halbes Jahr zurücklag. Das Interview wühlte alles neu auf.

„Ja. Da ist diese Unsicherheit, die bleiben wird. Tomovic ist tot, aber wir wissen immer noch nicht, ob und wie seine Mitstreiter strafrechtlich belangt werden. Ob die Leute auf der Freierliste im Bau landen, ob ihnen überhaupt strafbares Handeln nachgewiesen werden kann. Die Justiz hat das Wort, uns sind die Hände gebunden. Denkbar schlecht. Es wird sich hinziehen. Wir sind zum Warten verdammt. Und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie ich das hasse.“

„Danke, Herr Brick. Ich denke, das reicht für das Interview.“ Sie legte eine Pause ein. „Ende des offiziellen Teils.“

Anna Frieder fasste sich an ihre kurzen blondierten Haare, die ihr etwas Pfiffiges und Forsches verliehen, als wolle sie sie zurechtzupfen. Mit 51 zählte sie sich garantiert nicht zum alten Eisen, schätzte Brick. Sie war ein Blickfang, trotz oder wegen ihres Alters. Sie achtete auf ihr Äußeres, das schien klar. Zweimal wöchentlich Workout in einem First-Class-Fitnessstudio an der Alten Oper, am Wochenende auf einer Laufstrecke in den Wetterauer Feldern. Karrierestreben inklusive. Ihr Businesskostüm war modern geschnitten und betonte ihre Figur. Einzig ihre Augen … Da stimmte was nicht. Er kam nicht gleich drauf. Sie waren dunkel, gaben wenig preis, erzählten nichts von ihrem Inneren. Er meinte, beim zweiten Hinsehen zu erkennen, dass das rechte Auge einen Tick nach unten hing. Ja, das war es. Nachlassende Elastizität oder angeboren? Es schmälerte indes ihre Attraktivität nicht, im Gegenteil. Es verlieh dem Gesicht das gewisse Etwas und verwandelte die ansonsten perfekt erscheinende Frau in einen normalen Menschen.

„Darf ich Ihnen noch einige persönliche Fragen stellen, off the record?“, fragte Anna Frieder und lächelte ihn an. „Ich verspreche, Ihre Antworten nicht für meinen Text zu verwenden.“

Brick hob die Augenbrauen. „Sie interessieren sich für mich?“

„Sagen wir es so: Ich würde gerne mehr darüber erfahren, wie es dem berühmten Benjamin Brick geht, der ein Topjournalist sein könnte, es aber vergeigt hat, weil er leider nur alle Schaltjahre eine Weltklassereportage abliefert. Im Umgang mit anderen jedoch für zahlreiche Aussetzer bekannt ist.“

Brick staunte. „Aha! Sie machen nicht nur Ihre Hausaufgaben, Sie machen sich auch Sorgen. Um mich!“

„Seit dem Buch über die Starlight-Recherche habe ich leider keine Zeile von Ihnen gelesen.“

„Brauchen Sie nicht. Oder sehe ich so schlimm aus?“

„Aber auch nicht gut.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Danke für das Kompliment.“ Er strich sich übers Gesicht und die kurzen Haare, die inzwischen auf knapp einen Zentimeter nachgewachsen waren. Er hatte sich während der Flucht vor Tomovics Leuten eine Glatze geschoren, damit ihn niemand mehr erkennen konnte. Seine Haare waren nun dünner als vor der Totalrasur und abgenommen hatte er auch. Kein Tropfen Alkohol seit Monaten.

„War nicht so gemeint.“

„In den letzten Jahren habe ich nicht sonderlich auf mich und meinen Körper geachtet. Da haben Sie recht.“

„Ich würde es Raubbau nennen.“

Er schaute sie eine Weile an, als überlege er, ob er ihr mehr anvertrauen konnte. „Wissen Sie, ich habe so ein Echo in mir. Es klopft an meine inneren Gehirnwände und fängt an zu erzählen. Von den üblen Zeiten, als ein Absturz dem nächsten folgte. Es ist wie ein Stoppschild und sagt mir: bis hierhin und nicht weiter!“

Anna schien verblüfft. „Ihr Echo?“

„Die Schatten meiner Vergangenheit, die Sünden, die Gefühle, so oft den Abgrund gesehen zu haben.“

„Hmmm, verstehe. Ich würde es Ihre innere Stimme nennen, die Sie ermahnt.“

„Ich habe jahrelang nicht am Leben gehangen. Seit ich weiß, dass ich eine Tochter habe, hat sich meine Perspektive geändert. Auch wenn sie in Hamburg lebt, ist sie immer bei mir.“ Er klopfte sich aufs Herz.

„Ich kann Sie beruhigen. Sie machen einen passablen Eindruck für Ihre 52 Jahre.“

„Passabel, soso. Rote Nase, unterlaufene Augen, wenig Schlaf, viele Falten, mein Puls holpert. Hab ich was vergessen?“

„Sind Sie eigentlich immer so negativ?“

„Hängt womöglich mit meiner Grundstimmung zusammen. Ich war vor dem Starlight-Fall schon kaputt, aber die Sache hat mich weiter zerstört.“

Sie beugte sich vor, legte ihre Hand sanft auf seine. „Erzählen Sie! Erzählen Sie mir bitte mehr! Es interessiert mich brennend.“ Da nichts kam, versuchte sie, ihm auf die Sprünge zu helfen. „Kein bisschen stolz? Könnten Sie aber sein. Sie haben ein skrupelloses Netzwerk ausgehoben.“ Sie streifte ihn mit einem Blick, der eher nicht zwischen Interviewerin und Interviewtem ausgetauscht wurde. Er erkannte Anteilnahme darin. Es lag etwas in der Luft. Sympathie.

Er erwiderte ihren Blick, zog gleichzeitig seine Hand zurück. Sie waren sich einen Moment lang nähergekommen, zu nah für Brick. Da kam eine Art Verständnis auf, da war ein Gefühl, das behagte ihm nicht. Es irritierte ihn. Flirtete sie? Nein. Das konnte nicht sein. Anna Frieder war eine andere Liga. Er irrte sich.

„Wann fangen Sie wieder mit dem Schreiben an?“ Das hörte sich pragmatisch an. Der Zauber war weg. Er hatte sich alles nur eingebildet.

„Ich? Keine Ahnung. Vielleicht nie mehr. Aber ich laufe jetzt regelmäßig, unten am Main.“

Frau Frieder schaute auf. „Ein Anfang. Freut mich. Ich könnte … Ich möchte etwas zu Ihrem Wohlbefinden beitragen, indem ich Ihnen ein … ein Angebot mache.“ Wieso stotterte sie plötzlich? Sah ihr nicht ähnlich.

„Ein Angebot?“ Brick hob eine Augenbraue.

„Steigen Sie bei uns als Redakteur ein.“

„Bei der Allgemeinen?“, platzte er heraus und musste grinsen. „Oh nein, bitte nicht! Ich nehme keinen Job mehr an. Diese Zeiten sind vorbei. Hab was auf der hohen Kante. Der Vorschuss und die Tantiemen für das Buch sind recht üppig ausgefallen. Sie werden mich über die nächsten Jahre bringen.“

„Es steht seit zehn Wochen auf der Bestsellerliste.“

„Hätte ich nicht erwartet.“

„Sagen Sie, warum hat Katharina Neubert nicht mitgeschrieben am Buch? Immerhin war sie stark involviert in die Aufdeckung des Starlight-Netzwerks. Die Zeitungsreportage haben sie ja auch als Team verfasst.“

„Ich hätte das Buch liebend gern mit ihr zusammen geschrieben, glauben Sie mir.“ Er schwieg einen Moment und schaute die Chefredakteurin eindringlich an. „Aber sie hat mir einen Korb gegeben. Wollte ums Verplatzen nicht mitschreiben. Ruhm und Rampenlicht, hat sie gesagt, seien nicht ihr Ding. Außerdem sei sie ständig auf der Suche nach Neuem, da müsse sie sehr viel investieren und jede Sekunde reinhängen. Sie hätte keine Lust, sich abgeschlossenen Sachen zu widmen.“

„Wie selbstlos.“

„Meinen Sie das ironisch?“

„Niemals.“

Er war skeptisch. Ihrer Miene ließ sich nichts entnehmen. „Wenn Sie Kati kennen würden“, hängte er an, „wüssten Sie, dass ihr so was tatsächlich egal ist. Sie ist Idealistin. Sie schreibt investigative Reportagen und kaut nicht Altes neu durch.“

„Und warum haben SIE das Buch geschrieben? Vom Geld mal abgesehen.“

„Gute Frage. Darüber habe ich lange nachgedacht. Die Kohle hat eine gewisse Rolle gespielt, das gebe ich zu. Wenn du jahrelang von Artikel zu Artikel lebst, macht das auf Dauer keinen Spaß. Aber, was rede ich! Sie kennen die Situation im Journalismus. Wie soll ich es ausdrücken? Es war etwas anderes, etwas … Magisches.“

„Oh! Das hatte ich am wenigsten erwartet. Wie meinen Sie das?“

„Der Laptop hat mich angezogen, hat mich nicht mehr losgelassen. Wie ein Magnet. Ich habe sechs Wochen, quasi Tag und Nacht, durchgeschrieben. Wie festgetackert. Wie ein Besessener.“

„Klingt nach Ihrem Normalzustand.“

Er lachte. „Genau mein Humor.“

„Pardon!“

„Köstlich! Aber ja. Sie haben recht, so könnte man es tatsächlich sagen. Ergänzt habe ich das Buch durch meine Lebensgeschichte.“

„Hat ihm gutgetan.“

„Danke. Haben Sie es etwa gelesen?“

„Verschlungen! Ihr Meisterwerk. Gratuliere! Ehrlich. Ich wusste immer, dass Sie ein fabelhafter Autor sind.“

„Mir blieb keine Wahl. Ich musste es schreiben. Eine Art Therapie. Ich habe mein bisheriges Leben abgearbeitet. Oder hinter mir gelassen, wie man es nimmt …“ Die folgende Pause zog er bewusst in die Länge, weil ihm Szenen durch den Kopf schossen. Mit Alina, Natascha, Natalia, Elisa. „Aber jetzt … Wissen Sie, ich brauche nichts mehr zu schreiben. Hat was für sich. Obwohl ich mich jeden Tag ausgelaugt fühle.“

„Kein Wunder. Mit anderen Worten: Sie lassen Ihr Talent brachliegen.“

„Vor allem werde ich …“ Er beendete den Satz nicht, schaute sie stattdessen eine Weile an. „Wenn Sie jetzt keine Fragen mehr haben, würde ich es vorziehen …“

„Oh nein! Also ja, meine ich. Wir sind durch. Bei Nachfragen weiß ich ja, wo ich Sie finde.“

Brick stand auf. Streckte seine Hand über den Tisch.

Frau Frieder ergriff sie. „Danke fürs Kommen. Ich bin übrigens Anna und biete dir hiermit das Du an.“

„Benjamin“, antwortete er, wie aus der Pistole geschossen. „Aber so nennt mich niemand. Ben wäre schön.“

„Big Ben?“

„Nur meine engsten Freunde und Weggefährten nennen mich so.“

Er blieb stehen, überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, entschied sich dagegen. Er hatte Bedarf nach Frischluft. Redaktionsräume waren ihm verhasst.

Beim Gehen spürte er ihre Blicke in seinem Rücken. Beobachtete sie ihn? Machte sie sich tatsächlich Gedanken, wie es ihm ging? Hat sie es ernst gemeint, als sie von dem Angebot sprach? Ein heruntergekommener Typ wie er bei der Allgemeinen? Welch eine Vorstellung! Wobei er nicht leugnen konnte, dass es einen gewissen Reiz barg. Oder wollte sie ihm schmeicheln?

Alter Hohlkopf, schalt er sich und beschleunigte den Abgang.

*

Regen peitschte wie Stahlketten auf den Asphalt des Frankfurter Gutleutviertels. Brick saß in seiner Wohnung am Küchenfenster und beobachtete seit über einer halben Stunde die herunterlaufenden Tropfen. Dieser Wasservorhang trennte ihn von der Hölle, die sich Stadt nannte. Er war froh, hier zu sitzen, nicht frieren zu müssen und nichts zu tun zu haben.

Das Klingeln an der Wohnungstür ignorierte er eine Weile. Der Besucher zeigte eine gewisse Penetranz und hämmerte munter drauflos. Das Geräusch tat ihm im Ohr weh.

„Jaja, ist ja schon gut!“

Brick seufzte, erhob sich, schlurfte zur Tür.

„Was verschafft mir die Ehre?“, fragte er, als er den Verursacher des Lärms erblickte. Brick stand Eddie Zinnober gegenüber, einem seiner ältesten Kumpel. Der Leiter der Lokalredaktion der Frankfurter Presse war blasser und runder geworden und hatte schon wieder ein paar Haare verloren. Sein durch die O-Beine bedingter Watschelgang war Brick in lebhafter Erinnerung. Mit seinen ausgewaschenen Jeans und Stiefeln wankte er wie ein in die Jahre gekommener Cowboy, der sich verlaufen hatte. Inzwischen stand er kurz vor der Rente.

Prompt kam eine Gegenfrage: „Was hast du die letzten sechs Monate eigentlich getrieben?“ Eddie wischte einige Regentropfen von der Jacke ab.

„Nichts.“

„Und was hast du jetzt vor?“

„Nichts.“

„Ich mache mir Sorgen um Kati“, sagte Eddie unvermittelt und betrat die Wohnung. Schlenderte an Brick vorbei, schaute sich um. Vielleicht hatte er Chaos erwartet. Vielleicht nicht. Vielleicht hatte er angenommen, Brick sei in den letzten Monaten zum Messi mutiert.

Mit der Nennung des Namens Kati war Bricks Aufmerksamkeit geweckt. „Was ist mit ihr?“

Katharina Neubert war Bricks Lieblingskollegin, die gemeinsam mit ihm durch die Berichterstattung über den Starlight-Fall und die Aufdeckung der unvorstellbaren Machenschaften seinen alten Kumpel Eddie vorm Rauswurf bewahrt hatte. Die Frankfurter Presse hatte einen Boom sondergleichen erlebt, von dem sie heute noch zehrte. Kati war daraufhin zur Ressortleiterin ernannt worden.

Brick pflanzte sich im Wohnzimmer in einen Sessel. Eddie blieb stehen.

„Wenn ich wüsste, was mit ihr ist, wäre ich nicht hier.“ Er kratzte sich am Kopf. „Wie vom Erdboden verschluckt. Seit drei Tagen war sie nicht mehr in der Redaktion. Ihr nächster Artikel ist überfällig.“

„Dabei ist sie doch zuverlässig.“ Brick runzelte die Stirn.

„Ich habe es bei ihr zu Hause probiert, auf dem Handy, zig Mails geschrieben. Nichts. Sie reagiert überhaupt nicht. Das passt nicht zu ihr.“

„Du machst dir echt Sorgen um sie.“

„Wäre ich sonst hier? Ich wiederhole mich nur ungern.“

„Hast du es bei der Familie probiert?“

„Wir haben ihre Eltern ausfindig gemacht. Sie wohnen in Wiesbaden und haben sie seit über drei Monaten nicht zu Gesicht bekommen.“

„Hat sie einen Freund?“

„Das müsstest eher du wissen.“

„Wovon handelt der Artikel?“

„Eine Recherche im Kulturamt über den Stand des Neubaus der Oper und des Schauspielhauses. Harmlos. Sie hat mir aber gesagt, sie sei an einem neuen, einem – Zitat – großen Ding dran.“

„Einem ‚großen Ding‘. Und du weißt nicht, worum es geht?“

„Keinen Schimmer. Du?“

„Ich?“

„Hallo, hallo? Ist hier noch jemand?“ Eddie schaute sich theatralisch um.

„Ich hab seit Monaten keinen Kontakt zu ihr“, erklärte Brick.

„Mist. Dachte echt, du weißt, wo sie steckt.“

„Irrtum!“

„Dabei wart ihr doch so eng, als ihr den Starlight-Artikel verfasst habt.“

„Danach hab ich ne Auszeit gebraucht. Der ganze Trubel und … Ach, ich will damit nichts mehr zu tun haben.“

„Was treibst du so?“

„Hast du mich eben schon mal gefragt.“

„Und du hast nicht geantwortet.“

„Der gleiche hartnäckige Kerl wie früher, was? Du hast nichts von deiner Art eingebüßt.“ Brick kratzte sich am Kopf. „Dies und das.“

„Lass mich raten: Mit dies meinst du Pernod trinken. Mit das auch?“

„Bin trocken.“

Eddie Zinnober war darauf bedacht, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen.

„Du wirst doch nicht solide werden im Alter?“

„Immer volle Breitseite, was, Eddie?“

Zinnober winkte ab. „Vergeudete Zeit. Ich hau ab. Und falls du was von Kati hörst, wärs nett, wenn du …“

„Jaja. Schon gut.“ Brick schob ihn halb aus der Tür. Er war es nicht gewohnt, Besuch zu bekommen. Wollte nicht mehr behelligt werden mit Dingen, die ihn nichts angingen.

*

War er zum Menschenfeind mutiert? Ertrug er die bloße Anwesenheit eines anderen nicht mehr? Hatte es so weit kommen müssen? Konnte er gegensteuern? Oder war es schon zu spät? Den Rückzug aus dem Leben hatte er längst angetreten. Er brachte es nicht einmal fertig, mit Eddie, früher sein wichtigster Bezugspunkt, normal zu reden. Zurück am Fenster. Die Welt draußen rann an der Scheibe herunter. Es war März, es war grau, jeder Tag war wie der andere. Und das seit einer gefühlten Ewigkeit.

Ich mache mir Sorgen um Kati.

Verdammt! Eddie hatte ihm einen Floh ins Ohr gesetzt. Sein Ex-Chef hatte seine Achillesferse erwischt. Unentwegt musste er an Kati denken. Sie war die Einzige, die Brick in diesem Moment gerne gesehen hätte.

Obwohl, es gab noch Natalia, seine Tochter, und Elisa, seine ehemalige Nachbarin. Die waren in Hamburg, jobbten in einer Kneipe und ließen kaum was von sich hören. Nicht dass er größeren Wert darauf gelegt hätte. Dennoch schummelten sich die beiden ab und zu mal in seinen Kopf. Sie hatten gemeinsam die Hölle durchgemacht.

Sie ist an einem großen Ding dran.

Verflucht! Eddies Kurzbesuch hatte Brick einen Stich versetzt.

Musste er aktiv werden? Es gab damals einen Kollegen bei der Zeitung. Von ihm wusste er, dass er auf Kati stand. Sie arbeiteten zusammen, gelegentlich. Er könnte ihn ausfindig machen, ausfragen. Vielleicht hatte er Kati in den letzten Tagen gesehen. Wobei er nicht sicher war, wie dieser Typ hieß. Kai? Kati und Kai, genau. War er überhaupt noch bei der Frankfurter Presse? Seit etlichen Jahren hatte die Fluktuation zugenommen. Die Zeiten im Journalismus waren knallhart geworden. Heute hier, morgen dort. Die Freien schrieben für zig Blätter, um über die Runden zu kommen. Die Festangestellten waren ständig auf der Suche nach Alternativen, um ein vernünftiges Leben führen zu können. Mehr Geld, weniger Spätschichten, Abend- und Wochenendtermine. Immer lungerte schon jemand hinter der nächsten Ecke, der den gleichen Job für einen Apfel und ein Ei machte. Hinzu kamen die permanenten Anschuldigungen. Lügenpresse auf die Fresse. Wer hörte sich das auf Dauer an?

Scheiße! Sein Gedankenkarussell drehte sich unaufhörlich. Eddie hatte es geschafft: Er war wieder mittendrin. Dabei hatte er sich in letzter Zeit gut abgeschottet. Hatte den Avancen von Madame Chefredakteurin widerstanden. Anna, was für ein Name! Er ließ ihn sich auf der Zunge zergehen. Hätte er sich an ihn gewöhnen können? Die Lady schien echtes Interesse an ihm zu haben. Und ihre Zeitung war von ausgesuchter Qualität.

Ein Klingeln schreckte ihn auf. Sein Handy. Außer Anna hatte seit Wochen niemand mehr angerufen. Er erkannte Schnauzes Nummer. Sein langjähriger Informant bei der Kripo, Thilo Frost war sein richtiger Name. Frost hatte ihn in früheren Zeiten zu Tatorten bestellt und ihm Infos zukommen lassen, bevor andere sie bekamen. Er hatte Brick Insiderkenntnisse übermittelt, sodass dieser in der Lage war, Artikel zu schreiben, nach denen sich Kollegen die Finger leckten.

Frost konnte er nicht wegklicken.

„Mensch Big Ben, altes Haus. Wie läufts?“ Vertraute Stimme, die wacklig klang. Oder täuschte er sich?

„Schnauze, du rufst doch nicht an, um dich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen. Was ist los?“

Der Tonfall änderte sich abrupt. „Kennst mich immer noch, Respekt! Muss ich echt sagen. Es gibt Neuigkeiten. Am besten, du kommst her. Sofort, meine ich.“

Brick spürte instinktiv, dass etwas passiert sein musste. Sonst hätte Schnauze nicht angerufen. Wovon, verdammt, sprach er?

„Wo bist du?“

„Franziusstraße. Zwischen Kampfmeyer-Mühlen und Messinger-Schrauben gibt es ein stillgelegtes Lagerhaus, direkt am Main.“

„Und was soll ich da?“

„Ich hab keine Zeit, Romane zu erzählen. Aber glaub mir, es ist wichtig. Raff dich auf und schwing deinen Arsch hierher!“

Brick hasste es, wenn Schnauze um den heißen Brei herumredete. „Gib mir wenigstens ein Stichwort!“

„Big Ben …“

„Sonst komm ich nicht.“

„Ka…tha…ri…na Neu…bert“, sagte Thilo Frost gedehnt und klickte das Gespräch weg.

*

Brick ging die Straße entlang, die zugige Märzluft streifte sein Gesicht. Er schaute sich um. War wieder draußen. Unterwegs. Eigentlich hatte er mit dem ganzen Kram abgeschlossen. Aber etwas zog ihn vorwärts. Etwas, das unsichtbar war und sich durch ihn fraß. Ein Verlangen, das er als Journalist ständig in sich hatte. Das Verlangen, mehr zu erfahren, alles zu wissen, um darüber zu schreiben.

Wieso? Wieso hatte ihn Eddie besucht? Wieso hatte ihn Schnauze angerufen? Wieso hatten sie ihn, verflixt noch mal, nicht in Ruhe gelassen?

Sein alter Golf Cabrio sprang sofort an. Es war inzwischen später Nachmittag und die Dämmerung hatte eingesetzt. Er drehte die Heizung auf und fuhr los. Frankfurts Straßen waren für ihn Nadelstiche; in jeder hatte er Schmerzen erlebt, Leid erfahren, Geschichten gehört und darüber geschrieben. Mit jeder verband ihn eine Story, meist eine unschöne.

Katharina Neubert waren Schnauzes letzte Worte gewesen. Dafür hätte er ihn am liebsten geohrfeigt.

Er steuerte den Wagen wie in Trance Richtung Osthafen. Er ahnte, was ihn erwarten würde. Warum tat er sich das an?

Die heraufziehende Nacht über Frankfurt flackerte im Blaulicht der Einsatzfahrzeuge, als er die angegebene Stelle erreichte. Er parkte am Straßenrand. Rechts floss der Main, davor wuchsen Bäume und Gebüsch. Links lag eine Art Halle, zehn auf zwanzig Meter. Die Holzvertäfelung hätte einen Anstrich vertragen, das Dach schien löchrig. Die Regenrinne war teils abgerissen. Er näherte sich dem Grundstück.

Schnauze empfing ihn mit einem Gesichtsausdruck, der ihm durch Mark und Bein fuhr. Jetzt blieb es nicht bei der Ahnung, jetzt wusste er Bescheid. Wusste, dass etwas passiert war. Etwas, das ihn persönlich anging.

„Brick“, sagte Frost mit sanfter Stimme, die eine Nuance zu melancholisch klag. Der Ton stand ihm nicht. „Es wird hart, aber ich habe dich nicht grundlos herbestellt. Du hättest mich sonst rundgemacht. Du hättest es mir nie verziehen.“

Brick musterte seinen langjährigen Informanten und Freund, mit dem er durch dick und dünn gegangen war. Sein schwarzes Haar war schütterer, als er es in Erinnerung hatte. Seine Falten waren inzwischen Furchen. Ihm fiel ein, dass er sein genaues Alter nicht kannte. Er schätzte ihn auf mindestens dreiundsechzig.

Schnauze wies ihm mit einer Geste die Richtung. Brick setzte sich in Bewegung. Nach zehn Metern erreichten sie den Eingang zur Lagerhalle.

Ein paar Schutzpolizisten bewachten das Gebäude, damit sich niemand Zugang verschaffte. Die Umgebung war durch rot-weißes Band abgesperrt.

Schnauze bahnte sich den Weg an den Kollegen vorbei. Innen sahen ihn nackte Wände an. Reste eingeschlagener Fensterscheiben in den Rahmen, Betonboden.

Spurensicherer waren in weißen Anzügen akribisch bei der Arbeit, ein Fotograf schwirrte herum. Klick. Klick. Klick. Brick dachte an eigene Termine, bei denen er die Fotos geschossen hatte. Klick. Klick. Klick.

Schnauzes Hand legte sich auf seine Schulter und schob ihn weiter. Sie kamen zu einer Matratze, die nach jahrelanger Lagerstätte von Obdachlosen aussah. Auf ihr lag eine Person. Eine Frau. Sie war tot, das Einschussloch in Brusthöhe war nicht zu übersehen. Sie sah aus wie eine Prostituierte, war gekleidet wie eine. Der Täter hatte sich offensichtlich mit einem Schriftzug auf ihrem Oberschenkel verewigt.

Brick näherte sich wie in Zeitlupe. Sich vortastend setzte er einen Schritt vor den anderen. Warf einen Blick auf das Opfer, in ihr Gesicht. Beim zweiten krampfte sich alles in ihm zusammen. Die Gewissheit erschütterte ihn. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er begann zu zittern, sein Körper bebte. Er fasste es nicht. Konnte es nicht einordnen, bekam es nicht sortiert in seinem Kopf. Was war geschehen?

Schnauze stand plötzlich hinter ihm und stützte ihn, sonst wäre er umgefallen.

„Hinrichtung“, erklärte der Hauptkommissar. „Jemand hat ihr die Pistole direkt aufs Herz gesetzt und abgedrückt. Kaliber 22, eine H & K.“

„Allerweltswaffe“, entfuhr es Brick.

„Eiskalt inszeniert das Ganze. Geplant und ausgeführt wie ein Profi. Oder es waren mehrere. Das werden wir rausfinden, verlass dich drauf!“

Schnauze wollte ihn wegbringen, um in Ruhe mit ihm zu sprechen. Brick wehrte ihn ab. Einen letzten Moment bei Kati verweilen. Das war sein Wunsch. Sie anschauen, bei ihr sein. Eine taffe Journalistin war sie gewesen. Und verdammt gut. Eine der besten. Sie war verletzlich, obwohl sie nach außen hin die Starke gemimt hatte. Das hier hatte sie nicht verdient. Niemand hatte das, nicht das allergrößte Arschloch.

Wer hatte ihr das angetan? Er hasste die Täter und würde es ihnen heimzahlen. Dabei hatte er keinen blassen Schimmer, um wen es sich handelte, überlegte er, bevor er in sich zusammensackte, kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

Schnauze fing ihn auf und führte ihn an den Rand, wo es eine kahle Steinwand gab, an der sich Brick hinuntergleiten ließ und auf den blanken Boden setzte. Zusammengekauert, die Beine angezogen, das Gesicht darin vergraben, hockte er da. Schweigend, als würde er rundherum nichts mehr mitbekommen. Als säße er hier wie der einsamste Mensch der Welt. Verloren und verlassen.

Bis Schnauze sich zu ihm herunterbeugte. Er legte die Hand auf Bricks Kopf, streichelte ihn.

„Big Ben, ich weiß, es geht dir nahe. Aber du weißt, wie wichtig es ist, uns Infos zu geben. Ich hab einige Fragen an dich, okay?“

Brick schwieg.

„Weißt du, woran sie gearbeitet hat?“

Kopfschütteln.

„Wann hast du sie zuletzt gesehen, mit ihr gesprochen?“

„Monate her.“ Brick hob den Blick. Seine Stimme zitterte. „Eddie war bei mir, vorhin erst. Hat sich nach ihr erkundigt, weil sie ne Weile nicht in der Redaktion aufgetaucht und nicht erreichbar war.“

„Scheiße!“

„Ich werde rausfinden, woran sie gearbeitet hat, glaub mir. Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben mache.“

„Ganz der Alte“, meinte Frost und schüttelte den Kopf.

„Nie mehr werde ich der Alte sein, nie mehr!“ Brick riss sich los, sprang auf und stampfte zurück zur Leiche, kniete sich vor sie.

Frost wollte ihn vom Opfer wegziehen, ein Spurensicherer stellte sich in den Weg. „Lass ihn! Wir sind hier fertig.“ Frost nickte resigniert.

Mit den Händen näherte sich Brick Katis Gesicht, öffnete ihre Augen. Konnten sie ihm noch etwas mitteilen? Irgendeinen Hinweis geben? Um ihn herum begann sich alles zu drehen. Sein Kreislauf kollabierte, sein Blickfeld verschwamm.

Das Letzte, was er sah, waren ihre Augen. Katis Augen. Er würde sie nie vergessen.

*

Brick schleppte sich vom Wagen zu seiner Haustür. Er war kaum in der Lage, aufrecht zu gehen. Als er den Schlüssel ins Briefkastenschloss steckte, weil die Post überquoll, zitterte er immer noch. Maximal einmal pro Woche holte er die Briefe heraus. Er hasste die Prospekte und kostenlosen Wochenzeitungen. Heute war es ein ganzer Packen, den er sich unter den Arm klemmte und mit in seine Wohnung nahm, die im Hochparterre lag.

Er warf alles unbedacht auf den Wohnzimmertisch und ließ sich auf die Couch gleiten. Umschläge und Blätter segelten zu Boden. Er beachtete sie nicht. Schloss die Augen.

Im Bücherregal stand eine Flasche Pernod, frisch und jungfräulich. Er hörte ein Geräusch. In diesem Moment realisierte er, dass es eine Botschaft war: Hör zu, Brick!, rief eine Stimme, du weißt, dass du einknickst. Gib deinen inneren Widerstand auf, gönn dir drei, vier Gläser, die Welt sieht dann gleich anders aus. Anschließend haust du dir die Birne weg, um die Festplatte im Gehirn zu löschen und neu hochzufahren. Deine Haltung bröckelt, gibs zu!

Brick erhob sich, begab sich mit staksigen Schritten zum Regal und packte die Flasche.

Komm, Brick, kipp dir einen hinter die Binde! Kati wird nicht wieder lebendig, selbst wenn du ein besserer Mensch wirst. Sie ist tot, finito, basta, Sense. Sieh es ein!

Brick starrte die Flasche an. Ein inneres Ringen setzte ein und entwickelte sich zu einem Kampf auf Biegen und Brechen. Er schraubte den Verschluss ab.

Hau weg den Scheiß, Brick! Tu was, sonst versinkst du in Trauer und Schmerz. Du brauchst eine Stütze, an der du dich festhalten kannst, bis du wieder stabil bist. Nimm mich, Baby!

Setzte die Flasche an den Mund. Als ein Spritzer Lippen und Zunge benetzte, der Anisgeruch in seine Nase schwappte, riss er sie augenblicklich wieder runter.

Es klopfte. Zuerst nahm er an, jemand würde an der Tür stehen, bis er gewahr wurde, dass es in seinem Kopf war. Das Echo meldete sich wieder.

„Reichlich spät!“, beschwerte er sich.

„Versager“, hörte er eine Stimme. Sie klang real.

„Wo zum Teufel warst du, als ich dich am nötigsten gebraucht habe?“

Er war kurz davor, verrückt zu werden. Holte aus und schmiss die Flasche mit voller Wucht an die gegenüberliegende Wand, wo sie zerschellte.

Brick sackte zu Boden. Krümmte sich. Rollte sich zusammen, lag da wie erschossen. Embryonalstellung. Es war nicht der Anflug des Schmerzes, der ihn umhaute, es drang tiefer. Es waren Höllenqualen.

Kati war tot. Er lebte.

Er erinnerte sich an den Zeitpunkt, als er beschlossen hatte, Tomovic und den ganzen Starlight-Laden in die Luft fliegen zu lassen. Kati hatte sofort zugestimmt. Sie war bereit gewesen, die Reportage mit ihm gemeinsam zu schreiben. Ich warne dich, hatte er zu ihr gesagt. Wovor?, wollte sie wissen. Du machst dir nicht Starlight zum Feind, sondern halb Frankfurt, hatte er geantwortet.

Er hatte recht behalten. Es war passiert. Und nicht mehr rückgängig zu machen. Eine himmelschreiende, verfluchte Scheiße … Eine schwere Bürde lastete seitdem auf ihm. Er schwor sich, dass er nicht eher ruhen würde, bis er den oder die Mörder hatte.

Dazu musste er alle Sinne beisammen haben. Die Zeit der Reue war da. Er bereute sein Trinkerdasein und schlug sich den Pernod aus dem Kopf. Die Zeit der Buße war angebrochen, er büßte für all das, was er im Leben falsch gemacht hatte. Und er gelobte, es künftig besser zu machen. Die Zeit der Rache würde kommen, tief in sich spürte er es.

Er lag dort zwei Stunden, vergaß alles um sich herum. Katis Augen kamen ihm immer wieder in den Sinn.

Hallo Ben, hier ist Kati, hatte sie sich immer am Telefon gemeldet, wenn sie ihm einen Auftrag zuschusterte. Hallo Ben, hier ist Kati. Die Stimme, sanft wie ihr ganzes Wesen. Im Job konnte sie knallhart sein. Und bissig. Grundvoraussetzungen für eine Journalistin. Eine verdammt gute. Ihr Tod war nicht nur unbeschreiblich traurig und niederschmetternd, er war ein nicht zu ersetzender Verlust.

Wieso hatte er den Kontakt zu ihr nicht aufrechterhalten? Wieso hatte er sich nicht darum gekümmert, woran sie schrieb? Wieso hatte er sie vernachlässigt nach der gemeinsamen Glanzleistung? Mit Kati hätte er es schaffen können, Nähe zuzulassen. Wieso hatte er sich nicht mehr Mühe gegeben? Wieso hatte er es nicht wenigstens versucht? Diese beschissenen Wieso-Fragen gingen ihm auf den Zeiger.

Abwechselnd heiß und kalt lief es ihm über den Rücken. In Wahrheit, das wurde ihm klar, bettelte er um Vergebung. Vergebung für sich. Er war schuldig. Aber er konnte sich nicht vergeben.

Es gab nur einen Weg: Reue. Buße. Rache.

Während sich Brick langsam berappelte, erhob er sich und tastete sich in Richtung Küche vor, wo er ein Glas Mineralwasser trank. Ein bisschen stolz war er auf sich. Vor einem Jahr wäre der Absturz vorprogrammiert gewesen. Brick, sagte er sich, wird das etwa noch was mit dir?

Zurück im Wohnzimmer fiel sein Blick auf die heruntergefallenen Briefumschläge. Eine quadratische Form stach hervor. Er erkannte eine Schrift in bunten Farben, Filzstift. Sofort lief ein Schauder durch seinen ganzen Körper. Kati hatte gerne mit solchen Stiften geschrieben. Er erinnerte sich, dass sie von den Dingern welche auf dem Schreibtisch liegen hatte während ihrer gemeinsamen Zeit bei der Frankfurter Presse.

Augenblicklich war Brick elektrisiert. Er kniete sich hin und griff nach dem Umschlag. Er war dicker als ein Brief. Eine CD?

Brick riss ihn auf. Tatsächlich. Eine CD-Hülle fiel ihm in die Hände. Ein Anschreiben oder Zettel fehlte.

Er holte die CD heraus. Sie war bedruckt mit Notenlinien und Musiknoten. Ein Satz stand dort in Computerschrift. Ich wollte mich nicht sang- und klanglos verabschieden.

Was zur Hölle hatte das zu bedeuten? War sie über ihren bevorstehenden Tod im Bilde gewesen? Hatte sie ihn vorausgeahnt? Warum hatte sie niemandem Bescheid gegeben, dass sie in Gefahr schwebte?

Und wieso zum Teufel schickte sie ihm eine Musik-CD? War es Trauermusik? Totengesänge? Liebeslieder? Was es auch war, Brick brachte es nicht übers Herz, sich die CD anzuhören und warf sie achtlos auf die Couch. Der Gram über ihr Ableben war zu mächtig, der Kummer, nie mehr mit ihr reden zu können, zu unmittelbar. Er nahm sich vor, sich erst nach der Beerdigung die Songs anzuhören. In diesem Moment schaffte er es noch nicht.

Er pustete einmal kräftig durch. Runterkommen. Ablenken. Schnappte sich ein Buch. In den letzten Wochen hatte er wieder angefangen zu lesen. Wie früher. Meist hatte er sich für schwere Kost entschieden. In dieser Phase hätte er weder einen Liebesroman noch einen Krimi ertragen. Knöpfte sich Autoren vor, die er sein ganzes Leben lang hatte lesen wollen. Cormac McCarthy und James Ellroy. Als er merkte, dass ihn das Amerikanische noch weiter runterziehen würde, stolperte er in seinem Bücherregal über alte Ausgaben von Joseph Roth. Den Hiob genoss er, am Radetzkymarsch scheiterte er, die Bände mit Kurzgeschichten überflog er, bis er sie fand: Die Legende vom heiligen Trinker. Seine Geschichte. Als sei sie für ihn geschrieben. Roths vollendetes Meisterwerk. Er verschlang sie zweimal, dreimal, fünfmal, er zählte nicht mehr. Jetzt nahm er sie sich erneut vor, blätterte jedoch gleich zur letzten Seite, glitt hinunter zum letzten Satz. „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!“

Jäh stiegen ihm Tränen in die Augen. Er weinte bitterlich, die ganze Nacht.

2

Brick erwachte im Dämmerzustand auf der Couch mit einem Hauch Anis in der Nase. Putzen dringend notwendig signalisierte ihm sein Kleinhirn. Ein Klingeln drang an sein Ohr. Er sah aufs Handydisplay und erkannte Anna Frieders Redaktionsnummer.

„Du bist ganz schön penetrant“, meldete er sich mit verschlafener Stimme und gähnte.

„Irrtum. Ich bin ganz schön nett, denn ich wollte dir mein Beileid wünschen.“

„Wie kommst du dazu?“

„Ich habe von Frau Neubert gehört. Ihr standet euch nahe.“

„Das ist übertrieben. Wir waren Kollegen.“

„Wie geht es dir?“

Draußen raffte sich der Tag auf, die Morgendämmerung zu überwältigen. Es war düster. Stille umgab ihn.

„Bist du noch dran?“

„Jaja. Ich …“

„Hast du Lust, heute mit mir zu Mittag zu essen?“

„Sag ich doch: penetrant.“

„Magst du es nicht, wenn sich jemand um dich kümmert?“

„Ach, du kümmerst dich? Hast du zufälligerweise Hintergedanken?“

„Wenn du damit auf die Redakteursstelle anspielst, über die wir gesprochen hatten, vergiss es! Solch ein Angebot kommt von mir nur einmal.“

„Worum geht es dir dann?“

„Ich möchte mit dir über Katharina Neubert, deine kongeniale Co-Schreiberin, sprechen, die leider, wie es scheint, einem abscheulichen Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“

„Ich fühle mich geschmeichelt, aber ich muss leider absagen. Nimm es mir nicht übel. Ich will allein sein, nachdenken, die richtigen Schlüsse ziehen.“

„Vergrab dich nicht! Oder sollte ich besser sagen: Begrab dich nicht! Eine Leiche genügt für die nächste Zeit.“

„Es stand schon schlimmer um mich.“

„Ich muss zugeben, ich mache mir ein wenig Sorgen. Du leidest sicher extrem. Ich würde gerne mehr darüber erfahren.“

„Dein Interesse muss warten. Ich melde mich.“

„Ich freue mich.“

*

Als er aufstand, schüttelte Brick die Lethargie ab. Kurzzeitig flammte Tatendrang auf. Das Telefonat schien ihm gutgetan zu haben. Oder tat ihm der Kontakt mit Anna generell gut? Sie entstammte einer anderen Welt. Was hatte sie mit ihm vor? Er würde sich ein wenig mit ihr befassen. Später.

Er strich seine Jeans glatt, schlüpfte in Sneaker und zog ein frisches T-Shirt an. Im Bad warf er sich einen Spritzer Wasser ins Gesicht. Fuhr sich durch die Haare, putzte die Zähne. Das musste reichen.

Zwei Tassen Kaffee später startete er den Wagen. Sein Ziel: die Redaktion, die er monatelang nicht mehr betreten hatte. Eins hatte er sich vorgenommen: Eddie nicht über den Weg zu laufen. Es würde eine Kaskade an Fragen zu Kati nach sich ziehen. Fragen, die er ohnehin nicht beantworten konnte. Und nicht wollte.

Stattdessen hieß das Objekt seiner Begierde Kai, genannt Kai Hawaii. Ein Insider für Fans der Neuen Deutschen Welle, denn es handelte sich um den Namen des Sängers der Band Extrabreit, die heutzutage kaum noch jemand kannte. Der Presse-Kai hatte genauso eine schmale Lausbubenvisage.

Er fragte sich durch, unbekannte Gesichter sahen ihn an. Er traf auf niemanden von früher, der ihm bekannt vorkam.

In der Sportredaktion entdeckte er ihn. Kai saß an seinem Schreibtisch. Seine Haare standen ab wie die des britischen Premiers Johnson. Er sah aus, als sei er gerade aufgestanden. Schien akribisch zu arbeiten, tippte, las, tippte, las. Routine.

„Hallo, Kai Hawaii.“ Brick stellte sich neben ihn.

Der Angesprochene wandte langsam den Kopf und schaute ihn an, als sehe er einen Geist. „Selber hall… Oh, das is mal ne Überraschung. Der große Big Ben! Über den alle reden, den man aber nie zu Gesicht bekommt.“ Er holte Luft. „Hätt ich mir denken können, dass du ausgerechnet heute hier auftauchst. Du hast echt Nerven, Mann.“

„Woran schreibst du?“

„Eintracht gegen Mainz 05, Vorbericht.“

„Aha. Und wer schreibt über die Ermittlungen in Katis Fall?“

„Tröster.“

„Kenn ich nicht.“

„Sebastian Tröster, recht neu. Stadtredaktion.“

„Wann hast du Kati zuletzt gesehen?“

„Spielst du jetzt etwa Bulle, Brick?“

„Beantworte meine Fragen, überlass den Rest mir. Also?“

„Du bist echt ne Nummer.“ Er lachte in sich rein und schüttelte den Kopf. „Genau wie alle sagen: total crazy, aber scheinbar ein genialer Schreiber.“

„Steck dir deine Kacksprüche an den Hut! Ich brauche Auskünfte.“

„Wieso von mir?“

„Mir fällt niemand ein, der Kati näher kannte. Dir?“

„Nö. Besonders in letzter Zeit war sie extrem verschlossen. Sie war übrigens sauer auf dich. Oder enttäuscht. Ach, egal.“ Er winkte ab.

„Auf mich?“

„Mensch Brick, denk doch mal nach! Ihr habt ne Megastory zusammen recherchiert und veröffentlicht und danach lässt du dich nicht mehr blicken.“

„Brauchte ne Auszeit. Und außerdem wollte sie nicht mit an dem Buch schreiben. Das war allein ihre Entscheidung.“

„Trotzdem hätte Kati jemanden zum Austausch gebraucht. Stattdessen setzt du dich wochenlang in jede Talkshow und tauchst danach komplett unter. Ich glaube, sie hatte gehofft, dass du wieder einsteigst.“

„Bei der Frankfurter Presse?“

„Beim Frankfurter Zoo bestimmt nicht.“

Brick war überrascht. Aus dieser Warte hatte er die Sache noch nie betrachtet. Kati hätte wissen müssen, dass ein stinknormaler Redakteursposten für ihn nicht mehr in Frage kam. Offensichtlich hatte er sich in ihr getäuscht.

„Also noch mal: Wann hast du sie zuletzt gesehen?“

„Vor zehn Tagen etwa. Später haben wir noch zwei-, dreimal telefoniert.“

„Woran hat sie gearbeitet? Eddie hat was von einem großen Ding erzählt.“

„Sie hat ein Geheimnis daraus gemacht. Ich kann dir nicht weiterhelfen, glaub mir. Ich hab keinen Schimmer. Denkst du etwa, es hat was mit dem Mord an ihr zu tun?“

„Ich denke gar nichts. Ich zähle eins und eins zusammen. Fällt dir jemand ein, mit dem sie darüber gesprochen haben könnte?“

„Wenn sie mir nichts erzählt hat, ist die Chance gering, dass du jemanden finden wirst.“

„Was macht dich so sicher?“

„Wir haben uns immer ausgetauscht. Aber wenn sie nicht rausrückte mit Infos, hab ich sie nicht weiter gelöchert. Wäre zwecklos gewesen. Meistens ist sie paar Tage später sowieso zu mir gekommen. War immer so.“

„Das fällt ja künftig flach.“ Brick klang desillusioniert.

„Die Polizei war hier, hat ihren Computer mitgenommen.“

„Danke für die Info.“ Er musste Schnauze anrufen, machte sich eine Notiz im Kopf. „Sonst noch was?“

„Was meinst du?“

„War sie verändert? Hat sie was gesagt? Gab es anonyme Anrufe? Ist dir was aufgefallen an ihr? So Zeug.“

„Du hättest Bulle werden sollen.“ Er schmunzelte. „Aber ich kann dir nicht weiterhelfen. Tut mir leid. Seit ich es gehört habe, vergeht keine Minute, in der ich mir nicht den Kopf zerbreche. Aber ich komme keinen Millimeter weiter. Ausgerechnet Kati! Darf echt nicht wahr sein.“ Er starrte Brick scharf an. „Weißt du was?“

„Wär ich sonst hier?“ Brick ließ seinen Blick durch den Redaktionsraum schweifen. Die Schreibtische waren zur Hälfte besetzt. „Ist hier immer so wenig los?“

„Der Niedergang des Journalismus ist in vollem Gange, ist dir bestimmt nicht entgangen. Eure Starlight-Reportage hat uns gepusht, aber nur vorübergehend. Jetzt ist wieder Ebbe. Die eine Hälfte hat schon gekündigt, die andere ist ständig krank. Der Rest kämpft sich durch. Traurig!“

„Halt dich tapfer!“, sagte Brick und klopfte Kai auf die Schulter. Er bereute die Geste jedoch sofort, weil sie ihm angesichts des Todes von Kati und des Zustandes der Zeitung lächerlich vorkam.

Er wandte sich ab und verließ den Redaktionsraum. Draußen im Flur fiel ihm Schnauze wieder ein. Er stellte sich vor eine Fensterfront und schaute hinaus aufs Gallusviertel. Trostlose Bürogebäude. Ein Imbiss, ein Kiosk. Im Hintergrund die Hochbahnstrecke der S-Bahn zur Galluswarte. Nicht gerade das blühende Leben.

„Habt ihr schon was?“, eröffnete Brick, nachdem Schnauze das Gespräch angenommen hatte.

„Guten Morgen auch für dich.“

„Spar dir den Scheiß. Also, wie sieht es aus?“

„Ich kann dir nichts sagen, Brick.“

„Komm schon, Schnauze, lass dich nicht so feiern! Das kann ich gar nicht gebrauchen.“

„Okay. Wir haben echt nada, Mann! Es ist komisch, auf ihrem Laptop und auf ihrem Redaktionscomputer befinden sich nur alte Artikel, alle neuen scheinen gelöscht worden zu sein. Es gibt aber keinerlei Hinweise darauf, dass sich jemand Fremdes Zugang verschafft hätte, ergo scheint sie selbst diejenige gewesen zu sein, die die Sachen gelöscht hat. Und zwar Recherchematerial, Dokumente und so fort. Absolute Fehlanzeige. Was sagt dir das?“

„Sag du es mir!“

„Sie ahnte etwas. Sie hatte Infos – oder spürte, dass ihr jemand auf die Schliche kam. Und das hing mutmaßlich mit ihrer Arbeit zusammen.“

Ich wollte mich nicht sang- und klanglos verabschieden. Katis Worte fielen ihm wieder ein, sie ergaben immer noch keinen Sinn.

„Und weiter?“

„Nichts weiter! Wir stehen momentan vor einem Rätsel und sind gezwungen, den Obduktionsbericht und den Bericht der Spusi abzuwarten. Vielleicht gibt es DNA-Spuren, hoffentlich andere Hinweise. Da unten im Osthafen über die Honsellbrücke rüber, wo sie gefunden wurde, das ist ein altes Industrie- und Gewerbegebiet, da werden abends die Bürgersteige hochgeklappt. Da ist weit und breit kein Mensch unterwegs, der etwas gesehen haben könnte. Überwachungskameras gibt es nirgends. Auf dem Laptop sind etliche Mailadressen und Telefonnummern, die wir momentan recherchieren, aber das sieht begrenzt aus. Ich kann nicht sagen, ob wir da weiterkommen.“

„Und in welche Richtung ermittelt ihr dann?“

„Brick, ich darf dir nicht mehr sagen, das weißt du genau. Und ich sag’s dir nur einmal: Halt deine Griffel still!“

„Super Rat! Einen Scheiß mach ich!“, schrie er.

„Brick! Du bist …“

Brick klickte das Gespräch weg und steckte das Handy ein. Er kochte. Klar, es war nicht easy, an Infos zu kommen. Aber wozu, verdammt noch mal, hatte er den Kontakt zu Schnauze jahrzehntelang gepflegt?

Er hatte noch nicht richtig angefangen zu recherchieren und die Sache ging ihm bereits an die Nieren. Ruhig Blut, sagte er sich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, sonst würde er verrückt werden.

Er atmete dreimal tief durch und stiefelte in Richtung Ausgang, als er hinter der Glasfront des Konferenzraumes eine Bewegung registrierte. Jemand winkte ihm zu. Bevor er das Unheil in Gänze ausmachen konnte, öffnete sich die Tür und Eddie Zinnobers Kopf erschien.

„Hey Brick, komm rein! Wir sitzen zusammen und haben gerade über dich gesprochen.“

„Über mich?“

„Ja. Was ist nun?“ Eddie hielt ihm die Tür weit auf. Mit einer Geste seines Kopfes wies er ihm den Weg in die Höhle der Löwen. Brick erblickte bekannte Gesichter.

Geschäftsführung, vermutete er, so ne Kacke! Brauchte kein Mensch.

„Dauert nur ein paar Minuten. Oder hast du dringende Angelegenheiten zu erledigen?“ Eddie grinste.

„Herr Brick“, kam es aus dem Inneren. „Kommen Sie rein, setzen Sie sich.“ Die markante Stimme gehörte Torsten Weidemann, seines Zeichens Verleger der Frankfurter Presse, ein untersetzter Typ mit Schwabbelhüfte und schwarzumrandeter Brille. Umringt wurde er von drei weiteren Schlipsträgern.

Eine solche Runde von Speichelleckern hatte Brick gerade noch gefehlt. Er hätte am liebsten Reißaus genommen, doch irgendetwas zog ihn hinein. Er setzte sich auf einen Stuhl am Tisch, nickte den Herren halbherzig zu und schaute Weidemann an.

„Schön, Sie zu sehen, Herr Brick“, begann der Chef. „Wie geht es Ihnen?“

„Was soll der Scheiß?“, brauste Brick auf. „Sind wir hier in einer Therapiesitzung, oder was?“

„Äh, Entschuldigung, ich wollte nur …“

Mit einer Handbewegung fegte Brick die Rechtfertigung vom Tisch. „Sie sind aber nicht mein beschissener Psychiater, okay! Sie sind Zeitungsmacher. Worum geht es hier eigentlich?“

Weidemann räusperte sich und schaute die Anwesenden eine Weile sanftmütig an. „Ganz der alte Big Ben. Sie ändern sich wohl nie. Sei’s drum! Aber ob Sie es glauben oder nicht: Wir sind ALLE tief betroffen vom Tod unserer langjährigen Mitarbeiterin Katharina Neubert. Darauf haben Sie kein Exklusivabo.“

„Haben Sie mich reingebeten, um mir ne Standpauke zu halten? Hätten Sie sich sparen können. Mit den Standpauken, die ich in meinem Leben kassiert habe, könnte ich ein ganzes Orchester ausstatten. Also, was ist los?“ Um Umgangsformen scherte sich Brick keinen Deut. Hatte er nie, und er würde sicher nicht heute, an einem solchen Tag, damit anfangen.

Brick war auf Krawall gebürstet. Eddie Zinnober schien sich in seiner Haut nicht wohlzufühlen. Er musste einschreiten und schnitt dem Chef, der zu einer Erwiderung ansetzte, das Wort ab. „Brick, es gibt was Neues von Kati.“ Er hatte bewusst eine sachliche Tonlage gewählt. Genug Rage lag im Raum. Er wollte zurück zum konstruktiven Dialog.

Brick hob den Kopf. Er fühlte sich plötzlich hellwach.

„Hier, lies!“ Eddie legte einen Zettel vor Brick auf den Tisch.

Der griff ihn sich und las:

Linksgrün versiffte Frankfurter Lügenpresse! Die Geschichte lügt nicht, es sei denn, sie wird von linksgrün versifften Agitatoren wie dir, du dreckige Presseschlampe, umgeschrieben! Du gehörst vergast und vorher von zehn deutschen Jungs durchgefickt, scheiß Emanzenfotze!

Wer nichts wird, wird Wirt oder geschmierter Lügenpresse-Schmierfink!

Lumpenpresse! Heuchlerpresse!

Stoppt die Umvolkung Deutschlands! Der totale Bürgerkrieg ist machbar, Frau Nachbar!

Ein Kämpfer und Reichsbürger, Schlesien bleibt unser!

KAPITEL 2

Einige Tage zuvor …

3

Bombastisch! Die Aussicht über den Fluss auf die andere Mainseite, linker Hand die Skyline, raubte ihm den Atem. Er erinnerte sich nicht, je zuvor einen solchen Blick über Frankfurt genossen zu haben. Privilegierte Lage im Westhafen. Er erkannte den Opernturm, direkt neben der Alten Oper gelegen, die Domspitze, die Dreikönigskirche. Rechter Hand ließ er die Augen über das silberglänzende Mainwasser schweifen. Eine Eisenbahnbrücke querte die Sicht, und vorm Horizont eine Autobahnbrücke, die A5.

Es war der Ausblick derjenigen, die es geschafft hatten. Zu denen gehörte er nicht.

„Nehmen Sie bitte Platz, Herr Konrad“, hörte er eine tiefe Stimme in seinem Rücken. Er drehte sich um und sah einen Mann, der einen schwarzen konservativen Anzug, ein weißes Hemd und eine Weste trug und soeben den Besprechungsraum betreten hatte. Der Mann deutete auf den quadratischen Tisch in der Mitte des Raumes. „Kaffee, Tee, Wasser? Was kann ich Ihnen anbieten?“

„Ich nehme ein Wasser.“

„Gerne. Wie sind Sie vorangekommen?“

„Ich habe das Dossier dabei. Auch ausgedruckt. Bitte sehr.“ Konrad holte einen gebundenen Packen Papier heraus und übergab ihn seinem Auftraggeber.

Beide setzten sich. Der Mann blätterte die erste Seite auf. Die Überschrift lautete: Zielperson Benjamin Brick, Journalist.

Er rückte seine schwarze Brille zurecht und klappte das Ganze wieder zu. „Nun gut“, sagte er. „Danke sehr. Erzählen Sie mal! Ich kann das jetzt nicht alles lesen.“ Konrad schaute sich um. „Wir sind nur zu zweit und bleiben es auch.“

„Ach so. Bevor wir beginnen: Kennen Sie schon diesen Artikel?“ Er holte die Allgemeine aus seiner Tasche und überreichte sie seinem Gegenüber. „Seite drei. Hier!“

Der Mann las die Überschrift: Vom Redaktionsschreibtisch in die Talkshows. Überflog den Teaser: Der Frankfurter Journalist Benjamin Brick, inzwischen Bestsellerautor, ist nach dem Erfolg seines Enthüllungsbuches ‚Starlight’ durch alle deutschen TV-Studios gewandert. Wie lebt er heute, sechs Monate nach dem Bekanntwerden des größten Skandals, den die Frankfurter Politik jemals erlebt und den Brick aufgedeckt hat? Anna Frieder sprach mit dem Autor.

Der Mann knüllte die Zeitung zusammen und pfefferte sie auf den Boden.

Der hasserfüllte Gesichtsausdruck seines Gegenübers brachte Konrad aus dem Konzept. „W…as wollen Sie zur Zielperson w…issen?“

Als habe es die Zeitungslektüre nie gegeben, platzte der Mann heraus: „Lücken, Schwachstellen, Anfälligkeiten, Fehler. Wo können wir ansetzen? Wo ist er angreifbar? Diese Dinge. Im Prinzip alles, wovon Sie denken, dass wir ihn da packen können.“

Konrad schlug sein Dossier auf, das er in den letzten Wochen verfasst, extra zweimal ausgedruckt und hatte binden lassen. Mit zitternder Hand öffnete er Kapitel eins, das Zahlen, Daten, Fakten, Quellen sowie Angaben zu Stationen der Zielperson enthielt. Von der Geburt bis heute, sorgfältig recherchiert. „Nun, ich habe ja die persönlichen Lebensverhältnisse der Zielperson durchleuchtet und bin bei meinen Nachforschungen durchaus auf interessante Details gestoßen“, begann er zögerlich. „Sowohl die Vergangenheit der Zielperson als auch die Gegenwart bieten zahlreiche Ansatzpu…“

„Konrad, Konrad!“, fiel ihm der Anzugträger ins Wort. „Dass Brick 52 Jahre alt und Journalist ist und zeitweise von der Bildfläche verschwunden war, bevor er wieder Gas gegeben hat und letztes Jahr durch diese Reportage groß rausgekommen ist, weiß ich selbst. Legen Sie das Dossier weg, drücken Sie sich nicht so gestelzt aus! Einfach frei von der Leber weg. Na los! Was haben Sie mir zu sagen? Welchen Eindruck haben Sie von Brick? Was ist er für ein Typ? Wo können wir ihn erwischen?“

Konrad setzte sich aufrecht hin, schien vom Auftritt seines Auftraggebers überrascht. Er bemühte sich, seiner Stimme eine gewisse Festigkeit zu verleihen. „Als Journalist ist er Vollblutprofi, als Mensch Totalversager, der kurz vorm Absturz steht. Zeitweise hat er wie ein Penner gelebt, fast nur gesoffen, hat sich von Termin zu Termin für die Zeitung gehangelt.“

„Schon besser, schon besser! Wir nähern uns. Sprechen Sie weiter!“

„Brick hat viel durchgemacht. Seine große Liebe, die Ukrainerin Alina Werenko, ist in seinen Armen in einem Stripclub im Frankfurter Bahnhofsviertel gestorben, den eine Gruppe Hells Angels angegriffen hatte. Das hat er bis heute nicht verwunden. Tomovic, Chef der Starlight-Escortagentur und inzwischen tot, hatte Bricks und Alinas gemeinsame Tochter, Natascha Werenko, töten lassen. Was Brick schier in den Wahnsinn getrieben hat. Er war so besessen davon, ihren Mörder ausfindig zu machen, dass er alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, bis er Tomovics Machenschaften und die seiner Agentur restlos aufgedeckt und an die Öffentlichkeit gebracht hat. Zunächst hat er eine große Reportage in der Frankfurter Presse veröffentlicht, später hat er noch ein Buch im Westend-Verlag nachgeschoben, das sofort auf den Bestsellerlisten landete. Im Prinzip hat er dadurch das gesamte Starlight-Netzwerk in die Luft gejagt und alle Beteiligten auffliegen lassen.“

„Jaja, weiter!“, rief der Mann. „Unschöne Details, mich interessiert aber Brick. Der Mensch. Seine Familie. Sein Freundeskreis, das Umfeld. Solche Sachen.“

„Er ist Quartalssäufer, bevorzugte Marke Pernod, den er zeitweise wie Wasser trinkt, wobei … Unbestätigten Gerüchten zufolge ist er seit Monaten trocken.“

Die Augenbrauen des Mannes hoben sich.