Endling - Die Suche beginnt - Katherine Applegate - E-Book
SONDERANGEBOT

Endling - Die Suche beginnt E-Book

Katherine Applegate

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Dalkin, ein Wobbyk und ein Mädchen: Freunde und Gefährten Byx ist die Jüngste im Dalkin-Rudel, und wie alle Dalkins besitzt sie eine besondere Gabe: Sie kann Lüge von Wahrheit unterscheiden. Doch in Nedarra werden die Dalkins gejagt. Den Menschen, die sich hier zur Herrschaft aufgeschwungen haben, sind die hundeähnlichen Wesen ein Dorn im Auge. Als Byx eines Tages von einem Streifzug zu ihrem Rudel zurückkehrt, geschieht das Furchtbare: Sie findet all ihre Lieben tot vor, ermordet von den Schergen des Machthabers Murdano. Ist sie nun ganz allein, die Letzte ihrer Art, der Endling? Oder gibt es doch noch, wie alte Mythen weissagen, andere Dalkins hoch im Norden des Landes? Byx macht sich auf die Suche. Es wird die unvergleichliche Reise durch ein Land voller Schönheit, aber auch Angst, wo Riesenkatzen leben, gewaltige Wasserwesen und Käfer, gigantische Vögel und Wobbyks. Und bald hat sie Gefährten an ihrer Seite. Freunde fürs Leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 380

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Byx ist die Jüngste im Dalkin-Rudel, und wie alle Dalkins besitzt sie eine besondere Gabe: Sie kann Lüge von Wahrheit unterscheiden. Doch in Nedarra werden die Dalkins gejagt. Den Menschen, die sich hier zur Herrschaft aufgeschwungen haben, sind die hundeähnlichen Wesen ein Dorn im Auge. Als Byx eines Tages von einem Streifzug zu ihrer Familie zurückkehrt, ist Furchtbares geschehen. Allein zurückgeblieben fragt sich Byx: Ist sie die Letzte ihrer Art? Der Endling? Eine Suche nach anderen Dalinks beginnt und eine Freundschaftsgeschichte, die Byx’ Leben für immer verändern wird.

 

 

 

 

Für Michael

 

 

 

 

IN DER NATUR EXISTIERT NICHTS FÜR SICH ALLEIN.

Rachel Carson, Der stumme Frühling, 1963

 

 

 

 

ENDLINGSubstantiv – end.ling – /‘en(d)-ling/

Das letzte lebende Individuum einer Art, bisweilen auch einer Unterart.

1. Die offizielle Zeremonie, bei der eine Art für ausgestorben erklärt wird; eine Eumonie.

2. (Inoffiziell) für jemanden, der eine zum Scheitern verurteilte oder sinnlose Suche unternimmt.

Kaiserlich-Amtliches Lexikon für Nedarra, 3. Auflage

  1  

ENDLING

Lange bevor ich dieses Wort gehört hatte, war ich daran gewöhnt, immer die Letzte zu sein.

Ich war der Kümmerling, die jüngste und mit Abstand kleinste unter meinen sieben Geschwistern, was bedeutete, dass ich als Letzte trinken und als Letzte fressen durfte, und auch, dass ich als Letzte Schutz fand.

Als rangniedrigstes Mitglied unseres immer kleiner werdenden Rudels begnügte ich mich ohne Groll mit meinem Platz – na ja, ohne allzu viel Groll.

Es war ja vielleicht gerecht so. Meine Schwächen und Fehler waren zahlreich, jedenfalls bekam ich das oft zu hören.

Ich war zu jung, um besonders klug zu sein, und zu klein, um viel helfen zu können.

Meine Füße waren groß und tollpatschig. Sie waren sich beim Laufen oft gegenseitig im Weg.

Mein Fell sah immer strubbelig aus, und meine Umgangsformen waren miserabel. Einmal habe ich ein ganzes Antilopenbein verschlungen, bevor ich überhaupt an der Reihe war.

Und neugierig war ich. Ich trieb mich zu weit herum, und ich grübelte zu viel.

Kurz gesagt, ich war enttäuschend in der Erfüllung der einzigen Aufgabe meines Daseins, welche darin bestand, sich wie alle anderen Dalkins die größte Mühe zu geben, still und heimlich am Leben zu bleiben.

In jenen Tagen hätte man wohl eher ein Einhorn streicheln können, als einen Dalkin zu Gesicht zu bekommen.

Unser Rudelführer Dalyntor, gebrechlich und schon weiß um die Schnauze, erzählte gern von einer Zeit, als unsere Vorfahren in großen Rudeln über die Ebenen von Nedarra zogen, Hunderte Dalkins auf einmal. Nachts taten sie sich in Familiengruppen zusammen, sammelten Wildgräser und Beeren oder brieten mal einen Dachs oder ein anderes Tier.

Doch das war lange her. Inzwischen gab es in unserem Teil der Welt nur noch wenige unserer Art, genau genommen ein einziges Rudel von vier Familien, die still und zaghaft wie die Mäuschen beisammenhockten.

Verborgen vor den Menschen, diesen unberechenbarsten aller Raubtiere.

Verborgen selbst vor der Sonne.

Manche sagten, irgendwo weit weg gebe es noch Dalkins, die in Gebirgshöhlen oder auf fernen Inseln lebten. Andere hielten solche Ansichten nur für das Ergebnis alberner Hoffnungen. Dalkins werden oft mit Hunden verwechselt, und tatsächlich haben wir körperlich viele Ähnlichkeiten.

Hunden allerdings mangelt es an einem zum Greifen ausgebildeten Daumen. Sie können auch nicht aufrecht gehen wie wir. Sie können nicht von Baum zu Baum gleiten, und sie können nicht mit Menschen sprechen.

Außerdem sind Hunde – man möge mir verzeihen – bei der Jagd nicht gerade die Hellsten, wenn ihr versteht, was ich meine.

Doch ob es nun noch andere Dalkins gab oder nicht, Dalyntor hatte die große Befürchtung, wir würden bald alle tot sein, hingeschlachtet wegen unseres warmen, seidigen Fells.

Wie die Carlisle-Robbe, die die Menschen so lange gejagt hatten, bis sie ausgestorben war.

Oder der rote Marlot, der an einer Krankheit zugrunde gegangen war.

Oder der Blauschopf-Ziguin – ausgelöscht im Zehnjährigen Krieg, durch den sein Lebensraum zerstört worden war.

Es schien viele Möglichkeiten zu geben, für immer aus der Welt gedrängt zu werden.

Wir wollten nicht glauben, dass unsere Tage gezählt waren. Wir wussten nur: Früher hatte es viele von uns gegeben, und jetzt waren wir nur noch wenige.

Meine Eltern befürchteten, ich würde als Erste umkommen, sobald wir in Schwierigkeiten gerieten, und Schwierigkeiten würden nicht lange auf sich warten lassen, das ahnten sie.

Ich war klein. Und manchmal eine Enttäuschung.

Aber ich wusste, dass ich auch mutig sein konnte. Ich hatte keine Angst davor, als Erste zu sterben.

Ich wollte nur nicht die Letzte sein, die überlebte.

Ich wollte nicht der Endling sein.

  2  

BESUCHDER BUTRILLOS

Der Anfang vom Ende ist noch nicht lange her, es war an dem Tag, an dem ein paar Butrillos zu Besuch kamen.

Am frühen Nachmittag hörte ich sie zuerst. Ich schlich mich an meiner schlafenden Familie vorbei, die zusammengekuschelt dalag wie ein einziges großes Tier.

Von Natur aus sind wir Dalkins keine nachtaktiven Wesen, trotzdem wagten wir uns immer erst lange nach Sonnenuntergang ins Freie. Zwar fürchteten wir die Riesenkatzen, die Felijagas, die bei Nacht jagten. Noch mehr aber fürchteten wir Wilderer und natürlich die Soldaten des Murdano – er war der Herrscher von Nedarra.

Aber ich war hibbelig. Und ich war sicher, dass ich draußen direkt vor dem Eingang etwas gehört hatte: ein Schwirren in der Luft, ein leichter Flügelschlag, leise nur, aber doch kräftig.

Meine Schwester Lirya gähnte und blinzelte mit einem Auge. »Ich hab solchen Hunger, ich könnte dich glatt fressen, Byx«, murmelte sie.

»Sie ist zu dürr zum Fressen«, sagte Avar, mein ältester Bruder.

Ich war es gewohnt, meine Geschwister zu ignorieren, und hörte nicht auf ihre Hänseleien.

Es kostete einige Anstrengung, mich durch den Eingang unseres derzeitigen Heims zu zwängen, einem verlassenen Mirabienen-Hügel. Er erinnerte an ein riesiges Wespennest, das auf die Erde gefallen war. Von außen hatte er die Struktur einer Honigwabe mit Löchern, groß wie Steinbrocken, und obwohl sich der Hügel steinhart anfühlte, funkelte er im Licht wie unverarbeiteter Honig. Mein Vater hatte erklärt, er bestehe aus Vulkanasche, Schwefel und Sand, vermischt mit dem Saft des Bullabaums.

Früher hatten die Dalkins in ebenem Gelände Rundcamps angelegt oder, wenn sie durch Wälder zogen, Baumnester gebaut. Das machten wir schon lange nicht mehr.

Es gab vieles, was wir nicht mehr machten. Das erklärte uns Dalyntor, unser Lehrer, der Bewahrer unserer Geschichte. Er machte immer allerhand Andeutungen, aber manches in der Geschichte der Dalkins hielt er wohl für zu brutal für unsere jungen Ohren.

Baumnester waren zu leicht zu entdecken, zu schutzlos Pfeilen ausgeliefert. Stattdessen zogen wir nun von Ort zu Ort, suchten Zuflucht in Höhlen, tiefen Schluchten oder in einem Dorngestrüpp mitten im Wald. So hinterließen wir keine Spuren unserer Anwesenheit, keinen Hinweis auf Nester oder Lagerplätze. Wir schliefen am Fuß von Klippen, an entlegenen Küsten, in verlassenen Bauten anderer Lebewesen.

Einmal hatte unser kleines Rudel die Nacht in einer geräumigen, nicht mehr genutzten Jagdhütte verbracht. Nie zuvor war ich so nah an Menschen herangekommen, die zu den sechs großen überlegenen Arten gehörten. Diese sechs Arten – Menschen, Dalkins, Felijagas, Natintjes, Terra-Olme und Raptidons – hatten einst als die mächtigsten in unserem Land gegolten. Inzwischen aber wurden alle, auch die Menschen, von dem tyrannischen Murdano beherrscht.

Von den anderen großen Arten war ich nur mit zweien in Berührung gekommen. Einmal hatte ich Felijagas gewittert, riesengroße anmutige Katzen, die lautlos durch die finsterste Nacht schleichen konnten. Keiner hört sie. Und auch Raptidons hatte ich gesehen, die Herrscher der Lüfte, die Bögen durch die Wolken schneiden.

Nie hatte ich einen Natintje zu Gesicht bekommen.

Nie ein Gewimmel von Terra-Olmen – glücklicherweise nie.

Und nie einen Menschen.

Trotzdem wusste ich einiges über Menschen. Dalyntor hatte uns jungen Dalkins von ihnen erzählt und dabei Strichmännchen auf ein getrocknetes Playablatt gemalt. Von ihm hatte ich gelernt, dass Menschen zwei Augen haben, eine Nase und einen Mund voll stumpfer Zähne. Ich erfuhr auch, dass sie bei aufrechter Haltung größer sind als wir Dalkins, wenn auch nicht sehr viel. Außerdem lernte ich eine Menge über ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihre Dörfer und Städte, ihre Kultur, ihre Waffen, ihre Sprachen und die Art, wie sie Zeit und Entfernung messen.

Und am wichtigsten: Ich lernte, dass den Menschen nie zu trauen ist und man sie immer fürchten muss.

Ich trat aus dem Mirabienen-Hügel hinaus ins Licht der schräg stehenden Sonne.

Hier hörte ich das Geräusch lauter – und dann sah ich sie über dem Bau.

Butrillos!

Vier waren es, jedes mindestens drei Schwanz breit und ebenso lang. Durch die Bewegungen ihrer schimmernden Flügel zauberten sie Regenbögen aus dem Licht, das durch die Bäume fiel. Sie hatten wohl gedacht, dass hier noch Mirabienen lebten, denn Butrillos waren große Honigliebhaber – und ebenso große Diebe dazu.

Trotz des heftigen Windes bereitete es ihnen keine Mühe, sich ruhig in der Luft zu halten wie riesige Kolibris.

»Byx.« Die sanfte Stimme hinter mir klang halb besorgt, halb tadelnd. Ich drehte mich um und sah, dass meine Mutter mir gefolgt war. Sie wirkte erschöpft, ihr dunkelgoldenes Fell war zerzaust, ihr Schwanz schlaff.

»Butrillos, Maia!«, flüsterte ich.

Sie folgte meinem Blick. »Wie schön! Ich vermute, sie sind auf dem Weg nach Norden. Für sie beginnt jetzt die Zeit der Wanderung.«

»Könnte ich doch auch weg von hier!«

»Ich weiß, Byx, dieses Leben ist manchmal schwer.« Sie strich mir über den Rücken. »Besonders für euch Kleine.«

»Ich bin nicht klein!«

Meine Mutter stupste mich mit der Nase an. »So klein nicht mehr, das stimmt.«

Ich seufzte und lehnte mich an sie. Bei ihr war es warm und sicher.

»Mir ist so langweilig, Maia. Ich will Spaß haben. Rumtollen. MeinemSchwanz nachjagen. Neues kennenlernen. Abenteuer erleben und mutig und tapfer sein.«

»Es ist nicht nötig, sich nach mutigen Taten zu drängen«, sagte sie leise. »Ganz und gar nicht nötig.«

»Die Großen nennen mich immer Zwerg. Und Welpe«, beschwerte ich mich. »Immer sagen sie, ich frage zu viel.« Ich genoss es fast, mich ein bisschen zu bedauern. »Ich kann mich überhaupt nicht leiden!«

»Byx«, sagte meine Mutter, »so was darfst du nie sagen. Dich gibt es nur ein einziges Mal auf der ganzen weiten Welt. Und mir gefällt es, dass du so viele Fragen hast. Nur so kann man etwas lernen.« Sie schwieg eine Weile. »Ich will dir was sagen. Etwas, das noch keins deiner Geschwister weiß.«

Ich spitzte die Ohren, hellwach.

»Letzte Nacht hat es eine Versammlung der Erwachsenen gegeben. Wir werden diesen Ort heute bei Sonnenuntergang verlassen. Richtung Norden wie die Butrillos. Myxo wird uns führen. Sie meint, hier im Süden haben wir nun lange genug gesucht.«

Myxo war unsere Pfadfinderin. Sie hatte von allen in unserem Rudel die feinste Nase, die am besten ausgeprägten Instinkte und war auf der Suche nach anderen Dalkin-Rudeln schon weit herumgekommen. Gerüchteweise hatten wir immer wieder gehört, es seien Dalkins gesichtet worden, doch das hatte sich nie bestätigt. Unser Rudel war inzwischen auf neunundzwanzig Mitglieder geschrumpft.

»Das wird ein großer Auszug«, sagte meine Mutter. »Die Abwanderung unserer ganzen Art sozusagen. Wir wollen uns auf die Suche nach den Dalkins der Ersten Kolonie machen.«

»Aber Dalyntor hat doch gesagt, dass es die schon lange nicht mehr gibt.« Ich dachte an die Schulstunden über die Erste Kolonie, diese allererste Gruppe Dalkins, die vor langer Zeit nach Nedarra eingewandert war. Wir mussten damals ein Gedicht auswendig lernen – ein ungewöhnlich langes Gedicht.

Ich lerne wirklich gern, lieber als die anderen in meiner Familie. Doch selbst ich muss zugeben, dass dieses Gedicht wohl das langweiligste war, das es gab:

Sing, o Dichter

von den Ahnen, den tapferen Dalkins,

die tückische, wilde Berge bezwangen,

über eiskalte Meere des Nordens sich wagten

nach Dalkinholm, der lebenden Insel,

dem schwimmenden Juwel.

An mehr kann ich mich nicht erinnern. Hätte Dalyntor uns nicht Landkarten zeichnen lassen, während er das Gedicht vortrug, wäre ich glatt eingeschlafen. Den meisten anderen war das nämlich passiert.

»Maia?«, sagte ich. »Glaubst du wirklich, es könnte noch eine Kolonie im Norden geben?«

Meine Mutter blickte über die Wiese auf den dunklen, windgebeugten Wald und schwieg lange. »Unmöglich ist es nicht«, sagte sie schließlich.

Dalkins lügen nie. Es wäre auch zwecklos, da wir jede Unwahrheit sofort erkennen – nicht nur bei Dalkins, sondern bei allen Lebewesen.

Keine der anderen Arten besitzt diese Fähigkeit. Dalyntor nannte sie oft »unsere beschwerliche Gabe« – wenn ich auch nicht verstand, was er damit meinte.

Wenn wir Dalkins auch nicht lügen, ist es doch so, dass wir uns manchmal etwas sehr wünschen.

»Aber du glaubst es nicht?«, bohrte ich nach, obwohl ich ihre Antwort schon kannte.

»Nein, meine Liebe.« Es war fast ein Flüstern. »Aber wer weiß, vielleicht irre ich mich.«

»Ganz bestimmt irrst du dich. Ich wette, wir finden Hunderte Dalkins. Tausende sogar!« Ich unterbrach mich. »Es ist doch nicht falsch zu hoffen, oder?«

»Hoffen, Byx, ist nie falsch«, versicherte meine Mutter. »Es sei denn, die Wahrheit sagt etwas anderes.« Sie gab mir noch einen Nasenstüber. »Aber jetzt versuch wieder zu schlafen. Vor uns liegt ein langer Nachtmarsch.«

Die Butrillos kreisten noch immer über uns, senkten und drehten sich in der Luft. »Nur noch ein paar Minuten, Maia«, bettelte ich. »Sie sind so hübsch.«

»Aber nicht zu lange«, sagte sie. »Und keine Ausflüge, hörst du?« Sie drehte sich um, zögerte. »Ich hab dich lieb, meine Kleine«, sagte sie. »Vergiss das nie.«

»Ich hab dich auch lieb, Maia.«

Es verging eine Weile, bevor die Butrillos davonflogen. Vielleicht wunderten sie sich, dass sie hier auf Dalkins gestoßen waren. Vielleicht freuten sie sich aber auch einfach an der warmen Luft, die von dem sonnenbeschienenen Bau aufstieg.

Als ich mich wieder dem Eingang zuwandte, erregte etwas meine Aufmerksamkeit, etwas Ungewöhnliches, das ich nicht recht einordnen konnte.

Kein Geräusch eigentlich, auch kein Geruch.

Mehr eine Ahnung.

Ich machte ein paar Schritte auf die kleine Wiese zu, die mich von der dunklen Baumreihe trennte. Dahinter lag das Meer.

Ich prüfte die Gerüche, die der Wind herantrug. Die Luft war schwer von Geschichten.

War das Treefox, das mir in die Nase stieg? Brindalet? In dem schnell die Richtung wechselnden Wind ließen sich Gerüche nicht gut bestimmen.

Der Wald rief nach mir, zwang mich lautlos und doch drängend, näher zu kommen. Goldene Lichtsäulen standen zwischen den Bäumen. Noch nie war ich bei Tageslicht hier gewesen, immer nur in tiefster Nacht.

Nein, sagte ich mir. Es war verboten, uns vom Rudel zu entfernen, tagsüber besonders. Ich hatte auch keine Sondererlaubnis.

Aber eigentlich entfernte ich mich ja nicht – nicht sehr weit jedenfalls.

Einmal hatte ich mich bis zu einem kleinen Fluss gewagt, in dem grüne Blasen sprudelten. Ein andermal hatte ich ein freundliches Zebrahörnchen und seine Babys getroffen. Und gestern war ich bei einer Stelle mit Sternblumen gewesen, wo es nach Salbei und Meer duftete. Eine wunderbare Stelle zum Schwanzjagen.

Ich ging nie große Risiken ein. Entfernte mich nie weit vom Bau. Aber wie konnte ich denn die Welt kennenlernen, wenn ich sie nie zu Gesicht bekam?

Ich wusste, dass ich nicht weitergehen sollte. Doch bevor wir weiterzogen, bevor wir uns zum nächsten düsteren Ort aufmachten – wäre es da nicht wunderbar, das Meer wenigstens einmal bei Tageslicht zu sehen? Ich hatte es immer nur bei Sternenlicht erlebt.

Meine Mutter war inzwischen wieder im Bau. Ich prüfte den auffrischenden Wind: keine Gefahr.

Das Überqueren der Wiese würde nur ein paar Minuten dauern, wenn ich mich beim Laufen auf alle viere niederließ. Ein paar Minuten mehr, und ich würde die bedrohliche und doch so verlockende Wand aus Bäumen hinter mich gebracht haben.

Einen Moment nur, sagte ich mir. Nur kurz zuschauen, wie die Sonne auf dem Wasser tanzt.

Einen Moment nur oder zwei, dann wollte ich umkehren – und niemand würde mich vermisst haben.

  3  

DAS BOOT

Aus dem hoch aufragenden Wald kam ich auf einen gewundenen Pfad. Die Bäume hielten Abstand zum Klippenrand, als hätten sie Höhenangst.

Das Gras war warm und trocken, fast spröde. Es fühlte sich ganz anders an als Nachtgras, das kühl und taufeucht war.

Ich stieß auf die Reste eines uralten Gebäudes, plump und halb zerfallen. Ein Wachturm vermutlich. Dalyntor hatte uns ein wenig über menschliche Ansiedlungen beigebracht. Manche seien beeindruckend, hatte er gesagt. Andere beeindruckend hässlich.

Ich kletterte über die großen, roh behauenen Steine, die eine primitive Treppe bildeten. Oben angekommen stand ich in einer efeuüberwucherten Nische, die wahrscheinlich einmal von Bogenschützen genutzt worden war.

Und da lag es vor mir: das Meer.

Ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.

Das hier war kein friedlich gekräuselter See. Kein geschäftiger, melodisch dahinplätschernder Bach. Das Meer dehnte sich in unendliche Weiten, war Ehrfurcht gebietend und grenzenlos wie der Himmel. Ein Heer von Wellen rückte gegen die Küste vor und fiel in weißen Gischtschwaden krachend in sich zusammen. Schwarze, silbrig gemaserte Felsen – man nannte sie »Haifischzähne«, wie ich gehört hatte – durchbohrten das Ufer wie funkelnde Schwerter.

Das Rauschen und Rollen der Brandung war ohrenbetäubend. Mir war, als würde ich in den vielen rätselhaften Gerüchen ertrinken.

Der Wind wurde stürmisch. Meine Ohren lagen flach am Kopf, und meine Augen brannten. Ich sah zum Himmel und bemerkte eine heranziehende Wand stahlgrauer Wolken. Ein Sturm zog auf.

Rechts von mir schwang sich eine Klippe in großem Bogen ins Meer hinaus, nichts als schroffer Stein, fortwährend bedrängt von den unerbittlichen Wellen. Links von mir endete der Bogen in einem vorspringenden Felsenfinger. Am äußersten Ende dieser schräg abfallenden Halbinsel stand ein knorriger, blattloser Baum.

Erst jetzt entdeckte ich das Ruderboot und seinen einsamen Insassen.

Viel ließ sich nicht erkennen, denn das kleine Boot hüpfte mehr wie ein Spielzeug auf den graugrünen Wogen umher. Mit jedem Wellenschlag geriet es näher an die Klippen heran. Es würde zu Kleinholz zersplittern, sobald es dagegenprallte.

Ich musste blinzeln, um sicherzugehen, dass tatsächlich ein Lebewesen in dem Boot war. Ich wünschte, ich könnte das Tier riechen, da doch der Geruchssinn sehr viel genauer als das Sehvermögen ist, jedenfalls bei uns Dalkins. Doch obwohl ich mir die größte Mühe gab, die Gerüche der Luft zu entziffern – ich roch nichts als das vertrackte Meer.

Aber irgendetwas war in diesem Ruderboot. Etwas Kleines, Braunes, das sinnloserweise versuchte zu paddeln. Konnte es vielleicht …? Fast war ich mir sicher: Es musste ein Wobbyk sein!

»Was macht ein Wobbyk in einem Ruderboot?«, überlegte ich laut.

Das Dröhnen und Tosen der Meeresbrandung war ohrenbetäubend, trotzdem meinte ich, einen schwachen, verzweifelten Hilferuf gehört zu haben.

Verzweiflung in einer solchen Lage, das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Wenn ich auch den Insassen des winzigen Bootes nicht deutlich erkennen konnte, eins war klar: Ob Wobbyk oder irgendein anderes Lebewesen, wer immer in diesem Boot saß, war zum Tod verurteilt.

  4  

EIN HILFERUF

Das winzige Boot mit seinem noch winzigeren Insassen wurde wie von einer gewaltigen Wasserschaufel emporgehoben und immer weiter gegen die drohend aufragenden Klippen geschleudert.

Ich hielt die Luft an. Ich wollte nicht hinsehen. Ich wollte es nicht wissen. Der Tod war nur Sekunden entfernt.

Doch zu meiner Überraschung zeigte dasselbe Meer, das das Boot vorwärtsgetrieben hatte, vorübergehend Erbarmen und zog es nun plötzlich zurück, ein Stück weg von den Klippen.

Aber nicht weit genug. Es würde nur ein kleiner Aufschub sein. Noch eine Welle, vielleicht zwei, höchstens drei, und der Wobbyk – ich war jetzt sicher, dass es sich um einen handelte – wäre tot.

Einmal, ich war damals noch sehr klein, hatte uns unsere Mutter eine Mahlzeit aus Wobbykfleisch zubereitet. Wir hatten viel zu lange von Gras und Larven gelebt, und so war es seit Ewigkeiten das erste Fleisch. Wären wir damals nicht so hungrig gewesen, hätte es uns bestimmt nicht geschmeckt, und doch ließ mir die Erinnerung daran auch jetzt noch das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Trotzdem, auch wenn Wobbykfleisch eine zwar unbefriedigende, doch gesunde Zukost zu einer faden Diät sein kann, dachte ich nicht daran, ihn zu fressen. Ich wollte seinen Tod nicht. (Ehrlich gesagt war ich ein miserabler und viel zu weichherziger Jäger. Bis auf ein paar Käfer hatte ich eigentlich noch nie etwas getötet.) Statt also den Wobbyk als Beute zu betrachten, stellte ich verwundert fest, dass ich längst fieberhaft über einen Rettungsplan nachdachte, dass ich Winkel prüfte, den Grad des Gefälles und das vermutliche Gewicht der kleinen Gestalt abschätzte.

Währenddessen schaute der Wobbyk verzweifelt zu mir herauf, sein Mund klappte ständig auf und zu.

Ich hörte ein schwaches »Hilfe!«. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber im Grunde genommen war keine Einbildungskraft nötig, um die Angst zu sehen, die kleinen, fieberhaft gestikulierenden Pfoten.

»Ich kann doch nicht!«, rief ich hinunter, und meine Worte kamen zurückgeflogen wie Blätter im Wind.

»Vielleicht ginge es ja mit meinen Gleitflügeln«, überlegte ich, mit diesen dünnen Hautfalten im Fell, die wir Dalkins für kurze Flüge nutzen können. Wer weiß, mit einem perfekten Timing könnte ich den Wobbyk womöglich zu fassen kriegen.

Aber es müsste glatt ein Wunder geschehen, damit ich ihn dann auch noch tragen könnte.

Und weit ginge es sowieso nicht. Ein paar Meter höchstens. Vielleicht würde es reichen, um …

Das Meer zog sich wieder zurück und hinterließ in einer Felsspalte einen schmalen Streifen Sand.

Nein, der perfekte Moment war unmöglich abzupassen.

Der Wobbyk sah mich an, rief Worte, die ich nicht hören konnte. Er flehte um sein Leben.

Von meinem Vater stammte die Redensart: Nicht immer kommt ans Ziel, wer rennt. Das sagte er oft zu mir, und er meinte damit: Denk erst nach, bevor du etwas tust.

Also dachte ich nach.

Einerseits würde ich möglicherweise ums Leben kommen.

Andererseits – was für eine großartige Geschichte könnte ich am Feuer erzählen. Wie beeindruckt würden meine Geschwister sein!

Und drittens dann … doch hier hielt ich abrupt inne.

Ich war so in Anspruch genommen vom Schicksal des Wobbyks, dass ich einen Moment brauchte, um den süßlichen Geruch gezähmter Hunde zu registrieren und gleich darauf die unverkennbare, strenge Ausdünstung von Pferden.

Der dritte Geruch jedoch traf mich wie ein Schlag – er war neu, fremd.

Fremd, aber doch einzuordnen.

Es gab nur eine der großen Arten, die in Gesellschaft von Hunden und Pferden unterwegs war.

In meinen Fußballen spürte ich das Vibrieren von Hufgetrappel. Ich wandte mich nach den Bäumen um und sah erschreckte Vögel aufflattern.

Wie konnten mir derart eindeutige Gerüche entgangen sein? Lag es an der feuchten Luft im Wald? Am Sturm? An dem ertrinkenden Wobbyk, der mich abgelenkt hatte?

Plötzlich hörte ich unseren Warnruf: den hohen durchdringenden Schrei, mit dem wir uns gegenseitig vor drohender Gefahr warnten.

Aber merkwürdig, er war nicht von einem Dalkin gekommen. Die Tonlage stimmte nicht ganz. War es ein menschlicher Schrei gewesen?

Zwischen den dicht stehenden Bäumen hinter mir entstand eine Lücke. Pferde brachen hindurch. Und auf diesen Pferden saßen … ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber es mussten wohl Menschen sein.

Die Männer waren gigantisch, ihre Arme und Beine stärker, als ich es erwartet hatte, ihre Schreie bedrohlicher.

Konnten sie zu den Soldaten des Murdano gehören?

Blitzartig stieg mir ein Reim in den Kopf, den uns Dalyntor eingeschärft hatte: »Erblickst du Silber und Rot – Dalkin lauf, sonst bist du tot!«

Die Kleidung dieser Menschen dort am Waldrand bestand aus einem Durcheinander von Braun und Grau. Ihre Waffen waren nicht einheitlich, und zwei ihrer Pferde waren mit zusammengebündelten Fellen und Tierhäuten bepackt.

Wilderer.

Da schrie dieselbe Stimme, die vorher Gefahr signalisiert hatte: »Nein! Nein! Nicht töten!«

Der Anführer der Wilderer, einen großen Jagdbogen in der Linken, ritt ein gewaltiges schwarz-weiß geschecktes Pferd. Sowohl Mann wie Tier starrten zu mir herüber – in tödlicher Absicht.

Mit der rechten Hand pflückte der Mann einen Pfeil aus seinem Köcher, und blitzschnell hatte er angelegt und die Sehne gespannt.

»Nein!«, schrie ich.

Mein Herz klopfte wild und unregelmäßig.

Starr vor Schreck sah ich, wie sich die Muskeln des Mannes langsam spannten und die Bogensehne nach hinten zogen.

Seine Augen sahen nur mich.

Ich sah nichts als die blitzende Pfeilspitze. Die sich lösenden Finger. Die zurückschnellende Bogensehne.

Und da sprang ich.

  5  

SEENOTRETTUNG

Dalkins können nicht fliegen.

Gegen die Anziehungskraft der Erde kommen wir nicht an, aber wir können ein Stück durch die Luft gleiten. So lassen sich harte Stürze abschwächen und in sanfte bogenförmige Gleitflüge verwandeln.

Ich spreizte die Vorderbeine, sodass sich meine Hautfalten zum Gleiten aufspannten. Meine tödlichen, zehn Zentimeter langen Krallen an den Hinterläufen stemmte ich fest in das bröckelige Gestein, stieß mich ab und schwang mich der brodelnd aufziehenden Wolkenwand entgegen.

Um mich herum zerschnitten Pfeile die Luft wie todbringender Regen.

Ich nutzte den Wind.

Die Spitze einer der Haifischzahn-Klippen streifte knapp meinen Schwanz, aber schon hatte mich der stürmische Wind ergriffen und in die Höhe getrieben.

Am Rand der Klippen tänzelten schnaubende, sich aufbäumende Pferde. Wütende Menschengesichter starrten zu mir herüber. Eiskalt abschätzende Augen suchten nach geeigneten Flugbahnen für ihre Bogengeschosse.

Ein Pfeil sauste schneller als ein Raptidon im Sturzflug vorüber. Er kam mir so nahe, dass ich die Farbe der Federn erkennen konnte, das Muster auf dem Schaft, die dreigezackte Spitze. Sogar die feine Schnur konnte ich sehen, mit der sie mich im Fall eines Treffers zu sich heranschleifen würden.

Es war der Pfeil eines Wilderers.

Durch eine leichte Drehung meiner Gleitflügel steigerte ich das Tempo und riskierte einen Sturzflug.

Weit unter mir und ebenso weit voraus balancierte der Wobbyk in seinem Boot, heftig winkend, Mund und Augen aufgerissen.

Das Boot wurde jetzt von der bisher größten Welle emporgerissen. Da drehte ich etwas nach links und visierte mein schwankendes Ziel an.

Gerade als ich spürte, dass mein Gleitflug nicht mehr lange anhalten würde, krachte das Boot gegen eine der schwarzen Felsensäulen, dass das Holz zersplitterte.

Der Wobbyk schrie auf. Diesmal hatte ich kein Problem, ihn zu hören.

Er war mit einem Satz hochgesprungen. Nicht sehr hoch – Wobbyks sind kleine, pummelige Wesen –, aber hoch genug.

Vielleicht.

Ich glitt schneller dahin als je zuvor. Zwischen uns schwirrte ein Pfeil vorüber. Im selben Augenblick, als der Wobbyk ins Trudeln geriet, duckte ich mich unter der Fangschnur des Pfeils hindurch.

Ich zog meine Gleitflügel etwas ein und ließ mich sinken.

Verzweifelt reckte sich der Wobbyk mir entgegen.

»Hier!«, schrie er.

Ich griff nach einer Pfote.

Das zusätzliche Gewicht fühlte sich an wie der Stoß gegen eine Mauer. Dalkins können im Gleitflug nichts Schweres tragen. Ich überschlug mich in der Luft, ich taumelte und stürzte. Doch der Schwung trug uns weiter, gerade wich auch das Meer zurück, und endlich, endlich konnte ich die schmale, V-förmige Stelle Sand unter uns sehen.

In einem Knäuel rollten wir durch hoch aufspritzende Brandungswellen, die an uns zerrten und uns in die Tiefe reißen wollten.

Mit dem einen Fuß fand ich irgendwie Halt im nassen Sand. Dann mit dem zweiten Fuß, und erst jetzt merkte ich verwundert, dass ich noch immer den Wobbyk an der Pfote hielt und er mich.

Als ich das Gleichgewicht verlor, fielen wir beide in die Brandung. Ich bekam Salzwasser in die Lungen und hustete.

Ich überlegte, ob ich sterben würde.

Ich überlegte, ob meine Eltern dann böse auf mich wären.

Das Wasser kam schnell wieder näher, es würde uns mit geballter Kraft gegen die Klippenwand schmettern. Die ersten dicken Regentropfen fielen.

»Rauf da!«, keuchte ich. »Kletter!«

Schwarzes Felsgestein türmte sich über uns, es würde jeden Moment unter Wasser stehen. Hektisch suchten wir mit unseren Krallen nach Halt, scharrten, tasteten, rutschten ab, kletterten, schürften uns Ellbogen und Knie auf.

Ich schob den Wobbyk vor mir her.

Die nächste Welle brach herein, überrollte mich, riss mich mit sich. Ich kam gegen ihre Gewalt nicht an, mein Paddeln war vergeblich, meine Orientierung verloren.

Das war’s also.

So würde mein Leben enden.

Ich war von schäumender Gischt eingehüllt, hatte den Mund voll Salzwasser und musste schlucken, schlucken, schlucken.

Aber dann spürte ich es.

Etwas packte mich am Nackenfell.

Eine kleine Pfote, ein schwacher Griff, doch er reichte, um mir noch einen Augenblick Leben zu verschaffen.

In diesem geschenkten Sekundenbruchteil fand ich Halt, erst mit den Händen, dann mit den Füßen. Ich ruderte panisch mit Armen und Beinen, gleichgültig gegen Stöße und Verletzungen – und endlich tauchte mein Kopf aus dem Wasser.

Luft. Ja. Luft.

Ich kletterte weiter. Über mir kletterte der Wobbyk.

»Vorsicht!«, schrie er. Ein Pfeil prallte gegen den Felsen, so dicht neben mir, dass er das Fell an meinem Ohr zerfetzte.

Sekunden später ließen wir uns auf der anderen Seite des Felsvorsprungs hinabfallen, wo uns kein Pfeil mehr treffen konnte.

Hier würden uns die Wilderer nicht erreichen, es sei denn, sie trieben ihre Pferde hinunter zur Grasfläche und dann durch die tiefe Schlucht zwischen den Klippen.

Ein Blitz erhellte den Himmel. Die schwarzen Wolken rissen auf und überschütteten uns mit eisigem Regen.

Ich sah den Wobbyk an. Der Wobbyk sah mich an.

Wir atmeten auf.

  6  

UNDDUBISTEIN …?

Sei gegrüßt«, sagte der Wobbyk. »Es war ausgesprochen freundlich von dir, mich zu retten.« Wobbyks sind bekannt für ihre besondere Höflichkeit.

Mir war nicht nach höflichem Gespräch zumute.

Ich war klitschnass, ich fror, ich bibberte vor Kälte. Und fühlte mich alles andere als sicher.

Ich schüttelte den Kopf, versuchte, mich zu konzentrieren.

Die Klippe. Die Wilderer. Die Pfeile.

Noch einmal spulte mein aufgewühltes Hirn die Einzelheiten meines verzweifelten Sprungs ab. Ich hatte das Gefühl, dass ich diese Szene noch viele Male in Träumen erleben würde – in Albträumen, aus denen man keuchend und schweißgebadet aufschreckt.

Der Wolkenbruch durchnässte uns bis auf die Knochen. Blitze zuckten durch die Wolken, Donnerschläge übertönten das Tosen der See.

Ich blinzelte den Regen aus den Augen und musterte den Wobbyk. Er war klein, nicht einmal halb so groß wie ich, und sah irgendwie komisch aus, erst recht in seinem tropfnassen Zustand. Sein silberblaues Fell war wie aus dem Wasser gezogen, ebenso seine drei Schwänze. Große weiße, ovale Ohren ragten wie Riesenflügel aus seinem Kopf.

Alles andere an ihm war rundlich: runder Kopf; runder vorgewölbter Bauch; runde Augen, groß und glänzend wie Flusskiesel. Selbst seine Pfoten, ebenso weiß wie Ohren und Schnauze, waren rund wie Seerosenblätter. Seine untere Gesichtshälfte erinnerte mich an einen Fuchs, die schwarze Nase, die langen Tasthaare und der etwas aufwärtsgerichtete Mund – wie ein Fuchs, der andauernd amüsiert aussah. Er hatte einen tief sitzenden Ledergürtel um seinen dicken Bauch. Daran befestigt war ein kleiner Beutel, der sich mit einer Kordel zusammenziehen ließ.

»Wir müssen uns verstecken«, sagte der Wobbyk. »Womöglich sind sie immer noch hinter uns her.«

Mein Körper war vor Angst ganz schwerfällig geworden, doch mit einem Seufzer zwang ich mich, aufrecht zu stehen. Der Wobbyk hatte recht. Wir mussten weiter.

Wir suchten uns einen Weg über die Felsen abwärts zu einem Streifen Sandstrand.

»Halte dich in der Brandung«, sagte ich. »Dort hinterlassen wir keine Spuren.« Wir Dalkins sind Meister im Spurenverwischen.

»Ob ich wohl … dürfte ich mich wohl erkundigen, ob du einen Plan hast?«

»Pfeilen aus dem Weg gehen, das ist mein Plan!«, fuhr ich ihn an.

Der Wobbyk schwieg und ließ den Kopf hängen. Er tat mir ein bisschen leid, deshalb fügte ich hinzu: »Lass uns da vorn den Schieferfelsen anpeilen. Dort sind unsere Spuren hoffentlich nicht so deutlich zu sehen wie hier im Sand. Wir klettern an der Seite rauf, wo er abgebrochen ist, und gehen dann durch den Wald. Ich muss wieder zu meiner Familie.«

»Im Moment sehe ich keinen, der uns verfolgt.«

»Und ich rieche keinen«, erwiderte ich keuchend. »Aber der starke Regen dämpft Geräusche wie Gerüche. Wir müssen so schnell wie möglich hier weg.«

»Ich heiße Tobble«, sagte der Wobbyk. »Ich bin dir äußerst dankbar und möchte dir keinesfalls zur Last fallen.«

»Zu spät«, sagte ich halb im Scherz.

Ich durfte nicht vergessen, dass es ja nicht der Wobbyk war, der die Wilderer hergeführt hatte.

Allerdings hatte er sich die größte Mühe gegeben, mit seinem Boot geradewegs gegen eine Klippe zu rudern.

»Wie, um aller Ahnen willen, kommst du in ein Ruderboot?«, fragte ich.

»Ich war Gefangener auf einem Piratenschiff.«

Ich blinzelte. »Hast du grade gesagt …«

»Piratenschiff, ja«, versicherte der Wobbyk.

»Und wie kommt ein Wobbyk mit Piraten in Kontakt?«

»Auf dem üblichen Weg.«

»Dem üblichen Weg?«, fragte ich. »Wie kann es denn üblich sein, von Piraten gefangen genommen zu werden?«

»Na, wenn du Sticklerfische angelst und das Boot voll hast, kannst du sicher sein, dass Piraten dir deine Ladung abnehmen wollen«, sagte Tobble. Er zog die Schultern hoch. »Sogar Piraten mögen gebratenen Stickler.«

»Wirklich?«

»Ja, sicher! Meine Brüder konnten noch vom Boot springen, aber ich hab mich im Netz verheddert, und da haben sie mich zurückgelassen.« Anscheinend war dieser Wobbyk nicht einmal empört darüber, aber als er mein kritisches Stirnrunzeln sah, ergänzte er: »Ich bin der Jüngste. Meine Brüder übersehen mich eben oft.«

Da hatten wir etwas gemeinsam.

Tobble musterte mich von Kopf bis Fuß. Dabei hielt er den Kopf so schief, dass er fast seine Schulter berührte.

»Wäre es wohl unhöflich zu fragen, was für eine Art Tier du bist? Du siehst aus wie ein Hund, aber du gehst aufrecht und kannst sprechen …«

»Hund?«, wiederholte ich. »Machst du Witze?«

»Also was bist du dann?«

»Hungrig vor allen Dingen. Außerdem steif vor Kälte. Und pitschnass.«

»Ich bin auch hungrig. Und ich bin ein Wobbyk.«

»Und ich ein Dalkin. Das ist doch wohl klar.« Ich sagte es mit dem ganzen Stolz, den ich aufbringen konnte.

Tobble brach in Gelächter aus, ein hohes, fast trillerndes Gelächter. Wobbyks sind auch beim Lachen komisch. »Ja, und ich bin ein vierköpfiger Waldkobold.« Er kniff die Augen zusammen. »Familie der Wölfe? Schon eher. Aber dein Fell ist golden und viel feiner als das von Wölfen. Hmm. Du kannst durch die Luft fliegen wie ein Gleithörnchen. Du hast einen Beutel wie ein Beuteltier. Deine Hände haben Daumen, aber deine Füße sehen aus wie Hundepfoten. Du kannst aufrecht gehen, und du bist weiblich.«

»Danke, dass du aufzählst, was jeder sehen kann.«

»Du hast beinahe etwas Menschliches an dir.« Tobble umkreiste mich, während wir weitergingen. »Andererseits habe ich gerade miterlebt, wie Menschen dich töten wollten.« Wieder kippte sein Kopf zur Seite. »Aber Menschen sind ja bekannt dafür, dass sie sich gegenseitig umbringen.«

»Ich bin ein Dalkin«, wiederholte ich entschieden. »Und du bist ein Wobbyk. Und um das mal festzuhalten: Dalkins fressen Wobbyks.«

Tobble schnaubte verächtlich. »Dalkins gibt es nicht mehr«, sagte er mit der gleichen Überzeugung, mit der er festgestellt hätte, dass Wasser nass ist. Was natürlich richtig war.

»Und doch stehe ich hier vor dir, nass, frierend und hungrig. Zugegeben, wir sind nicht mehr so viele wie früher. Aber ich kann dir versichern, dass ich genau weiß, was ich bin.«

Wir mühten uns an der abgebrochenen Klippenseite hinauf und tauchten schließlich im Schatten der Bäume unter. Es regnete immer noch, aber das Dach der Äste und Zweige schützte uns.

»Das verstehe ich nicht«, fuhr Tobble fort. »Dalkins … Dalkins gibt es doch gar nicht mehr.« Er sprach so leise, als würde er mir eine Grusel-Gutenachtgeschichte erzählen. »Das hat mein Vater immer gesagt. Mein Großvater. Mein Urgroßvater. Du bist – entschuldige den Ausdruck, ich weiß, es klingt bitter – du bist ausgestorben.«

Ich blieb stehen und richtete mich so hoch auf wie möglich. Bei voller Größe überragte ich diesen kleinen Wobbyk um ein ganzes Stück. »So! Jetzt bin ich mir sicher, dass ich dich fressen werde.«

»Du hast mir das Leben gerettet. Du kannst mich nicht fressen.«

»Warum denn nicht? Wenn ich gar nicht existiere, kann ich auch nicht an irgendwelche Regeln gebunden sein, oder?« Mein Flüstern war zu laut geworden, ich musste mich in Acht nehmen.

»Das macht man einfach nicht. Es ist unhöflich.« Tobble drehte den Kopf, nahm einen seiner Schwänze und leckte ihn ab. »Was waren das für welche, die dich töten wollten?«

»Wilderer«, sagte ich. »Aber du lenkst vom Thema ab.«

»Danke, dass du jetzt auch feststellst, was offensichtlich ist.« Tobble lächelte. »Wilderer kümmern sich kaum um Wobbyks.«

»Wahrscheinlich weil ihr wie Schildkröte schmeckt.«

»Ich weiß nicht, ob ich mich nun gekränkt oder erleichtert fühlen soll.«

»Uns töten sie wegen unseres Fells«, erklärte ich.

»Darf ich mal?«, fragte Tobble und deutete auf meinen Arm. Als ich mit den Schultern zuckte, strich er schüchtern über mein Fell. »Sogar feucht fühlt es sich ungewöhnlich weich an«, staunte er.

»Mein Vater sagt, heutzutage versucht alle Welt, Dalkins zu töten.«

Ein Zweig knackte, und Tobble griff nach meinem Arm.

Wir rührten uns nicht vom Fleck.

Ich sog die Luft ein, prüfte die Witterung. Tobbles linkes Ohr drehte sich wie der Kopf einer aufgeschreckten Eule.

»Da!« Er streckte den Arm aus. »Sie warten auf uns!«

  7  

DIE WILDERERKOMMENZURÜCK

Ich machte dem Wobbyk ein Zeichen, sich zu ducken – unnötig, wenn man bedenkt, dass ein Wobbyk auf Zehenspitzen immer noch kleiner ist als ein Dalkin auf allen vieren. Ich achtete darauf, keinen Laut zu verursachen, und schlich voran, Schritt für Schritt und Baumstamm um Baumstamm.

Der Geruch nach Mensch, Pferd und Hund wurde stärker. Ich spitzte die Ohren, hörte aber nichts als mein eigenes Herzklopfen.

Es waren die Hunde, die ich vor allem fürchtete. Eine Hundenase ist fast so gut entwickelt wie die Nase eines Dalkins. Doch zum Glück stand mir der Wind bei – er trug ihren Geruch heran und verriet den unseren nicht. Einer der Menschen war ganz in der Nähe, da war ich sicher. Die anderen waren mit ihren Pferden weiter weg.

Vorsichtig und sehr langsam – kein Raubtier, kein Mensch oder sonst wer hätte meine Bewegung wohl wahrnehmen können – schob ich die Ranken eines Beerengestrüpps ein wenig zur Seite.

Und da sah ich ihn.

Er stand allein neben einem umgestürzten Baumstamm auf einer kleinen Lichtung, angespannte Konzentration im Gesicht. Seine große schlanke Gestalt steckte in einfacher bäuerlicher Kleidung: verblichenes Hemd unter einem Lederwams, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde, wollene Hosen und hohe sandfarbene Lederstiefel.

Über menschliche Gefühle weiß ich so gut wie nichts, und doch spürte ich irgendwie, dass dieser Mensch hier unruhig und besorgt war.

Nein, noch mehr: Er war wütend.

»Hast’n noch mal gesehen, Junge?« Der Ruf kam nicht von dem schlanken Jungen her, sondern von einer Stimme tiefer aus dem Wald.

»Nein, Herr«, rief der Junge zurück. »Ist wahrscheinlich im Meer ertrunken.«

Ich vernahm das entfernte Geräusch von Pferden, die ungeduldig mit den Hufen stampften. Nicht weit davon hörte ich Schritte von zwei Paar Füßen – es mussten Menschenfüße sein –, die sich durch das Unterholz kämpften.

Zwei bärtige Männer tauchten zu beiden Seiten des Jungen auf. Der eine war klein und stämmig. Der andere, groß und hager, musste der Anführer der Wilderer sein. Über ihren Lederwämsen trugen sie Teile von abgenutzten Rüstungen, und jeder hatte ein Schwert, einen Bogen und zwei Messer bei sich.

»Was war das für’n Tier, was meinst’n?«, fragte der Anführer den anderen Mann.

»Hab’s erst für’n Wolf gehalten, oder vielleicht ’nen Hund«, sagte der. »Aber wie der dann oben von der Klippe gesegelt is? Also, ich denk jetzt wirklich, es muss’n Dalkin gewesen sein.«

»Hab noch nie im Leben einen Dalkin gesehen. Kenn auch niemand, der schon mal einen gesehen hat.« Der Anführer lehnte sich mit über der Brust gekreuzten Armen gegen einen dicken Kiefernstamm. »Was meinst’n du, Junge, was es war?«

»Bin nicht sicher«, antwortete der. »Wir werden’s wohl nie erfahren.«

»Es heißt, Dalkinfell is das weichste und wärmste auf der ganzen Welt. Von eim einzigen Fell könntn wir alle’n Jahr lang leben … Und erst recht von mehreren«, sagte der kleine Dicke.

»Schon richtig«, sagte der Junge. »Aber ich könnt mir auch denken, dass ein lebender Dalkin noch viel mehr einbringt, so selten wie die sind.«

»Verfluchte Biester.« Der Kleine spuckte aus. »Mein Großvater hat mal zwei gesehn, als er’n Junge war. Hat behauptet, ihre Nasen sind verhext. Können ’nen Furz meilenweit riechen.«

Der Anführer ließ ein knurriges Lachen hören. »Jedenfalls gibt’s die Hoffnung, dass da, wo ein Dalkin is, noch mehr sind.«

»Falls wir tatsächlich einen zu Gesicht kriegen«, sagte der Junge, »dann tötet ihn bitte nicht.« Er verstummte, denn der Anführer warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich wollt nur sagen, wir würden mehr in die Taschen kriegen, wenn wir’n fangen könnten.«

»Die bringen auch tot mehr als genug«, grummelte der Anführer. »Und noch dazu in der Hälfte der Zeit. Und wo wir grad davon redn: Wenn ich noch mal hör, dass du mitten bei der Jagd schreist ›Nicht töten‹, dann kann’s leicht passiern, dass wir dein Fell zum Markt bringen!«

Der Junge sah zu Boden. »Ja, Herr.«

»Also, dann sag uns, in welche Richtung wir jetzt gehn solln«, sagte der Anführer. »Wenn du doch so schlau bist.«

Der Junge drehte sich um, spähte zwischen die Bäume – und erstarrte plötzlich. Er sah direkt in unsere Richtung. Ich spürte, dass er uns trotz des dichten Beerengestrüpps gesehen hatte.

Die Männer schwiegen jetzt.

Der Junge hatte die Augen geschlossen.

»Gleich hat er wieder die Formel für den richtigen Weg«, sagte der erste Mann.

»Dann halt’s Maul und lass ihn machn.«

Der Junge öffnete die Augen. Trotz der Entfernung zwischen uns konnte ich erkennen, dass sie dunkelbraun waren, von dichten Wimpern beschattet und dass ein nachdenklicher Blick darin stand.

»Reitet nordwärts«, rief er den Männern zu. »Ich hol mein Pferd, dann komm ich nach.«

Die älteren Männer gingen davon. Der Junge wartete noch einen Augenblick und betrachtete schweigend die Lichtung. Dann ging auch er.

Bevor er jedoch endgültig zwischen den Bäumen verschwand, blieb er kurz stehen, und als er noch einmal zurück in unsere Richtung schaute, bildete ich mir ein, dass ein Lächeln auf seinem Gesicht stand.

  8  

DREI SCHWÄNZE, DREI LEBENSRETTUNGEN

Kaum war die Gefahr vorüber, fing mein Magen laut zu stöhnen an, als hätte er damit nur gewartet, bis die Luft rein war.

Tobble fuhr zusammen. »Was war das?«

»Mein Magen. Ich hab Hunger.«

»Mein Magen knurrt, wenn ich Hunger habe.«

»Unsere Mägen stöhnen.« Ich richtete mich vorsichtig auf, prüfte die Luft nach möglichen Zeichen dafür, dass die Wilderer vielleicht doch noch in der Nähe wären. »Der Junge, dieser Pfadfinder«, sagte ich. »Ich bin sicher, dass der uns gesehen hat.«

»Aber warum hat er dann den anderen nichts gesagt?«

»Keine Ahnung.« Ich schüttelte den Kopf. »Es ergibt keinen Sinn.«

Erst jetzt merkte ich, wie erschöpft ich war. Der wahnwitzige Sprung von der Klippe, der unmögliche Gleitflug, das Salzwasser, der Regen danach, die Kälte, die Angst: Ich wollte nur noch nach Hause, mich einkuscheln in die Sicherheit meiner schlafenden Familie.

Für einen Tag war ich neugierig genug gewesen.

Ich linste zu Tobble hinüber und fragte mich, was ich mit ihm anstellen sollte. Von der Jagd verstehe ich nicht viel, aber dass man sich mit seinem Beutetier besser nicht auf Unterhaltungen einließ, spürte ich sehr wohl.

Tobble schien meine Gedanken zu erraten. »Du begreifst also, dass du mich nicht fressen kannst, bevor ich deine Gefälligkeit erwidert und dir ebenfalls das Leben gerettet habe?«

Trotz allem musste ich lächeln. »Du willst mir das Leben retten?«

»Was mir an Größe fehlt, mache ich mit meinem Geist wett.« Tobble putzte sich feuchte Erde vom Hinterteil. »Außerdem ist das nun mal Wobbyk-Code. Du hast mir das Leben gerettet, jetzt muss ich dreimal dein Leben retten.«

»Warum dreimal?«

»So ist eben die Vorschrift.«

»Aber warum ist das Vorschrift?«

»Weil ich drei Schwänze habe.«

Ich runzelte die Stirn. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«

»Ich mache die Vorschriften nicht. Aber ich befolge sie.«

In der Ferne krachte es wieder wie von Donnerschlägen. Wir zuckten beide zusammen, weil wir befürchteten, der Lärm könnte diesmal eher die Rückkehr von Hufen ankündigen als den Zorn des Himmels bezeugen.

»Du brauchst dich nicht zu revanchieren«, sagte ich und dachte im Stillen: Weil ich mir nämlich unter anderen Bedingungen dein Fleisch zum Abendessen sehr wohl hätte schmecken lassen.

»Nun, wir werden ja sehen. Wohin jetzt?«, fragte Tobble.

»Du kannst nicht mitkommen. Unser Rudel lebt schon seit Wochen nur von Würmern und Baumrinde. Die fressen dich im Handumdrehen auf.«

»Das ist ein Risiko, das ich eben eingehen muss.«

»Du darfst nicht mit«, sagte ich entschieden und wunderte mich über meinen Ton, der genauso klang, wie ihn meine Eltern so oft mir gegenüber anschlugen.

»Und ich geh doch mit!«

Ich beschloss, es mit logischen Argumenten zu versuchen. »Du hältst mich nur auf. Und du machst zu viel Lärm.«

»Wenn du findest, dass ich am Boden zu viel Lärm mache, dann nimm mich auf den Rücken. Für deinen Beutel bin ich zu groß.« Tobble reckte sein stoppeliges Kinn. »Dreimal«, sagte er. »Wobbyk-Vorschrift. Du kannst mich nicht loswerden, auch nicht, wenn du’s versuchst.«

»Ich könnte schon, wenn ich dich fresse«, brummte ich und gab mir Mühe, einschüchternd zu klingen.

Ehe ich noch ein Wort sagen konnte, kletterte der Wobbyk auf meinen Rücken. »Ich hoffe sehr, dass es dir nichts ausmacht«, sagte er.

»Dass eine flauschige Mahlzeit auf meinem Rücken sitzt?«, fragte ich. »Zufällig macht mir das sehr wohl was aus!«

»Mir scheint, ich habe versäumt, dich nach deinem Namen zu fragen«, sagte Tobble, indem er meine Antwort ignorierte.

Ich seufzte. Laut und ungeduldig sagte ich: »Ich heiße Byx.«

»Byx«, wiederholte er. »Ein vornehmer Name für einen vornehmen Dalkin.« Er beugte sich dicht an mein Ohr und flüsterte: »Falls du tatsächlich einer bist.«

Ich drehte den Kopf und schoss ihm einen wütenden Blick zu. »War nur Spaß«, sagte er. »Kümmere dich nicht um mich.«

»Das dürfte schwierig sein.«

Einen Bogen zu schlagen würde einen längeren Heimweg bedeuten, aber auf keinen Fall durfte ich die Wilderer ungewollt zum Mirabienen-Hügel führen.

Der Himmel war wolkenverhangen, bald würde die Sonne untergehen. Ich wandte mich nach Osten, dann nach Norden und bog schließlich auf geradem Weg zu meinem vorübergehenden Zuhause und meiner vertrauten Familie ein.

Tobble wog nicht viel, schwerer dagegen wog die Frage, was ich, im Bau angekommen, mit ihm machen sollte. Immerhin würde sein Erscheinen ablenken von der viel größeren Frage, warum ich mich so weit entfernt hatte.

Doch wie dem auch sei, selbst hungrige Dalkins sind anständig und wohlerzogen. Wenn ich Tobble als Freund vorstellte, würde gewiss keiner aus dem Rudel versuchen, ihn zu fressen. Allerdings würden sie freilich wissen wollen, warum ich mich mit einem möglichen Beutetier angefreundet hatte.

Ich machte einen letzten Versuch. »Du solltest jetzt wirklich abspringen und deiner Wege gehen«, sagte ich zu Tobble.