Engel, Blues und Winterfunkeln - Stina Jensen - E-Book

Engel, Blues und Winterfunkeln E-Book

Stina Jensen

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Beschreibung

Drei Erzengel, ein Kuss im Schnee und Tränen unterm Weihnachtsbaum …

So hat Melli sich ihr Leben nicht vorgestellt. Nach einer finanziell desaströsen Scheidung und der Aufgabe ihres geliebten Beauty-Salons bleibt der Kosmetikerin nur noch ein Schminkköfferchen, mit dem sie zu ihrer verbliebenen Kundschaft tingelt. Da sieht sie sich in der Adventszeit mit dem ungewöhnlichen letzten Wunsch ihrer adligen Stammkundin Alice konfrontiert: Nach deren Tod soll Melli sie glamourös herrichten und die abspenstigen Hinterbliebenen zur Aufbahrung bewegen. Als Lohn winkt ihr ein großzügiges Erbe. Leider hat Melli seit ihrer Kindheit eine Heidenangst vor frisch Verstorbenen. Außerdem sind die drei Nachkommen härter zu knacken als jede Nuss auf einem Weihnachtsteller. Von Alice wollen sie jedenfalls auch post mortem nichts wissen. Dabei hilft es gar nicht, dass Melli sich zu Enkel Gabriel, einem erfolgreichen Arzt, auch noch wahnsinnig hingezogen fühlt. Dass sie einen finanziellen Vorteil hat, wenn sie sein Herz erweicht und ihm die Verstorbene näherbringt, darf er keinesfalls erfahren …

Ein Roman, hinreißend wie frisch gefallener Schnee.

Dies ist der siebte Teil der WINTERknistern-Reihe. Alle Romane können unabhängig voneinander gelesen werden. Die WINTERknistern-Reihe: Plätzchen, Tee und Winterwünsche; Misteln, Schnee und Winterwunder; Sterne, Zimt und Winterträume; Muscheln, Gold und Winterglück; Vanille, Punsch und Winterzauber; Mondschein, Flan und Winterherzen; Engel, Blues und Winterfunkeln. Lesen Sie auch die Insel- und Gipfelfarben-Reihe von Stina Jensen.

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ENGEL, BLUES UND WINTERFUNKELN

STINA JENSEN

SÓTANO

INHALT

Das Buch

Vorwort

Acht Wochen zuvor

1

2

3

4

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6

7

8

9

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Elf Monate später

Nachwort

Über die Autorin

Alle Bücher von Stina Jensen

DAS BUCH

Drei Erzengel, ein Kuss im Schnee und Tränen unterm Weihnachtsbaum …

So hat Melli sich ihr Leben nicht vorgestellt. Nach einer finanziell desaströsen Scheidung und der Aufgabe ihres geliebten Beauty-Salons bleibt der Kosmetikerin nur noch ein Schminkköfferchen, mit dem sie zu ihrer verbliebenen Kundschaft tingelt.

Da sieht sie sich in der Adventszeit mit dem ungewöhnlichen letzten Wunsch ihrer adligen Stammkundin Alice konfrontiert: Nach deren Tod soll Melli sie glamourös herrichten und die abspenstigen Hinterbliebenen zur Aufbahrung bewegen. Als Lohn winkt ihr ein großzügiges Erbe.

Leider hat Melli seit ihrer Kindheit eine Heidenangst vor frisch Verstorbenen. Außerdem sind die drei Nachkommen härter zu knacken als jede Nuss auf einem Weihnachtsteller. Von Alice wollen sie jedenfalls auch post mortem nichts wissen.

Dabei hilft es gar nicht, dass Melli sich zu Enkel Gabriel, einem erfolgreichen Arzt, auch noch wahnsinnig hingezogen fühlt. Dass sie einen finanziellen Vorteil hat, wenn sie sein Herz erweicht und ihm die Verstorbene näherbringt, darf er keinesfalls erfahren …

Ein Roman, hinreißend wie frisch gefallener Schnee.

VORWORT

Liebe Leserinnen und Leser!

Dieser Roman spielt in der wunderschönen Stadt Münster in Westfalen. Auch wenn ich mir in meinen Romanen die größte Mühe gebe, mich an die örtlichen Gegebenheiten zu halten, so nehme ich mir dennoch gelegentlich die schriftstellerische Freiheit, die Spielorte meinen Bedürfnissen anzupassen. Teilweise sind die Handlungsorte – insbesondere die Seniorenresidenz und Alis Dönerladen – frei erfunden. Sollten Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen bestehen, so wären diese rein zufällig. Nun wünsche ich euch ganz viel Freude mit der Geschichte!

Eure Stina

ACHT WOCHEN ZUVOR

Was ich beim Achtsamkeitsseminar über mich herausgefunden habe:

Ich bin eine erwachsene Frau und entscheide selbst über meine BerufswahlJeder macht mal Fehler in einer Ehe. Das heißt nicht, dass man deswegen ein schlechter Mensch istDie Aufgabe meines Salons hat mein Selbstbewusstsein GEWALTIG erschüttertDas Singledasein wohl auchIch befürchte, niemals einen Mann zu finden, dem ich alle meine Geheimnisse anvertrauen könnteDie Sache mit Oma würde ich heute ganz anders machenEines Tages sollte ich zu Vicky einfach Nein sagen

Was ich unabhängig vom Achtsamkeitsseminar über mich herausgefunden habe:

Achtsamkeitsseminare bringen überhaupt nichts, außer dass die Teilnehmenden sich allen möglichen Mist einreden, der nicht lange vorhältWenn man nach Marie Kondo ausmistet, kann man von einer großzügigen Vierzimmerwohnung in ein Zweiraumapartment umziehenFinanziell werde ich wahrscheinlich nie auf einen grünen Zweig kommenPipigeruch lässt sich ertragen, wenn man sich Tigerbalsam unter die Nase reibtIch würde gerne mal wieder jüngere Leute schminkenMeine Eltern haben sich vor drei Jahren scheiden lassenVicky werde ich ewig dankbar dafür sein, dass sie mich damals bei Oma nicht verpfiffen hatEs ist unmöglich, einen Termin bei einem Gynäkologen zu bekommen

1

Sie sind eine wahre Meisterin, liebe Melissa.« Alice von Garnier betrachtete ihr dezent geschminktes Gesicht wohlwollend im Spiegel. »So kann ich mich heute Nachmittag beim Bingo sehen lassen.« Die betagte Dame kicherte mädchenhaft. »Wer weiß, vielleicht macht mir ja noch einer der alten Knacker einen Antrag?«

Das war genau der Humor meiner dreiundneunzigjährigen Kundin. Als eingefleischte Junggesellin hatte sie sich die Männer angeblich stets eine Armeslänge vom Hals gehalten. Daran würde sich jetzt natürlich erst recht nichts ändern.

Sie musste mal eine Schönheit gewesen sein. Ihre Augen und die Lachfältchen strahlten noch immer Lebendigkeit aus. Obwohl sie in letzter Zeit dann und wann niedergeschlagen, manchmal sogar leicht verwirrt gewirkt hatte, schien sie heute besonders agil. Sie gehörte zu den wenigen Bewohnerinnen der Seniorenresidenz, die sich trotz ihres hohen Alters mit dem Internet vertraut gemacht hatten. Es gefiel ihr, im Netz auf Informationen zu stoßen, die sie früher mühsam aus den Archiven der Zeitungshäuser zusammentragen musste.

Ich reichte ihr den Gehstock und half ihr aus dem Behandlungsstuhl.

»Wäre ich ein älterer Herr, würde ich Sie garantiert vom Fleck weg heiraten«, bestätigte ich. Das dezente Tages-Make-up, das ich bei ihr aufgetragen hatte, ließ ihre dünne, faltige Haut wieder erstrahlen. Etwas Rouge betonte die Wangenknochen, der rosafarbene Lipgloss passte perfekt zum Nagellack. Heute trug sie einen hellblauen Hosenanzug, der zu ihrem schlohweißen Haar, das ich wie gewünscht in einer Rundwelle um ihr Gesicht geföhnt hatte, einen hübschen Kontrast bildete. Am Ausschnitt der Jacke prangte eine in Gold eingefasste Elfenbeinbrosche. Frau von Garnier besaß etliche Schmuckstücke, mit deren Verwendung sie sehr sparsam umging. Entweder sie trug ein paar funkelnde Ohrringe oder eine Perlenkette, mal einen schimmernden Ring. Sie hätte perfekt nach Sun-City gepasst, der Community für wohlhabende Pensionäre in Florida. Hier in der Münsteraner Seniorenresidenz nahe dem Park hatte sie es allerdings auch gut getroffen.

Alice zog ein Portemonnaie aus ihrer schmalen Umhängetasche und übergab mir mit zittrigen Fingern und den Worten »Der Rest ist für Sie« einen Hunderter, den ich dankend in die Jackentasche gleiten ließ.

Mit einem Mal sah sie befangen zu Boden. »Ich würde Sie übrigens gern mal zu mir ins Apartment einladen. Zu einem Plausch.« Ihre Miene hellte sich auf. »Wie ist es mit morgen? Falls ich beim Bingo gewinne, können wir die Schachtel Diätpralinen verdrücken; so schlecht schmecken die gar nicht. Natürlich bezahle ich Sie für Ihre Zeit.«

Bezahlen? »Aber nein, das auf keinen Fall. Ich … besuche Sie gern.« Eigentlich sollte man Privates und Berufliches voneinander trennen, doch in ihrem Fall machte ich gern mal eine Ausnahme. Zwischen ihr und mir war diese Grenze ohnehin fließend geworden. Bei unseren Sitzungen hatte sie stets ein offenes Ohr für mich. Oft stellte sie persönliche Fragen. So kannte sie die Details meiner Scheidung im letzten Jahr, war über meine seither beengte Wohnsituation im Bilde, wusste natürlich auch von der trennungsbedingten Geschäftsaufgabe. Ich hatte ihr außerdem davon erzählt, dass zwischen mir und meinen Eltern seit einem Jahrzehnt Funkstille herrschte. Nur von der Sache mit Oma hatte sie keine Ahnung. Die war Vickys und mein Geheimnis.

Eilig ließ ich mir ihren Terminvorschlag durch den Kopf gehen. Morgen Vormittag standen zwei Hausbesuche im Kreuzviertel an, um eins musste ich in Gremmendorf sein, danach in St. Mauritz.

»Gegen vier könnte es klappen«, sagte ich. »Und ich kann Kuchen aus Ihrer Lieblingsbäckerei mitbringen.«

»Ach, das wäre schön.« Alice schloss mich überraschend in die Arme. Normalerweise mied sie solche Vertraulichkeiten. Erstaunt atmete ich den Geruch ihres Alte-Damen-Parfüms ein. Als sie mich wieder losließ, traten wir in den lichtdurchfluteten Flur der Apartment-Residenz. Hier im Hauptgebäude befanden sich neben diesem Behandlungsraum, den ich mir mit einer Friseurin und einer Masseurin teilte, auch ein Restaurant, ein Gesellschaftsraum und eine Arztpraxis. Außerdem gab es wohl einen Notar, der regelmäßig Termine anbot und die Herrschaften in Erbangelegenheiten beriet. Hier wurde an alles gedacht, was das Leben im Alter erleichterte. Die Einrichtung mit knapp dreißig Wohneinheiten war erst vor wenigen Jahren erbaut worden. Im Inneren war es hell und modern. Das lag an der vom Boden bis zum Dach verglasten Rückseite des Gebäudes. Auf der angrenzenden Terrasse luden im Sommer Sitzgruppen und Liegestühle mit Hebeautomatik zum Verweilen ein. Jetzt waren die Buchsbäumchen in den Töpfen rund um die Fläche weihnachtlich geschmückt. Auch von der Decke in der Halle baumelte ein überdimensionierter Adventskranz, dessen elektrische Kerzen mit einer Fernbedienung an- und ausgeschaltet werden konnten.

»Und was haben Sie heute noch Schönes vor, meine Liebe?« Frau von Garnier deutete mit zittrigem Finger nach draußen. »Ist ja so ein schöner Tag.«

Sie hatte recht. Der graue Himmel hatte sich gelichtet, die Sonne lugte zwischen den Wolken hervor. Für Ende November war es mild. Noch ließ der Winter auf sich warten.

»Falls es so schön bleibt, treffe ich mich nachher noch mit einer Freundin und ihren zwei Kindern«, erklärte ich. »Wir werden wahrscheinlich eine kleine Runde auf der Promenade drehen und einen Abstecher auf den Spielplatz unternehmen.«

Die Promenade war ein autofreier Rundweg, der um die Münsteraner Innenstadt führte. Dank Fahrrädern und Elektrorollern musste man dennoch achtgeben, dass einen niemand über den Haufen fuhr. Auch Vickys Kids waren häufig mit Rollern unterwegs, allerdings mit der Sorte, die man selbst antreiben musste. Das Treffen mit meiner besten Freundin stand erst seit heute früh, da hatte sie mir ein Muss-dringend-mit-dir-reden getextet.

Ich konnte mir denken, worum es ging. Irgendwann würde sie auffliegen, und dann ging es wahrscheinlich nicht nur ihr, sondern auch mir an den Kragen.

»Das klingt nach einem hübschen Vorhaben«, antwortete Alice. »Genießen Sie den Tag, meine Liebe. Und lassen Sie ihn sich bloß nicht noch von Frau Bobrowski verderben.«

»Ach was, so schlimm ist die doch gar nicht.«

»Sagen Sie!« Schmunzelnd setzte sie sich in Bewegung.

»Frau von Garnier«, hielt ich sie zurück.

Wacklig kam sie zum Halt. »Ja?«

Ich zeigte in die entgegengesetzte Richtung. »Wollten Sie nicht zurück in Ihr Apartment? Das liegt doch hier entlang.«

Sie betrachtete mich erstaunt. Dann tippte sie sich an die Stirn. »Was ist nur mit meinen Gedanken los?«

»Soll ich Sie begleiten?«, bot ich an. Immerhin tat ich das auch bei anderen.

»Soweit wie bei der alten Bobrowski ist es noch nicht gekommen«, widersprach sie fest und machte sich von dannen.

Besagte Kundin wohnte ebenfalls in der Residenz, sie war heute als Letzte an der Reihe. Rasch trug ich etwas Tigerbalsam unter der Nase auf und begab mich auf den Weg durch die Flure, um sie aus ihrem Apartment in einem der Nebengebäude abzuholen.

Einige Menschen hier kamen nicht mehr gut allein zurecht. Diese unterstützte ein mobiler Pflegedienst, so wie Frau Bobrowski. Ich klopfte beherzt an ihre Zimmertür und trat ein.

Meine Kundin saß mit zurückgelehntem Kopf und offenstehendem Mund in ihrem Sessel. Ein leises Schnarchen war zu hören. Sie trug eine dieser Hosen mit dehnbarem Bund, die Alice vehement ablehnte, und eine weit geschnittene Hemdbluse, darüber einen rostbraunen Pullunder, den sie irgendwann einmal selbst gestrickt hatte. Inzwischen machten die von Arthrose verformten Finger da aber nicht mehr mit.

Sanft tippte ich ihr auf die Schulter. »Frau Bobrowski, hier ist Melissa. Ihre Beautyqueen.«

So nannte man mich hier. Die Beautyqueen. So hieß auch der Beautysalon, den ich bis zur Scheidung in der Ludgeristraße betrieben hatte. Drei Angestellte und ich hatten unsere Kundinnen mit Gesichtsanwendungen, Tages- und Abend-Make-up, festlichen Frisuren, Massagen, Nagelmodellage, Pediküre und Waxing verwöhnt. Hausbesuche wie diese hier hatten wir ebenfalls angeboten. Früher aber eben nicht ausschließlich. Nun war der Salon geschlossen, und ich tingelte mit meinem Köfferchen hierher oder in die Häuser anderer Damen. Im Frühjahr und Sommer kamen Hochzeiten dazu, dann frisierte und schminkte ich die Braut für ihren großen Tag. Dachte dabei an meine eigene gescheiterte Ehe und daran, dass ich auch mal so zukunftsfroh gestrahlt hatte. Das verflixte siebte Jahr hatten Patrick und ich leider nicht überstanden.

Abermals berührte ich meine Kundin. »Huhu, Frau Bobrowski. Aufwachen, bitte.«

Meine größte Sorge war, dass ich eines Tages eine der hiesigen Bewohnerinnen tot auffinden könnte. Es würde in einer Panikattacke enden, so viel stand fest.

Frau Bobrowski schlug die Augen auf, ihre Hand landete auf der Brust. »Melissa!« Ihr Gebiss gab ein schmatzendes Geräusch von sich. »Müssen Sie wie ein Geist hier auftauchen?«

Ich murmelte eine Entschuldigung.

Nun zog sie drei Zwanziger unter ihrem Po hervor und reichte sie mir. »Hier, wie immer vorab. Geben Sie Ihr Bestes.«

Ich steckte dankend das Geld ein und half ihr auf die Füße, führte sie zu ihrem Rollator. Gemächlich taperten wir zum Behandlungszimmer zurück.

»Das wird sicher schön nachher beim Bingo«, begann ich ein Gespräch, während ich ihr Haar schamponierte.

»Beim Bingo wird immer beschissen«, antwortete sie. »Besonders von unserer Adligen. Die Alice meldet sich bei Nummern, die sie gar nicht auf dem Zettel hat!«

Zum Glück konnte sie mein Grinsen nicht sehen. Frau von Garnier war ein Schlitzohr. Auch andere hatten mir schon davon erzählt, dass sie es beim Spiel mit der Ehrlichkeit nicht genau nahm und es dann auf ihre schlechten Augen schob. Dabei waren die gelasert, sie trug nicht mal eine Brille.

Ich spülte das Shampoo aus Frau Bobrowskis Haaren und band ihr ein Handtuch um den Kopf, widmete mich ein paar Hautunreinheiten und borstigen Härchen an ihrem Kinn. Auf Make-up legte sie keinen Wert. »Viel zu viel Aufwand«, fand sie. Sie bekam ohnehin selten Besuch, ab und zu schaute der Enkel oder die Tochter vorbei.

Im Stuhl vor dem Spiegel kämmte ich ihr Haar und sprühte einen Festiger auf, föhnte ein wenig Volumen hinein, das hoffentlich bis zum Bingo halten würde. Haareschneiden beherrschte ich nicht, das erledigte die Friseurin. Über ein Terminportal organisierten sie, die Masseurin und ich unsere Termine. Wir bezahlten eine geringe Miete an die Residenz, und nur dann, wenn wir den Raum auch benutzten.

Während der Föhn brummte, wanderte mein Blick durch das schmucklose Zimmer. Die Wände waren in sterilem Weiß gehalten, es gab nicht mal Bilder. Duftkerzen oder Räucherstäbchen waren verboten, und von Wellness-Musik aus einer Soundbox fühlten sich die meisten gestört. Sehr schade. Meinen früheren Salon mit seinen drei Bereichen – Gesicht, Körper, Nägel – hatte ich mit so viel Liebe eingerichtet und auch für Duft- und Klangerlebnisse gesorgt. Mein wehmütiges Seufzen wurde glücklicherweise vom Brummen des Föhns übertönt.

Ich legte Frau Bobrowski die letzte Strähne über die Schulter. »Ist es recht so?«

Sie starrte sich zwei Sekunden an. »Ja, geht.« Das Gebiss saugte sich schmatzend fest.

»Etwas Haarspray?«

»Von mir aus.«

Mit der Hand ihre Augen schützend betätigte ich die Sprühdose.

»Würden Sie das bei mir eigentlich auch machen wie bei der Alice, wenn ich gestorben bin?«, fragte sie, nachdem ich fertig war. »Und würden Sie dafür mehr oder weniger nehmen als sonst? Vorkasse, nehme ich an?«

Ich legte den Kopf schräg. »Was genau mache ich denn, wenn Alice gestorben ist?«

»Na, sie herrichten. Für die Aufbahrung.«

Mein Puls schoss in die Höhe, wie ein Tier, das sich vor einem Böller erschreckt hat. »Das müssen Sie falsch verstanden haben.« Abwehrend schüttelte ich den Kopf. »So etwas ist Sache des Bestatters.« Ich griff zum Pinsel, der mir fast aus der Hand fiel. »Heute vielleicht doch etwas Rouge? Nur einen Hauch, versprochen.« Jetzt beruhig dich mal. Es wird doch gar nicht dazu kommen.

»Falls Sie damit andeuten wollen, ich sei verwirrt – von wegen! Die Adlige hat gesagt, alle sollen sie noch mal so todschick wie zu Lebzeiten sehen. Und dass Sie dafür sorgen würden.« Sie hielt mir die Wange hin. »Machen Sie schon. Aber nicht übertreiben.«

Mit sanften Strichen pinselte ich einen Hauch Rouge auf und gab einen Tupfer aufs Kinn. »Dann ist mit der lieben Alice wohl die Fantasie durchgegangen«, bemühte ich mich um einen leichten Tonfall. »Außerdem wird Frau von Garnier bestimmt hundert Jahre alt. Wer weiß, wo ich bis dahin bin.« Hoffentlich nicht mehr hier, sondern wieder in einem eigenen Salon. Auch wenn es finanziell absolut nicht danach aussah. Ich wies zum Spiegel. »Fertig. Ich hoffe, Sie gefallen sich.«

»Geht schon. Ich würd dann mal wieder. Mein Enkel kommt heute noch.«

2

Auf dem Weg nach draußen klingelte ich bei Vicky durch. »Das Wetter scheint zu halten. Ich würde euch entgegengehen. Sollen wir uns Höhe Schlossplatz treffen?«

»Gut, bis gleich! Ich bring was zum Knabbern mit!«

Alles andere hätte mich auch überrascht, dachte ich schmunzelnd, während ich meinen in die Jahre gekommenen Mini vom Parkplatz der Seniorenresidenz steuerte. Vicky führte meistens ihren halben Hausrat mit sich, wenn sie mit den Kindern auf Achse war. Mit Sesam garnierte Dinkelbrezeln und Apfelstücke gehörten zum Standard. Dazu gab es stilles Wasser oder Caprisonne. Vicky war für alle Eventualitäten gewappnet: Sonnencreme, Pflaster, Feuchttücher – sogar eine Luftpumpe trug sie stets mit sich, auch dann, wenn die Kinder zu Fuß unterwegs waren.

Sie winkte mir schon von der Promenade. An ihrem Arm baumelte ein trendiger Picknickkorb aus Bambus. Wie immer sah meine Freundin blendend aus. Ihr honigblondes, dickes Haar war perfekt geglättet, ihr Teint frisch, die blauen Augen blitzten, und trotz der zwei Kinder besaß sie eine Topfigur. Sie sah aber nicht nur gut aus, sie war auch ein liebenswerter Mensch. Meistens jedenfalls. Wäre da nicht ihre »Nebentätigkeit« gewesen, die sie vor Paul, ihrem Mann, geheim hielt, hätte man ihr glatt einen Heiligenschein verpassen können.

Zur Begrüßung küssten wir uns auf die Wange.

»Schick siehst du aus«, lobte sie mich. Ihr Blick glitt anerkennend über meinen roten Mantel und die passenden Stiefeletten hinweg. Ich trug außerdem gern korallenfarbenen Lippenstift, der harmonierte am besten mit meinem kastanienbraunen welligen Haar.

Während die Kids auf den Rollern zum Spielplatz voraus kurvten, schlenderten wir hinterdrein.

»Alles okay mit Paul?«, fragte ich. Ich wünschte mir fast, sie hätte seinetwegen Gesprächsbedarf und es ginge nicht um das, was ich vermutete.

»Ja, wieso?«

»Weil du mich so dringend sprechen wolltest.«

»Ach so, nein, mit ihm ist alles normal.« Sie zog die Nase kraus. »Ich erzähl dir gleich, worum es geht. Lass uns erst mal ankommen.«

Während die Kids auf dem Spielplatz zu den Geräten stürmten, zog Vicky eine karierte Isomatte aus dem Korb und breitete sie auf der Parkbank aus. Darauf stellte sie den Picknickkorb, eine gepunktete Thermoskanne und passende bunte Dosen mit den üblichen Knabbereien für die Kinder ab. Um auf diesem Arrangement die Jahreszeit zu verdeutlichen, landeten ein paar Kastanien und Tannenzapfen, die sie aus einem Extrabeutel fischte, auf der Decke.

Seit ihrer Mutterschaft war meine Freundin zu einer vermeintlichen »Influencerin« avanciert. Sie betrieb einen Blog und ein Instagramprofil, auf dem sie sich und die Kids in Szene setzte. Die Sache brachte Vicky bisher weder Geld noch Ruhm, von »influence« konnte also kaum die Rede sein. Stattdessen diente das Ganze als Schein-Kulisse für ihre Einnahmen aus anderer Quelle. Wie sonst hätte sie Paul erklären sollen, woher ihr eigenes Einkommen stammte?

Ich wartete ab, bis sie Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln von der Komposition aufgenommen hatte. Anschließend mussten die Kids auf dem Klettergerüst für sie posen – ihre Gesichter würde sie später mit Smileys retuschieren – dann räumten wir endlich die Picknickdecke auf der Bank wieder frei und setzten uns. Vicky goss Kaffee aus der Thermoskanne und reichte mir einen Becher.

»Also.« Ihre Hand landete auf meinem Arm, sie schoss mir einen tiefgründigen Blick zu. »Ich muss dich mal wieder um einen Gefallen bitten.«

Ich hatte es ja bereits geahnt.

»Am Wochenende bräuchte ich dich dringend als Backup«, sprach sie weiter. »Von Samstag auf Sonntag.«

Ich schwenkte den Kaffee im Becher und trank einen Schluck. Samstag hatte ich nichts vor. Leider. Und Vicky war haargenau über mein nicht vorhandenes Sozialleben im Bilde. Andere hätten vielleicht gelogen, aber ich schaffte das nicht. »Was hast du vor?«

»Ein Treffen in Hamburg. In der Elbphilharmonie. Danach geht es noch in irgendeinen angesagten Club.« Sie strahlte. »Ich war seit der Grundschule nicht dort, ist das nicht verrückt? Wahrscheinlich werde ich nichts wiedererkennen!«

»Hamburg, ehrlich? Das sind doch mindestens drei Stunden mit dem Zug. Ist das mit Übernachtung?«

»Ja, und stell dir vor, ich bin in einem mega Nobelschuppen mit Spa untergebracht!« Ihre Augen blitzten. »Da kann von Arbeiten eigentlich gar nicht mehr die Rede sein, aber bezahlt werde ich natürlich trotzdem!«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Wieso lässt dein Auftraggeber so viel springen? Und da glaubst du wirklich, dieser Typ hegt keinerlei Hintergedanken?«

»Er lässt so viel springen, weil er es kann. Nichts da Hintergedanken. Wir haben einen Vertrag, in dem ist alles ganz genau geregelt. Anreise, Unterkunft, Bezahlung. Es gibt nicht den geringsten Grund zur Sorge.«

Besonders überzeugt von der Risikofreiheit dieser Aktion klang sie allerdings selbst nicht. Prüfend sah ich sie an. »Wie viel zahlt er dir denn?«

»Zweitausend«, hauchte sie.

Wow. »Ist der Typ etwa ein Scheich?«

Es sollte ein Witz sein, doch meine Freundin verzog keine Miene. »So ähnlich. Er ist ein Araber. Aus dem Oman.«

»Nicht dein Ernst, Vicky.«

»Er hat nur gute Bewertungen«, beteuerte sie. »Wird als äußerst höflich und zurückhaltend beschrieben. Es ist noch nie etwas vorgefallen mit ihm. Und er zahlt einfach zu gut, als dass ich ablehnen könnte. Er möchte unbedingt eine Blondine. Eine Art …«, sie räusperte sich, »… Barbie.«

»Du bist wirklich irre.«

»Jetzt sei keine Rassistin!«

»Bin ich nicht! Aber du bist einfach zu blauäugig, und zwar buchstäblich. Ob Araber oder nicht, ich finde das super riskant. Und viel zu weit weg.«

Vicky griff nach einer Dinkelsesamstange, knibbelte ein paar Körner ab. »Ich bin vorsichtig, ich schwöre. Wenn mir was komisch vorkommt, verschwinde ich. Bitte, Melli. Ich kann sonst keinen um ein Alibi bitten. Du bist die vertrauenswürdigste Freundin, die ich habe.«

Sie wusste, wie gern ich das hörte. Es machte mich zu etwas Besonderem. Zu ihrer einen besten Freundin, die ich schon als kleines Mädchen hatte sein wollen und schließlich an dem Tag wurde, seitdem uns etwas verband, das sonst niemand auf der ganzen Welt miteinander teilte. Und so wie sie mein Geheimnis mit Oma bewahrte, behielt ich alles für mich, was sie mir anvertraute. Dabei belasteten mich ihre Eskapaden mehr und mehr. Aber was sollte ich tun? Als Patrick und ich uns trennten, war sie bereit, alles für mich zu tun. Sie organisierte den halben Umzug, nahm mich sogar übergangsweise bei sich auf. Das würde ich ihr nie vergessen.

»Ich brauch einfach mein eigenes Geld, Melli«, sprach sie weiter. »Ich hasse es, finanziell von Paul abhängig zu sein. Und du weißt doch, dass er denkt, dass ich mit der Influencer-Sache gut verdiene. Ich habe ihm auch schon gesagt, dass ich einen neuen Auftrag an Land gezogen habe, der mir Cash einbringen wird. Bitte, Melli. Es wird alles gutgehen. Versprochen.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang«, murmelte ich. Das Vorhaben, endlich mal Nein zu ihr zu sagen, rückte in weite Ferne. Was hätte ich sonst tun sollen als nachgeben? Sie enttäuschen und damit unsere Freundschaft gefährden? Immerhin konnte sie mir später nicht vorwerfen, ich hätte sie nicht gewarnt.

Sie lehnte ihre Stirn an meine Schulter. »Danke.«

Neben uns auf der Bank nahm eine Schwangere Platz, ihre kleine Tochter stürmte zur Rutsche. Sie warf ihrer Mama einen Kussmund zu. Mein Herz zog sich sehnsüchtig zusammen.

Ich wandte den Blick ab. Wenn nur Paul keinen Wind von der Geschichte bekam. Jeder andere Mann hätte wahrscheinlich längst geahnt, dass etwas im Busch war, doch Vickys Ehemann war so mit seinem überaus wichtigen Job beschäftigt, dass er nichts mitkriegte. Wenn meine Freundin sich zu einem angeblichen Mädelsabend mit mir verabredete, gönnte er ihr das »von Herzen«. Zu Übernachtungen kam es sonst allerdings nie. Würde er diesmal hellhörig werden?

Vicky verteilte eine Runde Snacks an Lina und Malte. Als die Geschwister davonstoben, sagte sie: »Wenn ich mich mit irgendetwas revanchieren kann, sag Bescheid.«

»Wie du weißt, bin ich wunschlos glücklich.« Ich verdrehte die Augen.

»Nee, im Ernst. Vielleicht gibt es ja mal wieder etwas, womit ich dich unterstützen könnte? Soll Paul sich mal umhören nach einer größeren Wohnung? Finanziell dürfte es sich bei dir inzwischen doch stabilisiert haben. So viele Kundinnen, wie du hast …«

»Leider nicht.« Die Einnahmen deckten gerade so die Kosten. Die Scheidung von Patrick war wegen ungetilgter Kredite richtig teuer gewesen. Zum einen war da die Aufgabe unserer gemeinsamen Wohnung, und dann hatte ich den Salon abwickeln müssen, an dem er beteiligt gewesen war.

Vicky musterte mich von oben bis unten. Gesicht, Mantel, Schuhe. Ich kam mir vor wie eine Schaufensterpuppe. »Ist was?«

»Demnächst ist wieder die Weihnachtsfeier der Ärztekammer, zu der ich letztes Jahr einen Mediziner begleitet habe. Lass dich doch einfach auch in die Kartei aufnehmen. Ganz unverbindlich.«

Der Gedanke, wildfremde Typen bei so einem Event zu begleiten und den ganzen Abend stumpf vor mich hinzulächeln oder Interesse an deren Themen vorzutäuschen, war absurd. Mir fehlte da jede Lockerheit und Schlagfertigkeit.

Ich wehrte dankend ab und setzte ironisch hinzu: »Falls du dieses Jahr aber noch mal dort sein solltest, könntest du dich mal nach einen Frauenarzt für mich umhören.«

Gerade heute Morgen hatte ich unter der Dusche wieder Unregelmäßigkeiten in der Brust ertastet, die mich ein wenig beunruhigten. Andererseits hatte ich das schon öfter mal gedacht, und dann war nie etwas gewesen. Seitdem mein Frauenarzt im Frühjahr in Pension gegangen war, suchte ich nach einem Ersatz, aber niemand nahm neue Patientinnen auf. Nur Notfälle hatten eine Chance. Als solchen konnte man das wahrscheinlich nicht einordnen.

Vicky hob bedauernd die Schultern. »Mein Job als Begleitdame liegt woanders. Ich befürchte, da muss ich passen.«

»Verstehe schon.« Ich knuffte sie in die Seite. »Du bist eine Influencerin ohne Einfluss, Vicky. Das ist echt erbärmlich.«

Kichernd stießen wir mit den Kaffeebechern an.

* * *

Die Zweizimmerwohnung, die ich bald nach der Trennung von Patrick bezogen hatte, lag im beliebten Münsteraner Kreuzviertel. Von hier aus war ich ruckzuck in den Läden und Cafés der Altstadt und konnte am Samstag bequem zu Fuß die Einkäufe auf dem Marktplatz am Dom erledigen. Manchmal schlich ich mich in die Ludgeristraße, in deren Häuserzeile früher mein Salon lag. Heute war in den Räumlichkeiten eine Secondhand-Boutique untergebracht, in die ich bisher aus nostalgischen Gründen keinen Fuß gesetzt hatte. Bei diesen wehmütigen Streifzügen hatte ich festgestellt, dass wenige Gebäude weiter ein schmales Häuschen zum Verkauf stand, in dessen Untergeschoss sich ebenfalls ein Ladengeschäft unterbringen ließe. Für meine Bedürfnisse wäre es ideal gewesen. Inzwischen war es allerdings verkauft, doch die Umbauarbeiten waren zum Erliegen gekommen. Offenbar ging auch anderen irgendwann das Geld aus.

Der Wohnkomplex, in dem ich jetzt lebte, war ein hübscher, übereck gebauter Altbau. Der Teil, in dem ich wohnte, lag von der Straße zurückgesetzt, und so ergab sich im Winkel der beiden Hälften eine Freifläche, an der sich rechter Hand der Eingang zu einem Dönerladen befand. Im Sommer nutzte der Betreiber Ali Durmaz die Stelle für ein paar Tische und Bänke, im Winter stand der Platz leer.

Schon mit Patrick war ich häufig bei Ali zu Gast; sein Falafelsandwich war legendär. Das Brot buk er selbst, er setzte bei allem auf frische Zutaten. Ali war es auch gewesen, der sich nach der Trennung – während ich bei Vicky und ihrer Familie Unterschlupf gefunden hatte – in der Nachbarschaft nach einer passenden Wohnung für mich umgehört hatte. Er kannte »Allah und die Welt«, und so dauerte es gar nicht lange, bis ich in den linken Teil des Gebäudes einziehen konnte.

Es gab bloß einen Wermutstropfen bei der Sache: Der Geruch des gegrillten Dönerfleischs zog über irgendeinen Belüftungsschacht direkt in mein Badezimmer. Diesen Umstand bemerkte ich leider erst, nachdem ich eingezogen war. Bisher hatte ich mich nicht getraut, dieses leidige Thema bei Ali anzusprechen.

Gerade stopfte er Kartons in die Altpapiertonne und winkte mir zu. »Hallo, schönes Frau!«, rief er. Obwohl er astreines Deutsch sprach, mimte er gern den Klischeetürken. Angeblich förderte das die Geschäfte.

»Huhu, Ali!«, grüßte ich zurück.

Er schloss die Mülltonne und schlenderte zu mir herüber. »Es gibt übrigens super Neuigkeiten.« Er machte eine ausschweifende Handbewegung über den Platz hinweg. »Diese Woche bekomme ich Zuwachs.«

»Wie meinst du das?«

»Ich hab mir überlegt, hier in der Adventszeit eine Glühweinbude aufzustellen. Durch ein paar Connections bekam ich auf dem kleinen Dienstweg die Genehmigung.«

»Eine Glühweinbude? Du?«, wiederholte ich ungläubig.

»Ja, damit auf unserem bescheidenen Platz ein bisschen weihnachtliches Feeling aufkommt! Wer Bock auf Glühwein hat, bekommt danach vielleicht Appetit auf Döner. Und umgekehrt.«

»Klingt spitze. Da wünsche ich dir ganz viel Erfolg.«

»Kann ich gebrauchen.« Sein Kinn zeigte nach oben zu meiner Wohnung. »Und sonst? Alles okay in deinem kleinen Reich?« Er betrachtete mich eindringlich.

Möglicherweise wäre das der Moment gewesen, ihm von der Geruchsbelästigung im Badezimmer zu erzählen. Aber er hatte wegen seiner neuen Bude doch gerade so gute Laune. »Alles okay.«

»Super.« Er strahlte. »Du kommst mal auf einen Absacker vorbei, wenn das Büdchen steht, ja?«

»Wenn ich die Zeit finde«, antwortete ich ausweichend. »In der Vorweihnachtszeit wollen meine Kundinnen natürlich besonders gut aussehen.«

»Keine sieht so gut aus wie du.« Ali zwinkerte. »Aber das weißt du ja.«

Vor mich hin lächelnd stieg ich die Treppe nach oben. Seine Komplimente taten mir gut, doch ich maß ihnen wenig Bedeutung bei. Er flirtete mit allen Frauen. Auch wenn Vicky vehement behauptete, mit mir besonders. Eine Zeit lang hatte sie die fixe Idee, zwischen ihm und mir würde sich etwas entwickeln, aber über diese kleinen Flirts ging es nie hinaus.

In der Wohnung streifte ich die Stiefeletten von den Füßen und tauschte das Kleid gegen einen Hausanzug ein, schlüpfte in gemütliche Puschen. Im Bad betrachtete ich kritisch meine blasse Haut im Spiegel. Ali würde sich wundern, mich ungeschminkt und in Freizeitklamotten zu sehen.

Im Wohnzimmer kuschelte ich mich aufs Sofa und knabberte ein paar Kekse, nippte an einer Tasse Tee. An der Vorweihnachtszeit liebte ich den Kerzenschein und den Duft nach Zimt und Zucker. Auf dem Couchtisch stand schon ein Adventskranz bereit. Seit ich geschieden war, quälte mich die Aussicht auf den unerbittlich näher rückenden Heiligabend allerdings eher. Vermutlich würde ich mir mutterseelenallein Aschenbrödel und Der kleine Lord ansehen und mich nach einer glücklichen Kindheit sehnen, die ich nie hatte. Hätte ich das nötige Kleingeld besessen, wäre ich in wärmere Gefilde geflüchtet. Es grenzte an Ironie, dass mein Ex-Mann inzwischen ganzjährig auf Mallorca lebte und dort eine Motorradfahrschule betrieb. Manchmal konnte ich nicht fassen, dass ich eine geschiedene Frau war. Dabei hatte es so gut mit uns begonnen. Neben der Liebe zueinander waren wir uns in so vielen Dingen einig gewesen. Allen voran darin, dass wir beruflich unabhängig sein und keine Kinder in die Welt setzen wollten. Er war damals bereits Teilhaber einer gutgehenden Fahrschule und half mir dabei, den Beautysalon zu eröffnen. Zwei Umstände hatte ich nicht wissen können: Dass eines Tages doch ein Kinderwunsch in mir aufflackern würde. Und dass Patrick ein Aggressionsproblem hatte. Wenn die Dinge mal nicht so liefen, wie er sie gerne gehabt hätte, neigte er zu lautstarken Wutausbrüchen. Das war oft peinlich gewesen, vor allem weil die halbe Nachbarschaft gedacht hatte, er werde mir gegenüber handgreiflich. Dabei war das nie der Fall. Seinen Fahrschülern hatte er mit seinen Rappeln schon mehr zugesetzt. Wegen seiner Aggressionsprobleme war er sogar zur Kur auf Mallorca, wo er lernte, auf Sandsäcke einzudreschen. Gerettet hatte uns das allerdings auch nicht, denn bald nach seiner Rückkehr stellte er fest, dass ihn hier nichts mehr hielt.

Natürlich hätte ich mich an Heiligabend wieder Vicky, Paul und den Kids anschließen können, aber ich wollte das nicht mehr. Wenn Paul dahinterkommen würde, dass ich Vickys Aktivitäten deckte, würde er mich zu Recht als Verräterin bezeichnen.

Verzagt knabberte ich noch einen Keks. Wie sollte ich Vicky bloß die Sache in Hamburg ausreden? Das konnte nicht gutgehen.

Seufzend griff ich zur Fernbedienung und beschloss, das unheilvolle Bauchgefühl zu verdrängen.

3

Die beiden ersten Kundinnen des nächsten Tages wohnten eine Straße weiter. Die Rentnerinnen buchten mich immer zu zweit. Während sie am Sektchen nippten und sich über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft austauschten, entfernte ich Hautunreinheiten und trug Feuchtigkeitsmasken auf, bot Gesichtsmassagen und Pflege an. Einen Großteil des Umsatzes erzielte ich mit dem Verkauf von Pflegeprodukten einer Biomarke, die ich reinen Gewissens empfehlen konnte. Auch heute kauften die beiden mir etwas ab und spendierten mir ein großzügiges Trinkgeld.

Später am Nachmittag – bevor ich zu der Verabredung mit Alice von Garnier aufbrechen würde – war Frau Bergmann in St. Mauritz an der Reihe. Vor einem Jahr Witwe geworden, lebte sie seither allein in einem freistehenden Einfamilienhaus in typischer Klinkerbauweise. An der Wäschespinne im Garten flatterten selbst an einem trüben Novembertag wie diesem bunte Handtücher und blütenweiße Männerunterhosen. Bei einer unserer Sitzungen hatte sie mir anvertraut, dass sie diese Buxen regelmäßig zu anderen Wäschestücken an die Leine hängte, um potentiellen Diebesbanden zu suggerieren, dass ein Mann im Haus lebte. Anscheinend ahnte sie nicht, dass diese Art Unterhosen keinen gut gebauten jungen Kerl erwarten ließen und keineswegs abschreckend wirkten.

In Ingrid Bergmanns Hausflur streifte ich die Schuhe von den Füßen und stellte sie auf ein Regal; der Mantel kam auf einen Bügel und in einen Garderobenschrank. So hatte sie es mir bei meinem ersten Besuch gezeigt, und ich hielt mich daran. Neben einer Essecke und dem Sofa gab es in ihrem Wohnzimmer einen Sessel, der zur Terrasse hin ausgerichtet war. Inzwischen wusste ich, dass sie niemals darinsaß. Es war das bevorzugte Möbelstück ihres Mannes; an ihn erinnerten etliche Bilder auf dem Sideboard. Die gerahmten Fotos mit den beiden in jungen Jahren händchenhaltend nebeneinander auf einer Bank auf der Promenade sitzend, rührten mich jedes Mal. Ebenso wie das nachgestellte Hochzeitsfoto, das zwei Wochen nach der eigentlichen Trauung aufgenommen werden musste, weil der Fotograf bei der Hochzeit vergessen hatte, einen Film einzulegen.

Unterm Sofatisch lag ein orientalischer Teppich, dessen Fransen gebürstet waren. Auch auf ihr eigenes Äußeres achtete Frau Bergmann sehr. Akribisch befolgte sie alle Schminktipps, die ich ihr bisher erteilt hatte und benutzte die gesamte Pflegelinie. Die wöchentlichen Besuche bei ihr wären gar nicht nötig gewesen, doch wie bei den meisten älteren Herrschaften war ich die Einzige, die regelmäßig vorbeikam. Sie und Frau von Garnier gehörten zu meinem treuesten Kundenstamm. Die beiden kannten sich über die Residenz, Frau Bergmanns Schwiegermutter hatte dort die letzten Lebensjahre verbracht. Wenn Frau Bergmann, so wie jetzt, mit geschlossenen Lidern vor mir saß und von ihren Theater- und Museumsbesuchen erzählte, die sie seit dem Tod ihres Werners solo unternahm, klang dabei Wehmut mit. Uns beiden ging es mit dem Singledasein ähnlich, auch wenn mein Mann nicht tot, sondern nur gegangen war.

»Ich wollte Sie mal etwas fragen«, sprach Frau Bergmann in meine Gedanken hinein.

»Ja?«

»Meinen Sie, ich sollte mich bei einer dieser Kontaktbörsen anmelden, von denen alle sprechen?« Sie öffnete ein Auge. »Oder bin ich dafür zu alt?«

»Für die Liebe ist man nie zu alt, Frau Bergmann.«

»So nun auch wieder nicht. Ich würde gern einen gebildeten Herrn meines Alters kennenlernen, der sich für gemeinsame Unternehmungen interessiert.« Sie errötete. »Außerhalb des Schlafzimmers meine ich.«

»Vielleicht wäre dann eine Anzeige in der Zeitung sinnvoller als eine Dating App«, wandte ich ein. »Ältere Herren haben die oft noch abonniert. Wie wäre es mit ›Suche gebildeten Herrn um die siebzig mit Interesse an gemeinsamen Theater- und Museumsbesuchen. Bei gegenseitiger Sympathie gerne mehr‹, oder so ähnlich.«

Ingrid Bergmann bekam einen Schluckauf. »›Gerne mehr‹? Um Himmels Willen.«

»Dann eben ohne den Zusatz. Ich denke schon, dass es Männer in Ihrem Alter gibt, die sich nach einer weiblichen Begleitung sehnen.« Unweigerlich dachte ich an Vicky. Ihr betagtester Auftraggeber war zweiundachtzig gewesen.

»Ach nein«, Frau Bergmann schüttelte den Kopf, »ich glaube, ich bin doch noch nicht soweit.«

Ich lächelte ihr aufmunternd zu. »Es ist gut, wenn Sie da auf Ihre innere Stimme hören. Das tue ich auch. Bisher habe ich mich auch noch nirgends angemeldet.«

»An Ihrer Stelle würde ich es aber bestimmt tun«, sprach Ingrid Bergmann weiter. »Sie sind so eine adrette und sympathische junge Frau. Hätte ich einen Sohn im passenden Alter, würde ich Sie beide einander sofort vorstellen.«

»Das ist sehr nett, vielen Dank.«

»Nein, das meine ich wirklich ernst. Ihre Kurven sitzen genau an den richtigen Stellen.« Sie markierte mit ihren Händen eine Linie in der Luft. »Wie bei einem Cello.«

Belustigt presste ich die Lippen aufeinander.

»Sollte ich doch mal einen netten Herrn mit Sohn kennenlernen, werde ich Sie jedenfalls miteinander bekannt machen.«

Vergnügt zwinkerte ich ihr zu. »Ich werde Sie beim Wort nehmen, liebe Frau Bergmann.«

* * *

Mit einem »Pünktlich wie die Maurer!« bat Alice von Garnier mich eine knappe Stunde später in ihr Apartment in der Seniorenresidenz. Trotz Gehstock hielt sie ihren knochigen Körper noch immer gerade. Man sah ihr an, dass sie viel Sport getrieben hatte. So bezeugten es auch die Pokale auf dem Regal im Flur. Sie hatte die Trophäen als junge Turnerin auf internationalen Wettkämpfen gewonnen. Bei unseren Plaudereien im Behandlungszimmer hatte ich außerdem erfahren, dass sie etliche Jahre als Sportlehrerin gearbeitet und später in einem Verein Gymnastikkurse angeboten hatte. Obendrein war sie viel gereist. Auch wenn sie nie mit mir über ihre Familie gesprochen hatte – bei diesem Thema fiel stets ein Schatten über ihr Gesicht – so wusste ich immerhin, dass sie einen großen Bekanntenkreis besaß.

»Eine Schlossführung, bevor wir uns stärken?«, fragte sie, nachdem ich den versprochenen Kuchen in ihrer Küche abgestellt hatte. Kaffee tröpfelte bereits aus der Maschine in eine Kanne.

Schmunzelnd folgte ich ihr ins Wohnzimmer, von dem auch ein Balkon abging. Von hier aus hatte man einen Blick in den weitläufigen Park. Die hohe Kastanie nahe dem Gebäude spendete im Sommer bestimmt erstklassigen Schatten.

Die Souvenirs ihrer Reisen waren wie die Pokale im Flur auf Regalen drapiert. Geschnitzte Elefanten aus Namibia, gestickte Drachen aus China, Matroschkas und Ikonen aus Russland. Einer ihrer Beistelltische stammte aus Marokko, ein anderer aus Indien. Staunend betrachtete ich die edlen Stücke.

»Sie sind noch nicht viel herumgekommen, stimmt’s?«, fragte sie.

»Als Selbstständige ist man ja irgendwie immer im Job, und dann sind solche Reisen ja auch ziemlich kostspielig. Vielleicht klappt es ja, wenn ich mal in Rente bin.« Ich zog die Nase kraus. Dazu müsste ich allerdings erst mal etwas in die Rentenkasse einzahlen. Um das Thema nicht zu vertiefen, zeigte ich auf den alten Plattenspieler auf einem der Tischchen. »Funktioniert der noch?«

»Und ob!« Alice öffnete den Wohnzimmerschrank, in dem sich reihenweise Schallplatten verbargen, und deutete einladend darauf.

Staunend zog ich eine heraus. Das kolorierte Cover zeigte die junge Aretha Franklin mit Sechzigerjahre-Hochsteckfrisur. Today I Sing the Blues, las ich. Ich wendete die Platte.

»Das Album stammt aus dem Jahre 1969«, sagte Alice. »Es ist ein Original. Freunde aus den USA haben es mir geschickt. Ich habe dort einen Teil meiner Jugend verbracht. Bei Ausbruch des Krieges sind meine Eltern mit mir dorthin gegangen und erst danach zurückgekehrt.« Sie zeigte auf den Plattenspieler. »Wollen Sie mal reinhören?«

»Sehr gerne.« Andächtig fischte ich die Vinylscheibe aus ihrer Hülle und platzierte sie auf dem Plattenteller. »Wie ging das nochmal?« Ich gehörte zu der Generation, die mit CDs aufgewachsen war.

Frau von Garnier hob den Plattenarm an, der Teller setzte sich in Gang. Sie hatte Mühe, die erste Rille zu treffen, doch ich wollte nicht eingreifen. Schließlich gelang es ihr, und aus zwei Lautsprechern ertönten blecherne Musik und die unverwechselbare Stimme der Künstlerin.

Ich zog ein weiteres Album hervor. Etta James, las ich, das nächste stammte von Dianne Warwick. Die Cover waren erstklassig erhalten, als wären sie mit größter Vorsicht behandelt worden. »Wahnsinn«, murmelte ich.

Man musste keine Musikexpertin sein, um zu erfassen, dass es sich bei dieser Sammlung um einen Schatz handelte.

»Auf diese Auslese sind einige ganz wild«, sagte Alice schmunzelnd. »Aber ich wüsste schon ganz genau, wem ich die vermachen würde. Genauso wie meinen Schmuck.«

Weder im Flur noch im Wohnzimmer gab es gerahmte Fotos von Familienmitgliedern; die Schmuckstücke, die sie gerne trug, hatte ich auch nirgends erblickt. Wahrscheinlich war beides gut verwahrt.

»Jetzt machen wir uns aber mal über den Kuchen her«, sagte sie.

Auf dem Tisch am Fenster hatte sie einen in die Jahre gekommenen Laptop mit verkabelter Maus ordentlich beiseitegeschoben.

»Sie haben es hier wirklich hübsch getroffen«, lobte ich die Aussicht in den Park und gab ihr ein Stück Kuchen auf den Teller, setzte mich zu ihr. »Sie wollten etwas mit mir besprechen? Worum geht es denn?«

Über die Lautsprecher schallte weiter Aretha Franklin.

Alice trennte mit der Gabel eine Ecke Kuchen ab und steckte sie sich in den Mund; Krümel kullerten auf den Teller und darüber hinaus. Ich nahm ebenfalls einen Bissen.

Sie wischte sich mit der Serviette über die Lippen. »Reden wir nicht lange um den heißen Brei. Ich wollte Sie um etwas bitten.«

Abwartend trank ich einen Schluck Kaffee. Er war erstaunlich kräftig, obwohl wahrscheinlich koffeinfrei.

»Es geht um meine Beerdigung.«

Mit einem Klirren setzte ich die Kaffeetasse ab. Sofort hämmerte das Herz in meiner Brust. Garantiert ging es um das, was Frau Bobrowski angedeutet hatte. Ich hatte doch von Anfang an geahnt, dass es keine gute Idee war, so viel mit alten Menschen zu tun zu haben. Weil es mich jederzeit an dieses dunkle Kapitel in meiner Vergangenheit erinnern könnte, das ich so gerne vergessen würde.

Ich schluckte und schob die Hände unter die Oberschenkel, damit Alice das Zittern nicht bemerkte. »Ich hatte gehofft, wir unterhalten uns über etwas Schönes. Über Ihre Plattensammlung oder Ihre Reisen zum Beispiel.«

Sie winkte ab. »Das alles habe ich lange hinter mir gelassen. Es geht ums Hier und Jetzt. Sie sorgen nun schon eine ganze Weile dafür, dass ich gut aussehe. Und das möchte ich auch bei meiner Aufbahrung. Deswegen wäre es wunderbar, wenn Sie mich für meinen letzten großen Auftritt herrichten würden.«

Ich versuchte alles, um sachlich zu bleiben. »Frau von Garnier. Kein Mensch weiß, wann Ihre Zeit kommen wird – ich bin dann vielleicht gar nicht mehr hier tätig.« Zwar hatte ich keine Ahnung, wo ich sonst arbeiten würde. Meine Zukunftspläne reichten ja nicht mal für Weihnachten.

---ENDE DER LESEPROBE---