Erinnerungen eines "Kofferträgers" - Fritz Fischer - E-Book

Erinnerungen eines "Kofferträgers" E-Book

Fritz Fischer

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Beschreibung

Dr. Fritz Fischer war Bundesbeamter in verschiedenen ­Ministerien und dabei für die Nord-Süd-Kommission sowie mehrere Jahre bei der Weltbank und dem IWF in Washington abgeordnet. In diesem Buch berichtet er über seine Arbeit mit Karl Schiller, Helmut Schmidt und Willy Brandt, die er alle sehr geschätzt hat. Er würdigt ihre politischen Verdienste, zeigt aber auch ihre menschliche, private Seite. Weiter gibt er Einblicke in die Arbeit der Weltbank und des IWF und stellt Überlegungen an, wie diese mitunter schwerfälligen und zumeist getrennt operierenden Institutionen mit ihrer gewaltigen Finanzkraft noch effektiver und zeitgemäßer wirken könnten. Was hierbei die EU angeht, so könnte sie eine viel größere Rolle spielen, wenn die gegenwärtige Zersplitterung auf zahlreiche Stimmrechtsgruppen mit Nicht-EU-Ländern beendet würde und letztlich die Gemeinschaft mit einer Stimme sprechen könnte. Vor dem Leser breitet sich das überaus ereignisreiche Leben eines scharfen Beobachters, humorvollen und prag­matischen und bei allem Pflichtbewusstsein so gar nicht "typischen" Beamten aus. Mit der gewählten Erzählform als Anekdotensammlung wird der Leser zugleich zum gelegentlichen und entspannenden Schmunzeln einge­laden.

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Seitenzahl: 319

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Der Autor hat Rechtswissenschaft an den Universitäten Hamburg, Freiburg, Berlin und Kiel studiert, wo er 1965 promoviert wurde mit einer Arbeit über »Die institutionalisierte Vertretung der Verbände in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft«. Nach Studien am Europa Kolleg in Brügge/Belgien und an der Indiana University in Bloomington/USA (das er mit einem Master of Laws abschloss) sowie einer Tätigkeit bei der EWG-Kommission in Brüssel trat Dr. Fischer nach dem Assessorexamen 1966 in Bonn in das Bundesministerium für Wirtschaft ein und siedelte später in das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit über.

Während dieser Zeit war er enger Mitarbeit der Minister Karl Schiller und Helmut Schmidt und assistierte danach Willy Brandt als dem Vorsitzenden der internationalen Nord-Süd Kommission. Auf dieser Grundlage wurde er 1984 zum Exekutivsekretär des Gemeinsamen Entwicklungsausschusses von Weltbank/IWF (Development Committee) in Washington gewählt und war von 1991 bis 1996 dort deutscher Exekutivdirektor bei der Weltbank.

Seine internationale Tätigkeit führte ihn in alle Erdteile und vergrößerte seine Sympathie für Schönheit und Kultur der sog. Dritten Welt.

Fritz Fischer

Erinnerungen eines »Kofferträgers«

Anekdoten aus einem bewegtenBeamtenleben mit Karl Schiller,Helmut Schmidt und Willy Brandt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 by edition fischer GmbHOrber Str. 30, D-60386 Frankfurt/MainAlle Rechte vorbehaltenSchriftart: PalatinoHerstellung: ef/bf/1BISBN 978-3-86455-671-5 EPUB

Es kommt nicht darauf an,dem Leben mehr Jahre zu geben,sondern den Jahren mehr Leben.Alexis Carrel

Inhalt

Einleitung

Wie wird man Persönlicher Referent?

Meine Zeit mit Karl Schiller

Die Arbeit mit Helmut Schmidt

Arbeit mit Willy Brandt

Würdigung des Brandt Berichts und seines Vorsitzenden

Meine Sekretärsfunktion beim Gemeinsamen Entwicklungsausschuss von Weltbank/IWF in Washington 1984–87

Einige Ankedoten aus meinem »normalen« Beamtenleben

Anekdoten aus Asien

Anekdoten aus Fidschi und Mauritius

Anekdoten aus Europa

Einige autobezogene und andere Anekdoten aus Afrika

Erinnerungen an Südamerika

Anekdotische Eindrücke aus der Karibik

Eindrücke aus meinem langjährigen USA-Aufenthalt

Meine letzte, höchst interessante Dienstreise in den Jemen im Frühjahr 1998

Meine Erfahrungen mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds

Anmerkungen zu meiner eigenen Biografie im Entwicklungsbereich

Schlussbemerkungen

Bildnachweis

Einleitung

Bei meinem Eintritt in die Bonner Bundesverwaltung 1966 hatte ich mir nicht vorstellen können, wie abwechslungsreich sich meine Tätigkeit gestalten und wieviel Anekdotisches sich über die Jahre ansammeln würde. So wurde ich im Bekanntenkreis immer wieder ermuntert, dies doch einmal aufzuschreiben und damit vielleicht auch einem breiteren Leserkreis zugänglich zu machen.

Dem komme ich nunmehr nach einigem Zögern gern nach, auch wenn seitdem über 50 Jahre vergangen und meine damaligen Chefs inzwischen alle verstorben sind. Doch alle drei (Schiller, Schmidt und Brandt) haben seit Beginn der ersten Großen Koalition im Dezember 1966 einen wichtigen Zeitabschnitt der (west)deutschen Nachkriegsgeschichte mitgestaltet und damit die SPD nach Jahrzehnten in der Opposition regierungsfähig gemacht. So verdient ihr beeindruckender Beitrag durchaus eine persönliche Erinnerung, zumal diese erste Koalition im Unterschied zur Groko von 2018 damals bei der SPD von freudigem Mitregieren-Wollen getragen war. Daher dürfte diese Rückschau nicht nur bei nachfolgenden Generationen, sondern nach der Wiedervereinigung auch bei dem einen oder anderen ostdeutschen Bundesbürger auf Interesse stoßen.

Dabei habe ich für meine anekdotischen Erinnerungen weder Tagebücher geführt noch während meiner ministeriellen Tätigkeit passende Dokumente beiseitegelegt, wie es Memoirenschreiber oft tun. Insofern bin ich weitgehend auf mein Gedächtnis angewiesen und erstaunt, wieviel dort offenbar noch »archiviert« ist. Dabei war ich nicht dem Zwang mancher Memoirenautoren ausgesetzt, zu ihrer Entlasung möglichst viel Rechtfertigendes unterzubringen, und als Ruheständler sind mir vergleichsweise weniger Beschränkungen auferlegt, um – bei aller gebotenen Diskretion – »frei von der Leber« weg viel Anekdotisches so zu berichten, wie es tatsächlich passiert ist.

Hierbei hat es sich – bei aller Konzentration auf meine drei »Chefs« – für angezeigt erwiesen, in einem weiteren Teil dieser Aufzeichnungen auch einige anekdotische Begebenheiten und Beobachtungen aus meiner »normalen« Beamtentätigkeit wiederzugeben und sodann mit einigen offenen und sehr persönlichen Bewertungen der internationalen und deutschen Szenerie abzurunden, die mir seitdem erinnerungswürdig erschienen sind. Damit offeriere ich dem geneigten Leser auf drei miteinander verknüpften Ebenen eine Mischung aus Schmunzeln und Einsichten sowie einen gewissen »Blick hinter die Kulissen«. Ich hoffe, dass mir das gelungen ist.

Mit meinen Anekdoten und persönlichen Erinnerungen möchte ich zugleich noch einmal meine Hochachtung für die drei Politiker zum Ausdruck bringen, denen ich – über unterschiedliche Zeiträume hinweg – als enger Mitarbeiter dienen durfte. Sie haben sich alle unermüdlich um unser Land und Ansehen in der Welt verdient gemacht, und es war daher sehr befriedigend, ihnen hierbei assistieren zu dürfen, auch wenn bei dieser Tätigkeit das eigene Privatleben sicherlich zu kurz kam.

Wie wird man Persönlicher Referent?

Im Allgemeinen gibt es für diese Tätigkeit zwei Einstiegsmöglichkeiten: Oft bringt ein Minister einen Teil seiner engen Mitarbeiter mit. Sie sind zumeist Parteimitglieder oder frühere Assistenten und werden sodann im Ministerium mit entsprechenden Aufgaben betraut. Das hat zwar einerseits den Vorteil, dass damit das notwendige Vertrauen von Anfang an gegeben ist, auch wenn sich damit die Problematik von zuviel parteipolitischem Einfluss erhöht. Vor allem ist aber auch kritisch anzumerken, dass ein solcher gänzlich neuer Persönlicher Referent das Ministerium zumeist nicht kennt und oft auch nicht die notwendige Verwaltungserfahrung hat. Insofern spricht einiges dafür, dass ein Persönlicher Referent stattdessen von der Personalabteilung des Ministeriums ausgewählt und – zumeist zusammen mit anderen Kandidaten – vorgeschlagen wird. Dann hätte der Minister nach entsprechenden Gesprächen eine Wahl zu treffen. Dabei spielt eine Parteizugehörigkeit im Idealfall keine Rolle, und so gehörte auch ich seinerzeit keiner Partei an.

Im englischen System ist es offenbar so, dass ein Minister nur einen einzigen persönlichen Berater mitbringen darf und er im übigen das gesamte Ministerium ohne weitere Veränderungen übernimmt. Das ist bei uns bekanntlich anders, und daher werden bei einem Regierungswechsel die meisten Staatssekretäre sowie Ministerialdirektoren in den einstweiligen Ruhestand versetzt, in dem sie zumeist auch verbleiben. Daneben werden bei einem Regierungswechsel enge Mitarbeiter des Ministers woanders beschäftigt (wie z. B. Pressesprecher) oder verlassen von sich aus das Ministerium. Allerdings sind die personellen Veränderungen bei uns auch nicht so umfassend wie beispielsweise in der US-Verwaltung. Dort findet auch selbst dann zumeist ein tiefgreifender personeller Wechsel statt, wenn ein Präsident aus derselben Partei kommt wie sein Vorgänger. Dabei herrscht zumeist eine Grundhaltung vor, vieles von dem in Frage zu stellen oder bewusst das Gegenteil von dem zu entscheiden, was der Vorgänger oder seine Regierung im Einzelnen vertreten hatten. So werden auch immer wieder internationale Verträge oder Abkommen in Zweifel gezogen, was die weltweite Zusammenarbeit und Kontinuität nicht einfacher macht.

Insgesamt ist anzumerken, dass für einen Persönlichen Referenten neben einer fachlichen Qualifikation vor allem das persönliche Vertrauen des Ministers die entscheidende Rolle spielt, wobei eine gewisse landsmannschaftliche Verbundenheit nicht schaden kann. Wenn zwischen beiden die notwendige »Chemie« nicht stimmt, ist eine dauerhafte Zusammenarbeit kaum möglich und ein baldiger Wechsel angezeigt. Im umgekehrten Fall führen gute Beziehungen oft dazu, dass man länger in der Position bleibt, als man eigentlich möchte, weil der Minister zumeist personellem Wechsel – als für ihn unbequem – ablehnend gegenübersteht.

Was sind die Aufgaben eines Persönlichen Referenten?

Auch wenn es eine Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien gibt, so ist dort die spezielle Aufgabe eines Persönlichen Referenten nicht beschrieben und ergibt sich in ihrer Vielfalt eigentlich von selbst. Die oft neidvollgehässige Bezeichnung »Kofferträger« umschreibt daher nur eine Kurzform, obwohl diese Funktion beim amerikanischen Präsidenten eine zusätzliche Bedeutung hat. Dort trägt bekanntlich ein hoher Begleitmilitär den Koffer mit dem nuklearen Befehls-Code ständig mit sich.

Abgesehen von diesem Sonderfall des »Atomkoffers« ist ein Persönlicher Referent aber praktisch ein »Mädchen für alles«. Das reicht von der Sichtung von Ministervorlagen bis zur Besucherbetreuung sowie Organisation von Veranstaltungen innerhalb und außerhalb des Ministeriums. Dazu zählt auch und zuvörderst die Vorbereitung von Reisen, was sorgfältige Planung in Anspruch nimmt, bei der oft das Auswärtige Amt mit eingeschaltet ist.

Während der Reisen, besonders im Flugzeug, enthält der Koffer neben Konferenzunterlagen, Redetexten usw. auch ganz triviale Sachen wie Locher (um die letzten Akten noch einzuordnen), Marker zum Hervorheben, Heftklammern sowie leere Blätter für wichtige Notizen des Ministers usw. Es sei noch erwähnt, dass für eine solche Position naturgemäß ausreichende Sprachkenntnissse, vor allem englisch-amerikanische, unerlässlich sind. Die Auswahl von Gastgeschenken stellt ein weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld dar, wie auch passende Menü-Vorschläge für offizielle Essen des Ministers, bei denen auch religiöse oder vegetarische/vegane und allergische Beschränkungen des Gastes zu beachten sind.

Kurzum, alles, was der Entlastung des Ministers und der Vorbereitung seiner vielfältigen Funktionen innerhalb und außerhalb des Ministeriums dient, obliegt – im Benehmen mit dem Leiter des Ministerbüros – dem Persönlichen Referenten, und er darf dabei nichts Wichtiges übersehen, was beim hektischen Tagesgeschäft besondere Sorgfalt erfordert. Ein solcher Mitarbeiter ist letztlich dem Minister allein verantwortlich und nicht Teil der üblichen Hierarchie eines Ministeriums. Hinzu kommt, dass für viele Tätigeiten die Ministeriumsverwaltung ungeeignet (z. B. bei Beileidsschreiben) oder bei Eilsachen oft zu langsam ist.

Es ist unerlässlich, dass auch die physische Belastbarkeit enorm ist und eine gute Konstitution verlangt; denn als Persönlicher Referent kann man nach Rückkehr von einer langen Auslandsreise mit dem Minister nicht einfach zuhause bleiben, um den Jetlag zu überwinden; sondern muss unmittelbar nach der Rückkehr wieder mit vollem Einsatz Schreibtischarbeit leisten und den inzwischen angehäuften Aktenstapel abarbeiten, von der Vorbereitung neuer Dienstreisen ganz zu schweigen.

Ein derart tätiger Mitarbeiter hat praktisch wenig Privatleben. Daher ist es verständlich, dass ich in meinem Fall nach einem Jahr ernsthaft darum bat, eine andere Funktion auszuüben, was mir nach einigem Insistieren durch eine Beschäftigung bei der EWG in Brüssel auch gelang. Da aber in Bonn der Minister mich offenbar vermisste, wurde ich nach einem halben Jahr nach Bonn zurückbeordert. Darin zeigt sich ein gewisses Dilemma zwischen einerseits einer gewissen Eigensüchtigkeit des Ministers, der ungern einen ihm genehmen Mitarbeiter gehen lässt, und andererseits dem Persönlichen Referenten, der sich gern wieder »freischwimmen« möchte, aber sich durch seine Unentbehrlichkeit letztlich selbst schadet.

Als junger Regierungsrat fühlte ich mich damals durch den Rückruf aus Brüssel geschmeichelt und diente darauf meinem Minister für weitere Jahre in diesem anstrengenden Amt, ohne dass sich das beruflich allzusehr auszahlte, weil der Minister – anders als manche Kollegen (z. B. im Auswärtigen Amt) – bei »belohnenden Beförderungen« engerer Mitarbeiter sehr zurückhaltend war. Man denke hierbei mit Blick auf das AA als Beispiel nur an Kinkel, der letztlich vom Beamten bis zum Außenminister aufstieg.

Neben den konventionellen Aufgaben in einem Ministerbüro ist ein Persönlicher Referent zuweilen auch für skurrile Vorkommnisse »zuständig«, z. B. wenn der Pförtner von einer Besucherin berichtet, welche sich als die wahre englische Königin ausgibt. In diesem Fall kann man ja schlechterdings nicht die Polizei rufen und die Dame »abführen« lassen, sondern muss sich etwas Zeit für ein Gespräch und einen Kaffee nehmen, bis sie von allein das Gebäude wieder verlässt. Wenn zur Weihnachtszeit einige Botschaften ihre mehr oder minder passenden Gastgeschenke abliefern, muss man halt – in Kontakt mit Altersheimen usw. – sehen, wo der Sack Kaffee oder ein Haufen Apfelsinen hingebracht werden können.

Auch das kann passieren: Eines Tages besuchte mich ein bekannter Bonner Fotograf. Er zeigte mir ein Foto von einem Empfang vom Vortag, auf dem der Minister zusammen mit einem ihm unbekannten Herrn abgebildet war. Der Fotograf fragte mich, ob das vielleicht der neue sowjetische Botschafter Falin sei, was ich verneinte. Als er dann erfuhr, dass ich der Unbekannte auf dem Foto war, übergab er es mir mit der Bemerkung, dann sei es für ihn nicht interessant. Fürwahr eine ehrliche, wenn auch nicht notwendigerweise schmeichelhafte Antwort.

Zu den unkonventionellen, aber wichtigen Aufgaben eines Persönlichen Referenten gehören auch Nachrufe für verstorbene Persönlichkeiten, die manchmal nicht einfach zu verfassen sind und für die – wie bereits erwähnt – der normale Beamtenapparat eines Ministeriums zumeist nicht geeignet ist. Als Beispiel sei der Tod eines sehr bekannten Industriellen genannt, an dessen Würdigung durch den Wirtschaftsminister kein Weg vorbeiführte. Nun kam aber hinzu, dass der Verstorbene während des Krieges eine führende Rolle in der deutschen Rüstungsindustrie spielte und deshalb in den Nürnberger Prozessen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Bei einem solchen Nachruf sah sich also ein sozialdemokratischer Wirtschaftsminister Beschränkungen ausgesetzt. Ich suchte daher für den Nachruf den Kontakt eines versierten Kollegen und lernte, dass es im Auswärtigen Amt jemanden gab, der solche Kondolenzschreiben hauptberuflich verfasste. Als ich ihn anrief, erwiderte er spontan: »Auch das noch. Ihr Minister hat mir gerade noch gefehlt; denn ich muss bereits Nachrufe schreiben für meinen Minister, den Bundeskanzler sowie den Bundespräsidenten.« Da sah ich mich also allein auf weiter Flur und hatte für den Entwurf weitestgehend die Verantwortung.

Meine Zeit mit Karl Schiller

Der Sprung ins Ministerbüro und die ersten Tage mit Karl Schiller

Zum Jahresbeginn 1966 trat ich in das Bundeswirtschaftsministerium ein und wurde dem Referat »Energiepolitik« zugewiesen, dem damals angesichts der aufkommenden Kohlekrise und der Preiskonkurrenz aus dem Ausland eine hohe Bedeutung zukam. Vor diesem Hintergrund ist ein erster Eindruck über die Besonderheit eines Ministeriums wiederzugeben, als ich an einem der ersten Arbeitstage von einem Kollegen auf das jüngste Bergwerksunglück im Ruhrgebiet angesprochen wurde. Er bemerkte nämlich, dass hierbei glücklicherweise nur zwei Opfer zu beklagen seien. Als ich ihn nach dem Grund fragte, klärte er mich dahingehend auf, dass man ab drei Toten ein Ministerschreiben verfassen müsse.

Eine weitere Anekdote sollte nicht unerwähnt bleiben: Schon nach kurzer Zeit des Einarbeitens führte mich eine erste Dienstreise zur EWG-Kommission nach Brüssel. Im Zuge der danach eingereichten Abrechnung rief mich ein Sachbearbeiter an und fragte nach Einzelheiten. Dabei erinnerte er mich daran, ich hätte nach meinen Angaben das Ministerium um 12:10 Uhr verlassen, um mit dem Bus zum Bahnhof zu fahren. Demgegenüber hätten zwei meiner Kollegen als Abfahrtzeit 11:50 Uhr angegeben. In Anbetracht dessen schlug er vor, auch bei mir diese Zeit anzugeben. Zu seiner Überraschung lehnte ich das ab, weil es nicht den Tatsachen entsprach und ich meineTätigkeit im öffentlichen Dienst nicht mit solchen Unregelmäßigkeiten beginnen wollte. Daraufhin bemerkte der Sachbearbeiter, ich sei wohl neu im Geschäft, und »klärte« mich wie folgt auf: Bei Abfahrt schon um 11:50 Uhr erhielte ich ein volles Auslandstagegeld, bei 12:10 Uhr aber nur das halbe. Angesichts meines Beharrens sei er nun gehalten, im Hinblick auf den Bundesrechnungshof (dem sonst die Zeitunterschiede auffallen würden) auch die Abreiseangaben meiner beiden Kollegen entsprechend anzugleichen, was mir keine neuen Freunde machen würde. Eine entsprechende Änderung meiner Abfahrtzeit habe ich aber erneut klar abgelehnt.

Allgemein fühlte ich mich aber im »Bauch« meines Ministeriums wohl, und ich sah mich auch durch die Referenz meines Doktorvaters bestätigt, der mir in einem Empfehlungsschreiben für das Ministerium attestierte, dass ich »ein Mann der Praxis« sei, und mit einer gewissen Doppeldeutigkeit hinzufügte: »Sonst hätte ich ihm eine Habilitation angetragen.«

Aus meiner Anfangszeit im Ministerium sind mir die Arbeitsbedingungen von manchen Kollegen und mir in Erinnerung geblieben. Wir residierten damals auf der Hardthöhe in ehemaligen Kasernen und waren teilweise direkt unter dem Dach untergebracht. Dort war es im Sommer unerträglich heiß, und bei zu hohen Temperaturen gab es schon mal hitzefrei.

Zum Politischen ist – wie bereits angedeutet –, zu bemerken, dass es Anfang Dezember 1966 in der Bundesregierung zum ersten Mal eine Große Koalition gab. So bekamen wir mit Prof. Karl Schiller einen SPD-Minister. Ich hatte keine Ahnung, dass ich sehr bald davon betroffen sein würde, als ich für das Ministerbüro vorgeschlagen wurde und Karl Schiller dem zustimmte. Angesichts dieser »Aufwertung« verließ ich also ohne Verzögerung meine kleine Dachkammer und zog um in ein sehr geräumiges Ministerbüro mit Klimaanlage und vielen anderen Annehmlichkeiten, von privilegierten Einwirkungsmöglichkeiten auf die gesamte Verwaltung ganz zu schweigen. Dazu kam dann auch Teilnahme an Treffen mit hochrangigen Besuchern in Bonn oder ausländischen Gesprächspartnern bei Dienstreisen.

Diese Berufung »aus heiterem Himmel« bedeutete eine gewaltige Veränderung meines beruflichen Umfeldes. Plötzlich gab es Hubschrauberflüge, Bundeswehrflugzeuge, Luxushotels und Bedienungspersonal sowie ständige Kontakte zum oberen Management des Hauses. Dazu ein ganzes Ministerium zur Verfügung für die neuen Aufgaben, von denen es wahrlich genug gab, zumal sich auf meinem Schreibtisch in der Übergangsphase viele Akten meines Vorgängers angehäuft hatten, der angesichts des Regierungswechsels bereits woanders tätig war. Sein einziger kollegialer Rat: Man bräuchte im Regelfall nur ein grünes Kreuz auf die eingegangenen Schreiben zu machen. Das bedeute Antwort durch den Minister, die sodann automatisch und mit den dazugehörigen, hierarchischen Mitzeichnungen vorgelegt würde. In der Praxis war aber durch entsprechende Entwurfsänderungen von mir der besondere Schreibstil des Ministers zu berücksichtigen. Im Übrigen war es geboten, die Unterschrift des Ministers rar zu halten und daher oft eine andere Erledigung in die Wege zu leiten, als auf dem Dienstweg vorgeschlagen war.

Der Minister selbst betraute mich nach der Einstellung am selben Tag umgehend mit einer privatdienstlichen Sonderaufgabe. Er bemerkte, dass nach seiner Ernennung bei seiner Frau in Hamburg nunmehr Tag und Nacht das Telefon klingele. Daher sollte ich doch bitte umgehend eine neue Geheimnummer beantragen, um diese Belästigungen zu beenden.

Am selben Abend rief mich der Minister erregt an und bemängelte, dass er seine Frau telefonisch nicht mehr erreichen könne. Ich erwiderte, ich hätte umgehend – wie von ihm erbeten – eine Geheimnummer beantragt, die offenbar sogleich eingerichtet worden sei. Dem fügte ich hinzu, dass die Hamburger Postbehörde auf meine ausdrückliche Rückfrage auch nicht bereit sei, mir die neue Telefonnummer zu sagen, da sie ja geheim sei. Ich schloss mit dem Hinweis, dass seine Frau ihn sicher im Laufe des Abends noch anrufen würde, um ihm die neue Nummer mitzuteilen, was dann auch geschah.

Am nächsten Arbeitstag befürchtete ich, dass sich dies auf die künftige Zusammenarbeit mit dem neuen Minister atmosphärisch auswirken wurde. Das war aber zum Glück nicht der Fall, und offenbar hat Karl Schiller meine efficiency goutiert.

Falls aber eine atmosphärische Störung vorgelegen haben sollte, hatte ich eine gewissse »Ablenkung« parat. Ich erwähnte nämlich, dass der Minister eine sehr schöne Handschrift habe. Daher sei es vielleicht eine willkommene Geste, dass er als neuer (und erster) SPD-Minister zu den Weihnachtsfeiertagen einen persönlichen Brief an die Belegschaft schreiben würde. Der Minister war sofort damit einverstanden und bat mich, hierfür einen Entwurf zu fertigen. Den aber hatte ich im Vorfeld bereits erstellt und konnte ihn daher sofort vorlegen. Schiller unterschrieb ihn fast ohne Änderungen, und der Weihnachtsbrief kam bei der Belegschaft gut an.

Schillers Lust am Regieren und an griffigen Formulierungen

Schiller, der bereits als Berliner und Hamburger Wirtschaftssenator ministerielle Verwaltungserfahrung gesammelt hatte, machte das Regieren im Rahmen der Großen Koalition erkennbar Spaß. Das galt auch für die berühmten »Plisch und Plum«-Beziehungen mit dem CSU-Finanzminister Strauß, die durchaus auf gegenseitigen Respekt gegründet waren.

Im Übrigen waren seitens der SPD in der Großen Koalition mit Willy Brandt, Helmut Schmidt, Georg Leber sowie Walter Arendt u. a. zahlreiche gestandene und erfahrene Spitzenpolitiker vertreten, sodass die SPD – wie man heute sagt – »gut aufgestellt war« und innerhalb der Koalitionsregierung sowie in der Bevölkerung hohes Ansehen genoss.

Diese Lust am Regieren war bei Schiller auch nach außen deutlich und erleichterte – zusammen mit seinem unbestrittenen Sachverstand – die Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen Gruppen. So war für Schiller angesichts der damaligen Konjunkturkrise das erfolgreiche Jonglieren mit dem neuen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz eine reine Freude.

Allgemein waren die Große Koalition und das erstmalige Mitregieren der Sozialdemokraten etwas Neues mit einem gewissen Sensationscharakter. Daher gaben sich die Spitzen aus dem In- und Ausland die Klinke in die Hand, um den neuen Wirtschaftsminister kennen zu lernen und auszuloten.

Mir ist in besonderer Erinnerung, mit welchem Interesse auch und gerade wichtige Besucher aus den USA ihre Aufwartung machten, um beeindruckt festzustellen, dass der »Neue« auch durchaus des Englischen mächtig war. So zählten zu den ersten ausländischen Besuchern der Chef des weltweiten ESSO-Konzerns sowie der renommierte Journalist Joe Kraft aus den USA.

Aus deutscher Sicht ist festzuhalten, dass an der Spitze wichtiger Wirtschaftsverbände an sich konservativ gesinnte Vertreter standen, diese aber zugleich auch das demokratisch zustandegekommende Mitregieren der SPD akzeptierten und zum Teil – wie sie mir sagten – auch durch ihre Wahlentscheidung gefördert hatten. Auch ist anzumerken, dass mit Namen wie Fritz Berg, Hans-Martin Schleyer, Ludwig Poullain sowie Hermann Josef Abs und Edmund Rehwinkel gestandene Führungspersönlichkeiten vorhanden waren, genau so wie – auf Gewerkschaftsseite – Ludwig Rosenberg, Otto Brenner sowie Heinz Kluncker. Sie alle waren von der Professionalität Schillers beeindruckt, was seine Akzeptanz begünstigte. Hinzu kam seine telegene Ausstrahlung, die durch Schlankheit und gut geschnittene Maßanzüge unterstrichen wurde. Kein Wunder, dass er alsbald auch zum »Krawattenmann« des Jahres gekürt wurde, der überdies gestreifte Schlipse bei ebenfalls gestreiften Hemden salonfähig machte. Auch seine Tanzfreude machte sehr schnell die Medienrunde und wurde auch durch den STERN verbreitet, der ihn auf der Titelseite zum »Mann des Jahres« kürte.

Dasselbe galt für eine große Zahl erfahrener und sachkundiger Wirtschaftsjournalisten, die damals noch nicht – wie heute – im digitalen Zeitalter zu schnellen und oft oberflächlichen Printberichten gezwungen waren. So waren diese Journalisten für Schiller als Testmultiplikatoren und als sachkundige Wirtschaftsfachleute sehr willkommen. Sie hatten im Übrigen auch mehr Zeit für ihre abgewogenen Kommentare als heutzutage im Zeitalter der Tweets und oft künstlichen »breaking news«.

Was die Ministeriumsarbeit anging, so war sie stark von Schillers Arbeitseifer geprägt. Da er während der gesamten Woche zumeist in Bonn war, bedeutete dies viele nächtliche Arbeitstunden im Ministerium in kleinem Kreis und mit wenig Nahrungszufuhr, da in dem Vorort von Bonn für schnelles Catering die Gelegenheit noch nicht gegeben war. Hinzu kam, dass ab normalem Dienstschluss viele Akten nicht mehr zugänglich waren und auch fachkundige Bedienstete nach Feierabend nicht mehr zur Verfügung standen. Doch irgendwie wurde dieses Manko ausgeglichen.

Die allgemeine Akzeptanz von Schillers Wirtschaftspolitik wurde auch dadurch gestärkt, dass er eine besondere Freude an griffigen Formulierungen hatte, welche in der Öffentlichkeit »ankamen« und damit die allgemeine Wirksamkeit seiner Politik erhöhten. Der berühmte »Marsch durch die Talsohle« ist wohl der bekannteste Name, »Konzertierte Aktion« ein anderer, und der Aufruf an die Genossen, »die Tassen im Schrank zu lassen« blieb nicht ohne Eindruck und wurde viel zitiert. Ebenfalls hatte das Wort »Ein guter Abgang ziert den Turner« seine Bedeutung, auch wenn Schiller mir wiederholt versicherte, er sähe zwar sportlich aus, betreibe aber kein Sport. Als neues Wort lernte ich auch den Ausdruck »Petitessen«, um auf diese Weise die Spreu vom Weizen zu trennen.

Andererseits wurde nach meiner Meinung die große semantische Bedeutung von politischen Schlagwörtern allgemein unterschätzt. Als Beispiel seien die sog. »Notstandsgesetze« für den Krisenfall genannt. Sie gaben schon vom unglücklichern Namen her Anlass zu Gegenreaktionen. Beim Begriff »Berufsverbot« dürfte das ähnlich gewesen sein. Im Wirtschaftsministerium wurde seinerzeit der Begriff »Konjunkturzuschlag« gewählt, um etwas Gegenteiliges zu umschreiben. Es ging dabei nicht darum, dass man etwas bekam, sondern dass einem stattdessen etwas genommen wurde, um angesichts einer überbordenden Konjunktur Kaufkraft abzuschöpfen. Doch war dies dem Namen beim besten Willen nicht zu entnehmen. Wie oft in der Verwaltung verselbstständigen sich Begriffe, die irgendein Beamter am Beginn eines Gesetzentwurfes als angemessen betrachtet. Später denkt kaum noch jemand darüber nach und ändert daher auch nicht eine manchmal unglückliche Arbeitsbezeichnung.

Bei aller Wertschätzung sollte eine gewisse und durchaus verständliche »Schwäche« Schillers nicht unerwähnt bleiben, die allerdings durch entsprechendes Taktieren seiner Umgebung zumeist behoben werden konnte. Es geht um den Widerwillen mancher hochbeschäftigten Politiker, sich für wichtige Redner- oder Reisetermine mehrere Monate im Voraus festzulegen oder bei Unwohlsein einen Termin abzusagen. Leider ist eine solche mittelfristige Festlegung unumgänglich, aber von einem Minister nicht immer leicht zu bekommen.

Schiller sagte einmal zu mir: »Ihr Beamten habt es leicht. Im Falle einer Grippe lasst ihr euch krankschreiben und bleibt zuhause. Bei einem Minister ist dies schwierig, wenn nicht unmöglich. Wir müssen das im Allgemeinen durchstehen.« Recht hatte er.

Hierzu einige anekdotische Beispiele, die trotz ungünstiger Ausgangslage am Ende gleichwohl eine Lösung ermöglichten: Gleich zu Beginn seiner Amtszeit lag eine hochrangige Einladung aus New York vor, im Rahmen einer ohnehin geplanten USA- Vorstellungsreise bei seinen US-Kollegen einen Vortrag vor deutschen und amerikanischen Wirtschaftsvertretern zu halten. Der Vorgang mit Zusageentwurf lag lange auf dem Tisch des Ministers, der aber die Akte mehrfach kommentarlos zurückgab. Also Wiedervorlage von mir veranlasst nach einigen Tagen und Hinweis auf den nahenden Termin. Daraufhin eine »Entscheidung« des Ministers: »Herr Fischer, sagen Sie den Termin ab.«

Was tun? Gehorchen oder nicht? Ich entschied mich für »passive Gehorsamsverweigerung« und tat zunächst einmal nichts in der Überzeugung, dass eine Zusage angesichts der Bedeutung der kürzlichen Amtsübernahme und des wichtigen Publikums letztlich unerlässlich sein würde. Tatsächlich begann der Minister, sich nach einigen Tagen auf die New York-Rede vorzubereiten, die er sodann auch hielt. Hätte ich seinen Absage-»Befehl« gehorsamst ausgeführt, wäre es falsch gewesen, hätte in New York zu verständnislosen Enttäuschungen und vielleicht sogar letztlich doch noch zu einer Zusage des Ministers geführt.

Ein anderes Beipiel für gewisse Einflussmöglichkeiten eines Persönlichen Referenten: Der frühere amerikanische Hochkommissar John McCloy war in Bonn und wollte auch Schiller sehen. Dieser sagte mir aber, er habe keine Zeit und sei überdies im Bundestag beschäftigt. Daraufhin wies ich auf die großen Verdienste des Deutschenfreundes bei der Schaffung der Bundesrepublik hin und machte zudem darauf aufmerksam, dass dem Minister im Bundestag ein Dienstzimmer zur Verfügung stünde, wo ein solches Gespräch zwischendurch stattfinden könnte. Ich schlug vor, in der Zwischenzeit mit dem Gast am Rhein vor dem Parlament spazieren zu gehen, bis eine Zusammenkunft möglich sei. So geschah es auch, und ich fühlte mich geehrt, mit McCloy über seine Zeit als Hochkommissar auf dem (gegenüber liegenden) Petersberg plaudern zu können. Hierbei kam mir sprachlich und atmosphärisch auch mein Studienaufenthalt in den USA zugute.

Ein weiteres Beispiel für eine letztlich doch gefundene Ad-hoc-Lösung: Schiller hatte im badischen Kaiserstuhlgebiet einen Vortrag vor der Landjugend gehalten, der dort sehr gut ankam. Daher hatten die Jungwinzer die Absicht, den Minister in Bonn zum Erntedankfest zu besuchen. So standen sie also gegen 10 Uhr morgens nach mehrstündiger Busfahrt unangemeldet vor dem Ministerium. Auch hier konnte ich letztlich das Einverständnis Schillers erreichen, diese Gruppe so lange durch Bonn und Umgebung zu kutschieren, bis ein Besuchstermin beim Minister möglich war. So geschah es dann auch gegen 18 Uhr, wobei die übermüdeten Jungwinzer anschließend ja auch noch mehrere Stunden zurückfahren mussten.

An diesen wie an anderen Beispielen zeigt sich, dass im Konfliktfall ein Minister eine gewissse Eigenverantwortlichkeit seines Persönlichen Referenten durchaus zu schätzen weiß, wenn sie letztlich einem guten Zweck dient.

Schiller und das Essen

Wegen einiger Anekdoten in diesem Bereich verdient dieses Thema eine gewisse Erwähnung anhand von mehreren Beispielen: Zum einen legte Schiller wenig Wert auf ausgedehnte Festessen aus Anlass von Messeeröffnungen usw. Nach einer schnellen Suppe brach er im Allgemeinen auf und erkundigte sich später bei mir etwas sadistisch, ob ich denn satt geworden sei oder vielleicht Hunger hätte.

Ich zog daraus folgende Konseqenz, um in Zukunft meine volle Leistungsfähigkeit nicht zu gefährden: Nachdem ich meinen Minister entsprechend beim Messeveranstalter abgeliefert hatte, sprach ich bei der Fahrerkantine vor, wo es zumeist einfache Kost gab. Dabei wurde ich zuweilen darauf aufmerksam gemacht, dass für Minister Schiller bereits ein Fahrer gemeldet sei. Meine Erwiderung: Ich sei der Ersatzfahrer. So konnte ich nach der Festrede meines Chefs gesättigt neben ihm im Wagen Platz nehmen, ohne dass er davon wusste.

Bei anderer Gelegenheit stand ein Lufthansaflug von Köln Bonn nach München mit Zwischenlandung in Stuttgart an. All das in der Mittagszeit zwischen 11 und 15 Uhr. Dabei war die Anfahrt zum Flughafen Köln Bonn seinerzeit noch zeitaufwändig, weil es keine Autobahn gab und man über die Dörfer fahren musste.

Ich rief also im Vorfeld der Reise beim Lufthansabüro in Köln an, um zu erfahren, ob unsere Buchung in Ordnung sei, was bejaht wurde. Sodann fragte ich, was es zu essen geben würde; und ich wusste, dass es gemäß Flugplan nichts geben würde. Von der Lufthansa erhielt ich nach einigem Zögern die Antwort: »Snacks.« Auf meine Frage, was das sei, wurde mir gesagt, dass dies »Kekse« bedeutete. Daraufhin merkte ich mein Erstaunen darüber an, dass der nicht unerhebliche Mehrpreis für Erster-Klasse-Flüge offenbar nur für die Ledersitzen bezahlt würde, was aber schwer zu vermitteln sei. Jedenfalls fügte ich ergänzend hinzu, dass der Flug in die Mittagszeit fiele und ich für das Wohlergehen meines Chefs verantwortlich sei. Daher bäte ich um Nachsicht, wenn ich einige Schnittchen vorbereiten und während des Fluges mit meinem Chef verspeisen würde.

Kurz darauf rief der Bürochef von Lufthansa Köln an und erwähnte, ich hätte um ein Mittagessen gebeten. Dieses würde also wunschgemäß gereicht werden. Ich habe dem energisch widersprochen, weil ich mit keinem Wort um so eine Extra-Behandlung gebeten hätte. Auch sei es schwer verständlich, dass diese Sonderbehandlung offenbar nur uns beiden, nicht aber den übrigen Erster-Klasse-Passagieren zuteil würde. Man denke nur an die Möglichkeit, dass ein zufällig mitreisender Journalist dies genüsslich aufspießen würde.

Daraufhin erfolgter ein weiterer Anruf von der Lufthansa-Zentrale aus Frankfurt: Man habe beschlossen, auf diesem Flug allen Passagieren der Ersten Klasse ein Mittagessen anzubieten. Ich wies nachdrücklich darauf hin, dass wir einen solchen Wunsch nicht geaüßert hätten und es sich daher um eine rein betriebswirtschaftliche Entscheidung von Lufthansa handele.

Wie dem auch sei: Beim Start in Köln/Bonn wurde deutlich, dass die Lufthansa für diesen Flug extra eine zusätzliche Flugbegleiterin bis zum Zwischenstopp in Stuttgart eingesetzt hatte. Angesichts der zeitlichen Enge für die Bewirtung unterrichtete sie den Minister gleich beim Einsteigen, was zum Lunch alles angeboten würde, und fragte ihn ganz dezidiert, welche der vier verfügbaren Suppen er denn haben möchte.

Ich hatte den Minister über all dies vorher nicht unterrichtet und war daher erstaunt, als er der Flugbegleiterin sagte, er habe keinen Hunger und möchte gar nichts essen. Daraufhin erzählte ich ihm den Hintergrund und veranlasste ihn, das volle Menu zu kosten, was er auch tat. Im Übrigen dürften die anderen Passagiere in der Ersten Klasse freudig erstaunt gewesen sein, dass ihnen überraschenderweise ein Lunch mit Champagner angeboten wurde, was gemäß Flugplan an sich gar nicht vorgesehen war.

Zum Thema »Mittagessen« soll eine andere Anekdote nicht unerwähnt bleiben: Eines Tages erhielt ich einen Anruf aus Stuttgart von der Mercedes-Vorstandsküche. Im Hinblick auf ein geplantes Mittagessen des Ministers mit dem Vorstand wurde ich gefragt, was er essen möchte. Dabei wurde mir signalisiert, dass man sich keinerlei Beschränkungen auferlegen sollte. Meine Antwort war kurz: Der Minister bevorzuge einfaches Essen. Daher sei eine Linsensuppe sehr willkommen. Nach einer kurzen Pause kam sodann die weitere Frage, was denn nach diesem Vorspeisewunsch der Minister als Hauptgericht gern essen möchte. Ich machte deutlich, dass die besagte Linsensuppe als Hauptgericht angesehen würde. Dabei fügte ich hinzu, dass Schiller als Hamburger Hanseat es bevorzugen würde, wenn diese in einer Terrine mit einem Brötchen gereicht würde: Die Essensfrage wurde daraufhin bis zur Vorstandsetage mit mir erörtert, und ich habe dabei die Sache heruntergespielt und lediglich auf einen Essenswunsch reagiert. Letztlich sei es Sache des Gastgebers, eine Entscheidung über das zu servierende Gericht zu treffen.

Tatsächlich gab es dann nur die besagte Linsensuppe, und offenbar wurde die passende Terrine extra dafür angeschafft. Es war mir als junger Regierungsrat ein Vergnügen, die hochrangigen Herren bei diesem einfachen Mahl zu beobachten, das ihnen offenbar gut mundete. Beim Hineingehen in das Speisezimmer unterrichtete ich Schiller über diese Wahl mit dem Bemerken, ich hätte dies bei meinem sonst so begrenzten Entscheidungsspielraum allein so vorgeschlagen. Als dann die Stuttgarter Zeitung – von mir instruiert – in ihrer Überschrift titelte: »Der Minister bevorzugt einfache Kost«, war Schiller (als Sozialdemokrat) damit sehr zufrieden.

Menukarte vom Mercedes-Benz-Vorstandslunch mit Schiller

Die bereits erwähnte lukullische Zurückhaltung Schillers wurde zuweilen auch bei ausländischen Anlässen deutlich. So fanden die vierteljährlichen Treffen der EWG- Finanzminister immer außerhalb der Hauptstädte in pompösem Rahmen statt. In Frankreich war einmal ein festliches Abendessen im Versailler Schloss vorgesehen, an dem aber Schiller nicht mehr teilnahm. Stattdessen hatte er mich gebeten, beim Gastgeber ein paar Sandwiches zu besorgen, was ich auch tat. Auf dem Rückflug in der Bundeswehrmaschine bat er sodann darum, den mit französischen Trikolorfarben versehenen Karton zu öffnen. Dieser enthielt zur allgemeinen Überraschung lediglich eine Apfelsine sowie ein Baguette ohne jeglichen Belag. Das schmiss der Minister sodann missmutig durch das Flugzeug. Der mitreisende Finanzminister Strauß war da weniger zimperlich, hob die Brotstange auf, brach sie für uns beide durch und aß seinen Teil genüsslich.

Da Schiller auf dem Rückflug in Brüssel landen musste, wies Strauß, der bekanntlich einen Pilotenschein besaß, seinen Kollegen darauf hin, dass wetterbedingt wahrscheinlich eine solche Landung nicht möglich sei. Daraufhin bat Schiller den Piloten eindringlich, in Brüssel zu landen. Doch unterstrich dieser, dass Schiller zwar an Land zuständig sei, er als Flugzeugführer aber in der Luft allein entscheide. Das Problem wurde letztlich dadurch entschärft, dass die Maschine nach mehreren Versuchen schließlich doch in Brüssel landete.

Auch in anderen Fällen war Schiller gegenüber den Bundeswehrpiloten verständlicherweise machtlos. So kam es bei Ratssitzungen in Brüssel oder Luxemburg im Winter schon einmal vor, dass die Maschine zwar startbereit war, aber erst noch enteist werden musste, was einige Zeit in Anspruch nahm. Auch gab es Fälle, wo es technisch zwar keine Probleme gab, aber die Startfreigabe sich verzögerte, weil der eingereichte Flugplan überholt war. In anderen Fällen bestand der Minister trotz meiner Hinweise darauf, mit dem Hubschrauber zur Sitzung des Bundesbankzentralrats von Bonn nach Frankfurt zu fliegen, anstatt mit der Bahn entlang dem Rhein oder mit dem Dienstwagen anzureisen. So musste der Polizeihubschrauber – selbst im Sommer – mehrmals wegen Nebels über dem Rhein den Weiterflug abbrechen, nachdem er vorher bei geringer Sichtweite schon wiederholt mal über, mal unter Stromleitungen geflogen war. Dabei musste dann im Benehmen mit der örtlichen Polizei erst einmal ein Landeplatz, zumeist ein Sportplatz, gefunden und gesichert werden. Nach einer solchen Notlandung wurde der Minister sodann mit einem Polizeiwagen nach Frankfurt gefahren, und es machte ihm offenbar wenig aus, dass er dazu den engen Platz mit Verkehrsschildern und anderen Geräten teilen musste, die zunächst einmal neu zu ordnen waren, um für uns Raum zu schaffen. Manchmal stand dafür nur ein VW-Käfer zur Verfügung, in den wir uns dann hineinzwängen mussten.

Die Eröffnung der Deutschen Automobilausstellung in Frankfurt am 14. September 1967

Man mag Minister Schiller zugute halten, dass er bei wichtigen Reden oft bis zur letzten Minute am Text arbeitete. Das bedeutete logistisch – im Falle Frankfurts –, dass dann eine Mitarbeiterin mit Schreibmaschine bereitgehalten werden musste. Gegen 23 Uhr war sodann das Werk vollbracht, und der Text sollte nun für die Journalisten usw. vervielfältigt werden. Da es damals noch keine modernen Kopiermaschinen gab, war dies kein leichtes Unterfangen. Doch konnte hierfür ein Weg gefunden werden.

Nach Überfliegen des Textes gab ich zu bedenken, dass eine bestimmte Passage vielleicht etwas zu frivol gestaltet war für ein konservatives Publikum. Die Stelle betraf einen Hinweis auf eine gerade erschienene Shell-Studie über den Motorisierungsgrad im Jahre 2000. Das veranlasste Schiller zu folgendem Zusatz in seiner Rede: »Schon heute kann die gesamte amerikanische Nation auf den Vordersitzen transportiert werden, und wir wissen ja alle, wozu die Rücksitze benutzt werden.«

Auf meinen Einwand erklärte der Minister, es gehöre aus professionellen Gründen zu einer Standardrede, am Anfang durch eine hurmovolle Bemerkung allgemeine Aufmerksamkeit zu bewirken und damit die Erwartung des Publikums zu vergrößern. Aus demselben Grund müsse nach etwa der Hälfte des Vortrags eine aufrüttelnde Bemerkung fallen, um einer gewissen Ermüdung des Publikums entgegenzuwirken. Diesem Ziel sollte die entsprechende Textpassage dienen. Daher plädiere er auch dafür, sie zu belassen.

So weit, so gut. Gegen zwei Uhr nachts dann ein Anruf des Ministers: Er habe sich das noch einmal überlegt und gebe mir recht, die inkriminerte Passage besser zu streichen. Daraufhin mein Einwand, dass der Redetext inzwischen in großer Stückzahl vervielfältigt sei und deshalb nicht mehr geändert werden könne. Schiller schlug sodann vor, den Satz über die Rücksitze in Amerika auf allen Rede-Kopien durch Schwärzen unkenntlich zu machen.

Zusammen mit der Sekretärin haben wir beide uns in den restlichen Nachtstunden umgehend an die Arbeit gemacht. Zur Sicherheit erbat ich vor Beginn der Veranstaltung sodann von Schiller sein Redemanuskript, um auch bei ihm den Satz zu schwärzen und so zu vermeiden, dass der frivole Satz nicht doch versehentlich ausgesprochen wurde.

Als dann der Minister sich der inkriminierten Seite näherte, bemerkte ich, dass er zusehends etwas nervös wurde, weil er sich offenbar an die (geschwärzte) Passage erinnerte. Als es dann soweit war, stach ihm die unkenntlich gemachte Stelle ins Auge, und er überlegte offenbar, ob und was er nun sagen sollte. So verstieg er sich zu dem Hinweis über die amerikanische Sitzplatzkapazität in den überdimensionierten Wagen: »Und da fragt man sich, wozu die Rücksitze nötig sind.«

Schiller auf einer Messe

Damit hatte er praktisch dasselbe gesagt, was wir vorher in mühsamer Nacht-Arbeit geschwärzt hatten. Dies habe ich dem Minister auch in geziemender Form vorgehalten und gebeten, uns künftig vor solchen nächtlichen »Schwarzarbeiten« zu bewahren.

Schiller und Osteuropa

In der Großen Koalition wurden unter Außenminister Willy Brandt erste vorsichtige Schritte im Hinblick auf dessen (spätere) Ostpolitik gemacht. Dabei spielte die Handelspolitik eine besondere Rolle, und so war Karl Schiller meines Wissens der erste (west-)deutsche Minister, der zahlreiche Ostblockländer besuchte. Dies war eine besondere Chance und Herausforderung, und ich überlegte vor allem, wie wir diese Reisen flugtechnisch bewältigen sollten. Dabei schied die Verwendung von Bundeswehrrmaschinen von Anfang an aus, weil es hierzu noch zu früh war, das berüchtigte Balkenkreuz über sowjetischem Gebiet zu zeigen und dafür mit einiger Sicherheit auch die Fluggenehmigung nicht erteilt werden würde. Dies wurde dann später erst unter dem insofern unbelasteten Bundeskanzler Brandt möglich, und mit ihm konnte eine Bundeswehrmaschine auf die Krim fliegen. Hierzu sagte mir Willy Brandt später, dass Generalsekretär Breschnew nach der Landung um ein Foto mit der Bundeswehr-Besatzung gebeten habe. Diese hatte sich aber inzwischen umgezogen und bereits private Kleidung angelegt. Doch wollte Breschnew ein Foto mit ihnen in Uniform, so dass sich die Besatzung wieder umkleiden musste.

Für die Ostreisen Schillers kam aber zu der Zeit, wenn man schon nicht Linienmaschinen benutzen wollte, nur die Anmietung von Privatflugzeugen in Betracht. Daher habe ich mich entsprechend umgehört und wusste, dass in Hamburg mit dem sog. »Hansa Jet« (HFB 320) gerade ein achtsitziges Geschäftsflugzeug entwickelt worden war. Dieses war aber erst vor kurzem zugelassen worden und noch nicht sehr stark im Markt verbreitet. Da dieses Projekt vom Wirtschaftsministerium gefördert wurde, entwickelte ich entsprechende Kontakte mit dem Hersteller, weil ich der Meinung war, wir sollten aus Anlass dieser Ostreisen durchaus mit einer deutschen Eigenproduktion Eindruck machen und auf diese Weise für »Made in Germany« werben.