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Dürfen wir vorstellen: der erste Frankfurter Apfelwein-Botschafter In Frankfurt wird ein Apfelwein-Dezernat gegründet, doch schon kurz nach der Bekanntgabe gibt es im Internet Anfeindungen gegen das Projekt. Die Gegner scheinen vor nichts zurückzuschrecken, nicht einmal vor Mord. Opfer ist ausgerechnet der neue Apfelwein-Dezernent Joachim Adlhof, der in seinem Haus auf dem Riedberg tot aufgefunden wird. Kommissar Andreas Rauscher ist nach wie vor vom Dienst suspendiert, übernimmt aber für die Frankfurter Mordkommission verdeckte Ermittlungen – undercover im Dezernat. Von Beginn an hat er mit etlichen Problemen zu kämpfen. Bald stößt er auf erste Spuren, die ihn in die Lokalpolitik führen. Ein Krimi mit Schmackes und gleichzeitig ein leidenschaftliches Plädoyer für Hessens wichtigstes Kulturgut: das Stöffche. Nach "Abgerippt", dem Eintracht-Krimi "Einzige Liebe", "Ebbelwoijunkie" und "Frau Rauschers Erbe" ein neues Krimi-Abenteuer mit dem inzwischen vielleicht bekanntesten Ebbelwoiliebhaber Hessens: Kommissar Rauscher.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das Buch
Kaum hat Kommissar Andreas Rauscher seinen Posten im neugegründeten Apfelwein-Dezernat der Stadt Frankfurt bezogen, wird er mit einem abscheulichen Verbrechen konfrontiert. Sein Chef, Dezernent Joachim Adlhof, wird erstochen in seinem Haus auf dem Riedberg aufgefunden.
Da Rauscher vor Ort im Dezernat ist, übernimmt er einen Teil der Ermittlungen, und schon bald kristallisiert sich heraus, dass das neue Apfelwein-Dezernat nicht nur Freunde hat. Schon im Vorfeld gab es massive Widerstände, gar Anfeindungen.
Liegt dort das Motiv für den Mord und welche Rolle spielt dabei das Lieblingsgetränk der Frankfurter, das Stöffche?
Der Autor
Gerd Fischer wurde 1970 in Hanau geboren, ist in Altenstadt-Höchst in der Wetterau aufgewachsen, studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt.
Fischer hat sich einen Namen gemacht mit seiner Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: „Mord auf Bali“ 2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013, „Abgerippt“ 2014, „Bockenheim schreibt ein Buch“ (Hrsg.) 2015, „Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi“ Februar 2017, „Ebbelwoijunkie“ Dezember 2017 und „Frau Rauschers Erbe“ 2018. Zudem der Thriller „Rotlicht Frankfurt“ 2019.
Gerd Fischer
Der elfte Fall für Kommissar Rauscher
Krimi
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Die den realen Personen des öffentlichen Lebens zugeschriebenen Handlungen und Dialoge entspringen ausschließlich der Fantasie des Autors.
Copyright © 2021 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Mia Beck
Layout: Anne Fuß
Titelbild: © Lukas Hüttner
ISBN 978-3-948987-04-6
eISBN 978-3-948987-10-7
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Mein besonderer Dank gilt Elisabeth Schick und Mia Beck.
Das Buch
Der Autor
Prolog
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Teil 2
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Teil 3
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Teil 4
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Teil 5
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Epilog
Kapitel 51
Die Sonne brannte mit Wucht auf das Gelände des Ferienlagers, während im Inneren des schmucklosen Küchenzeltes die Luft brodelte. Vier Jungs mit erhitzten Gemütern – Michi, Basti, Kalle und Joe – waren zum Strafspülen abkommandiert, weil sie nachts, statt zu schlafen, Game Boy gespielt hatten und erwischt worden waren. Während die anderen Sommercampteilnehmer auf dem See Kanu fuhren, mussten sie im Spülwasser plantschen, Teller, Tassen und Besteck abwaschen, abtrocknen, Tische und Bänke putzen, durchfegen. Besonders ärgerlich war, dass sie erst gestern ihren regulären Küchendienst absolviert hatten. Straflager statt Ferienidyll.
„Basti, Spasti!“, rief Joe, wie es seine Art war. „Nur weil der Begemann dir auf die Schliche gekommen ist, müssen wir ne Extraschicht schieben.“ Er nahm ein Geschirrtuch, ließ es durch die Luft sirren und dann auf Bastis Po knallen, der am Spültisch stand und abtrocknete.
„Wusste nicht, dass der Aufsicht hat“, antwortete der Angesprochene kleinlaut, rieb sich die rechte Arschbacke und schnappte sich den nächsten nassen Teller.
„Dass wir hier malochen müssen, das wirst du bereuen“, legte Kalle nach. „Das schwör ich dir. Den Tag überlebst du nicht. Wart‘s ab!“
Basti sah ihn an. Seine Augen flatterten und Schweiß trat auf seine Stirn. Ein Sonnenstrahl stahl sich von außen herein und brachte einen Schwall heißer Luft mit, der ihm weiter zusetzte.
Michi stellte sich direkt vor ihn. Er war ein hagerer Typ, dessen Akne voll durchschlug. Auch die beiden anderen kamen auf ihn zu und bildeten einen Halbkreis um ihr Opfer.
Jetzt steckte er in der Klemme. Bastis Lippen zuckten. Weit und breit war kein Aufseher in Sicht. Die waren unten am See mit den anderen Jungs, damit niemand im Wasser ertrank. Er spürte, wie sich ein flaues Gefühl in seinem Magen breitmachte. Spontan versuchte er, sich aus der Umklammerung zu lösen und in die Mitte des Zeltes zu gelangen.
Aber Joe versperrte ihm den Weg. Er überragte ihn um einen halben Kopf. „Wo willste hin, Spasti-Fantasti?“
Die drei klopften sich auf die Schenkel vor Lachen, bevor sich ihre Mienen wieder verdunkelten. Ihre finsteren Blicke trafen ihn wie Speere.
„Du weißt schon, dass dir ne Abreibung blüht“, brüllte ihn Joe an. Er war mit seinen zwölf Jahren der Älteste und führte sich gern wie der Chef auf.
„Kloppe hat er schon gekriegt. Lasst uns mal was anderes überlegen“, meinte Kalle und griff sich ans Kinn, als sei er der große Denker. Dabei war er in der Schule ein Totalversager. Allerdings steckte sein kleiner Geist im Körper eines nahezu ausgewachsenen Mannes.
Er sah sich im Zelt um. Seine Augen nahmen den Kühlschrank ins Visier. Ihm schien eine Idee gekommen zu sein. „Da drin steht doch der Kanister Apfelwein von den Aufsehern. Ham wir‘n Trichter hier?“
Michi, der nicht sofort checkte, worauf Kalle hinauswollte, ploppten Fragezeichen in den hellen Augen auf.
„Guck nich wie‘n Auto und beweg deinen Arsch!“
Joe war forsch zur Stelle und hatte in Sekundenschnelle einen Trichter aus einer Kiste mit Küchenutensilien geholt. „Und nu?“
„Wir trichtern ihn voll!“, erklärte Kalle. „Mit Bier kennt er sich schon aus; Zeit für ne Apfelweinparty!“
Während Kalle Basti schnappte und dessen Kopf mit seinem Arm wie in einer Schraubzwinge fixierte, holte Michi den Kanister aus dem Kühlschrank. Joe stopfte ihm den Trichter tief in den Mund.
Keine zehn Sekunden später hatte Michi den Kanister aufgeschraubt. Nun hob er ihn hoch und ließ das Stöffche in den Trichter laufen.
Basti schnaubte, bäumte sich auf und versuchte mit den Händen, Kalle abzuwehren, aber aus dessen Klammergriff gab es kein Entrinnen.
„Eins zwei, Hals enei! Sagt mein Vater immer.“ Joe bepisste sich fast vor Lachen.
„Meiner grölt am liebsten: Hau wech die Scheiße!“, johlte Michi.
„Mein letzter Wille, mehr Promille. Mehr hat mein Alter nicht drauf!“, setzte Joe noch einen drauf, was Michi anstachelte: „Ich hab auch noch einen: Lieber de Maaaaache verrenkt, als em Wert was geschenkt!“
Es blubberte im Trichterhals. Basti röchelte und würgte, stemmte sich gegen die drei Angreifer, aber gegen den einfließenden Strom hatte er keine Chance. „Au…hörn … ni…cht… cht!“, stotterte er. Mehr brachte er nicht über die Lippen. Er hatte schon nachts geahnt, dass die Sache übel ausgehen könnte. Hatte befürchtet, dass sie sich ihn vorknöpfen würden. Aber er hatte gehofft, dass sie im Schutz des Camps und der Aufseher nur schwer an ihn rankommen würden. Dass es so schlimm kommen würde, hätte er sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorzustellen gewagt.
„Komm schon, du Flitzpiepe, da geht noch was! Schön schlucken, gell!“ Die drei lachten hämisch.
„Besser als jede Keilerei“, meinte Joe. Kalle fügte hinzu: „Der hat Talent. Wird bestimmt ma Alki.“
Bastis Augen waren geschlossen. Seine Kräfte ließen nach. Sein Widerstand schien gebrochen. Er hing reglos in Kalles Armen und wehrte sich nicht mehr.
Als der Kanister halb leer war, ließen sie von ihm ab.
Basti sank auf die Knie und spuckte aus. Sein Brustkorb wölbte sich. Ihm war schwindlig. Er konnte sich nicht mehr aufrecht halten, fiel auf die rechte Seite und blieb stöhnend liegen. Alles vor seinem Gesichtsfeld verschwamm.
„Nicht sauer sein!“ Als hätte Joe einen Megawitz gerissen, lachten die anderen beiden laut auf. Sie spülten den Trichter aus und ließen ihn in der Kiste verschwinden. Den Kanister verstauten sie wieder im Kühlschrank.
„Was haltet ihr davon, Begemann Bescheid zu geben, dass Spasti besoffen ist?“, schlug Michi vor.
„Knaller!“ Joe und er klatschten sich ab.
Kurz darauf verließen sie das Küchenzelt und rannten Richtung See.
„Willkommen beim Frankfurt-Podcast.“ Die spröde Stimme der Moderatorin setzte einen Moment ab. „Heute widmen wir uns einem Stadtthema, das die Frankfurter Seele in letzter Zeit erregt hat: das neue Apfelwein-Dezernat, das in einem Monat eingeweiht werden soll. Und dazu begrüßen wir unseren heutigen Studiogast, Herrn Adlhof, Leiter des Fachbereichs ‚Essen und Trinken‘ im Kulturamt der Stadt Frankfurt und künftiger Dezernent des neuen Apfelwein-Dezernats. Guten Tag, Herr Adlhof.“
„Hallo, Frau Hernig. Ich freue mich, hier sein zu dürfen.“
„Herr Adlhof, die Ankündigung der Stadt, ein eigenes Dezernat für Apfelwein gründen zu wollen, hat in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen. Wieso dieser Schritt?“
„Nun, Frau Hernig, um es auf den Punkt zu bringen: Apfelwein ist ein Aushängeschild der Stadt …“
„Wie die Banken und die Eintracht …“, fiel sie ihm ins Wort, aber Adlhof parierte geschickt: „Natürlich gibt es weitere Bereiche, aber die ziehen ohnehin enorme Aufmerksamkeit auf sich. Der Apfelwein hingegen scheint uns bei näherer Betrachtung etwas unterrepräsentiert. Zudem ist er mehr als nur ein Getränk: Er ist so etwas wie die Seele der Stadt, Tradition und Kulturgut. Und deshalb wollen wir uns um seine spezifischen Bedürfnisse noch stärker kümmern.“
„Kann man das nicht auch ohne eigenes Dezernat?“
„Nein, denn nur dort steht der Apfelwein im Fokus. Das ist wichtig, und es wird ein Zeichen setzen, welche Prioritäten wir verfolgen.“
„Apropos: Ein Hauptkritikpunkt sind die Kosten. Ist so ein Dezernat nicht enorm teuer? Allein der kubistische Neubau am Main verschlingt Millionen. Hätte man mit dem Geld nicht besser Sozialwohnungen bauen sollen?“
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Geschenkt bekommen wir natürlich nichts, das ist klar. Das Konzept liegt seit Langem auf dem Tisch, das Budget ist im Haushalt eingeplant, die Höhe der Kosten überschaubar. Und es wird sich auszahlen, auch das ist sicher. Die Synergieeffekte, die wir erwarten, zum Beispiel im Tourismussektor, sollte man nicht unterschätzen. Sie lassen sich quantifizier…“
Wieder unterbrach Frau Hernig: „Aber die Bürgerinnen und Bürger sind sauer …“
„Passt ja zum Thema Apfelwein …“ Adlhof ließ einen Lacher vernehmen.
„Aber so richtig witzig finden es die Leute nicht“, unterbrach ihn die Moderatorin. „Sie haben einfach das Gefühl, dass derzeit jede Menge Geld verpulvert wird. Zum Beispiel ist der Neubau des Schauspielhauses und der Oper mit 139 Millionen veranschlagt …“
„Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.“
„Stimmt. Könnte auch viel teurer werden. Können Sie die Argumente der Gegenseite denn nachvollziehen?“
„Wir planen die Stadt der Zukunft und dazu gehört eindeutig das neue Apfelwein-Dezernat.“
„Haben Sie mit so viel Gegenwind gerechnet?“
„Ach, wissen Sie, Projekte solcher Art sind schwer zu vermitteln.
Daran hat sich die Politik im ganzen Land gewöhnt, gewöhnen müssen, möchte ich betonen. Aber wir lassen uns dadurch nicht von unserem Weg abbringen.“
„Rechnen Sie mit weiterem Widerstand?“
„Wir sind überzeugt von den positiven Seiten und vom Imagegewinn für die Stadt, wenn es erst mal da ist, und auch ein wenig stolz, das erste Apfelwein-Dezernat der Welt zu haben.“
„Ein schöner Schlusssatz. Ich bedanke mich für Ihre Stellungnahme.“
„Sehr gerne, Frau Hernig, sehr gerne. Am besten, Sie laden mich in einem halben Jahr noch einmal ein. Bis dahin haben sich sicherlich die Wogen geglättet.“
„Werden wir aufmerksam verfolgen. Vielen Dank, Herr Adlhof. Und nun ein wenig Zwischenmusik, bevor wir zu unserem nächsten wichtigen Stadtthema kommen: Brexit-Banker treiben Frankfurts Mietpreise in die Stratosphäre – wie können wir uns wehren?“
Ein malziger Geruch lag in der Luft. Dunkelheit. Nur ein Laptopbildschirm beleuchtete den Schreibtisch und den Stuhl, auf dem eine Person aufrecht saß.
Wie aus dem Nichts fuhr eine Schattenhand hervor, klickte den Podcast aus und klappte den Laptop zu.
„Dich hab ich … gefressen!“
Die Stimme vibrierte. Im stockdunklen Raum war kein Laut mehr zu vernehmen, nur gleichmäßiges Atmen. Ein Atmen, das bedrohlich klang und die Balance der Szenerie störte.
„Diese Ebbelwoi-Hinterfotzigkeit … Dieses Gerippte-Geseier …“
Der Mann ließ eine Weile verstreichen, bevor er weitersprach.
„Diese Sachsenhausen-Mafia, diese Bornheim-Wichser. Wie ich das hasse! Provinzielle Kleinkrämer.“ Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf. „Diesen naturtrüben Bembelhirnen werd ich’s zeigen!“
Obwohl sich der Himmel über Frankfurt an diesem klirrenden Wintermorgen in einem strahlenden Hellblau zeigte, war die Stimmung in Andreas Rauschers Bockenheimer Altbauwohnung nicht die beste.
„Müsstest du nicht längst wieder deinen Dienst angetreten haben?“, fragte Jana Kern, des Kommissars Lebensgefährtin, beim Frühstück. Sie biss in ein Brötchen mit Erdbeermarmelade und kniff ihm anschließend mit der linken Hand zärtlich in die Wange.
„Ich stecke mitten in den Verhandlungen mit dem Chef.“ Rauscher seufzte. „Aber Markowsky zickt rum. Mir geht das auch zu langsam.“
„Was verhandelt ihr denn?“
„Dazu kann ich momentan noch nichts …“
„Kannst oder willst du nichts sagen?“, fiel sie ihm ins Wort.
„Ich verspreche dir, du wirst die Erste sein, die das Ergebnis erfährt“, konterte er. „Okay?“ Das ‚Okay‘ klang nach Friedenspfeife. Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen langen Kuss, der nach Marmelade schmeckte.
„So leicht lass ich mich normalerweise nicht abspeisen“, erwiderte Jana. „Ich hoffe, das weißt du!“ Sie zwinkerte ihm zu.
„Genau deshalb habe ich auch eine Überraschung für dich.“ Er streichelte ihre blonden Haare, die wie immer raspelkurz geschnitten waren. „Schau mal!“ Rauscher drückte ihr einen Briefumschlag in die Hand. Aufgrund des Logos erkannte Jana sofort, dass es sich um ein offizielles Schreiben der Stadt Frankfurt handeln musste.
„Was ist das?“
„Lies selbst!“
Jana öffnete den Umschlag, entnahm ihm ein Anschreiben und zwei Karten und begann zu lesen.
„Nanu? Eine Einladung vom Kulturamt zur Ernennungszeremonie des ersten Frankfurter Apfelwein-Botschafters. Etwa für uns?“
„Hab ich von Markowsky höchstpersönlich bekommen. Er meint, das sei wichtig.“
„Wieso?“
„Keine Ahnung. Scheinbar nur die High Society anwesend. Der OB und so weiter.“
„Und wieso sind wir dann eingeladen?“
„Werden wir rausfinden. Wetten?“
„Weißt du schon, wer es wird?“
„Wer was wird?“
„Na, erster Apfelwein-Botschafter.“
„Nö. Aber auch das werden wir erfahren.“
„In der Rundschau stand, dass der Dezernatsneubau knappe zehn Millionen gekostet haben soll.“
„Ist ja für ne gute Sache.“ Rauscher grinste, zog Jana vom Stuhl hoch und umarmte sie.
„Der Zeitungskommentar fiel aber nicht gerade positiv aus. Verschwendung von Steuergeldern, linke Tasche, rechte Tasche und so weiter.“
„Motzen gehört zum journalistischen Handwerk.“
Jana lächelte. „Na, zum Glück ist niemand auf die Idee gekommen, ein Bier-Dezernat zu gründen.“
„Das hätte einen Volksaufstand in der Stadt gegeben!“ Rauschers Stimme hob sich.
„Du meinst, ne Demo?“
„Ich wäre ganz vorne marschiert.“
„Trau ich dir zu! Apropos: Wenn das mit unserem Urlaub diesmal nicht klappt, mach ich ne Demo: ne Beziehungsdemo!“
„So was hab ich ja noch nie gehört!“, erwiderte er, um das heikle Thema etwas abzuschwächen.
„An deiner Stelle würde ich‘s nicht drauf ankommen lassen.“ Er spürte, dass es ihr diesmal ernst war. Wie ihre Augen sein Gesicht abtasteten. Wie sie zwei-, dreimal unbewusst blinzelte und vermutlich schon an Strand, Sonne und Palmen auf einem exotischen Eiland dachte.
Sie gab ihm einen Nasenstupser, wand sich aus seinen Armen und ging ins Bad.
„Ich regel das“, rief er ihr nach. „Keine Sorge!“
Jana blieb abrupt stehen und drehte sich noch einmal um. „Du meinst, so wie du das mit dem Erbe von Tante Adelheid geregelt hast? Da ist doch auch noch nix passiert.“
„Äh, nein …“ Er fuhr sich durch die schwarzen kurzen Haare. „Aber glaub mir: Ich kümmer mich drum.“
Sie seufzte. „Wär echt schön, wenn du das noch in diesem Jahrzehnt hinkriegen würdest.“ Sie lächelte gequält.
„Nee, nee“, beeilte sich Rauscher zu erwidern. „Wir fahren in den Urlaub. Und wenn wir zurück sind, geh ich das mit dem Erbe an.“
Jana reckte beide Arme abwechselnd in die Luft und rief dazu immer wieder: „Wir fahren in den Urlaub. Wir fahren in den Urlaub. Wir fahren in den Urlaub!“
„Ich kann nur nicht alles auf einmal machen“, ergänzte Rauscher.
„Dein Bier“, sagte Jana, nahm die Arme runter und legte dann erschrocken eine Hand vor den Mund. „Oh, das hätte ich wohl besser nicht sagen sollen. Aber ‚dein Ebbelwoi‘ klingt einfach zu blöd.“ Sie lachte.
Im großen Saal des neu erbauten Apfelwein-Dezernats hatten sich die Honoratioren der Stadt und jede Menge andere geladene Gäste versammelt. Andreas Rauscher und Jana Kern saßen in einer der hinteren Reihen. Er trug Anzug, Krawatte und Lederschuhe, sie hatte sich für ein dunkelblaues Kleid entschieden. Die Ernennungszeremonie des ersten Frankfurter Apfelwein-Botschafters war in vollem Gange. Gerade hatte OB Feldmann seine Grußworte beendet und den Leiter des neuen Dezernats, Joachim Adlhof, als nächsten Redner angekündigt, der den ersten Botschafter küren sollte. Eine prickelnde Spannung lag über dem Saal, denn noch wusste niemand, wer der neue Botschafter werden würde. Die Stadtverwaltung hatte darum ein großes Geheimnis gemacht.
Rauscher ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen, aber er kannte niemanden. Er hatte damit gerechnet, Chef Markowsky oder andere Mitglieder seines früheren Teams bei der Frankfurter Mordkommission zu entdecken, zum Beispiel die Kollegen Jan Krause oder Ingo Thaler, aber Fehlanzeige. Auch Polizeipräsident Zimmermann konnte er nirgends ausmachen. Dafür erhaschte er einen Blick durch die moderne Glasfront auf den Main, auf dem soeben das Ausflugsschiff ‚Goethe‘ vorbeifuhr. Die Lage des neuen Dezernats war exquisit. Das musste Rauscher zugeben, wobei die Stadt für seinen Geschmack die falsche Mainseite, nämlich hibbdebach, gewählt hatte. Dribbdebach – auf Sachsenhäuser Terrain – wäre dem Thema angemessener und die entschieden bessere Wahl gewesen. Aber womöglich hatte es dort kein geeignetes Grundstück gegeben.
Bewegung auf der Bühne lenkte Rauschers Gedanken ab. Er erkannte Herrn Adlhof, der hinterm Pult Stellung bezogen hatte und gerade seine Rede begann.
„Verehrte Gäste. Ich freue mich, Sie heute zu diesem feierlichen Akt begrüßen zu dürfen. Herr Oberbürgermeister Feldmann hat ja bereits alles gesagt zur Bedeutung des neuen Apfelwein-Dezernats für die Stadt. Daher möchte ich Sie nicht weiter auf die Folter spannen und zum eigentlichen Anlass des heutigen Tages kommen: der Ernennung des ersten Frankfurter Apfelwein-Botschafters. Die Wahl fiel uns sehr leicht. In der Stadt gibt es niemanden, der die Botschaften des Apfelweins besser verkörpern könnte. Seine berühmte Vorfahrin, die Frau Rauscher aus der Klappergass, kennt jedes Kind in der Stadt …“
In diesem Moment schrak Jana zusammen. Sie ergriff rasch Rauschers Hand und stieß einen Schreckensschrei aus, den sie aber mit der anderen Hand zu unterdrücken versuchte. Das misslang. Einige neugierige Köpfe wandten sich ihr zu.
Doch es blieb keine Zeit für Nachfragen, denn Adlhof ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Unbeirrt fuhr er fort: „Sein Nachname steht für DAS Frankfurter Nationalgetränk. Es ist mir eine Freude, hiermit Herrn Andreas Rauscher, Kommissar bei der Frankfurter Mordkommission, zum ersten Frankfurter Apfelwein-Botschafter zu ernennen.“
Beifall brandete auf. Hälse reckten sich. Blicke schweiften umher auf der Suche nach dem neuen Botschafter.
Rauscher spürte zahlreiche Augenpaare, die ihn fixierten. Die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, mochte er gar nicht. Ganz langsam drangen Adlhofs letzte Worte bis zu seinem Großhirn vor.
Rauscher schluckte.
„Andreas Rauscher ist prädestiniert für dieses Amt wie kein Zweiter“, fuhr Adlhof fort, „und wird ihm die nötige Ehre erweisen. Er wird sich für unser beliebtes Stöffche mit ganzer Kraft einsetzen und es würdig in aller Welt vertreten. Und nun bitte ich den Würdenträger nach vorne, damit ich ihm die Ernennungsurkunde überreichen kann. Kommen Sie, Herr Rauscher!“
Es dauerte eine ganze Weile, bis Andreas Rauscher endgültig realisiert hatte, dass er gemeint war. Er reagierte erst, als Jana ihm in die Bauchfalte zwickte. „Ich glaube, du musst mal da vor.“
„Äh … ich?“ Er wandte ihr den Kopf zu und schaute sie mit starren Augen an. „Aber wieso …?“
„Frag lieber nicht, das werden wir jetzt sowieso nicht ergründen können. Vielleicht steckt Markowsky dahinter.“ Da sich Rauscher noch immer nicht gerührt hatte, rief sie: „Los jetzt!“ und gab ihm einen kleinen Schubs.
Wie in Zeitlupe erhob sich der Kommissar und blickte sich schüchtern im Saal um; aber auch jetzt erkannte er niemanden. Doch was er sah, gab ihm Kraft. Die Gäste fingen begeistert an zu klatschen und halfen ihm so, in Gang zu kommen. Seine Schritte aus der Reihe und nach vorne waren leichtgängig, er schwebte geradezu im aufbrausenden Applaus.
Adlhof drückte ihm die Hand und überreichte ihm die Ernennungsurkunde.
„Ich freue mich sehr, den ersten Frankfurter Apfelwein-Botschafter an meiner Seite begrüßen zu dürfen: Andreas Rauscher. Wir sind alle sehr gespannt, was Sie dazu zu sagen haben.“
Adlhof warf einen hoffnungsfrohen Blick auf Rauscher. Mit einer Geste seiner rechten Hand bat er ihn, ans Mikrofon zu treten. Der Beifall im Saal verebbte.
Rauscher drehte langsam den Kopf in Richtung Publikum, machte einen Schritt zum Pult und legte die Urkunde auf der schrägen Fläche ab. Er sah die vielen Köpfe, die ihn neugierig und erwartungsvoll beäugten. Sein Gesicht war bleich wie das einer Wachsfigur.
„Ja, also …“ Er setzte ab, bevor er zögerlich fortfuhr: „Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was ich sagen soll … Ich schätze, das ist eine große Ehre für mich.“ Wieder brandete Beifall auf, der nur langsam verklang. „Ob ich für diesen Job allerdings auch geeignet bin, muss sich erst noch erweisen. Ich werde aber mein Bestes geben, um unser geliebtes Stöffche …“ Beinahe hätte er ‚zu trinken‘ gesagt, aber er schluckte die Worte gerade noch einmal hinunter. „Also, um unserem Stöffche den nötigen Rang zu verleihen, den es verdient.“
Adlhof stand neben ihm, grinste über beide Ohren und fing spontan an zu klatschen. Das Publikum schloss sich vorbehaltlos an.
Jana klatschte am lautesten.
Unmittelbar nach Beendigung der Ehrung stürmte sie nach vorne, fiel Rauscher um den Hals und gab ihm einen dicken Kuss auf den Mund.
„Das ist ja ein Ding!“, rief sie und ihre Stimme klang, als sei sie völlig baff.
„Ich glaube, ich träume.“ Rauscher wirkte nüchterner, fast schon skeptisch.
Durch den Wald von Hainbuchen, Eschen und Ahorn führte ein schmaler Weg bis zu einer Waldlichtung. Am Rande, neben einem Jägerhochsitz, der seine besten Tage bereits hinter sich hatte, standen auf einem abgesägten Baumstumpf fünf leere Flaschen: vier Apfelwein- und eine Bierflasche. Die sternenklare Nacht hatte Frost gebracht. Die ersten Sonnenstrahlen erwärmten zwar die Luft, aber es war immer noch lausekalt in Frankfurt. Das über den Winter grau gewordene Gras trug Tau.
Zehn Meter entfernt, unter einem herabhängenden Ast, hob sich ein Arm, dessen Hand eine Pistole hielt. Es war eine Ruger MK II Halbautomatik mit Schalldämpfer.
Ein Schuss krachte. Eine Apfelweinflasche zerbarst in tausend Glasteilchen, die in alle Himmelsrichtungen flogen und sich anschließend auf dem Waldboden verteilten.
Die Hand zielte erneut. Wieder krachte ein Schuss und eine weitere Apfelweinflasche zerplatzte.
Das Schauspiel wiederholte sich noch zweimal und raubte auch den beiden verbliebenen Apfelweinflaschen ihr Dasein.
Übrig blieb die Bierflasche. Sie stand nun allein auf dem Baumstumpf und glänzte in der Sonne. Der Arm senkte sich. Die Pistolenmündung zielte Richtung Boden.
Mit den Fingern der rechten Hand streichelte ihr Besitzer die Ruger. „Dich werde ich noch gut gebrauchen können.“
Als Andreas Rauscher zu seiner zweiten Dienstwoche im neuen Apfelwein-Dezernat erschien, erwartete ihn schon eine Dame, die nervös in der Empfangshalle hin- und herlief. Sie war schlank und trug einen konservativen Hosenanzug.
Rauscher blieb stehen.
„Wo bleiben Sie denn?“, raunte ihn die Dame an und schaute demonstrativ auf ihre Uhr. „Die PK fängt genau in dieser Sekunde an. Bitte beeilen Sie sich! Mit Journalisten ist nicht zu spaßen. Wir müssen nach außen einen professionellen und seriösen Eindruck vermitteln, sonst …“
„Ihnen auch einen wunderschönen guten Tag, Frau Bodenstock“, fiel ihr Rauscher harsch ins Wort.
Frau Bodenstock war die persönliche Assistentin des Dezernenten, Herrn Adlhof, und so spielte sie sich manchmal auch auf.
Sie seufzte, blieb stehen und blickte ihn scharf an. „Für solche Spielchen habe ich keine Zeit. Ich konnte die Presse bis heute vertrösten, aber jetzt müssen Sie ran. Folgen Sie mir!“
Der Hosenanzug stand ihr, dachte Rauscher, als er hinter ihr herging. Er konnte kaum seine Augen von ihrem wackelnden Hintern nehmen. Nicht weil er ihn so entzückend fand, sondern weil er sich ihm aufdrängte.
Während der ersten Woche im neuen Amt hatte Rauscher nicht gewusst, was er tun sollte. Er hatte Dezernatsmitarbeiter kennengelernt und sich vorgestellt. Er hatte Hände geschüttelt und sich Namen gemerkt. Er hatte versucht, sich Gesichter einzuprägen, was ihm schwergefallen war. Doch das war‘s dann auch schon gewesen. Darüber hinaus hatte er keine Aufgaben zu erledigen gehabt. Niemand hatte Zeit für ihn, niemand teilte ihm etwas zu, niemand beachtete ihn. Noch lag eine gewisse Lethargie über dem neuen Gebäude. Die vielen Gänge waren fast alle verwaist. Bis auf Frau Bodenstock, die für gewöhnlich etwas hektisch wirkte, mussten sich alle anderen erst mit ihrer neuen Rolle und ihrem neuen Posten anfreunden. So auch Rauscher. Ihm kam der Verdacht, dass er sich selbst darum kümmern musste, was er zu tun und zu lassen hatte. Er musste auch nicht permanent vor Ort sein. Also besuchte er das Dezernat nur an jenen Tagen, an denen tatsächlich etwas anlag, denn ihn hatte schon nach den ersten beiden Tagen der Ebbelwoi-Blues erfasst. Er sah keinen rechten Sinn in seiner neuen Tätigkeit.
Jedes Mal, wenn er dieses cleane Gebäude betrat, wuchs in ihm das dringende Verlangen nach einem Schoppen. Der Schmelz des Stöffches lag ihm schon auf der Zunge. Ein, zwei Gläser hätten seine Stimmung sicherlich gehoben. Aber er hatte sich zurückgehalten. Wollte nicht sofort auffallen. Gelegen kam ihm, dass am Nachmittag des dritten Tages eine Einladung ins Haus geschneit war. Die Buchscheer lud ihn zu einer Ebbelwoiverkostung ein. Als er die Karte las, musste er lächeln. Auf die gleiche Idee war Jana gekommen und hatte ihm die Verkostung zu Weihnachten geschenkt. Trotzdem freute er sich. So konnte er schnell und auf offiziellem Wege die Vorzüge des neuen Amtes kennenlernen. Allerdings wusste er nicht, ob er sich in solchen Situationen erst Adlhofs Genehmigung einholen musste oder ob er so etwas selbst entscheiden konnte. Er wollte das vorher klären und nahm sich vor, Adlhof heute noch zu konsultieren. Frau Bodenstock zu fragen, schloss er für sich persönlich aus.
Zwar hatten ihn schon in den ersten Tagen einige Journalisten für ein Interview angefragt, Rauscher hatte jedoch um Bedenkzeit gebeten. Er hatte Sorge, dass die Geschichte, seine Familie stamme von der Frau Rauscher ab, sich zu stark in die Öffentlichkeit drängen würde und womöglich eine Art Hype auslösen könnte. Er hatte sich erst einmal eine Art Pressestrategie gebastelt, bis er sich bereit fühlte. Für heute 16 Uhr war eine Pressekonferenz angesetzt.
Jetzt war es eine Minute nach vier.
Um 16.03 Uhr erreichte Rauscher, im Schlepptau von Frau Bodenstock, den nagelneu eingerichteten Konferenzraum, in dem ihn eine Dame und zwei Herren von den drei größten Frankfurter Zeitungen erwarteten. Sie machten einen etwas gelangweilten Eindruck. Zwei Fotografen mit Kameras in den Händen standen am Rand und schossen die ersten Bilder.
Rauscher setzte sich und nickte in die Runde.
„Können wir?“, begann der Rundschau-Mann, der einen grau melierten Vollbart und Brille trug. „Herr Rauscher, es wird gemunkelt, dass Sie bis vor Kurzem suspendiert waren.“
Rauscher war mächtig irritiert. Eine Frage, die sich auf seinen Polizeidienst bezog, hatte er nicht erwartet. „Äh, jaja, das stimmt, aber … was hat das mit meiner Funktion als Apfelwein-Botschafter zu tun?“
„Ein Polizist, der suspendiert wurde“, fuhr der Mann fort, „weil er sich nicht immer im Griff hat und für seine Alleingänge berüchtigt ist – so jedenfalls hört man es auf dem Flurfunk –, wird Botschafter der Stadt Frankfurt. Passt das zusammen?“
„Wieso nicht?“
„Haben Sie Fürsprecher in den oberen Etagen?“
Hätte er sich doch niemals auf ein solches Interview eingelassen! Er senkte den Kopf und verfluchte die Situation, aber er musste jetzt da durch. Also gute Miene zum bösen Spiel machen. Er blickte den Mann möglichst gelassen an. „Die Suspendierung ist aufgehoben. Ich habe dazugelernt. Hatte Unterstützung von einem Polizeipsychologen. Meine Gefühlsausbrüche gehören der Vergangenheit an. Ich fühle mich gut gewappnet für den neuen Job. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“ Nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, fuhr er fort: „Können wir jetzt zum Eigentlichen unseres Zusammentreffens kommen? Der neuen Aufgabe im Dezernat sehe ich sehr positiv entgegen, auch weil ich tausendprozentig hinter der Sache stehe.“
„Apropos hochprozentig“, schaltete sich die Neue-Presse-Frau ein, die in einem schicken Kostüm und roten Pumps erschienen war. „Man munkelt, dass Sie gern mal zu tief ins Gerippte – oder sollte ich besser Bembel sagen? – schauen.“
Rauscher verdrehte die Augen. Musste er sich diesen Schmus noch länger anhören? Offensichtlich! Schlechte Presse in dieser Phase, so kurz nach Eröffnung des neuen Dezernats, war Gift. Deshalb antwortete er ruhig: „Was haben Sie denn alle gegen mich? Lassen Sie doch bitte die Gerüchte Gerüchte sein und stellen Sie Fragen zum heutigen Thema. Das ist doch viel interessanter.“
„Okay. Im Vorfeld gab es herbe Kritik am neuen Dezernat“, holte der Allgemeine-Mann aus, „zu teuer, belanglos, warum überhaupt Apfelwein? Können Sie das nachvollziehen?“
„Teils, teils.“ Rauscher gab sich nun diplomatisch. Das lag ihm zwar nicht im Blut, aber darauf musste er sich im Politzirkus ohnehin einstellen. „Neues ist immer einer gewissen Kritik ausgesetzt. Das ist ja auch gut so, wenn Dinge von der Öffentlichkeit hinterfragt und nicht einfach hingenommen werden. Wir leben ja zum Glück in einer Demokratie. Aber die Bedenken werden sich legen, wenn die Argumente zum Tragen kommen.“
Der Journalist hob seine monströse rechte Augenbraue. „Welche meinen Sie?“
„Die Vorteile für die Stadt werden vielfältig sein. Der Tourismussektor wird profitieren, das Image wird noch besser, es ist gut, wenn man auf bewährte kulturelle Traditionen setzt und so weiter. Ich muss das nicht alles aufzählen, das ist doch alles hundertfach diskutiert worden.“
„Verbinden Sie persönliche Ziele oder Anliegen mit Ihrer neuen Funktion als Apfelwein-Botschafter?“, legte die Neue-Presse-Frau nach und schlug ein Bein übers andere. Sie schien es sich bequem machen zu wollen, während Rauscher das Ende des Gesprächs herbeisehnte.
„Na ja, es ist ein offenes Geheimnis: Der Mensch ist ja oft durstig und ich liebe Ebbelwoi. Eins ergibt das andere. Warum sollte ich das verschweigen? Aber wenn Sie mit Ihrer Frage ausdrücken wollen, ob ich mich persönlich bereichern oder sonst was will, dann weise ich das strikt von mir. Vielmehr geht es mir darum …“
In diesem Moment spürte Rauscher zum ersten Mal, dass er gar nicht wusste, worum es ihm eigentlich ging. Und was er diesbezüglich der Öffentlichkeit mitteilen sollte.
Er stockte, setzte ab und blickte die Interviewenden, die jeweils mit Kuli und Notizblock in der Hand vor ihm saßen, irritiert an.
„Es geht mir darum …“, hob er erneut an, doch er merkte sofort, dass er auch diesmal den Satz nicht würde beenden können. Es fehlte ihm schlicht ein Grund, ein Ziel. Er war kein Politiker, der alles mit säuselnden Floskeln schönreden oder begründen konnte. Er war weder diplomatisch versiert noch rhetorisch über die Maßen begabt. Er mochte Apfelwein. Punktum! Und genau das versuchte er nun auszudrücken. Seine Stimme schien jetzt aus weiter Ferne zu kommen: „Wissen Sie, Apfelwein, das ist für mich …“
Zu mehr kam er nicht, denn in diesem Moment klingelte sein Handy. Rauscher erkannte auf dem Display die Nummer seines Nachfolgers als Teamleiter bei der Frankfurter Mordkommission, Kollege Jan Krause. „Tut mir leid, aber da muss ich leider rangehen. Sie entschuldigen mich kurz“, sagte er zu den Journalisten, stand auf, stellte sich vor die Fensterfront und beobachtete den Main, während er den Anruf annahm.
„Hallo, Jan. Hast dich lange nicht gemeldet.“
„Hi, Andreas.“
„Was gibt’s denn? Ich bin mitten in einer Pressekon…“
„Sorry, dass ich dich störe, aber es ist dringend, ne“, fiel ihm Krause ins Wort.
„Rufst du aus dem Präsidium an?“
„Nein. Aus dem Privathaus von Joachim Adlhof. Auf dem Riedberg.“
Rauscher wurde stutzig. „Ei, was machst du denn da?“
„Du musst sofort herkommen. Das musst du dir anschauen.“
Als Rauscher auf dem Riedberg ankam, war bereits die Dämmerung über Frankfurts neuem Stadtteil mit seinen schicken Ein- und Mehrfamilienhäusern und seinen schmucken, akkurat angelegten Vorgärten eingebrochen. Er hatte die Pressekonferenz abrupt abgebrochen und war sofort losgefahren. Krause hatte am Telefon mitgenommen gewirkt.
In unmittelbarer Nähe des Hauses parkten drei Polizeifahrzeuge mit angestelltem Blaulicht. Rauscher stellte seinen Dienstwagen hinter das letzte Fahrzeug und stieg aus. Er sah sich um. Aus den Augenwinkeln erkannte er drei, vier Personen, die am Rande des rechten Nachbargrundstücks standen und sich leise unterhielten. Hin und wieder warfen sie neugierige Blicke auf Adlhofs Haus, bevor sie wieder die Köpfe zusammensteckten. Rauscher ließ seinen Blick über den Schauplatz schweifen und bemerkte eine Überwachungskamera über der Eingangstür. Im Nu zählte er drei weitere. Der Chef des Dezernats schien ein Sicherheitsmensch zu sein.
Einige Kollegen wurden auf ihn aufmerksam und näherten sich.
„Sie können hier nicht halten“, rief ihm einer von ihnen zu.
„Andreas Rauscher“, sagte der Kommissar. „Kollege Jan Krause hat mich informiert.“
„Etwa DER Rauscher?“ Die hohe Stirn des Beamten zog sich noch höher. „Sie wollte ich schon immer mal kennenlernen. Es ist mir eine Ehre.“ Er streckte Rauscher die Hand entgegen.
Rauscher ergriff sie. Der Kollege merkte, dass ihn die Situation nebenan beschäftigte. „Die lieben Nachbarn“, kommentierte er. „Damit es morgen auch schön das ganze Viertel weiß.“
„Was ist denn überhaupt los?“ Rauscher schien es angebracht, sich zu erkundigen, bevor er das Haus betrat. Unliebsame Überraschungen zu dieser Stunde waren nicht sein Fall. Doch als er das nächste Wort hörte, zuckte er unwillkürlich zusammen.
„Tötungsdelikt!“
„Doch nicht etwa …?“ Rauscher brach mitten im Satz ab, weil er die unbequeme Wahrheit nicht nur ahnte. Er wusste sie, bevor ein weiteres Wort gesprochen wurde.
„Ein Joachim Adlhof. Übel zugerichtet. Sie müssten ihn kennen“, bemerkte der Kollege.
„Kennen ist zu viel gesagt.“ Rauscher seufzte und wirkte etwas verstört. „Ich hatte in letzter Zeit beruflich mit ihm zu tun.“ Das fing ja prächtig an. So hatte er sich seinen Einstand im Dezernat nicht vorgestellt. Einen beschisseneren Beginn seiner neuen Tätigkeit hätte er sich nicht vorstellen können.
„Schlimme Sache. Sieht nach einem Verrückten aus.“ Der Polizist schüttelte den Kopf.
Rauscher nickte dem Polizisten zu. „Danke. Ich geh da jetzt rein.“
„Finden Sie das Schwein!“, rief ihm der Kollege nach.
Rauscher betrat die offenstehende Haustür und wäre beinahe gegen Ingo Thaler geprallt, der forsch aus einer Tür zu seiner Rechten kam. „Rauscher am Tatort. Wie in früheren Zeiten.“ Kollege Thaler, einer von Rauschers engsten Mitarbeitern vor seiner Suspendierung, konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Thaler war etwas kleiner als Rauscher, hatte aber in letzter Zeit um die Hüfte einige Kilo verloren, was ihm gut stand.
„Nichts ist so, wie es scheint“, korrigierte der Angesprochene. „Trotzdem schön, dich zu sehen. Wie war das Wellness-Wochenende auf Sylt?“
Thaler hatte ihm in den vorangegangen Fällen zweimal entscheidende Hilfe geleistet, ohne die Rauscher sie womöglich nicht hätte lösen können. Zudem hatte durch Thalers Recherche Rauschers Sohn Mäxchen aus den Händen seiner Entführerin befreit werden können. Somit hatte Rauscher in Thalers Schuld gestanden und sich an Weihnachten mit einem Urlaubsgutschein spendabel gezeigt.
„Traumhaft. Aber du wirst es nicht glauben, wen ich auf der Insel getroffen habe …“ Thalers Gestik verriet, dass er immer noch von dem Aufenthalt im Fünf-Sterne-Hotel schwärmte.
Rauscher dachte kurz nach. „Fällt mir niemand ein.“
„Elke und Mäxchen.“
Rauscher fühlte sich überrumpelt. „Du machst Witze!“
„Mein voller Ernst. Ihr Alter hat da ein Häuschen, weißt du, der ehemalige Polizeipräsident von Hamburg. Von da ist es ja nur ein Katzensprung auf die Insel. Wir sind uns zufällig auf der Promenade in Westerland begegnet. Quasi in die Arme gelaufen, genau vor meinem Hotel.“
„Ist ja nicht zu fassen.“
„War prima mit den beiden. Wir haben ein paar schöne Tage miteinander verbracht.“
„Und warum hast du mir bisher nichts davon erzählt?“
„Immer im Stress. Hätte ich aber noch. So lange ist es ja auch noch nicht her.“
Rauscher schüttelte den Kopf. Das konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen und wollte sich auch nicht damit befassen. Seine Aufmerksamkeit wurde von weiteren Überwachungskameras im Inneren des Hauses abgelenkt. Eine hing im Flur, eine die Treppe hoch. Adlhof schien das gesamte Haus überwachen zu lassen. Trotzdem sollte im Haus angeblich ein Mord geschehen sein.
Rauscher wechselte das Thema. „Und wie sieht es hier aus?“
In diesem Moment kam ein langer Schlaks aus einem Nebenzimmer auf die beiden zu. Es war Jan Krause.
„Moin“, sagte der Kollege, der Rauschers Job als Teamleiter während seiner Suspendierung übernommen hatte und nun von Chef Markowsky protegiert wurde, was ihm Rauscher aber nicht mehr krumm nahm. Krause war ehemaliger Hanseat, ein langer Lulatsch, drahtig und ein erfahrener Polizist. Nur in seine Rolle als Teamleiter musste er noch hineinwachsen. „Ich dachte mir, es sei nicht verkehrt, wenn du dich hier mal umschaust, ne! Immerhin hattest du ja in letzter Zeit mit dem Opfer zu tun.“