Willodeen – Das Mädchen und der Wald der verschwundenen Tiere - Katherine Applegate - E-Book

Willodeen – Das Mädchen und der Wald der verschwundenen Tiere E-Book

Katherine Applegate

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Natur weiß mehr als wir Willodeen liebt Tiere aller Art, aber ihre Lieblinge sind die unansehnlichen Kreischer. Die Bewohner von Purchance haben sie kurzerhand ausgerottet. Viel lieber haben sie die niedlichen Summbärchen, die jedes Jahr im Dorf überwintern und Touristen aus nah und fern anziehen. Doch dieses Jahr ist kein einziges zurückgekehrt, und niemand weiß, warum. Als ein selbst gebasteltes Geschenk ihres Freundes Connor für Willodeen unerwartet magisch wird, glaubt sie, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Leben der Kreischer und der Summbärchen geben könnte und dass alle Tiere eine wichtige Rolle im komplizierten Netz der Natur spielen. Willodeen setzt alles daran, die Kreischer zurückzubringen, denn nur so kann ihr Dorf überleben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 154

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katherine Applegate

Willodeen

Das Mädchen und der Wald der verschwundenen Tiere Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther Mit Illustrationen von Charles Santoso

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Mutter Erde.

Danke, dass du uns duldest.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man nie zu klein ist, um etwas zu ändern.

 

Greta Thunberg

Erster Teil

Auf einem alten Karussell in Perchance taucht eines Nachmittags ein kleines Lebewesen auf.

Benommen und feucht wie ein Neugeborenes sitzt es auf dem Sattel eines hölzernen Einhorns.

Es blinzelt. Einmal, zweimal.

Es gibt einen Laut von sich, ein Geräusch zwischen Piepsen und Knurren.

Sein Atem kommt und geht in winzigen Japsern und Seufzern. Seine pelzigen Pfoten bewegen sich, wenn es will, dass sie sich bewegen. Sein Kopf dreht sich hierhin und dorthin.

Es scheint in guter Verfassung zu sein.

Aber wo ist es? Und wichtiger noch, warum ist es da?

Es patscht auf den Nacken seines leblosen Pferdes. Vielleicht sollte es einfach hier warten. Ja. Das wäre wohl das Beste unter diesen Umständen. Noch kennt sich das kleine Geschöpf selbst noch nicht gut. Aber es scheint zu einer geduldigen Art zu gehören. Sein Gefühl sagt ihm, dass ihm Geduld nützlich wäre, ihm vielleicht sogar das Leben retten könnte.

Das kleine Wesen hat einen Schöpfer, einen Jungen mit geschickten Fingern und mitfühlendem Herzen. Stunden hat er damit zugebracht, bei fahlem Mondlicht Kräuter und Distelwolle zu verflechten und dem Geschöpf zu seiner Existenz zu verhelfen.

Das kleine Wesen hat auch eine Freundin, ein Mädchen mit scharfen Augen und unerschütterlicher Seele. Und obwohl das Mädchen noch jung ist, versteht es Dinge, die andere nicht verstehen.

Das Geschöpf auf seinem hölzernen Pferd weiß nichts von alldem. Noch nicht.

Was ihm aber plötzlich und mit großer Gewissheit bewusst wird, ist der Umstand, dass es sehr lebendig ist und sehr allein.

1

Vor langer Zeit, als Steine noch weich und Sterne nur Staub waren, da liebte ich ein Monster.

Es scheint ewig her zu sein, und vielleicht war es das auch, aber eigentlich hat sich alles gar nicht so sehr verändert. Magisches kam damals häufig vor, das stimmt. Aber es ist immer noch da, wenn man nur richtig zu schauen versteht. Immer noch lächelt der Mond von Zeit zu Zeit, und immer noch dreht sich die Erde wie eine Tänzerin durch das Universum.

Das Wann und Wo spielt keine große Rolle.

Die Welt ist alt, und wir sind es nicht, das darf man nie vergessen.

2

Ich glaube, dass ich merkwürdige Tiere schon immer gern mochte. Sie haben mich schon als kleines Kind fasziniert.

Je schauriger, stinkender und hässlicher, desto besser.

Ich war allen Kreaturen auf der Erde freundlich gesinnt: Vögeln, Fledermäusen, Kröten und Katzen, schleimigen und schuppigen Tieren, prächtigen und unscheinbaren.

Ganz besonders aber liebte ich solche, die nicht als liebenswert galten. Solche, die die Leute eine Pest nannten. Schmarotzer. Monster sogar.

Meine Lieblingstiere waren die Kreischer. Sie schrien nachts wie verrückte Hähne, ohne dass jemals der Grund dafür gefunden wurde.

Sie waren unleidlich wie müde Kleinkinder. Sie sahen schmuddelig aus wie manche Schweine.

Und – freundlicher lässt sich das nun mal nicht ausdrücken – sie stanken zum Himmel.

Ärgert man einen Kreischer, schlägt er mit seinem großen Schwanz um sich und entfacht damit einen Gestank, so übel wie ein Plumpsklo im August.

Und verärgert waren Kreischer so gut wie immer.

Das kommt eben davon, wenn Menschen dauernd mit Pfeilen auf einen zielen.

Kreischer hatten nadelspitze Zähne und sehr starke Krallen. Ein wilder Blick lag in ihren grüngelben Augen, sie hatten zwei gebogene Stoßzähne, und sie sabberten mehr als ein Hund beim Fressen. Groß waren sie nicht. Man könnte vielleicht sagen, ungefähr so groß wie Bärenbabys. Ihr borstiges Fell war pflaumenfarben, und ihre Schwänze sahen aus wie zusammengerollte, angebrannte Pfannkuchen mit Stacheln.

Ich würde als Erste zustimmen, dass Kreischer nicht gerade liebenswürdige Wesen sind. Aber trotzdem hatte ich eine weiche Stelle für sie in meinem Herzen.

Ich kann nicht genau sagen, warum. Vielleicht weil ich wusste, was es heißt, nicht liebenswert zu sein. Vielleicht war es so, dass wenn alle Welt in die eine Richtung marschierte, eine widerspenstige Stimme in mir rief: Schlag den anderen Weg ein, Willodeen.

Man muss sich doch einfach auf die Seite der Außenseiter stellen, oder? Und ich hatte stark das Gefühl, dass die Kreischer im Plan der Natur schon immer Außenseiter waren.

Trotzdem wäre es sehr viel leichter gewesen, sich für niedliche kleine Hunde einzusetzen.

So jedenfalls war das.

Um aber zu erklären, warum wir lieben, was wir lieben, bräuchte es eine sehr viel klügere Person als mich.

3

Meinen ersten Kreischer hatte ich gesehen, als ich sechs war. Ich war mit meinem Pa draußen, um Wunderbeeren zu suchen. Wahrscheinlich hätte ich in der Schule sein sollen. Aber meine Ma und mein Pa hatten damals längst verstanden, dass ich mich allein wohler fühlte. Ich hatte es ein paarmal versucht mit der Schule. Aber unter den anderen Kindern tat ich mich schwer und fühlte mich unsicher, und ihnen schien es mit mir genauso zu gehen.

Wir fanden an dem Tag keine einzige Beere. Es hatte ewig nicht geregnet, und die Büsche waren verschrumpelt und dürr. Gerade wollten wir unsere Suche aufgeben, da sagte Pa leise: »Willodeen!«

Ich folgte seinem Blick. Da! Neben einem umgefallenen Baum schmiegte sich eine Kreischermutter um ein Knäuel von fünf wimmernden, zappelnden Babys.

Prompt bemerkte sie uns. Sie peitschte die Erde mit ihrem Schwanz, so fest sie nur konnte.

Ich wusste, was nun kommen würde. Pa hatte mich gewarnt.

Der Geruch ist schwer zu beschreiben. Stellt euch hundert verdorbene Eier vor. Dann gebt ein paar Schaufeln toter Fische dazu und einen Spritzer Stinktier-Absonderung. Damit habt ihr die Beschreibung ungefähr.

»Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Pa hustend und schniefend. »Sie lassen sich eben leicht aus der Fassung bringen, die armen Tiere. Und die Menschen bringen sie immer wieder durcheinander.«

»Aber warum?«, fragte ich und wischte mir die Tränen ab, die in meinen Augen brannten.

»Sie behaupten, Kreischer fressen Nutztiere. Töten Haustiere und Wild. Kein Fünkchen davon ist wahr. Ich hab sie kleine Käfer und dergleichen fressen sehen. Zum größten Teil leben sie von Pfauenschnecken, Raupen, Larven und Würmern.« Pa rieb sich die Augen. »Natürlich ist da die Sache mit ihrem … Geruch. Manche sagen, dass sie die Touristen damit vertreiben.« Er lachte. »Das könnte allerdings wirklich zutreffen.«

Wir traten von dem Bau zurück, vorsichtig und leise. Der Gestank nahm uns den Atem, und trotzdem lächelte Pa.

»Sie tut nur, was sie tun muss, mein Mädchen«, erklärte er. »Ihre Jungen beschützen, so gut sie kann. Genau wie alle Mütter und Väter das tun.«

Man hätte meinen können, wir wären jetzt gegangen, so wie wir stanken. Aber Pa deutete auf einen großen Felsstein in der Nähe, und dort setzten wir uns. Hier hatten wir die Kreischermutter immer noch im Blick, waren aber bestimmt weit genug entfernt, damit sie sich beruhigen konnte.

Pa liebte Tiere genauso wie ich, weshalb es in jedem Winkel unserer Hütte und auch draußen im Hof Tiere gab: Ziegen und Baumhasen, Hühner, Enten, eine Pfauenhenne und einen uralten Flussotter, der nicht mehr schwimmen konnte. Unsere Katzen und Hunde, die Generation um Generation aufeinanderfolgten, hatten schon lange gelernt, die anderen Bewohner nicht zu fressen.

»Siehst du, wie zärtlich sie ist?«, sagte Pa, als sich die Kreischermutter eng an ihre Jungen kuschelte.

»Ich höre sie nachts manchmal«, sagte ich. »Dann überlege ich immer, warum sie wohl so heulende Laute von sich geben, so ein raues Grölen.«

»Niemand weiß es genau«, sagte Pa. »Vielleicht machen sie es wie die Kojoten und die Wölfe. Singen einfach die Sterne an.«

»Vielleicht.« Ich dachte über diese Möglichkeit nach. »Zu dumm, dass sie nichts Angenehmeres zustande bringen.«

Pa lächelte. »Die Natur, Willodeen, weiß mehr als wir, und das wird wohl immer so sein.«

Die Kreischermutter stupste eins der Kleinen mit ihrer Schnauze an. »Ich wünschte, die Leute würden sie nicht so hassen«, sagte ich. »Schließlich waren die Kreischer vor uns da. Wo ist der Sinn?«

Pa stieß einen traurigen Seufzer aus, einen Seufzer, wie ich ihn sonst kaum von ihm hörte, und das erschreckte mich.

»Wenn du nach dem sinnvollen Verhalten der Menschen suchst, mein Mädchen«, sagte er, »wirst du allerdings sehr lange suchen müssen.«

4

Nachdem meine Ma unsere Kleider in kochendem Wasser und mit Laugenseife gewaschen hatte, gab sie sich am Ende geschlagen und verbrannte sie im Herd.

»Verdammte Kreischer«, murmelte sie beim Frühstück. »Was, zum Teufel, findet ihr zwei an denen? Man kann sie nicht essen. Schmecken tun sie so, wie sie riechen. Das nutzloseste Vieh, das ich kenne.«

Ich warf Pa auf der anderen Tischseite einen Blick zu und erwiderte sein Lächeln. »Die Natur weiß mehr als wir.« Pa zwinkerte mir zu. »Und das wird wohl immer so sein.«

Mein Bruder Toby, der zweieinhalb war, nutzte den Moment, um sich eine Schüssel Porridge über den Kopf zu stülpen. »Hut«, verkündete er.

Ma blickte himmelwärts und stöhnte. »Gib mir Kraft!« Das sagte sie oft. Und dann lachte sie. Auch das tat sie oft.

Sie hatte ein schönes, ausgelassenes Lachen, meine Ma.

Nie wieder habe ich mit Pa Beeren gesucht.

 

Wenige Wochen später kam er, wie so viele andere aus dem Ort, bei dem Großen Septemberbrand ums Leben, zusammen mit meiner Ma und meinem kleinen Bruder. Auch die meisten unserer Tiere starben.

Ich überlebte nur knapp. Birdie und Mae, zwei Nachbarsfrauen, nahmen mich bei sich auf.

Um die Zeit, als ich zehn war, war dieses Feuer bei den meisten Leuten schon in Vergessenheit geraten, verdrängt von anderen düsteren Ereignissen wie Schlammlawinen, Fieberkrankheiten, Dürren und neuen Feuerausbrüchen.

Es schien fast, als wäre die Erde böse auf uns.

Die Natur weiß mehr als wir, hatte Pa gesagt. Doch an manchen Tagen war das schwer zu glauben.

5

Nach dem Brand verbrachte ich lange Zeit im Bett. Ich hatte Verbrennungen an den Händen und Fußsohlen, aber das eigentliche Problem war der viele Rauch, den ich in die Lungen bekommen hatte, sodass mir ein tiefes Atmen kaum möglich war.

Als es mir allmählich besser ging, unterrichteten Mae und Birdie mich im Lesen und schenkten mir ein Buch über Drachen. Mit dem Lernen kam ich schnell voran, meine Genesung dauerte umso länger. (Wir hatten eine Ein-Raum-Schule im Ort, nichts Besonderes, und nur wenige Kinder gingen regelmäßig hin. Die meisten mussten arbeiten, sobald sie groß genug waren, und wenn sie nicht arbeiten mussten, schwänzten sie lieber.)

Später, als es mir noch besser ging und Mae und Birdie mir erlaubten, in der Gegend herumzustromern, tat ich das nur zu gern. Vor allen Dingen wollte ich allein sein. Draußen in den Hügeln fühlte ich mich sicher. Ich war nutzlos und ungeschickt. Immer fanden meine Ellbogen den zerbrechlichsten Gegenstand in einem Raum. Wenn ich aber in den Wäldern herumlief, entspannte sich mein Körper, und ich bewegte mich geschmeidig wie ein Tier, das hier zu Hause war.

Ich war gern allein. Solange ich denken konnte, hatten mich Menschen immer verwirrt.

Nach gründlicher Überlegung war ich zu dem Schluss gekommen, dass die meisten Leute eine Art Uhr in ihren Köpfen hatten. Sie sagte ihnen, wann es Zeit war, über einen Witz zu lachen. Oder näher zu kommen, um an einem vertraulichen Gespräch teilzuhaben, eine Unterhaltung anzufangen oder sich zu verabschieden.

In meinem Kopf schien diese unsichtbare Uhr zu fehlen. Ich war immer ein bisschen zu spät dran. Oder ein bisschen zu früh. Nie rechtzeitig. Ich war wunderlich und misstrauisch, und dazu passten meine grauen Augen und mein ungebändigtes Haar, rot und wirr wie die Ranken einer wilden Rose.

Aber völlig allein war ich nicht. Ich hatte Duuzu, mein Summbärchen. Wie ich so hatte auch er das Feuer überlebt, aber seine Flügel waren so stark versengt, dass er nie wieder richtig würde fliegen können.

Mae und Birdie hatten Duuzu in den verkohlten Resten einer Blauweide gefunden. Sie hatten ihn mit in ihre Hütte genommen und ihn wieder aufgepäppelt, so wie mich. Sicher hatten sie gedacht, er würde mir ein kleiner Trost sein in der öden, endlosen Zeit der Genesung.

Um ein Tier zu beschreiben, welches das ganze Gegenteil eines Kreischers ist, dürfte man einem Summbärchen recht nahe kommen. Sie sind alles, was Kreischer nicht sind.

Duuzu war so klein, dass er in meine Manteltasche passte, und dazu war noch Platz für einen Keks. (Den er auch mit Sicherheit vertilgte.) Seine Ohren waren rund wie Münzen. Sein Fell erinnerte mich an eine Pusteblume, deren Flaum man auseinanderblasen und sich dabei etwas wünschen kann. Durchsichtige Flügel wuchsen aus seinem Rücken, und seine großen Augen waren immer voller Fragen. Sein schwarzer, glänzender Schwanz war eingeringelt wie ein Farnblatt im zeitigen Frühjahr. In seinem Maul, das ständig leicht zu lächeln schien, verbarg sich eine lange, klebrige Zunge, mit der er blitzschnell Insekten schnappen konnte.

Meistens hielt sich Duuzu in meiner Tasche auf oder saß auf meiner Schulter. Er konnte auch kurz fliegen, aber noch öfter hüpfte er einfach hinter mir her. Nachts erinnerte mich sein feines Schnarchen an ein Grillenbaby, das gerade lernt, der Nacht etwas vorzusingen.

Obwohl Duuzu einen zufriedenen Eindruck machte, sorgte ich mich um ihn, weil er ohne Artgenossen leben musste. Einmal, im Herbst, hatte ich versucht, ihn mit anderen Summbärchen zusammenzubringen. Ich hatte ihn neben einer Blauweide niedergesetzt, in der viele Nester von Summbärchen hingen, und war weggegangen, so schwer es mir fiel.

Traurigerweise wollten sie nichts mit ihm zu tun haben. Sie konnten fliegen, er konnte es nicht. Und da Summbärchen bei ihrem jährlichen Zug weite Strecken zurücklegen, hätte Duuzu nie mit ihnen fliegen können.

Er war wie ich. Anders. Allein. Für immer vom Feuer gezeichnet.

Auf jeden Fall schien er sich mit meiner Gesellschaft abgefunden zu haben. Ich hoffte, dass ich ihm genügen würde.

6

Aus der alljährlichen Rückkehr der Summbärchen leitete unser Dorf seinen Anspruch auf Ruhm ab. Sie kamen in riesigen Schwärmen aus dem Norden geflogen, verdunkelten den Himmel und konkurrierten mit den Wolken, ehe sie auf den Blauweiden in unserem Tal niedergingen. Dort blieben sie bis zum Frühjahr, um dann wieder in ihre andere Heimat zu fliegen, eine Insel Hunderte Meilen nördlich.

Es war atemberaubend, den kleinen Tieren zuzusehen, wie sie sich auf den Bäumen sammelten und ihre schimmernden Flügel vibrieren ließen. Warum sie sich gerade Perchance ausgesucht hatten, wusste niemand genau zu sagen. Es schien jedoch mit dem milden Klima im Winter zusammenzuhängen und auch damit, dass es bei uns so viele Blauweiden gab, die einzigen Bäume, auf denen sie nisteten.

Umgeben von bewaldeten Hügeln, lag Perchance in einem Tal eingebettet wie ein Baby in einer grünen Wiege. Der Fluss Essex floss träge wie Honig durch den Ort. Unsere Blauweiden fühlten sich offenbar wohl am Fluss. Sie brauchten Wasser und klammerten sich mit ihren knotigen Wurzelfingern an die Uferböschungen. Die Summbärchen wiederum liebten die Weiden.

Es waren nicht nur die niedlichen Gesichter und das feine Gurren, welche die Summbärchen so unwiderstehlich machten. Es waren auch ihre Nester aus funkelnden Bläschen, die das Sonnenlicht aufnahmen und die ganze Nacht über leuchteten, als hätten sich Hunderte Miniatur-Regenbögen zu einer Party versammelt.

Niemand wusste ganz genau, wie die Summbärchen ihren Nester-Zauber bewerkstelligten. Sie zerkauten Weidenblätter, entzogen ihnen irgendwie den Saft und produzierten reißfeste Bläschen daraus. Die Bläschen klebten erstaunlich fest aneinander und hafteten ebenso fest an den Zweigen der Weiden.

Meistens veranstaltete unser Dorf ein Herbstfest mit Jahrmarkt, um die Rückkehr der Summbärchen zu feiern. Zu diesem Ereignis kamen Besucher von überallher. Als ich sieben war, musste es abgesagt werden, nachdem sich eine Schlammlawine nördlich des Ortszentrums vorbeigewälzt hatte. Und als ich neun war, hatte der Rauch eines Feuers zwei Täler weiter die meisten Besucher ferngehalten.

Doch auch ohne diese Probleme hatten wir festgestellt, dass mit den Jahren immer weniger Summbärchen zu uns kamen. Noch färbten sich die Weiden in jedem Herbst silbrig blau. Noch immer hing ein Duft nach frischen Äpfeln in der Luft. Und noch immer bereiteten wir uns auf den Ansturm der Besucher vor. Aber etwas hatte sich verändert.

Es war beunruhigend, um es milde auszudrücken. Perchance war auf das Geld der Touristen angewiesen. Die Gastwirtschaften waren zur Marktzeit voll bis auf den letzten Platz, es wurde gegessen und getrunken, und in den Läden kauften die Gäste Schnickschnack. Ein Junge namens Connor Burke machte aus Weidenzweigen und Rinde Summbärchen, die er als Andenken verkaufte. Mae verkaufte ihre selbst gestrickten Schals und Schultertücher aus dicker Wolle. Nedwit Poole, der Bäcker, machte Summbärchen-Gebäck mit Marmeladenfüllung.

Mit diesen Einkünften kamen wir im restlichen Jahr über die Runden. Wir kümmerten uns um die Gärten. Manche hatten Arbeit im Sägewerk. Wir angelten im Fluss und jagten im Wald. Ein paar Männer waren beim Gleisbau für die Dampfeisenbahn beschäftigt, die am Ortsrand vorbeiführen sollte.

Doch hauptsächlich waren es die Summbärchen und das Herbstfest, die uns jedes Jahr durch die mageren Monate gebracht hatten.

Ich mied den Jahrmarkt mit seinen vielen Menschen meistens, weil ich immer das Gefühl hatte, sie würden mich erdrücken. So viel Lärm! So viel erzwungene Heiterkeit!

Oft sah ich dort Kinder, die ich von meinen seltenen Schulbesuchen von früher kannte. Sie zogen in Rudeln umher wie ausgelassene Hunde. Wenn sie vorbei waren, hörte ich sie wiehern vor Lachen.

Manchmal fragte ich mich, wie es wäre, einen Freund oder eine Freundin zu haben. Wie es wäre, wenn ich mich mit mir selbst so wohlfühlen könnte, dass ich mich auch mit jemand anderem wohlfühlen könnte.

Aber ich war auch so ganz zufrieden. Ich brauchte das Verwirrspiel und die Komplikationen nicht, die eine Freundschaft wahrscheinlich mit sich brachte.

Auf dem Jahrmarkt hielt ich es in der Regel nur ein paar Minuten lang aus, dann zog ich mich wieder an einen sicheren und ruhigeren Ort zurück. Den Summbärchen sah ich natürlich immer gern zu. Aber wichtiger waren mir die Kreischer, um sie machte ich mir mehr Sorgen.

Als ich fast elf war und wir von Jahr zu Jahr weniger Summbärchen sahen, waren die Kreischer fast verschwunden.

Anscheinend war ich eine der wenigen, die das bemerkt hatten.

Und ganz sicher war ich die Einzige, die es interessierte.

7

In der Zeit, in der ich mich von meinen Brandverletzungen erholte, schenkten mir Mae und Birdie ein Heft und eine spitze Schreibfeder, ein Fläschchen Tinte aus Blütenblättern und mehrere Stifte. Danach füllten sie diesen Vorrat jedes Jahr wieder auf. Später, als es mir besser ging, hatte ich immer ein Heft und einen Stift in meiner Gürteltasche dabei. Ich machte mir Notizen auf meinen Streifzügen. Vor dem Feuer hatte ich Pa jede interessante Entdeckung, die mir auffiel, immer nur gezeigt. Jetzt aber, wo ich allein war, wollte ich gern regelmäßig festhalten, was ich beobachtete.