Ebbelwoijunkie: Kommissar Rauscher 9 - Gerd Fischer - E-Book

Ebbelwoijunkie: Kommissar Rauscher 9 E-Book

Gerd Fischer

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Beschreibung

Angriff auf die hessische Apfelweinkultur: EU-Politiker Hans-Georg Schumann plant eine neue Gesetzesvorlage, die den Genuss des goldgelben Nationalgetränks auf 200 ml am Tag begrenzen soll. Schumann wird zu informellen Gesprächen in den Frankfurter Römer eingeladen, doch dort kommt er nie an. Er wird ermordet aufgefunden. Erste Ermittlungen der Frankfurter Mordkommission kommen zu dem Schluss, ein bekennender Apfelweinliebhaber wollte dem Gesetzesvorhaben Einhalt gebieten. Kommissar Rauscher glaubt nicht an dessen Schuld, steckt jedoch in der Zwickmühle. Einerseits sprechen die Indizien klar gegen den Täter, andererseits kann Rauscher sein Motiv, das Stöffche zu verteidigen, glänzend nachvollziehen und empfindet gar Sympathie. Er will sich nicht mit dem allgemeinen Urteil abfinden. Rauscher rebelliert, schlägt über die Stränge, wird sogar suspendiert. Doch er ermittelt privat weiter, denn er muss herausfinden, was wirklich hinter dem Mord an dem EU-Bürokraten steckt ... Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: "Mord auf Bali" 2006 (Neuauflage 2011), "Lauf in den Tod" 2010, "Der Mann mit den zarten Händen" 2010, "Robin Tod" 2011, "Paukersterben" 2012, "Fliegeralarm" 2013, "Abgerippt" 2014, "Bockenheim schreibt ein Buch" (Hrsg.) 2015, "Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi" Februar 2017, "Ebbelwoijunkie" Dezember 2017, "Frau Rauschers Erbe" 2018 und "Der Apfelwein-Botschafter" 2021. Zudem der Thriller "Rotlicht Frankfurt" 2019.

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Das Buch

Kommissar Andreas Rauscher könnte eigentlich seine gut laufende Beziehung mit der Kommissarin Jana Kern genießen, doch der Fall des ermordeten EU-Politikers Hans-Georg Schumann macht ihm schwer zu schaffen. Dieser wollte ein neues Gesetz auf den Weg bringen, das den Genuss von Apfelwein auf 200 ml pro Tag beschränken soll. Denn laut einer neuen Studie eines Berliner Professors sei es zu säurehaltig und damit gesundheitsschädlich.

Die eingeleiteten Ermittlungen sind rasch von Erfolg geprägt: Die Frankfurter Mordkommission kommt Karl Wöhr auf die Spur. Dem Apfelweinliebhaber war Schumann und dessen Gesetzesvorhaben ein Dorn im Auge. Sein Motiv scheint glasklar, der Mörder ist schnell gefasst.

Doch Rauscher will sich damit nicht abfinden. Über die Köpfe seiner Kollegen hinweg ermittelt er weiter und stößt bald auf erste Ungereimtheiten …

Der Autor

Gerd Fischer wurde 1970 in Hanau geboren, ist in Altenstadt-Höchst in der Wetterau aufgewachsen, studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt.

Weitere Krimi-Veröffentlichungen im mainbook Verlag: „Mord auf Bali“ 2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013, „Abgerippt“ 2014, „Bockenheim schreibt ein Buch“ (Hrsg.) 2015 und „Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi“ 2017.

Gerd Fischer

Ebbelwoijunkie

Der neunte Fall für Kommissar Rauscher

Krimi

Mein besonderer Dank gilt Elisabeth Schick und Mia Beck.

Copyright © 2017 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Mia Beck

Layout: Anne Fuß

Titelbild: © Lukas Hüttner

eISBN 978-3-946413-64-6

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

Signierte Bücher können ohne zusätzliche Versand- und Portokosten direkt beim Verlag auf www.mainbook.de bestellt werden.

„Es war im Gemalten Haus,wo ich meine Liebezu Frankfurt wiederfand.“

Martin Mosebach, Schriftsteller

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

1 Sonntag

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

10 1 Tag später, Montag

11 Dienstag

12 Mittwoch

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

21 Donnerstag

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 2

25 Donnerstag – nachmittags

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 3

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

35 Donnerstag, nachts

Kapitel 36

37 Freitag

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Epilog

Alle „Rauscher“-Krimis im Überblick

Prolog

Er hasste diese Stadt. Auf der einen Seite des Mains die Wolkenkratzer, in denen das Bankergeschmeiß residierte wie einst Kaiser und Könige. Und die überdimensionierte Skyline, die kein einziger Frankfurter mochte. Auf der anderen Seite diese provinzielle Muffigkeit und kleinkarierte Spießigkeit in den Wirtschaften, in denen man Wein trank, der kein Wein war. Wein aus Äpfeln! Paaah! Eine Schande! Und keine kleine!

Aber genau deshalb war er heute in der Stadt. Er hatte einen wichtigen Termin. Vielleicht stand er unmittelbar vor dem wichtigsten Coup seines Lebens. Und er würde unnachgiebig verhandeln, um in die Geschichte einzugehen: als derjenige, der in Frankfurt die Uhren neu justiert hatte.

Apropos: Seine zeigte bereits kurz nach 18 Uhr an. Er war spät dran und musste sich beeilen. Sein Gesprächspartner im Römer würde es nicht schätzen, wenn er unpünktlich käme.

Vorm Marriott-Hotel ließ er seinen Blick schweifen. Schräg gegenüber lagen der Messeturm und die Festhalle, daneben das Kongresszentrum und das Maritim. In diesem Moment lenkte ihn ein Fahrzeug ab, das vorpreschte, einem anderen Wagen die Vorfahrt nahm. Unmittelbar vor ihm bremste es scharf ab und kam zum Stehen. Das Taxi war vorgefahren. Endlich.

Der Fahrer des anderen Taxis verschaffte seinem Unmut über das Vordrängeln durch wildes Gehupe kurz Luft, fuhr dann jedoch weiter.

Der Mann stieg hinten ein. „Zum Römer“, wies er den Taxifahrer an. „Aber ein bisschen dalli, ja?“

„Ihnen kann’s wohl nicht schnell genug gehen“, sagte der Fahrer, blickte sich aber nicht zu seinem Fahrgast um, sondern startete stattdessen den Wagen und fuhr los.

„Wenn Sie wüssten, was auf dem Spiel steht, würden Sie nicht so ein dummes Zeug von sich geben.“ Der Mann schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Lange hatte er auf diese Stunde warten müssen. Wie viel Arbeit hatte er in diesen Moment investiert, wie viele Gespräche geführt, wie viele Diskussionen durchstehen müssen? Oh ja, vor allem endlose, langatmige, nutzlose, nervenaufreibende, einfach sinnlose Diskussionen. Aber jetzt war Schluss damit! Jetzt stand er kurz vor seinem vielleicht größten Triumph.

Das Taxi ließ den Festhallenkreisel links liegen und fuhr Richtung Hauptbahnhof. Es herrschte nur mäßiger Verkehr, doch der Fahrer blieb bei seiner gemächlichen Geschwindigkeit, obwohl die Straße frei war.

„Tempo! Tempo!“, rief der Mann von hinten. Seine Ungeduld war nicht zu überhören.

„Immer mit der Ruhe“, erwiderte der Taxifahrer gelassen, „wir sind früh genug am Ende Ihrer Reise.“

„Werden Sie jetzt poetisch, oder was?“ Die Stimme des Mannes versagte, während der Taxifahrer in die Mainzer Landstraße einbog. „Halt! Stopp! Das war die falsche Richtung. Sie hätten zum Römer links abbiegen müssen. Aber Sie sind rechts gefahren, Sie Nichtsnutz!“

„Keine Angst, Schlaumeier“, antwortete der Fahrer in aller Seelenruhe. „Ich kenne dein Ziel. Und ich weiß auch, wie du heißt, Hans-Georg Schumann.“ Er grinste hämisch.

„Äh … “ Der Fahrgast wirkte konsterniert. So vieles prasselte in diesem Moment auf ihn ein, das er so schnell nicht entwirren konnte. Die falsche Fahrtrichtung. Der ignorante Taxifahrer. Und woher zum Teufel kannte der Kerl seinen Namen?

„Ich weiß noch viel mehr von dir!“, tönte es von vorne hinter dem Lenkrad.

„Äh … also ich weiß nicht, was das soll … Will es auch gar nicht wissen, dafür ist meine Mission viel zu wichtig … Aber … Sie halten jetzt sofort an! Ich will auf der Stelle aussteigen!“ Er trommelte mit den Füßen auf den Boden des Fahrzeugs.

„Sie können es wohl kaum erwarten, hahaha!“ Der Fahrer ließ sich in keiner Weise beirren und fuhr seelenruhig weiter. Er schien ein stoisches Gemüt zu haben, denn er blieb die Coolness in Person.

„Sie! Jetzt hören Sie mal gut zu! … Also … das ist … das ist eine Unverfrorenheit. Ich verpasse meinen Termin. Ich protestiere aufs Schärfste! Ich werde Sie haftbar machen! Sie werden Ihres Lebens nicht mehr froh!“ Die Stakkato-Sätze brüllte er dem Fahrer ins Genick. Zeitgleich zückte er sein Handy und wollte gerade etwas tippen, als der Taxifahrer nach hinten fasste und es ihm mit einem gezielten Griff entriss. Das ging so schnell, dass Hans-Georg Schumann ihn nur perplex anstarren konnte.

„Hey, Sie können doch nicht … “

„Halt’s Maul, aufgeblasener Arsch!“, hörte er die Stimme von vorne. Ein feistes Lachen folgte. „Du verpasst schon nix. Alles ist vorbereitet. Und wer seines Lebens nicht mehr froh wird, werden wir noch sehen.“

„Aber … aber … wohin … äh …?“

„Du wirst gleich sehen, wo es hingeht“, fiel ihm der Fahrer ins Wort. „Und das wird dir nicht gefallen. Hahahaha!“

Kapitel 1

Schreib’s auf den Deckel!

1

Sonntag

Kommissar Andreas Rauscher saß zum ersten Mal in seinem Leben bei einem Heilpraktiker und hörte sich an, was der Herr Doktor zu sagen hatte. Schon der dritte oder vierte Satz aus dem Munde des Mannes ließ ihn aufhorchen: „Ich habe mich auf Ebbelwoi spezialisiert.“

Ich auch, dachte Rauscher. Er war ernsthaft beeindruckt, blieb aber noch eine Weile stumm, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte: „Hört sich prickelnd an.“

„Ist es auch. Reines Naturprodukt. Enthält nur gute Inhaltsstoffe. Im Grunde ist es Medizin auf pflanzlicher Basis.“

„Dann können Sie mich sicher heilen. Mir schwebt eine Ebbelwoi-Kur vor.“

„Warum brauchen Sie die denn, wenn ich fragen darf?“ „Mein Pflichtbewusstsein! Es ist zu groß!“

„Oh, sicher, ja, das ist eine fiese, fiese Erkrankung, die Sie langsam auffressen wird. Moment! Dagegen hab ich was Spezielles …“ Der Doktor nahm seinen Verschreibungszettel. „Ich verordne Ihnen zunächst sechs Wochen … “

In diesem Moment klingelte es. Rauscher schreckte aus dem Schlaf und fuhr hoch. Er war verwirrt und wusste einen Augenblick nicht, wo er sich befand. In seinem Bett! Was war denn das gerade gewesen? Ein Albtraum? Wohl eher ein ganz angenehmer Traum. Leider war er an der spannendsten Stelle unterbrochen worden. Was hätte ihm der Heilpraktiker wohl verordnet? Er würde es nie erfahren. Träume, die sich wie eine TV-Serie fortsetzten, gab es nicht.

Rauscher strich sich übers Gesicht und die schwarzen kurzen Haare, um halbwegs wach zu werden. Jana räkelte sich neben ihm, auch sie schien aufgewacht zu sein. Seine neue Liebe, Kommissarin in Königstein, mit der er seit einigen Monaten zusammen war, genau genommen seit dem Abgerippt-Fall. Und das Beste: Die Eintracht war ihre alte Liebe. Genau wie bei ihm. Das verband sie und so hatten sie auch vor einigen Wochen gemeinsam den Fall des toten Eintracht-Fans lösen können.

Jana drehte sich auf die Seite und schlief weiter. Als Rauscher den Anruf annahm, blökte Krauses Stimme aus dem Handy.

„Endlich gehst du ran! Ausgeschlafen?“

„Sag mal, spinnst du? Es ist sieben Uhr, es ist Sonntag, es ist viel zu frü… “

„Auch sonntags wird gemordet!“, unterbrach ihn der Kollege aus seinem Team bei der Frankfurter Mordkommission.

„Scheiße! Sag nur … “

„Schwing deinen Hintern hierher.“

„Wohin denn?“

„Bulle & Bär.“

„Du meinst … etwa vor der Börse …?“

„Genau. Komm dorthin, ich warte auf dich, ne!“

„Sag mal, willst du mir einen Bären aufbinden?“

„Nee, ich will dich auf die Hörner nehmen!“ Er lachte laut.

„Jan, jetzt reicht’s aber. Erklär mir das, und zwar sofort!“

„Wenn du hier bist“, hörte Rauscher Krauses Stimme noch. Danach ein Klicken. Die Leitung war tot.

2

Nebel zog über dem Main hoch, kroch übers Ufer und schwappte hinein in die Hochhausschluchten Richtung Bahnhofsviertel, die Kaiserstraße hoch bis zum Rossmarkt, an der Hauptwache vorbei und selbst noch in die Schillerstraße hinein. Das Gebäude der Alten Börse lag in einer dumpfen, dicken Suppe.

Rauscher kämpfte sich durch den Nebel. Er sah die Hand vor Augen nicht, war immer noch müde und gähnte. Ein paar Schritte weiter tauchten im wabernden Nebel der Bulle und der Bär auf, die bronzenen Wahrzeichen des Frankfurter Börsenplatzes. Laut Krause sollte hier der Tatort sein. Einige Kollegen waren gerade dabei, das Gelände mit weiß-roten Absperrbändern zu sichern. Andere hatten schon begonnen, Spuren aufzunehmen. Rauscher zückte seinen Dienstausweis und wurde durchgewunken.

Es war in den letzten Tagen frisch geworden. Der Atem bildete kleine Wölkchen vor seinem Mund. Rauscher zog den Kragen seines langen Mantels höher und den Kopf ein, als könne ihn das vor der Kälte schützen. Zum Glück hatte er einen dicken Pulli angezogen. Doch es half alles nichts, denn was er einen Moment später sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Im Nebel tauchte eine schemenhafte Gestalt auf, die aufrecht auf dem Rücken des Bären saß und aussah wie ein Reiter der Apokalypse. Ihr Gesicht glänzte wie eine Maske aus Blut. Die verkrusteten Stellen wirkten schwarz.

Als Rauscher zwei Schritte zur Seite trat, erkannte er, warum die Person in dieser aufrechten Haltung verharrte. Kopf und Oberkörper der Gestalt waren mit Draht an einem Holzkreuz befestigt, das hinter ihrem Rücken aufragte.

Es war ein Mann. Er trug ein ehemals weißes Hemd, das nun rot schillerte. Die Krawatte war gelockert und umgedreht worden. Nun hing sie schlaff über das Kreuz auf den Rücken herunter. Das Anzugoberteil und die Hose des Mannes waren zerfetzt. Aus der Distanz sah es nach einem feinen Zwirn aus.

Rauscher war im Laufe der Jahre an Tatorten unempfindlicher geworden, aber bei diesem Anblick bekam er eine enorme Gänsehaut.

Was zur Hölle war hier geschehen?

Irgendwie schien die Welt um ihn herum zu kreisen. Oder war ihm einfach nur schwindelig? Nein, ihm war, als würde das Universum erzittern.

Er wünschte sich zurück in seinen Traum, in die Obhut seines Heilpraktikers, um endlich die lang ersehnte Ebbelwoi-Kur zu beginnen.

Stattdessen holte ihn die nüchterne Realität in Gestalt von Jan Krause ein. Der gertenschlanke, glatzköpfige Kollege trat auf ihn zu. Zu dessen Figur fiel Rauscher nur ein Wort ein, das er schon des Öfteren im Zusammenhang mit Magersucht-Models vernommen hatte: Hungerhaken. Krause war in den letzten Wochen tatsächlich noch dünner geworden. Oder kam das Rauscher nur so vor, weil er selbst einiges an Masse zugelegt hatte? Er musste seine Ebbelwoi-Diät, die er sich vor einiger Zeit fest vorgenommen hatte, dringend in die Tat umsetzen. Und mit Krause musste er reden. Wenn das so weiterging, war er bald nicht mehr vorhanden.

„Moin, der Herr …“, sagte Krause. „Schaut übel aus, ne?“

Das war eine von Krauses üblichen Floskeln, auf die er keine Antwort erwartete. Rauscher wäre auch nicht in der Lage dazu gewesen. Zu sehr nahm ihn immer noch dieses Bild mit.

Während sich die beiden Kommissare unterhielten, bewegte sich ein Fotograf der Spurensicherung wie ein dunkler Tänzer durch den Nebel. Er versuchte aus verschiedenen Positionen, den Reiter auf dem Bären aufzunehmen, was angesichts der Lichtverhältnisse kein einfaches Unterfangen war.

„Ich vermute“, plapperte Krause los, weil von Rauscher nichts kam, „der Täter will uns damit etwas sagen.“

„Das sehe ich auch“, platzte Rauscher nun heraus, weil er sich nicht länger zurückhalten konnte. „Aber die Frage ist: was zum Teufel?“

„Keine Ahnung. Ich frage mich schon die ganze Zeit, welches kranke Hirn sich so was ausdenkt, ne?“

„Vielleicht ein Verrückter? Oder es waren Drogen im Spiel?“

„Oder beides?“, bemerkte Krause.

„Und wieso hat er ihn auf den Bären gesetzt und nicht auf den Bullen?“ Rauscher sprach wie zu sich selbst.

„Gute Frage. Die beiden niedlichen Tierchen symbolisieren doch das Auf und Ab an der Börse, oder so was in der Art?“

„Richtig. Aber was genau? Wäre vielleicht interessant zu erfahren.“

„Müssen wir recherchieren. Und ich weiß auch schon, wer das macht.“ Krause grinste.

„Da wird sich Kollege Thaler freuen.“

„Sein Lieblingsjob.“

Rauscher blickte sich um. „Immerhin ist es heute windstill. Vielleicht sind nicht alle Spuren vom Winde verweht worden.“

„Wolfgang Andres ist schon dran. Zwei Sachen hat die Spurensicherung schon gefunden. Schau mal hier!“ Krause hielt Rauscher einen durchsichtigen Beweisbeutel vor die Nase, in dem eine gebrauchte Spritze eingetütet war. „Die lag zwischen Bulle und Bär. Vielleicht vom Täter?“

„Ein Junkie? Kann ich mir nicht vorstellen. Raubmorde sehen anders aus. Der hier ist inszeniert. Warum sollte sich ein Junkie die Mühe machen, den Toten da rauf zu hieven und ihm ein Holzkreuz an den Rücken zu pflocken?“

„Ich rede ja nicht von einem Junkie. Aber die Spritze könnte trotzdem vom Täter stammen. Vielleicht hat er dem Opfer was gespritzt … “

Rauscher geriet ins Grübeln. „Kann sein. Und was habt ihr sonst noch gefunden?“

Wieder hielt Krause einen Beweisbeutel hoch. Rauscher erkannte ein Seil. „Könnte die Tatwaffe sein. Am Hals des Opfers befinden sich Schürfwunden. Er könnte stranguliert worden sein. Das lag genau unter dem Bären.“

„Aha … Und das lässt der Täter einfach so hier rumliegen? Hat er auch noch seinen Personalausweis dazugelegt, damit wir ihn auf jeden Fall finden müssen?“

„Äh, nee! Also … eine vernünftige Erklärung hab ich auch nicht dafür. Aber es scheint so zu sein, ne!“

Rauscher drehte sich um und versuchte, sich einen Gesamteindruck vom Börsenplatz zu verschaffen, was gar nicht so einfach war, denn er lag noch mindestens zu zwei Dritteln im Nebel. Rechts erkannte er schemenhaft das alte Gebäude der Frankfurter Börse mit den markanten Rundbögen. Die alten Bilder vom Parketthandel und den Aktienhändlern schwirrten ihm durch den Kopf. Sie waren längst durch Computer und Algorithmen ersetzt worden. Vor ihm lag die Börsenstraße und dahinter das Börsen-Parkhaus, aber das war heute gar nicht zu erkennen. Hinter ihm befand sich die Schillerstraße und links ein hohes Gebäude, von dem er nicht wusste, was sich in seinem Inneren verbarg.

In diesem Moment kam Karsten Quast durch den Nebel gewatet. Dem Gerichtsmediziner konnte man ansehen, dass er nicht gerade begeistert von dem frühen sonntäglichen Einsatz war. Er ging schnurstracks und ohne Begrüßung auf das Opfer zu.

„Seid ihr hier soweit?“, fragte er Wolfgang Andres, den Leiter der Spurensicherung, der neben ihm auftauchte.

„Ja, mit Fotografieren sind wir durch. Du kannst sofort loslegen, wenn wir die Leiche da runtergeholt haben.“

„Okay. Dann mal los!“ Einige Mitarbeiter der Spurensicherung kamen näher und machten sich an der Leiche zu schaffen. Behutsam und möglichst ohne Spuren zu verwischen, versuchten sie den Mann vom Bären auf den Boden zu bugsieren.

Krause und Rauscher wandten sich ab und ließen sie ihre Arbeit machen.

„Wissen wir schon, um wen es sich handelt?“, wollte Rauscher wissen.

„Ja, das Portemonnaie mit dem Ausweis steckte in seiner Hosentasche. Dr. Hans-Georg Schumann.“

Rauscher sah ihn erwartungsvoll an.

„Klingelt’s da nicht bei dir?“, fragte Krause nach.

„Nö, sollte es?“

„Und ob! Politiker. Genaugenommen EU-Politiker. Einer von den hohen Tieren in Brüssel. Deutscher Abgeordneter aus Berlin, wenn ich mich nicht täusche, ne!“

„Was du alles weißt.“

„Siehste mal, ne!“

„Wir müssen rausfinden, warum er in der Stadt war, wie lange schon und mit wem er sich getroffen hat.“

„Ich kümmere mich drum.“

„Danke.“

Rauscher wandte sich an den Gerichtsmediziner.

„Kannst du schon was zur Todesursache sagen?“

„Um mit Sicherheit etwas sagen zu können, muss ich ihn erst auf dem Tisch haben. Aber er wurde definitiv stranguliert. Ob er daran gestorben ist, weiß ich noch nicht.“

„Und zum Todeszeitpunkt?“

„Noch nicht lange her, vor vier bis fünf Stunden, schätze ich. Demnach läge der Eintritt des Todes zwischen zwei und drei Uhr heute Nacht.“

„Noch was?“

„Ja, ich habe das hier an seinem Hals entdeckt.“

Quast deutete mit der Fingerspitze auf einen Bereich unterhalb der rechten Wange in der Nähe der Halsschlagader.

Da Rauscher nichts erkennen konnte, trat er näher heran und beugte sich vor.

„Meinst du die Strangulierungsmale?“

„Nein.“

„Und was ist da noch? Ich sehe nichts.“

„Eine Einstichstelle.“

„Aha. Kann die von einer Spritze stammen?“

„Sieht danach aus.“

„Okay. Andres hat eine gefunden. Dann müssen wir herausfinden, was ihm gespritzt wurde.“

„Werde ich prüfen.“

„Danke.“

Rauscher ging zu Krause zurück.

„Schöne Scheiße, was?“

„Kannst du laut sagen. Es ist Sonntagmorgen kurz vor neun, es ist so neblig wie in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr und es ist schweinekalt. Soll ich weitermachen?“ Rauscher zog den Hals ein und hob die Schultern.

„Nö!“

„Ich will aber. Also: Wir haben eine Leiche auf einem Bären, die mit dem Kreuz ans Kreuz gebunden wurde. Und wir haben einen Irren, der da draußen irgendwo rumläuft und uns irgendwas damit sagen will. Womit haben wir das alles verdient?“

„Es kommt übrigens noch schlimmer … zumindest für dich. Markowsky will dich nämlich sehen. Am besten noch heute. Hat er mir vorhin mitgeteilt. Soll ich dir ausrichten.“

„Der Chef? … Der kann mich mal! Wir müssen uns um den Fall kümmern. Wenn du ihm über den Weg läufst, richte ihm aus, dass morgen auch noch ein Tag ist.“

„Okay, okay, werde ich tun … Wie gehen wir weiter vor?“

„Teil zwei oder drei Kollegen ein, die die umliegenden Gebäude abklappern. Vielleicht gibt es dort Wohnungen. Wir müssen die Anwohner befragen, ob sie etwas beobachtet haben. Vielleicht können sie ein Auto beschreiben oder haben eine verdächtige Person gesehen?“

„Glaubst du wirklich, dass uns das weiterbringt? Die Tat war mitten in der Nacht. Und bei dem Nebel … Ich fress einen Besen, wenn dabei was rauskommt.“

„Trotzdem! Gehört zu unserem Job. Vielleicht war der Nebel vor ein paar Stunden noch nicht so dicht. Immerhin besteht ein Quäntchen Hoffnung … Wir müssen es zumindest versuchen.“

„Okay! Was noch?“

„Wir müssen prüfen, ob es in den letzten Jahren im Rhein-Main-Gebiet Mordopfer gab, die ähnlich aufgebahrt wurden.“

„Ich erinnere mich nur an diesen Engelsmann, also den Engelmacher oder wie ihn die Journaille genannt hat.“

„Stimmt, der Fall der Kollegin Lamprecht. Aber die Opfer hatten kein Kreuz, sondern Engelsflügel auf dem Rücken.“

„Trotzdem waren sie aufgebahrt … Aber gut, die weitere Recherche kann Ingo übernehmen.“

Rauscher nickte. „Gute Idee.“

„Und? Kannst du schon sagen, was du von der Sache hier hältst?“, fragte Krause nach.

„Weißt du, jeder Fall hat drei Seiten“, sagte Rauscher. Krause schaute ihn fragend an. Deshalb vollendete Rauscher seinen Gedanken: „Eine, die du siehst. Eine, die ich sehe. Und eine, die wir beide nicht sehen. Noch nicht jedenfalls.“

3

Im Büro fand Rauscher auf seinem Schreibtisch eine Notiz des Chefs vor. Markowsky verlangte ein Gespräch mit ihm. Oh weia! Das verhieß nichts Gutes. Und nach Geplauder war ihm gerade gar nicht. Seit dem zermürbenden Eintracht-Fall hatte es noch keine Aussprache gegeben. Er verschob seine trüben Gedanken auf später und nahm sich vor, Markowskys Notiz erst einmal zu ignorieren.

Es war inzwischen kurz nach 9.30 Uhr. Das Präsidium war nahezu verwaist. Rauscher pflanzte sich auf seinen Schreibtischsessel und schrieb Jana eine WhatsApp. Vielleicht war sie schon wach. Wobei: eher nicht. Sie liebte es, lange zu schlafen, wenn sie es denn mal konnte.

Aus einem gemütlichen Sonntagsfrühstück würde nichts werden. Er seufzte, schüttelte jedoch die Gedanken ab und wandte sich wieder dem Fall zu. Bisher waren die Hinweise ausgesprochen mager. Name: Hans-Georg Schumann. Beruf: EU-Politiker. Er gab beides im Netz in eine Suchmaschine ein und war bass erstaunt. Über 400.000 Treffer.

„Schau mal einer an“, sagte er zu sich selbst. Er klickte auf ‚Bilder‘ und betrachtete sich die obersten der Reihe nach. Der Mann kam ihm auf Anhieb bekannt vor, aber so richtig konnte er sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang er ihm schon mal begegnet war.

In der Hoffnung, es würde ihm einfallen, erhob er sich und trabte in die kleine Team-Küche der Mordkommission. Dort schenkte er sich einen Kaffee ein, den er ganz in Ruhe trank. Er dachte intensiv nach, aber es wollte ihm nicht einfallen, woher er den Politiker kannte.

Er schenkte sich nach und lief mit der Tasse zurück ins Büro. Kaum hatte er sich hingesetzt, stand schon Kollege Krause vor ihm. In seinem Schlepptau hatte er Ingo Thaler, der Recherchefreak des Teams. Er war so ziemlich der genaue Gegenpart des hochaufgeschossenen Kollegen: klein, lockig, brauner Teint noch vom letzten Sonnenurlaub und eher mollig. Dick war Thaler zwar nicht, aber er haderte ab und zu mit seinen Pfunden. Darin war er Rauscher nicht unähnlich. Das war aber auch die einzige Gemeinsamkeit. Während Rauscher am liebsten draußen ermittelte, saß Thaler gerne am Schreibtisch und recherchierte. Fürs Team war er somit unendlich wertvoll, denn er kniete sich in die kompliziertesten Fälle hinein und hatte einen phänomenalen Spürsinn, wenn wichtige Infos zu besorgen waren. Draußen, die Front, war hingegen nicht sein Revier. Zurzeit trug Thaler die dunklen Haare wieder einmal etwas länger bis über den Nacken, als wollte er sich damit von den kahlköpfigen und stiernackigen Kollegen bewusst absetzen.

„Guten Morgen“, sagte er und trat an Rauschers Schreibtisch.

„Schlechter hätte er nicht anfangen können“, kommentierte Rauscher. „Habt ihr schon was?“

„Und ob!“, begann Krause. „Ich habe in Schumanns Brüsseler Büro angerufen. Dort war eine Sekretärin dran, Frau Thies, die mir sofort etwas hektisch vorkam. Sie vermissen Schumann bereits seit gestern Abend. Die Sekretärin hat mich an seinen Assistenten verwiesen, der wohl gestern Abend schon in Frankfurt gelandet ist. Er wollte sich auf die Suche nach seinem Chef machen, nachdem er gehört hat, dass dieser verschwunden ist. Er heißt Lennart Friedrichs.“

„Und was hat dieser Friedrichs gesagt?“

„Schumann hätte gestern Abend um 18.30 Uhr eigentlich ein Arbeitstreffen im Römer gehabt.“

„Eigentlich?“

„Ja, dort ist er nämlich nie aufgetaucht. Seitdem war er auch nicht erreichbar. Die Römerleute haben bei Friedrichs nachgefragt, doch der wusste von nichts. Seitdem gab es kein Lebenszeichen von Schumann.“

„Wir wissen, warum …“

„Genau.“

„Mit wem wollte sich Schumann im Römer treffen?“

„Mit der ganz hohen Riege. Der hessische Innenminister, der Justizminister, unser geschätzter Oberbürgermeister Feldmann himself und natürlich das Fußvolk, Staatssekretäre et cetera.“

„Hört sich immens wichtig an. Worum ging es?“

„Das wollte mir Friedrichs am Telefon nicht sagen.“

„Verdammt! Das müssen wir rausfinden.“

„Ist mir längst klar. Ich lasse ihn gerade vom Steigenberger Airport Hotel abholen und direkt hierher bringen. Außerdem versuche ich, an einen der beteiligten Politiker ranzukommen. Was nicht einfach sein dürfte, aber vielleicht erwische ich einen der Staatssekretäre.“

„Bestens. So, auf die Berichte von Andres und Quast müssen wir sicher noch warten. Was können wir noch tun?“

„Ich bin gerade dabei“, schaltete sich Thaler ein, „Schumanns Wege am gestrigen Tag zu recherchieren und zu rekonstruieren. Er war im Marriott an der Festhalle untergebracht. Dort steigt er immer ab, wenn er in Frankfurt weilt. Mehr wissen wir noch nicht.“

„Prima. Klemm dich dahinter! Wir müssen herausfinden, wann seine Spur verloren ging, ob er sich tagsüber mit weiteren Personen getroffen oder was er sonst getrieben hat.“

„Vielleicht hatte er ja ein Date?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Nur so.“

„Hast du einen Hinweis?“

„Nein, nein.“

„Dann ist es also reine Spekulation?“

„Ja, ja.“

„Gut. Aber vielleicht hat ihn jemand am Nachmittag mit jemand anderem gesehen oder es gibt irgendwo Videoaufzeichnungen, vorm Hotel oder so? Alles, was wir in die Finger kriegen, kann hilfreich sein.“

„Wird gemacht“, sagte Thaler. „Übrigens gab es in den letzten Jahren keinen ähnlich gelagerten Ritualmord.“

„Wie hast du das denn so schnell herausgefunden?“, wunderte sich Rauscher.

„Wenn man die richtigen Schlagworte im System eingibt, ist das ein Kinderspiel.“

„Und welche hast du eingegeben?“

„Aufbahrung, Holzkreuz, Spritze und Strangulierung. Null Treffer.“

„Klingt plausibel.“

„Das Symbol Bulle und Bär hab ich mir auch angeschaut. Wenn die Kurse steigen, nennt man das Bullenmarkt oder bullish, wenn sie fallen Bärenmarkt oder bearish. Und das Wichtigste: Es wechselt. Also es gibt Phasen, da regieren die Bullen, in anderen herrschen die Bären vor.“

„Alles schon mal gehört“, kommentierte Krause. „Aber was will uns der Künstler, äh also der Täter, damit sagen?“, stellte er die entscheidende Frage.

„Dass es von nun an bergab geht?“, mutmaßte Thaler.

„Wenn wir das rausfinden, sind wir vielleicht schon einen Schritt weiter“, bilanzierte Rauscher.

„Dann grübelt mal schön. Ich setz mich ab und berichte später mehr.“

„Danke, Ingo!“ Thaler verließ das Büro.

Auch Krause verabschiedete sich. „Alles klar. Ich melde mich, sobald ich was Handfestes hab.“

„In Ordnung.“

Rauscher blieb allein zurück. Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel sinken und genoss die Stille. Musste etwas herunterkommen. In sich gehen. Zu sich selbst finden, um weitermachen zu können. Warum in aller Herrgottsnamen tötete jemand einen Mann, noch dazu einen EU-Politiker, und setzte ihn dann vor der Börse auf den Bären?

Rauscher kam nicht mehr dazu, über diese Frage nachzugrübeln, denn sein Handy unterbrach ihn. Jana hatte ihm geantwortet: Welcher Idiot vermiest uns unseren Sonntagmorgen?

Er musste schmunzeln. Bevor sie noch öfter hin und her schreiben würden, rief er sie lieber an.

„Du Armer“, sagte sie, bevor er sich melden konnte.

„Geht schon! Irgendwas kommt immer dazwischen bei uns beiden“, formulierte er seine Gefühlslage und stöhnte.

„Nicht den Kopf hängen lassen. Was hältst du davon, als Entschädigung ein leichtes Mittagessen im Gemalten Haus einzunehmen?“

„Brillante Idee! Wo zauberst du die nur immer her?“

„Hast du denn Zeit?“

„Nehm ich mir, definitiv. Wann?“

„Äh, ich lieg hier noch im Schlafanzug …“

„Hahaha, seit wann trägst du Schlafanzüge?“

„Hab ich nur so daher gesagt, aber Frau muss noch unter die Dusche und so weiter … Sagen wir um halb eins?“

„Abgemacht. Wenn ich zu spät bin, du weißt ja, was ich trinke …“

„Geht klar.“

„Bis dann.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen klickte er das Gespräch weg.

4

Mittagspause im Gemalten Haus. Gab es etwas Schöneres? Na klar: jeden Tag Mittagspause im Gemalten Haus. Für Rauscher die Erfüllung. Alles, was sein Herz begehrte, und wenn dann auch noch Jana mit von der Partie war, war das einfach traumhaft.

Als Rauscher die gute Stube der Apfelweinwirtschaft mit den bemalten Wänden, den Holztischen und der leicht sauren Note in der Luft betrat, bekam er noch die letzten Wortfetzen eines Gespräches zweier Stammgäste mit.

„Ein Mordsstöffche dies Jahr, gell. So eins hadde mer lang ned.“

„Wenn üwwerhaupt!“, stimmte sein Gesprächspartner zu. „Des schmeckt pomfortionös, oder wie die Sachse saache.“

Rauscher ließ seinen Blick schweifen, doch Jana war noch nirgends zu sehen. Er grüßte Axel, seinen Stammkellner, und setzte sich an einen der wenigen freien Tische.

Es dauerte keine Minute, bis Axel ein Geripptes aus seinem Schoppenträger nahm, vor ihn hinstellte und sagte: „Schaffst du nix heut?“

„Doch. Aber ein, zwei Schoppen gehn immer.“ Es lag zwar sicher noch ein Haufen Arbeit vor ihm, aber wenn er schon mal zu dieser Tageszeit hier war, würde er sich auch was gönnen können.

Rauscher nippte am goldgelben Elixier und peilte über den Rand des Glases die Eingangstür an, in der just in diesem Moment Jana erschien.

Er setzte ab und stand auf. Als sie an seinen Tisch kam, umarmte er sie. Ein Kuss wie ein Donnerschlag folgte. Er ärgerte sich noch mehr, heute malochen zu müssen.

Jana zog ihre Softshell-Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Sie trug ein enganliegendes Sweatshirt und Jeans. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem breiten Mund sah wunderschön aus. Auch der raspelkurze Haarschnitt stand ihr sehr gut. Sie lächelte ihn an und sah gut erholt aus. Rauscher war sehr froh darüber. Nachdem sie in den Fußball-Fall verstrickt und gerade so eben mit heiler Haut davongekommen war, hatte sie sich geschont. Sie war eine Weile krankgeschrieben gewesen und hatte danach einen langsamen Einstieg in den Dienst hinbekommen. In dieser Phase hatten sie viel Zeit füreinander gehabt und Jana hatte oft bei Rauscher übernachtet. Seitdem konnte er sich sogar vorstellen, mit ihr zusammenzuziehen. Irgendwann einmal.

„Na“, sagte sie und setzte sich. „So einen hätt ich auch gern.“ Sie deutete aufs Gerippte und wollte gerade nach Axel Ausschau halten, als dieser bereits mit dem Stöffche hinter ihr stand und das Glas vor ihr auf dem Tisch platzierte.

Sie stießen an.

Rauscher war überaus froh, dass seine Eltern Jana inzwischen voll akzeptierten, nachdem es anfänglich nicht danach ausgesehen hatte. Zu Beginn der Beziehung mit Jana hatten sie wohl immer noch die leise Hoffnung gehegt, zwischen Elke, der Mutter seines Sohnes Max, und ihm würde alles wieder Friede, Freude, Eierkuchen werden. Aber Rauscher war zu sehr Realist, um daran zu glauben. Es herrschte nach wie vor Eiszeit mit Elke, er sah Mäxchen zu seinem größten Bedauern fast nie und es war ihm schleierhaft, wie das alles weitergehen sollte. Zudem hatten ihn die Gefühle für Jana wie eine große Welle überflutet und er hatte sich in die Königsteiner Kommissarin verliebt. Umso erstaunlicher war das erste Zusammentreffen mit Jana und seinen Eltern verlaufen. Vor einigen Wochen hatten seine Mutter Gabriele und sein Vater Karl-Heinz eines Sonntagnachmittags ihn und Jana zum Kaffeetrinken eingeladen. Die zwei, drei Stunden bei Torte und selbstgebackenem Apfelkuchen waren sehr angenehm verlaufen. Seine Eltern waren neugierig gewesen, hatten Jana viele Fragen gestellt, vor allem zu ihrer Polizeikarriere, sie dadurch etwas kennengelernt und sich beim Thema ‚Beziehung zu Elke‘ vornehm zurückgehalten. Sie waren sichtlich bemüht, die Akte Elke ruhen zu lassen und sich an die neue Situation zu gewöhnen.

Was auch gelang. Rauscher war es, als hätten sie Jana bereits nach diesem ersten Zusammentreffen ins Herz geschlossen. Und auch Jana, die kleinere Vorbehalte aufgrund der Vorgeschichte mit Elke gehegt hatte, fand seine Eltern sehr liebenswert und fühlte sich gut aufgenommen in die Familie. „Die sind ja knuffig“, hatte sie auf dem Heimweg zu ihm gesagt. Dass das so schnell gegangen war, überraschte Rauscher etwas, gleichzeitig freute es ihn sehr. Eine Baustelle weniger, dachte er, als sie wieder in Bockenheim angekommen waren.

Jana erkundigte sich nach dem Fall und nach dem Opfer. Rauscher erzählte ihr von der Auffindesituation der Leiche.

„Du meinst, auf dem Bären?“

„Ja, wie aufgebahrt.“

„Vielleicht ein Ritualmord?“

„Auf jeden Fall ist er bewusst so drapiert worden. Fragt sich nur, von wem.“

„Oder jemand will euch hinters Licht führen.“

„Eine falsche Fährte? Nee, nee. Der Tote wurde uns vorgeführt. Der Täter stellt die Leiche zur Schau.“

„Du meinst, nach dem Motto: Seht her, was ich vollbracht habe!“

„So wirkt es zumindest. Es hat sicher Mühe gekostet, sie da hochzukriegen. Ist auch nicht ganz ungefährlich, denn ihn hätte ja jemand dabei beobachten können. Wobei der Nebel heute Nacht … Das war der ideale Sichtschutz.“

„Wer ist denn der Tote?“

„Hans-Georg Schumann, EU-Politiker.“

„Nein!“, rief Jana.

Rauscher war erstaunt. Sie schien ihn zu kennen. „Hast du schon mal von ihm gehört?“

„Und ob! Bekannt als Hardliner, wenns um die Verschärfung von Gesetzen geht.“

„Wie meinst du das?“

„Alles, was der angepackt hat, wurde genauer geregelt. So ein richtiger Kontrolletti. Hier eine neue Verordnung, da ein neues Gesetz. Sag bloß, du hast das mit dem Ebbelwoi nicht mitgekriegt?“

„Nö. Sollte ich?“

„Das stand wochenlang in jeder Zeitung. EU will Apfelwein das Wort ‚Wein‘ im Namen aberkennen, weil er aus Äpfeln statt aus Trauben hergestellt wird.“ Den letzten Satz sprach sie aus, als läse sie eine Zeitungsüberschrift.

„Nee, oder?“

„Doch. Schumann war der Initiator des Gesetzes und Hauptantreiber der Kampagne.“

„Das gibt’s doch nicht.“

„Doch, doch.“

Auf diesen Schock hin trank Rauscher sein Geripptes leer und orderte zwei neue.

„Das ist aber noch nicht alles“, ergänzte Jana. „Da war noch was. Ist noch nicht so lange her. Es ging um den Bembel …“

„Wie jetzt?“

„Ich glaube, die wollten den Bembel als Schankgefäß abschaffen.“

„Davon hab ich auch noch nie was gehört.“

„Oder du wolltest es nicht mitkriegen.“ Sie grinste.

„Kann sein. Weißt du, worum es genau ging?“

„Es gibt eine EU-Verordnung für Schankgefäße …“

„Bei der EU gibt es für alles eine Verordnung, wahrscheinlich auch fürs Brotschmieren.“

„Jetzt übertreibst du aber …“

„Ach, ist doch wahr! Erzähl weiter …“

„Würde ich ja gern, also unterbrich mich nicht ständig. Es gibt eine Mess- und Eichverordnung, wonach Ausschankgefäße einen innen liegenden Maßstrich haben müssen …“

„Ist nicht wahr!“

„Doch. Aber bei Ton- oder Steinkrügen lässt sich das technisch gar nicht realisieren. Es ging also darum, ob Ebbelwoi künftig nur noch aus durchsichtigen Gefäßen ausgeschenkt werden darf.“

„Das wäre das Aus für den Bembel gewesen!“

„Eben. Aber das hat auch die Bundesregierung erkannt und eine Änderung dieser Richtlinie für Bembel abgelehnt.“

„Glück gehabt. Scheint doch noch ein paar vernünftige Leute da oben zu geben. Prost!“

Sie stießen wieder an.

„Und welche Rolle hat unser Freund Schumann dabei gespielt?“

„Ganz genau kann ich es dir nicht sagen, aber er hat diese beiden Gesetze vehement vorangetrieben. Ich habe einmal ein Interview mit ihm gehört – puhhh, ich kann dir sagen! Total verbohrt. So ein Prinzipienreiter, der keine Gnade kennt, wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat, und auch nicht einmal den gesunden Menschenverstand einschaltet.“

„Ich fürchte, bei so einem ist da nicht viel zu holen.“

„War, meinst du, war. Immerhin weilt er nicht mehr unter uns.“

Und das ist auch gut so, hätte Rauscher am liebsten geäußert, hielt sich aber zurück.

„Was denkst du jetzt?“, hakte Jana nach.

„Nichts!“

„Ach, nee! Ich sehe dir doch an, dass da irgendwas im Kopf rumschwirrt.“

„Na ja …“

„Du denkst, dass der Täter genau den Richtigen erwischt hat …“

„Quatsch!“, fuhr er ihr über den Mund.

„Und ob, gib’s zu!“

„Na ja … Falls so was tatsächlich das Mordmotiv war, könnte ich es nachvollziehen.“

„Du kannst was?“

„Ist doch wahr! Vielleicht haben wir es mit einem Täter zu tun, der unseren heißgeliebten Ebbelwoi verteidigen wollte.“ Er schlug mit der offenen Handfläche auf den Tisch.

„Aber dafür einen Mord begehen?“, setzte Jana nach.

„Dafür würde ich sogar mehrere begehen.“

Jana starrte ihn bass erstaunt an und schüttelte kurz darauf den Kopf. „Du meinst das ernst, gell?“

„Sicher.“ Er lächelte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich am Nachbartisch eine Frau soeben einen Löffel Grüne Soße mit Ei einverleibte.

„Hast du Hunger?“, fragte er Jana.

„Klar doch. Ich freu mich schon auf irgendwelche Schweinereien.“

Rauscher wurde wieder von der Frau am Nachbartisch abgelenkt, die nun das Gesicht bitter verzog.

„Die muss ich zurückgehen lassen“, äußerte die Dame unwirsch und spuckte die Grüne Soße zurück auf den Teller.

Rauscher stockte. Was war denn da los?

„Herr Ober“, rief sie nach Axel, der keine fünf Sekunden später an ihrem Tisch stand. „Die Soße ist kalt.“

Rauscher glaubte, sich verhört zu haben.

Inzwischen war auch Jana auf die Szene aufmerksam geworden. Beide sahen die Frau an, als habe gerade eine Außerirdische gesprochen. Gleichzeitig grölten sie dann los und prusteten etwas unappetitlich über den Tisch. Auch Axel konnte ein Lachen nicht mehr unterdrücken; es gipfelte in einem Lachkonzert. Während die Frau nicht wusste, wie ihr geschah, und pikiert in die Runde blickte, machte Axel gute Miene zum bösen Spiel. Er nahm den Teller vom Tisch. „Soll ich sie heiß machen lassen?“

„Ich bitte darum!“

„Gerne!“