Frau Rauschers Erbe: Kommissar Rauscher 10 - Gerd Fischer - E-Book

Frau Rauschers Erbe: Kommissar Rauscher 10 E-Book

Gerd Fischer

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Beschreibung

In Kommissar Rauschers persönlichstem Fall dreht sich alles ums Hessens beliebtestes Stöffche und eine mysteriöse Familiengeschichte. Als Rauschers Tante, Adelheid Bergmann-Rauscher, stirbt, steht der Kommissar, der seit seinem letzten Fall suspendiert ist, plötzlich als Alleinerbe da und niemand weiß warum. Er hat sie vor etwa 30 Jahren zum letzten Mal gesehen. Das lässt Rauscher keine Ruhe. Er beginnt zu recherchieren und stößt auf einen unaufgeklärten Mordfall in seiner Familie. Doch mit diesem Familiengeheimnis beginnen die Schwierigkeiten erst, denn neben einem handfesten Familienzwist, seinem stänkernden Cousin und einem Ahnenforscher kommen weitere Ungereimtheiten ans Licht. Letztlich stellt sich ihm die Frage: Was hat eigentlich "Frau Rauscher aus de Klappergass" mit dem Fall zu tun? Nach "Abgerippt", dem Eintracht-Krimi "Einzige Liebe" und dem "Ebbelwoijunkie" ist "Frau Rauschers Erbe" ein neues Krimi-Abenteuer mit dem inzwischen vielleicht bekanntesten Ebbelwoiliebhaber Hessens: Kommissar Rauscher. Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: "Mord auf Bali" 2006 (Neuauflage 2011), "Lauf in den Tod" 2010, "Der Mann mit den zarten Händen" 2010, "Robin Tod" 2011, "Paukersterben" 2012, "Fliegeralarm" 2013, "Abgerippt" 2014, "Bockenheim schreibt ein Buch" (Hrsg.) 2015, "Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi" Februar 2017, "Ebbelwoijunkie" Dezember 2017, "Frau Rauschers Erbe" 2018 und "Der Apfelwein-Botschafter" 2021. Zudem der Thriller "Rotlicht Frankfurt" 2019.

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Das Buch

Als Adelheid Bergmann-Rauscher stirbt, ahnt niemand, dass der Tod von Kommissar Andreas Rauschers Tante eine Kette von Ereignissen auslösen und den Frankfurter Kommissar vor Herausforderungen stellen wird, die er sich im Traum nicht hätte vorstellen können. Andreas Rauscher, wird – zur Überraschung aller – Alleinerbe. Doch dann taucht wie aus dem Nichts Thomas auf, Sohn der Tante und Rauschers Cousin, und will ihm sein Erbe streitig machen.

Doch wo steckte Thomas Rauscher die ganze Zeit überhaupt? Rauscher – immer noch vom Dienst suspendiert – beginnt zu recherchieren. Der erste Schock lässt nicht lange auf sich warten, denn er kommt einem Familiengeheimnis rund um seinen Onkel Karl Bergmann auf die Spur.

Der Kommissar begibt sich in die Niederungen der Rauscherchen Familiengeschichte und sticht in ein Wespennest. Auch ein Ahnenforscher hat seine Hände im Spiel und sehr bald muss sich Rauscher die entscheidende Frage stellen: Was hat Frau Rauscher aus der Klappergass’ mit all dem zu tun?

Der Autor

Gerd Fischer wurde 1970 in Hanau geboren, ist in Altenstadt-Höchst in der Wetterau aufgewachsen, studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt.

Weitere Krimi-Veröffentlichungen im mainbook Verlag: „Mord auf Bali“ 2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013, „Abgerippt“ 2014, „Bockenheim schreibt ein Buch“ (Hrsg.) 2015, „Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi“ Februar 2017 und „Ebbelwoijunkie“ Dezember 2017.

Gerd Fischer

Frau Rauschers Erbe

Der zehnte Fall für Kommissar Rauscher

Krimi

Mein besonderer Dank gilt Elisabeth Schick und Mia Beck.

Copyright © 2018 mainbook VerlagAlle Rechte vorbehalten

Lektorat: Mia BeckLayout: Anne FußTitelbild: © Lukas HüttnereISBN 978-3-947612-22-2

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.deSignierte Bücher können ohne zusätzliche Versand- und Portokosten direkt beim Verlag auf www.mainbook.de bestellt werden.

„Die Fraa Rauscher aus de Klappergass’,die hot e Beul am Ei.Ob’s vom Rauscher, ob’s vom Alde kimmt,des klärt die Polizei.“

(Refrain des wohl bekanntesten Frankfurter Ebbelwoiliedesvon Kurt Eugen Strouhs)

Inhalt

Das Buch

Der Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Prolog

Vor etwas mehr als dreißig Jahren ...

Als Karl Bergmann am Freitagabend sein Büro betrat, überraschte ihn ein gedeckter Tisch. Ein saurer Duft stieg in seine Nase. Er trat näher heran und entdeckte einen Teller mit Handkäs, der in einer Zwiebel-Essig-Marinade schwamm. Daneben standen ein Brotkorb und ein Dreier-Bembel. Bergmann schaute sich um, aber es war niemand zu sehen. Er war wieder mal der Letzte in der Firma; es war spät geworden. Seine Mitarbeiter hatten längst Feierabend.

Bergmann wunderte sich, setzte sich aber und griff zu, denn er hatte Appetit. In den letzten fünf Stunden hatte er sich den Mund fusselig geredet und einen großen Bauauftrag an Land gezogen.

Er goss sich einen Schoppen ein, setzte das Gerippte an und trank. Der Handkäs war durch und schmeckte vorzüglich. Bergmann war dem Herzhaften schon immer zugeneigt gewesen. Zum Runterspülen schenkte er sich ein weiteres Geripptes ein und trank es in einem Zug leer. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund.

Wem hatte er diese Köstlichkeiten zu verdanken? Seiner Frau? Oder etwa Leni, seiner Sekretärin?

Er musste rülpsen. Der Geschmack des Käses. Das saure Stöffche. Herrlich!

Doch plötzlich hielt er inne, legte sich die Hand auf die Stirn. Er schwitzte. Seine Haut triefte vor Schweiß. Ruhig bleiben, einatmen, ausatmen. Er musste sich beruhigen. Vielleicht bildete er sich alles nur ein. Vielleicht ...?

Etwas irritierte ihn. Ein komischer Nachgeschmack im Mund, wie er nun feststellte. Der Gaumen fühlte sich pelzig an.

„Hooseschisser“, sagte er zu sich selbst. Immerhin wurdest du gerade köstlich bewirtet, dachte er, fühlte sich aber immer komischer. Und er fror. Was war nur los mit ihm?

Dann entdeckte er etwas, was ihn entzückte. Ein letzter Tropfen war noch im Bembel verblieben. Er schmunzelte, füllte das Gerippte erneut, kostete noch einmal von seinem Lebenselixier und schloss die Augen.

Sah sich als kleinen Bub, den Kopf unter die Kelter gepresst, die letzten Tropfen aufsaugend. Und wollte es nicht wahrhaben. Wollte nicht glauben, dass nichts mehr kam. Wollte noch mehr von diesem süßen Etwas trinken, auf das sich die Kinder schon Wochen vorher gefreut hatten wie sonst nur auf Weihnachten. Oder Ostern ...

Ein Quietschen riss ihn aus seinem Tagtraum. Die Tür öffnete sich langsam. Auf seiner Stirn hatte sich inzwischen ein ganzes Meer von Schweiß gebildet. Er fühlte sich, als würde er innerlich verbrennen. Sein Hals schwoll an, er bekam immer weniger Luft, schnappte danach, japste ... Außerdem setzten mit einem Male starke Kopfschmerzen ein.

Als er sich umdrehte, konnte er nur eine dunkle Gestalt erkennen. „Na ... nu“, stotterte er. „Was ... was soll das ...?“ Das Sprechen fiel ihm schwer.

„Auf zum letzten Gang!“, sagte die Gestalt und trat näher an seinen Tisch.

Karl Bergmann hatte es sich also nicht nur eingebildet.

„Was hast du ge...? Was ... ist mit ... mir ...?“, brachte er mühevoll über die Lippen.

Atemnot! Ihm wurde übel. Und jetzt spürte er auch, wie sich Arme und Beine verkrampften. Was war nur mit ihm los?

Die Gestalt stellte sich nun direkt vor ihn. „Du weißt ja, was hier passiert ist, wo du gerade sitzt!“ Bergmann starrte die Gestalt an, die im nächsten Augenblick vor ihm auf den Tisch spuckte, wobei etwas aus ihrem Mund fiel und direkt vor Bergmann landete. Er griff wie in einem Reflex danach.

„Steh auf!“, hörte Karl Bergmann sein Gegenüber sagen. „Lange hältst du sowieso nicht mehr durch, so rot, wie dein Kopf schon ist!“

‚Aber ich will noch nicht ...‘, wollte Bergmann sagen, doch sein Mund brachte nur ein leises Blubbern hervor. Gelblicher Schaum quoll zwischen seinen Zähnen hervor. Er nahm alles um sich herum nur noch undeutlich wahr.

„Hat er wenigstens geschmeckt, dein letzter Ebbelwoi?“

„Chhhhz...“ Ein kurzer Seufzer strömte aus Karl Bergmanns Mund, dann kam nichts mehr. Er hielt sich am Tisch fest, sonst wäre er vom Stuhl gekippt.

„Das war deine Henkersmahlzeit. Und jetzt gute Nacht!“

Bergmann riss die Augen auf, als ihm alles klar wurde. Die Gestalt schien boshaft zu grinsen. Das war das Letzte, was er sah.

Kapitel 1

1

Samstag, 5. Dezember

Kommissar Rauscher fröstelte es. Er rieb sich die Hände.

Der Herbst war mit Graupelschauern zu Ende gegangen, der Winter begann unvermittelt mit Schnee. Ungewöhnlich viel Schnee für Frankfurter Verhältnisse.

Im Niddapark lagen knapp zwanzig Zentimeter. Kahle Bäume, Eiszungen an den Ästen. Die Temperatur kratzte an der Minus-Zehn-Grad-Marke. Am Horizont glänzten die Taunusberge hell im glasklaren Sonnenlicht. Einen schöneren Wintertag konnte er sich kaum vorstellen. Es war einer jener Tage, die in der Stadt recht selten vorkamen.

Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch die weiße Landschaft formte Jana Kern einen Schneeball und traf Andreas Rauscher mitten ins Gesicht.

Sie lachte. Er fluchte. Schüttelte sich. Die Kristalle schmolzen und das Wasser lief Rauscher in den Kragen seines dicken Wintermantels. Er trocknete sich mit seiner Mütze ab.

„Komm, wir gehen heim“, sagte er.

„Keine Lust auf Schneeballschlacht?“ Sie schmunzelte.

„Vielleicht kann ich dich nach Hause locken, wenn ich dir verspreche, einen heißen Ebbelwoi zu machen.“

„Ich schwebe!“, rief sie freudestrahlend, warf sich ihm um den Hals und knutschte ihn ab.

Händchenhaltend gingen die beiden Kommissare an der Sportfabrik vorbei, liefen über die Ginnheimer Landstraße in die Sophienstraße und zurück zu Rauschers Bockenheimer Altbauwohnung. Er holte aus dem Briefkasten die Post: eine Wochenzeitung, einige Werbeflyer und einen Brief, schwarz umrandet.

„Nanu?“, sagte Jana, als sie ihn erblickte. „Ist wer gestorben?“

„Sieht so aus.“ Rauscher las die Anschrift. Er war an ihn adressiert. Auf der Rückseite war der Absenderstempel. „Horst Wollenschläger. Notar.“ Er hob die Augenbrauen.

„Kennst du den?“

„Nie gehört.“

„Komm, wir gehen hoch!“

Nachdem sie die Wohnung betreten und sich der Winterklamotten entledigt hatten, braute Rauscher in der Küche in einem Topf heißen Ebbelwoi mit Zimt und Nelken. Der süßliche Duft nach Weihnachten breitete sich binnen kurzer Zeit in der Wohnung aus und schaffte eine behagliche Atmosphäre.

Jana hatte ihre Wollstrickmütze abgenommen und fuhr sich durch ihre kurzen, blonden Haare. Ihre Wangen schienen zu glühen, so rot waren sie.

„Brrrrrrr!“ Sie schüttelte sich, als fröre sie immer noch und nippte gierig am Gerippten. War aber noch zu heiß. Sie setzte das Glas wieder ab. „Lecker!“

Rauscher pflanzte sich in einen Sessel an der Heizung und öffnete den ominösen Brief.

„Was steht denn drin?“, fragte Jana, als sie sich neben ihn auf die Sessellehne hockte.

Rauscher las und schien überrascht. „Tante Adelheid ist gestorben.“

„Tante wer?“

„Adelheid Bergmann-Rauscher, steht hier. Den Namen hab ich zum letzten Mal gehört, da war ich so groß.“ Er hielt die Hand etwa einen Meter über den Parkettboden. „Sie war die ältere Schwester meines Vaters.“

„Und warum bekommst du den Brief?“

„Der Notar ist der Testamentsvollstrecker und lädt mich zu einem Gespräch ein.“

„Aha. Vielleicht erbst du?“

„Ich?“

„Sonst hätte er doch nicht dich angeschrieben.“

„Ich kannte die Verstorbene kaum.“

„Soll schon vorgekommen sein.“ Sie zuckte mit den Achseln.

Er legte den Brief weg, nahm sich den heißen Ebbelwoi, trank und starrte die Wand an.

„Was ist?“, fragte Jana.

„Der Brief hat mich irgendwie ... überrumpelt.“

„Aber du kannst dich doch kaum an sie erinnern, hast du gesagt.“

„Trotzdem. Als Kind war ich öfter bei meinem Onkel und meiner Tante. Sie hatten einen riesigen Ebbelwoikeller, da haben wir immer Verstecken gespielt.“

„Wer ist wir?“

„Ich und Thomas.“

„Und wer ist Thomas?“

„Der Sohn meiner Tante, mein Cousin. Er war um einiges älter als ich.“

„Noch nie vom ihm gehört. Wo wohnt er?“

„Keine Ahnung.“

„Und was hast du nun vor?“

„Meine Eltern anrufen. Die müssten ja auch so einen Brief gekriegt haben.“

„Mach das! Sie wissen bestimmt mehr. Ich gönne mir noch ein Gläschen, müsste ja mittlerweile etwas abgekühlt sein.“

2

Andreas Rauscher ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch, griff sich das Telefon und wählte die Nummer seiner Eltern in der Römerstadt.

„Tante Adelheid ist gestorben“, platzte er hervor, als sich seine Mutter meldete.

„Woher weißt du das?“, fragte Gabriele Rauscher.

„Habt ihr keinen Brief bekommen?“

„Nein.“

„Hat euch der Notar nicht eingeladen?“

„Nein.“

„Merkwürdig!“ Er legte eine kurze Pause ein. „Wieso meldet er sich bei mir? Ich hab doch bestimmt dreißig Jahre lang kein einziges Mal an Tante Adelheid gedacht.“

„Jetzt beruhig dich mal“, erwiderte Frau Rauscher. „Wir doch auch nicht. Wir wussten nicht, was mit ihr ist.“

Rauscher blieb vor Erstaunen kurz die Spucke weg, doch nach einer Weile hatte er sich wieder im Griff. „Was soll das heißen? Ihr wusstet nicht, was mit Vaters Schwester ist?“

„Wir ... also, Vater und ich ... hatten seit über dreißig Jahren keinerlei Kontakt zu ihr. Genau wie du.“

„Verdammt lange Zeit. Wieso?“

„Wie meinst du das?“

„Was ist damals vorgefallen?“

„Das ... das kann ich dir nicht ... Also, darüber möchte ich nicht reden.“

„Mutter! Jetzt sei doch nicht so stur. Wird schon nicht so schli...“

„Das zu beurteilen, überlässt du am besten uns!“, antwortete sie.

„Jetzt stell dich nicht so an, du wirst mir doch ...“

„Mehr hab ich dazu nicht zu sagen.“ Rauscher sah vor seinem geistigen Auge, wie sich der Kopf seiner Mutter hob und wegdrehte, als wollte sie über das soeben Gehörte schweigen wie ein Grab.

„Was ist denn auf einmal los mit dir?“, presste er hervor. Es klang leicht erzürnt. „Tante Adelheid ist gestorben!“

„Das sagtest du bereits.“ Und als sei das Thema für sie durch, fragte sie: „Gibt’s was Neues von der Frankfurter Mordkommission?“

Der abrupte Themenwechsel verwirrte Rauscher. „Was meinst du?“

„Zum Beispiel, wann du wieder zurück in den Dienst kannst!“

„Du weißt doch genau, dass die Suspendierung unbefristet ist. Und über eine Rückkehr wird in einem Disziplinarverfahren entschieden. Das kann dauern ... Vielleicht kehre ich auch nie wieder zurück“, hängte er noch an, bereute es aber im nächsten Moment.

„Wie bitte?“, brauste Gabriele Rauscher auf.

„Wir reden später.“ Die Lust, mit seiner Mutter Jobfragen zu erörtern, war ihm spontan abhandengekommen. „Tschüss!“ Er legte auf und blieb etwas ratlos zurück. Das passte ihm gar nicht. Er nahm sich vor, der Sache von damals auf den Grund zu gehen.

Als er zu Jana zurückkam, schnaufte er dreimal durch.

„Und?“, fragte sie.

„Irgendwas stimmt da nicht.“

„Wie meinst du das?“

„Meine Mutter hat keinen Ton über Tante Adelheid gesagt. Aber dafür nervt sie mich mit dem leidigen Thema Rausschmiss.“

„Komm, setz dich zu mir!“ Sie klopfte auf den Sessel.

„Immer die gleiche Leier ...“, sagte er, während er sich setzte. „Kripo, Kripo, Kripo.“

Jana strich ihm durch seine kurzen schwarzen Haare, herzte ihn und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange.

„Ich weiß, wie du dich fühlst. Schließlich bin ich auch suspendiert.“ Sie schmunzelte, aber es sah aus, als fühlte sie sich unwohl dabei.

„Aber der Unterschied zwischen uns ist: Du willst unbedingt in den Job zurück. Ich hingegen …“

„Du denkst doch nicht etwa ernsthaft darüber nach, alles hinzuschmeißen?“

„Und ob!“

„Ich dachte immer, du machst Scherze.“

„Die letzten Wochen hab ich über nichts anderes nachgedacht. Ich … also, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“

„Versuch’s!“

„Vielleicht bin ich nicht geschaffen für den Job.“

„Was erzählst du denn da?“ Jana richtete sich auf. Es wirkte, als wollte sie mächtig protestieren.

„Ich weiß nicht, ob ich es noch drauf habe.“

Sie starrte ihn an. „Du hast doch alle Fälle gelöst!“

„Schon“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Aber was hilft das, wenn ich dabei mein Umfeld in Schutt und Asche lege?“

„Übertreib nicht!“

„In dem Job kommt es auf mehr an, als nur Fälle zu lösen …“

„Aber …“, wollte sie ihn unterbrechen, was er jedoch nicht zuließ, denn er fuhr augenblicklich fort: „Als Kommissar musst du besonnen und souverän vorgehen. Klug handeln und vor allem ruhig bleiben in entscheidenden Situationen … Das bin nicht ich. Auch wenn ich es bisher nicht wahrhaben wollte.“

„Aber das ist doch …“, echauffierte sich Jana.

„Lass mich bitte ausreden. Ich ziehe mein ganzes Umfeld runter – dich, meine Kollegen Krause, Thaler, vom Chef ganz zu schweigen –, mache sie blöd an, schaue weder nach rechts noch links, bin so sensibel wie ein Nilpferd …“

„Du meinst das wirklich ernst, oder?“, fragte sie mit nachdenklicher Miene.

„Ich denke, das kann nicht länger so weitergehen.“

„Und was hast du stattdessen vor?“

„Kommt drauf an. Wenn du nicht zurück kannst in den Dienst, können wir ja gemeinsam was machen.“

„Und was?“

„Auswandern!“

„Das wird mir jetzt zu bunt!“

„Dann lass uns ein Ebbelwoimuseum gründen.“

„Hört sich schon besser an.“ Sie musste wieder schmunzeln.

„Wann wird denn über dein Diszi entschieden?“, fragte Rauscher nach.

„Verzögert sich, hat mir die Dienstaufsicht mitgeteilt. Angeblich dauern die Untersuchungen noch an.“

„Die lassen sich ja ganz schön Zeit.“

„Ich weiß auch nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken. Jetzt steht sowieso was anderes auf dem Programm.“ Er grinste. „Die Eintracht! Um 17.30 Uhr ist Anpfiff.“

„Oje, Abstiegskampf“, raunte sie. „Dafür bin ich nicht gestrickt. Schenkst du mir noch einen ein?“

„Wir schenken den Lilien heute ein. Aber nicht nur einen!“, sagte Rauscher, nahm die beiden Gerippten und ging in die Küche zum Nachfüllen.

3

Montag, 7. Dezember

Zwei Tage, nachdem Rauscher den Brief erhalten hatte, stand er in Wintermantel, Rollkragenpulli und Handschuhen nachmittags vor der Kanzlei des Notars Wollenschläger in der Myliusstraße im Frankfurter Westend, wo sich Villen, noble Altbauten und Bürogebäude abwechselten. Hier residierte der alte Geldadel neben Neureichen; dazwischen Agenturen, Anwaltskanzleien, Steuerbüros und Botschaften.

Schick, schick, dachte er.

Sein Atem erzeugte bei jedem Luftholen einen kleinen Nebel vor seinem Gesicht. Die Temperaturen waren immer noch nicht gestiegen. Es wehte ein eisiger Wind, der nicht gerade zu einem behaglichen Gefühl beitrug.

Morgens hatte er den Notar angerufen und für 16 Uhr einen Termin vereinbart. Zeit hatte er genug. Durch seine Suspendierung war er kaltgestellt und durfte nicht zum Dienst erscheinen. Obendrein hatte ihn das Schreiben des Notars neugierig gemacht. Was wollte er ihm mitteilen? Ging es tatsächlich um die Testamentseröffnung? Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, malte sich Rauscher aus. Es war sinnlos, sich vorher den Kopf darüber zu zerbrechen.

Er klingelte an einem Messingschild am Hoftor und betrat kurz darauf das Grundstück des großbürgerlichen Anwesens. Während er auf die Haustür zulief, schaut er sich um, was gar nicht so einfach war. Die gepflasterte Einfahrt, die zu einer Doppelgarage führte, war von hohen Bäumen gesäumt. Dementsprechend düster und schattig war es hier. Er fror noch ein wenig mehr.

Der Hausherr schien ihn persönlich zu empfangen, denn in der Tür stand ein kleines Männchen in schwarzem Anzug, weißem Hemd und Krawatte. Er war schlank, schlaffe Haut am Hals und im Gesicht. Der Jüngste war er wohl nicht mehr, aber noch rüstig.

Der Notar streckte ihm die Hand entgegen, als Rauscher vor ihm zum Stehen kam. Während sie sich gegenseitig begrüßten, blickte er ihm tief in die Augen.

„Herr Rauscher, ich freue mich, dass Sie die Zeit gefunden haben. Mein Name ist Wollenschläger. Kommen Sie bitte herein.“ Rauscher folgte ihm ins Innere des Hauses.

Nachdem Rauscher abgelegt hatte, führte ihn Wollenschläger in ein beachtliches Büro. Mindestens vierzig Quadratmeter, schätzte Rauscher. Er betrachtete die Einrichtung. Antiquarische Möbel aus dunklem Holz, die Läufer und Teppiche schienen selbstgeknüpft und wertvoll zu sein. Etliche Gemälde zeigten Landschaften und Stillleben. Fehlten nur noch die Hirschgeweihe mit Zwölfendern und Kuckucksuhren, dachte Rauscher, aber davon war nichts zu sehen.

Als sie sich am massiven Nussbaumschreibtisch gegenübersaßen, bemerkte Rauscher die Ordnung, die hier herrschte. Kein Blatt lag unsortiert herum, keine Zeitung war aufgeschlagen, kein Staubkrümel auf dem Boden erkennbar.

„Darf ich Ihnen einen heißen Tee anbieten?“, fragte Herr Wollenschläger. „Frau Mollenbeck hat gerade welchen gemacht.“

„Gerne.“ Rauscher nickte.

Herr Wollenschläger füllte zwei Tassen aus einer Glasteekanne und stellte sie zurück aufs Stövchen.

Nach dem ersten Schluck meinte Rauscher: „Bin schon gespannt, was Sie mir zu sagen haben.“

„Nun ja“, antwortete Wollenschläger, „es verhält sich eher umgekehrt.“

Rauscher hob die Augenbrauen und schaute den Notar ratlos an. „Ich verstehe nicht …“

„Dann werde ich es Ihnen erklären“, unterbrach ihn Wollenschläger. „Und zwar von Anfang an.“

„Ich bitte darum.“

„Nun, wie Sie aus meinem Schreiben wissen, ist Frau BergmannRauscher, Ihre Tante, letzte Woche verstorben. Sie hat mich beauftragt, ihren Nachlass zu verwalten und das Testament zu vollstrecken. Ich kenne zwar Frau Bergmann-Rauscher schon einige Jahre, weil sie mich hin und wieder, aber eher selten, mit einigen persönlichen Vertragsangelegenheiten und formalen rechtlichen Fragen aufsuchte und beauftragte, sie für sie zu lösen. Im Zuge dessen hat sie mir auch eines Tages ihr Testament überreicht. Soweit zum Hintergrund.“ Er nippte an seiner Teetasse. „Heute kann ich Ihnen also mitteilen, dass Sie der Alleinerbe sind.“

„Ich?“ Rauscher riss die Augen auf.

„Ja.“

„Aber … ich hatte überhaupt nichts mit meiner Tante zu tun! Ich meine … Ich wusste nicht einmal, dass sie noch lebt, geschweige denn, wo. Lange musste ich darüber nachdenken, wann ich sie überhaupt zum letzten Mal gesehen habe, bin aber auf keinen grünen Zweig gekommen. Es muss vor etwa dreißig Jahren gewesen sein. Meine Eltern konnten … oder wollten mir auch nicht weiterhelfen.“

„Ihre Eltern“, übernahm Herr Wollenschläger, „das ist ein gutes Stichwort.“

„Warum wurden sie nicht informiert?“

„Weil es ausdrücklich im Testament vermerkt ist.“

„Wie jetzt?“

„Frau Bergmann-Rauscher hat verfügt, dass Ihre Eltern weder etwas erben noch dass sie überhaupt über ihren Tod informiert werden sollen.“

„Wird ja immer merkwürdiger.“ Auf Rauschers Stirn zeigten sich erste Falten.

„Und genau deshalb sind Sie hier. Ich möchte Sie nämlich zwei Dinge fragen. Erstens: Wissen Sie, was zwischen Ihren Eltern und Frau BergmannRauscher vorgefallen ist?“

„Nein.“

„Können Sie es herausfinden?“

„Meine Mutter weigert sich strikt, mit mir darüber zu reden.“

„Und zweitens: Kennen Sie weitere Familienmitglieder? Mir sind nämlich keine bekannt.“

„Geht mir genauso.“

„Aus diesem Grund sind Sie ja auch der Alleinerbe.“

„Moment, Moment …“ Rauscher fasste sich an den Kopf. „Was ist denn eigentlich mit Thomas?“

„Bitte, wer?“

„Der Sohn meines Onkels und meiner Tante.“

„Ich habe keinerlei Kenntnis darüber, dass es ihn überhaupt gibt.“

Rauscher überlegte eine Weile. „Das Einzige, was ich über meinen Cousin weiß, ist, dass er nach dem Tod seines Vaters, also meines Onkels, verschwunden ist.“

„In den Unterlagen habe ich das Jahr 1985 gefunden, als Frau BergmannRauschers Ehemann …“

„Ja, mein Onkel Karl …“, sprach Rauscher dazwischen.

„… gestorben ist. Ist das richtig?“

„Erinnern kann ich mich nicht, aber das müsste hinkommen. Und Thomas war plötzlich weg.“

„Und niemand weiß, wohin?“

„Ich wüsste nicht, wer. Und auch nicht, ob noch jemand Kontakt zu ihm hat.“

„Dann muss ich ihn ausfindig machen.“

„Das wäre gut. Vielleicht bringen Sie Licht ins Dunkel. Mir ist das alles schleierhaft.“

„Ich habe es mir soeben notiert.“

„Und Sie wissen auch nicht, was damals vorgefallen ist?“

„Nein, woher denn? Ich muss aber auch dazu sagen, dass ich mit Frau Bergmann-Rauscher nur sporadisch zu tun hatte und mein Einblick in ihre Familienverhältnisse mehr als dürftig ist. Sie war auch nur einmal kurz hier bei mir, ansonsten haben wir telefoniert. Sie lebte ja sehr zurückgezogen, insbesondere in den letzten Jahren. Jedenfalls habe ich mir das immer so erklärt.“

„Wo denn überhaupt?“ Rauscher musste gerade feststellen, dass er nicht einmal wusste, wo seine Tante zuletzt gewohnt hatte.

„In einer schönen Wohnung im Holzhausenviertel, ganz in der Nähe vom Park …“

„Also in ihrer alten Wohnung.“ Rauscher nickte wie zu sich selbst. „Dann ist sie offensichtlich nie weggezogen.“

„Gut möglich. Aber nun zurück zum Tod Ihrer Tante. Sie hat mir im Testament Geld zur Verfügung gestellt, um die Beerdigung et cetera zu bezahlen. Ich habe bereits alles veranlasst.“

„Fein. Ich dachte schon, ich müsste mich …“

„Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es wird nur eine schlichte Trauerfeier geben. Nur Sie sind eingeladen.“

„Nur ich?“

„Steht so im Testament.“

„Wird ja immer besser.“

„Ich schlage Ihnen vor, dass ich zunächst einmal die Frage kläre, ob der Sohn noch lebt und auffindbar ist. Danach besprechen wir alles Weitere. Wäre das für Sie in Ordnung?“

„Sicher.“

„Die Trauerfeier ist übrigens für Samstag angesetzt.“

„Wie alt ist Tante Adelheid denn eigentlich geworden?“

„75 Jahre.“

„Und woran ist sie gestorben?“

„Herzversagen.“

4

Donnerstag, 10. Dezember

Um kurz vor 12 Uhr mittags, als Rauscher im Gemalten Haus ankam, herrschte erstaunliches Gedränge. In der traditionellen Apfelweinkneipe saß eine Gruppe Japaner. Etliche Platten mit Bergen von Fleisch und Würsten standen vor ihnen auf den Holztischen. Ein Kellner hatte Mühe, die gefüllten Gerippten so schnell zu verteilen, wie sie getrunken wurden. Die Truppe schien bester Laune zu sein, sie stießen an, lachten, krakeelten.

Rauscher schnupperte. Ah! Er liebte diesen sauren Duft nach Ebbelwoi und Sauerkraut.

Bernd Kessler saß in einer Ecke allein an einem Vierertisch, wartete bereits auf Rauscher und trank einen Schluck von seinem goldgelben Schoppen. Er machte ein mürrisches Gesicht, was Rauscher nicht wunderte. Sein Onkel war muffelig, seit er ihn kannte, und manchmal sogar unnahbar. Ein alter Griesgram, wie er im Buche stand, aber liebenswert. Rauscher mochte ihn und hatte ihn ins Herz geschlossen. Wenn Onkel Bernd etwas nicht passte, sagte er einfach gar nichts, besonders dann, wenn er keine Lust drauf hatte. Was nicht selten der Fall war. Seiner Einladung ins Gemalte Haus war der Onkel aber sogleich gefolgt mit den Worten: „Komm ich wenigstens mal wieder raus.“

Die beiden reichten sich die Hand ohne Begrüßungsformel.

Susanne, die Kellnerin, hatte Rauscher erkannt und ihm gleich einen Schoppen vor die Nase gestellt, noch bevor er seinen Mantel abgelegt hatte und richtig saß.

„Wohlsein“, sagte der Onkel und erhob seinen Schoppen.

„Auf dich!“, erwiderte Rauscher, setzte sich und trank. Er spürte, wie das Stöffche die Kehle hinunterlief. Mensch, tat das gut.

„Wie ist die neue Wohnung?“, erkundigte sich Rauscher.

„Geht schon!“ Onkel Bernd war vor einiger Zeit aus seiner Wohnung geflogen, zwangsgeräumt, woraus sich für die Kripo Frankfurt der Abgerippt-Fall ergeben hatte. Spekulation auf dem Wohnungsmarkt und Entmietung in Frankfurt. Was Rauscher damals alles erfahren hatte, war schockierend.

„Wie geht es Frau Thönnies?“, fragte Rauscher. Er erinnerte sich an die nette ältere Dame, die mit ihrer Aussage im Abgerippt-Fall Onkel Bernd aus der Klemme geholfen hatte. Hatte es da nicht sogar eine kleine Liebesgeschichte zwischen den beiden gegeben?

„Gut. Sie lässt dich grüßen.“

„Und sonst?“

„War im Spätsommer angeln“, erwiderte Onkel Bernd und breitete die Arme aus. Der Abstand zwischen den Händen betrug einen guten Meter. „So ein Kaventsmann!“

„Also haben sie gebissen?“

„Und wie!“ Onkel Bernd schaute Rauscher lange aus seinen trüben, zarten Augen an und trank an seinem Schoppen. „Stimmt es, was alle sagen?“

Rauscher hob die Augenbrauen. „Was denn?“

„Du bist rausgeflogen.“

„Schätze schon …“ Rauscher überlegte eine Weile. „Aber wer sind alle?“

„Na alle eben! Du musst nicht denken, dass ich nix mehr mitkriege, nur weil ich rund um die Uhr zu Hause hocke und bald siebzig werde“, erwiderte Onkel Bernd, was für seine Verhältnisse einem Redeschwall gleichkam. Er schien gut drauf zu sein.

„Keine Sorge. Dazu kenne ich dich zu gut.“

„Und was liegt bei dir an?“, fragte Onkel Bernd.

„Hast du es schon gehört? Tante Adelheid, Vaters Schwester, ist gestorben.“

„Aha!“

„Kanntest du sie?“

„Flüchtig.“

„Bist du ihr mal begegnet?“

„Ein- oder zweimal. Jahre her.“ Er winkte ab.

„Ich kann mich auch nicht mehr an meine letzte Begegnung mit ihr erinnern“, bestätigte Rauscher. „Da war ich vielleicht acht oder neun …“

„Und was willst du von mir?“

„Du bist der Einzige, mit dem ich reden kann. Sonst ist mir niemand eingefallen.“

Onkel Bernd machte ein skeptisches Gesicht. „Und was ist mit deinen Eltern?“

„Die schweigen sich aus. Wollen nicht drüber sprechen, was damals passiert ist. Zumindest mit mir nicht. Und genau deshalb sitzen wir hier. Ich wollte dich nämlich fragen, ob du dir das erklären kannst.“

Onkel Bernd blickte ihn eine Weile an. „Ich hab Hunger.“

„Ach so, ganz vergessen. Brauchst du die Karte?“

„Ich ess hier immer Rippchen. Sind die besten.“

„In ganz Frankfurt! Da schließ ich mich spontan an.“

Rauscher winkte Susanne, orderte zweimal Rippchen mit Kraut und Püree und zwei Schoppen.

Noch bevor er sich wieder Onkel Bernd zuwenden konnte, hörte er ihn in sachlichem Ton sagen, als sei es das Normalste der Welt: „Dein Onkel Karl, Karl Bergmann, ist damals ermordet worden.“

Rauscher traf fast der Schlag. „Was? Äh, wieso …?“ Sichtlich konsterniert sprach er weiter: „Und das erfahre ich erst jetzt. Also, das gibt’s doch nicht …!“

„Na ja“, unterbrach ihn der Onkel. „Ich vermute mal, du warst noch zu jung damals, muss so Mitte der Achtziger gewesen sein. Bergmanns Ermordung war nicht unbedingt für deine Ohren bestimmt. Und später haben sich deine Eltern und deine Tante voneinander abgewandt. Die hatten sich nichts mehr zu sagen. Der Tod deines Onkels wurde einfach totgeschwiegen, das Thema ad acta gelegt.“

„Wie ist er denn …?“

„Soweit ich mich erinnere, haben sie ihn aus der Nidda gefischt. Und wie man sich denken kann, ist er da nicht ganz freiwillig reingegangen. Obwohl …“

„Warst du damals dabei? Also, ich meine natürlich nicht bei seinem Tod, sondern … Wie hast du davon erfahren?“

„Ich glaub, aus der Zeitung.“

„Das ist ja die Höhe!“

„So war’s aber. Weder mit deinem Vater noch mit meiner Schwester hab ich jemals darüber gesprochen. Für sie war Tante Adelheid kurz nach seinem Ableben nicht mehr existent. Und das scheint ja bis heute so geblieben zu sein.“

„Und wie ist das damals abgelaufen? Ich meine, die Kripo muss doch ermittelt haben.“

„Haben die auch. Aber sein Mörder wurde nie gefunden. Ich hab das nur am Rande verfolgt. Wie gesagt, mit deinen Eltern konnte ich nicht drüber reden, aber es wurde natürlich in den Medien darüber berichtet. Irgendwann ist die Geschichte im Sande verlaufen.“

„Merkwürdig.“

„Kannst du laut sagen.“

„Und weißt du irgendwas über die Todesursache?“

„Ich glaube, er wurde vergiftet …“

„Vergiftet und in der Nidda entsorgt?“, rief Rauscher erschrocken, sodass sich einige Gäste zu ihnen umblickten.

Onkel Bernd machte eine Geste mit den Händen, um ihn etwas zu dämpfen. „So wird’s wohl gewesen sein.“

Susanne stellte das Essen auf den Tisch. Sie ließen sich die zarten, dicken Rippchen schmecken. Rauscher aß sie mit Senf. Das Püree war heute besonders fluffig und das Kraut eine Offenbarung.

Während sie sich dem Essen hingaben, sprach niemand ein Wort. Sie beobachteten die anderen Gäste, die alles in sich hineinstopften, was die Karte und der Apfelweinkeller hergaben. Es wurde um die Mittagszeit auch schon gemispelt.

„Kennst du den Grund“, knüpfte Rauscher nach dem Essen wieder an das Gespräch an, „warum meine Eltern und Tante Adelheid seitdem nicht mehr miteinander reden?“

„Genaues weiß ich nicht. Ich hab auch nicht nachgefragt. Hatte wohl mit Thomas zu tun, aber ich will nix gesagt haben. Reine Spekulation. Man konnte mit ihnen einfach nicht drüber reden.“

„Thomas ist doch irgendwann verschwunden …“

„Einige Wochen nach dem Tod deines Onkels. Aber ich weiß nicht, ob das eine mit dem anderen was zu tun hat.“

„Okay. Und wie war Karl? Erzähl doch mal was über ihn!“

„Was gibt’s da zu erzählen?“

„Na, zum Beispiel, wie er so als Mensch war.“

„Ich bin ihm nie begegnet.“

„Und seine Firma?“

„Eine Baufirma. Aber keine normale …“

„Was soll das heißen?“

„Die haben sich auf Firmengebäude, Lager- und Kühlhallen und so’n Kram spezialisiert und meistens für die öffentliche Hand gearbeitet. Da gab’s ne große Nachfrage. Dementsprechend häufig war Bergmann auf Empfängen eingeladen und dadurch auch in der Zeitung.“

„Also eine Frankfurter Berühmtheit.“

„So hat er die Aufträge an Land gezogen. Das Komische war: Deine Tante war das krasse Gegenteil. Auftritte in der Öffentlichkeit waren ihr ein Graus. Sie war … irgendwie merkwürdig. Verschlossen.“

„Sagt der Richtige.“ Rauscher schmunzelte.

„Als hätte sie was zu verbergen.“

„Wie meinst du das?“

„Sie tat immer so geheimnisvoll. Redete kaum ein Wort, wobei das erst nach dem Tod deines Onkels so richtig offensichtlich wurde.“

„Wie so eine Wesensveränderung?“

„Leicht übertrieben, aber es geht in die Richtung.“

„Also muss damals doch irgendwas vorgefallen sein, was die ganze Familie … wie soll man sagen … auseinanderdividiert hat?“

„Hmm, ja, so könnte man es ausdrücken. Prost!“ Onkel Bernd hob wieder seinen Schoppen. „Und was hast du jetzt vor?“

„Wie meinst du das?“

„Na ja, du schnüffelst hier rum …“

„So nennst du das also!“

„Wie denn sonst?“ Bernd Kessler schüttelte den Kopf. „Ja, ja. Wir sind schon eine komische Familie.“

„Eben. Und immerhin bin ich der Alleinerbe und muss mich um alles kümmern. Macht ja sonst keiner. Da ist es doch ganz normal, wenn ich versuche, auch die Hintergründe zu verstehen … Ist nicht einfach, das kann ich dir sagen.“

„Da, schau her! Jetzt weiß ich auch, wem ich die Einladung zu verdanken habe. Auf Tante Adelheid!“

Sie prosteten sich zu.

„Falls du mal wieder was wissen willst“, hängte Onkel Bernd an, „immer gerne!“ Er grinste übers ganze Gesicht.

5

Freitag, 11. Dezember

Das Gespräch mit Onkel Bernd ging Rauscher nicht mehr aus dem Kopf. Je mehr Details er erfuhr, desto mysteriöser empfand er diese Familiensache, wie er sie inzwischen für sich nannte. Onkel Karl war keines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden. Ein Hammer! Tante Adelheid schwieg seitdem wie ein Grab und ihr Sohn Thomas war verschwunden. Zu allem Überfluss hatten seine Eltern den Kontakt zu Tante Adelheid abgebrochen und kein Wort mehr mit ihr geredet. Und das wohl seit dreißig Jahren. Eine schwierige Gemengelage, die einiges an Sprengstoff barg. Aber es fehlten noch viele Informationen, um auch nur halbwegs dahinterzukommen, was damals wirklich abgelaufen war, das spürte Rauscher. Sollte er noch mal bei seinen Eltern nachhaken? So abweisend, wie sich seine Mutter gegeben hatte, versprach er sich wenig davon. Sie wollte ums Verplatzen nicht darüber sprechen. Aber Stillhalten war nicht sein Ding. Also nahm er sich vor, es nach der Beerdigung nochmals zu probieren. Plötzlich fiel ihm ein, dass er ja gar nicht wusste, ob seine Eltern zur Beerdigung kommen würden. Sie waren ja nicht einmal eingeladen. Aber Jana würde er auf jeden Fall fragen, ob sie mitkäme. Ganz allein auf der Beerdigung, wie es der Notar angekündigt hatte: gruselige Vorstellung! Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn das Telefon klingelte. Rauscher war allein zu Hause. Jana joggte im Niddapark. Wäre auch für mich gut, dachte er und fasste sich an seinen Bauch. Hmmm. Da musste dringend was passieren. Aber die Kälte draußen …

Die Nummer auf dem Display kannte er nicht. Er nahm das Gespräch an. „Rauscher.“

„Wollenschläger.“

„Herr Notar! Was kann ich für Sie tun?“

„Nichts, das heißt, Sie könnten mir kurz zuhören. Ich habe nämlich eine wichtige Neuigkeit für Sie. Es geht um Thomas Bergmann. Ich habe ihn gefunden.“

„Na prima! Wo denn?“

„Er lebt in den USA. Genaugenommen in Los Angeles.“

„Oh, damit hab ich nicht gerechnet. Und was sagt er?“

„Tja, genau darüber wollte ich mit Ihnen reden.“

„Dann tun Sie das!“

„Nun, als ich Herrn Bergmann gestern Abend erreicht hatte und er erfahren hat, dass seine Mutter gestorben ist, klang er zunächst erleichtert. Ich konnte keine Anzeichen von Trauer oder Mitleid heraushören. Als ich ihm dann aber von Ihnen als Alleinerben erzählte, war er im Nu außer sich. Von einer auf die andere Sekunde tobte er am Telefon und kündigte an, das Testament anzufechten. Empört war er! Mehr kann ich Ihnen leider gerade nicht sagen, denn er hat dann sofort aufgelegt.“

„So? Na ja, dass er nicht begeistert sein würde, wenn er es erfährt, liegt nahe. Und wie geht’s jetzt weiter?“

„Ich werde ihn heute erneut kontaktieren, kontaktieren müssen, denn ich benötige einige Informationen von ihm. Zudem steht ihm ohnehin sein Pflichtanteil zu. Ihrem Vater übrigens auch. Ich werde Thomas zur Testamentseröffnung nach Frankfurt einladen. Das würde vieles vereinfachen, und wir könnten hier gemeinsam alles Notwendige besprechen.“

„Gute Idee.“

„In Ordnung, dann halte ich Sie auf dem Laufenden.“

„Gerne.“ Rauscher wollte sich gerade verabschieden, als ihm etwas einfiel. „Ach, Herr Wollenschläger, eine Frage noch: Kann ich mir eigentlich die Wohnung meiner Tante im Holzhausenviertel mal anschauen?“

„Ja, sicher. Die Schlüssel habe ich hier. Sie müssten sie nur abholen.“

„Kein Problem. Ich melde mich vorher an.“

„Dann verbleiben wir so.“

„Ach, noch ganz kurz: Wissen Sie etwas darüber, zu wem meine Tante noch Kontakt hatte in den letzten Jahren?“

„Leider nein, nicht genau jedenfalls. Ich nehme an, nur zu mir, aber wie gesagt, äußerst selten. Ach doch, ja: zu ihrem Arzt natürlich, Doktor Heinzmann.“

„Danke sehr, dann werde ich mal Kontakt zu Doktor Heinzmann aufnehmen.“

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, beendeten sie das Gespräch. Rauscher wusste plötzlich nicht, was er zuerst machen sollte, zumal Jana gerade die Tür hereinschneite. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie brachte Schneeflocken an ihren Schuhen mit.

Rauscher lächelte. „Du gehst bei der Eiszeit joggen?“

„Damit ich gesund und munter bleibe.“ Ihr Gesicht war puterrot und sie qualmte aus allen Poren. „Solltest du auch gelegentlich.“ Sie schmunzelte.

„Soll das etwa eine Anspielung …?“

„Was du immer gleich denkst!“, fiel sie ihm ins Wort, doch ihr kleines Lächeln entwickelte sich zu einem Strahlen.

„Was anderes“, lenkte er von dem unangenehmen Thema ab. „Begleitest du mich eigentlich zur Beerdigung?“

„Wann ist die denn?“

„Morgen Mittag.“

„Eigentlich bist ja nur du eingeladen, hast du jedenfalls erzählt.“

„So hat es der Notar gesagt. Aber mal unter uns: Tante Adelheid konnte ja nicht wissen, dass wir … also, dass ich …“

„Schon gut, schon gut! Kein Problem. Wenn du mich gerne dabeihaben möchtest …“

„Sehr gern sogar!“, unterbrach er sie.

„… komme ich natürlich mit.“

„Fein. Wird keine große Sache werden, denke ich.“

„Warten wir es ab. Und wie war die Plauderstunde mit Onkel Bernd?“

„Erzähl ich dir später. Ich muss jetzt telefonieren.“

„Mit wem?“

„Dem Arzt meiner Tante, Doktor Heinzmann.“

„Gut, dann spring ich schnell unter die Dusche.“ Schwupps war sie aus dem Zimmer verschwunden.

Rauscher zögerte nicht lange, griff sich das Telefon und wählte die Nummer, die er zuvor rausgesucht hatte. Am anderen Ende meldete sich eine weibliche Stimme. „Heinzmann.“

„Äh, guten Tag. Rauscher mein Name, Andreas Rauscher. Ist Doktor Heinzmann zu sprechen?“

„Am Apparat.“

„Äh, ach so …“ Rauscher wunderte sich etwas. Doktor Heinzmann war eine Frau. „Schon gut. Also, ich rufe an wegen meiner Tante, Adelheid Bergmann-Rauscher.“

„Als Sie Ihren Nachnamen genannt haben, war mir schon klar, worum es geht. Was kann ich für Sie tun?“

„Ja, wissen Sie, ich versuche, etwas mehr über meine Tante zu erfahren, was sich aber als schwierig herausstellt. Sie müssen wissen: Sie hatte zu niemandem mehr aus unserer Familie Kontakt. Zu mir auch nicht.“

„Ich wusste gar nicht, dass sie noch Familie hatte.“