17,99 €
Geschichte wird lebendig – Anatol Regnier taucht ein in das Schwabing der Fünfzigerjahre, als die Künstlerszene die bleierne Schwere der Kriegsjahre abzuschütteln versucht.
Der Mensch hat nur ein Leben, voller Hoffnungen, voller Träume. Dieses Gefühl begleitet den Schriftsteller und Musiker Anatol Regnier seit seiner Kindheit. Geboren im Januar 1945 als Sohn der Theaterleute Charles Regnier und Pamela Wedekind, aufgewachsen nach dem Zweiten Weltkrieg in St. Heinrich am Starnberger See und dann im Schwabing der Fünfzigerjahre, als sich in München eine lebendige Künstler- und Bohèmeszene entwickelt, die den jungen Anatol in ihren Bann zieht. Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen sind ein eindringliches Sittengemälde der Nachkriegszeit, in der neben den Geschichten seiner prominenten Familie auch viele illustre Persönlichkeiten der damaligen Zeit lebendig werden. Sie alle prägen den späteren Chronisten der Nachkriegsjahre nachhaltig.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2024
Der Mensch hat nur ein Leben, voller Hoffnungen, voller Träume. Dieses Gefühl begleitet den Schriftsteller und Musiker Anatol Regnier seit seiner Kindheit. Geboren im Januar 1945 als Sohn der Theaterleute Charles Regnier und Pamela Wedekind, aufgewachsen nach dem Zweiten Weltkrieg in St. Heinrich am Starnberger See und dann im Schwabing der Fünfzigerjahre, als sich in München eine lebendige Künstler- und Bohèmeszene entwickelt, die den jungen Anatol in ihren Bann zieht. Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen sind ein eindringliches Sittengemälde der Nachkriegszeit, in der neben den Geschichten seiner prominenten Familie auch viele illustre Persönlichkeiten der damaligen Zeit lebendig werden. Sie alle prägen den späteren Chronisten der Nachkriegsjahre nachhaltig.
Anatol Regnier, geboren 1945 in St. Heinrich, Sohn von Pamela Wedekind und Charles Regnier, begann seine Laufbahn als klassischer Gitarrist. Mit seiner Familienbiografie »Du auf deinem höchsten Dach« über seine Großmutter Tilly Wedekind und ihre beiden Töchter Pamela und Kadidja begeisterte er ein großes Publikum. Sein Buch »Jeder schreibt für sich allein« wurde von Dominik Graf fürs Kino verfilmt. Anatol Regnier lebt und arbeitet in München und in Ambach am Starnberger See.
Anatol Regnier
Eine Jugend zwischen Schwabing und Starnberger See
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2024 Anatol Regnier
Copyright der Originalausgabe © 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München unter Verwendung eines Motivs aus dem Privatarchiv des Autors
Illustrationen im Innenteil aus dem Privatarchiv des Autors
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30269-6V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/penguinbuecher
Für Dilia, Michael, Micah, Ruth und David.
Vorwort
1. Das Malvenhaus in St. Heinrich
2. Schwabing
3. Stadt und Land
4. Mit dem Vater unterwegs
5. Das Ende der Ära Malvenhaus
6. Meine Reise nach Berlin
7. Ambach (I)
8. Der Englische Garten
9. Die Bertholds aus der Nachbarwohnung
10. Unsere Erzieherin Elisabeth Bobinger
11. Das Max-Gymnasium
12. Das Künstlerlokal Seerose
13. Eine Tragödie am See
14. Meine Heldentat am Pündterplatz
15. Hauch mich an!
16. Mein Firmpate Graf Pocci
17. Anne Frank
18. Zwischenbetrachtung: Mein Freund Pierre
19. Sommer 1957 – Ambach (II)
20. Die Steiner-Schule (I)
21. Meine Mutter auf der Bühne
22. Meines Vaters Freunde
23. Onkel Hans-Carl tritt ab
24. Mein Regenmantel
25. Das Atelier Eickemeyer
26. Mein erster Gitarrenschüler
27. Ein Rätsel: Pamela und Bonsels
28. Segovia
29. Die Hanni und das Eigelein
30. Die Steiner-Schule (II): Herr Trautner bringt einen Gast
31. Eine Wohnung in der Franz-Joseph-Straße – Kai Molvig
32. Siena
33. Octavian und Werner – eine Erfahrung
34. Die Steiner-Schule (III): Mein letzter Herbst in München
Nachwort
Wer ist wer? Wichtige Gestalten aus Kindheit und Jugend
Dank
MENSCHENWERDENGEBOREN, LEBEN, STERBEN. Alle sind gleich, und alle sind anders. Manche werden berühmt und reich, andere scheinen vom Pech verfolgt. Manche kommen aus dem Nichts und werden groß, andere beginnen groß und scheitern kläglich, wieder andere haben keine Möglichkeit, sich zu entfalten, weil sie in Kriegen getötet werden, an Seuchen oder Hunger sterben oder wegen ihrer Herkunft chancenlos sind. Aber eines ist allen gemeinsam: Sie haben nur ein Leben, kein zweites steht ihnen zur Verfügung. Alle haben Hoffnungen und Träume, und alle sind einzigartige, spirituelle Wesen. Über eines dieser Leben will ich berichten: meins.
Was war meine Ausgangsbasis? Ein Haus in St. Heinrich am Starnberger See, das sogenannte Malvenhaus, zwei Eltern, Charles Regnier und Pamela Wedekind, beide am Theater, und ein eisiger Tag im Januar 1945. Wichtige Parameter sind hier bereits festgelegt: Ich wurde auf dem Land geboren, nicht in der Stadt, die Ernährungslage war dadurch besser. Meine Eltern waren Künstler, nicht reich, aber auch nicht arm und sogar ein wenig privilegiert. Mein Großvater war der Dichter Frank Wedekind, was mir, ohne dass ich etwas dazutat, eine gewisse Ausnahmestellung bescherte. Und: Ein paar Monate nach meiner Geburt war der Zweite Weltkrieg vorbei. Ich lebte in Sicherheit, hörte keinen Schuss, versäumte kein Mittagessen, aber überall um mich herum war das Erbe des Nationalsozialismus, erst unbestimmt wahrnehmbar, dann immer wichtiger, schließlich wurde es für mich zu einer Art Lebensthema.
In was für einer Welt bin ich aufgewachsen? Was waren die Schmerzen der Kindheit und Jugend? Wie war das Leben der Fünfziger- und Sechzigerjahre in St. Heinrich, in München-Schwabing, in Ambach am See? Welche Menschen haben mich begleitet und geprägt? Welche Hoffnungen und Träume hatte ich, und was ist daraus geworden? »Es fällt schwer, von sich selbst zu sprechen, aber es ist schön«, sagt Natalia Ginzburg. Sie hat nur halb recht: Es ist nicht immer schön, und es fällt nicht immer schwer. Manchmal tut es weh und erfordert Mut, dann genießt man es, im Mittelpunkt zu stehen. Bestenfalls kommt man der Frage näher, wer man ist und was man will und kann, als einer von zahllosen anderen, die alle dieselbe Frage haben und alle nur ein Leben, sie zu beantworten.
ZWEIMALINDERWOCHEKOMMTEIN dreirädriger Kleinlastwagen die Auffahrt zum Malvenhaus hinauf und biegt in das immer offene Gartentor ein. Der Fahrer klettert auf die Ladefläche und öffnet eine Seitenklappe. Obstkisten werden sichtbar, ein Ladentisch, eine Waage: der Gemüse- und Obstverkäufer. Er wird sehnlichst erwartet, denn das Malvenhaus liegt einsam am Ostufer des Starnberger Sees, Abwechslung ist willkommen. Ich bin vier oder fünf Jahre alt und stehe mit den Erwachsenen vor der Luke. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen – Pfirsiche, Birnen, zum Anbeißen schön. Einmal hat er sogar Weintrauben, da knabbere ich noch die kleinen grünen Spitzen vom Strunk ab. Der Gemüsemann klappt die Lade zu, klettert in den Fahrersitz, rangiert ein paarmal, verschwindet. Keine eindrucksvolle Erscheinung. Auch sein Wagen ist ein ärmliches Gefährt. Aber seine Pfirsiche haben es mir angetan.
Anderes für den täglichen Bedarf bekommt man eine halbe Wegstunde entfernt bei Frau Bickel in St. Heinrich. Im weißen Kittel steht sie hinter dem Ladentisch, wiegt ab, berät, packt ein. Herr Bickel, ihr Mann, räumt Kisten von hier nach dort, fegt den Vorplatz, geht seiner Frau zur Hand. Er trägt Knickerbocker, sogenannte Pumphosen, am Knie endend, darunter Wollstrümpfe. Viele Männer tragen Pumphosen, für mich sind sie auf ewig mit Herrn Bickel verbunden. Wie das Ehepaar nach St. Heinrich kam, ist mir nicht bekannt. Plötzlich waren die Bickels da, und kurz darauf gab es den Laden, in einer rückwärts gelegenen Garage an der Landstraße zwischen der Fischerei Bernwieser und dem Gasthof Fischerrosl, gern angenommen von der Bevölkerung, denn wenigstens muss man nicht mehr für alles und jedes nach Seeshaupt. Frau Bickel ist geschäftstüchtig. Da man den Laden von der Straße aus nicht sieht, steht ein Schild an der Einfahrt: »MARIA BICKEL BIETET AN …«, darunter Details ihrer Waren.
Von denen interessieren mich vor allem die Kekse und Waffeln in den kastenartigen Behältern mit gläsernen Deckeln. Hier müsste ich einmal unbeobachtet sein, denke ich, vielleicht versehentlich nachts im Laden eingeschlossen werden, dann könnte ich, während es draußen ganz still ist, so viele Kekse essen, wie ich will. Oma Goldi, die Mutter unseres Vaters, macht aus ihnen »Kalten Hund«, legt abwechselnd Kekse und geschmolzene Butter in die Kuchenform, bis sie voll ist. Über Nacht wird die Schokolade fest, der Kuchen wird scheibchenweise genossen. Backt Oma Goldi im Rohr, legt sie oben Butter-Einwickelpapier in die Form, sodass alle Reste abschmelzen – immerhin Butter, nicht Margarine. Gewisse Standards ist man im Malvenhaus gewohnt.
Eines Tages ist Herr Bickel nicht mehr da, er ist plötzlich verschwunden. Gerüchteweise verlautet: abgeholt, Polizei oder Militärstreife, wahrscheinlich NS-Vergangenheit. Erwachsene berichten es beiläufig, als wüssten alle, worum es geht und weshalb es sich erübrige, Näheres zu erörtern. Vielleicht sollen es die Kinder auch nicht zu genau wissen. Aber ich spüre: Es hat mit dem Krieg zu tun. Der Krieg ist immer präsent, wie graues, ödes Land.
Krieg – was war das wohl? Meine Mutter habe Mehl im Rucksack aus der Stroblmühle geholt, zum Essen sei man »zum Bader« gegangen, da habe es gelegentlich noch etwas gegeben – gemeint ist der Gasthof Fischerrosl in St. Heinrich, wir kennen ihn, aber »im Krieg« war alles anders. Einmal sei unser Vater nachts von München nach St. Heinrich geradelt, da habe es laut geknallt, er habe geglaubt, erschossen worden zu sein, dabei war nur ein Reifen geplatzt – die Reifen seien so schlecht gewesen, dass man sie immer wieder habe flicken müssen. Dass er nicht »im Krieg« war, wissen wir und finden es gut, vielleicht wäre er sonst nicht mehr da – keinen Tag seines Lebens habe er eine Uniform tragen wollen, erzählt er uns oft, vor Musterungen habe ihm ein Arzt eine Spritze verpasst, die das Fieber hochtrieb, so habe er einen Lungenschaden vorweisen können, und Schauspieler wurden oft zurückgestellt. Kurzum: Es funktionierte, er musste nicht hin.
Andere hatten weniger Glück. Meine Mutter erzählt vom »Volkssturm«, ich sehe alte Männer vor mir, die mit Stöcken bewaffnet in eine Schlacht wanken, und höre das Wort »KZ«. Das stehe für »Konzentrationslager«, erklärt man mir, ich frage: Was wurde da »konzentriert«? Das sei nur ein Ausdruck, sagen die Erwachsenen, für ganz schlimme Orte. Auch »SS-Männer« habe es gegeben. Allein das Wort erzeugt Grauen. War Herr Bickel einer von ihnen? War auch Frau Bickel beteiligt? Irgendwann verschwindet auch sie, macht ihren Laden dicht, ist weg. Die Einfahrt ist noch da, und jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeikomme, denke ich an sie, ihre Kekse, Herrn Bickels Pumphosen und das Schild »MARIA BICKEL BIETET AN …«.
Amerikanische Jeeps und Militärlaster fahren oft am Malvenhaus vorbei, aber auch viele Deutsche haben wieder ein Auto. Sonntagabends stehen wir am Gartenzaun und beobachten den nach München zurückflutenden Verkehr, ein Auto nach dem anderen, nicht wenige mit Anhänger, darauf Paddel- und Schlauchboote. Sie kommen von der »Robinson-Insel«, einem Badeplatz in St. Heinrich, angeblich mit Eisbude und anderen Attraktionen. Der Name hat für mich einen magischen Klang, dort gewesen bin ich nie, denn wir haben unseren eigenen Strand, einen schmalen, verwilderten Uferstreifen mit einem Steg und einer halb verfallenen Bootshütte. Um zu ihm zu gelangen, überqueren wir die Landstraße, mit aller von der Mutter eingetrichterten Vorsicht: erst links schauen, dann rechts, und wenn wirklich nichts kommt, hinüber. Das Ufer ist dicht mit Schilf bewachsen, tritt man in eine seiner Wurzeln, wird das Wasser blutig rot. Zwischen dem ersten und zweiten Schilfgürtel ist eine freie Fläche, hier lernen wir schwimmen, und da ich die Luft lange anhalten kann, übe ich mich im Tauchen. Erst mit geschlossenen, dann mit offenen Augen schleiche ich mich an andere Schwimmer heran und fasse ihnen an die Beine.
Im Schilf verborgen liegt Onkel Axels Segelboot, eine Olympia-Jolle, in der er uns viel zu selten mitnimmt. Er soll sie Gustaf Gründgens abgekauft haben, dem sie ursprünglich gehörte, der zum Segeln aber keine Zeit hat. Ich krieche unter der Persenning hinein, rieche Holz und Lack, höre das Wasser glucksen. Gustaf Gründgens kommt manchmal zu Besuch und bleibt ein paar Tage. Wir nennen ihn »Onkel Gustaf« und haben ein wenig Angst vor ihm, denn wir wissen: Er ist berühmt und leitet ein Theater in Düsseldorf. Unsere Mutter ist mit ihm befreundet, und für unseren Vater scheint er eine Art Vorbild zu sein. Mit ihm reist ein jüngerer Mann, Peter Gorski, angeblich sein »Adoptivsohn« und weniger respektgebietend.
Wir singen leise unter dem Fenster:
Lieber Onkel Peter,
komm ein bisschen runter!
Lass den Onkel Gustaf oben,
dann wollen wir dich loben!
Onkel Axel, zwei Jahre jünger als mein Vater, war »im Krieg«. Als alter Mann, kurz vor seinem Tod 2006, erzählt er mir seine Geschichte: 1937 ohne Arbeit und Perspektive, hat er sich freiwillig zum »Reichsarbeitsdienst« gemeldet, wurde übergangslos in der Wehrmacht übernommen und war bei den Kämpfen von Anfang an dabei, erst in Frankreich, dann in Russland, in Sommeruniform. »Massenhaft Erfrierungen« habe es gegeben und ein »überwältigendes Gefühl der Sinnlosigkeit«. 1944 hat man ihn geschnappt, die Truppen waren bereits aufgelöst, jeder sollte auf eigene Faust durchkommen. Er habe dann tief in Russland im Wald arbeiten müssen, jeden Morgen habe man Tote hinausgetragen, er habe gehungert, seine Essensrationen heimlich vernichtet, brandgefährlich sei das gewesen, da es als Sabotage galt. 1949 hat man ihn mit einem Krankentransport nach Hause geschickt. So kam er im Malvenhaus an, abgemagert, mit Rattenbissen im Gesicht, man hatte mit seiner Rückkehr fast nicht mehr gerechnet. Er hatte dann bald ein Auto und diverse Freundinnen und bekam eine kleine Anstellung beim Bayerischen Rundfunk. Er wurde neunzig Jahre alt und brachte es bis zum Verwaltungsdirektor des Bayerischen Fernsehens. Am Ende seines Lebens hat er fast nur noch geschwiegen. »Woran denkst du?«, fragte ich ihn. »An gar nichts«, sagte er, »das habe ich in Russland gelernt.«
Onkel Axel mit drei Regnier-Kindern auf Gustaf Gründgens’ Olympia-Jolle. St. Heinrich, 1951.
Neben unserer Badehütte hat sich Filmregisseur Rolf Hansen eine eigene Hütte gebaut, weit schöner als unsere. Sie ist dunkelbraun, riecht durchdringend nach Holzschutzmittel und hat einen Dachboden, in den man hineinklettern kann. Rolf Hansen hat das Kriegsende mit unseren Eltern im Malvenhaus verbracht, gehört quasi zur Familie, kommt oft nach St. Heinrich. Fährt er weg, schließt er die Hütte ab, ist er da, will er nicht gestört werden. Kinder mag er nicht und mich, wie es scheint, am allerwenigsten. Dass er Filmregisseur ist, geht uns wie selbstverständlich über die Lippen, aber würde man uns fragen, was ein Filmregisseur genau tut, wüssten wir vermutlich wenig zu sagen. Er spricht von Scheinwerfern, die sein Sehvermögen geschwächt hätten, ich stelle ihn mir vor, wie er in einem großen Saal mit zusammengekniffenen Augen in Lichter blinzelt. Aber was für Filme hat er gedreht? Wir wissen es nicht und fragen nicht nach.
Jetzt weiß ich: Er war eine ziemlich große Nummer, auch und gerade in der Nazi-Zeit. Erst Assistent des Filmpioniers und »Reichsfilmkammer«-Präsidenten Carl Froelich, dann Regisseur der Zarah-Leander-Filme Der Weg ins Freie (1941), Die große Liebe (1942) und Damals (1943), alle drei Riesenerfolge. Theo Mackeben, Michael Jary und Ralph Benatzky schrieben die Musik dazu, Zarah Leander sang die berühmten Durchhaltelieder »Davon geht die Welt nicht unter« und »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, nach Texten von Bruno Balz, der als Homosexueller mehrmals im Gefängnis saß. Auch Rolf Hansen ist homosexuell; ob es ihm in der Nazi-Zeit geschadet hat, weiß ich nicht, Goebbels soll ihn anfänglich nicht gemocht haben.
Seit 1949 dreht er wieder: Dr. Holl (1951) mit Dieter Borsche und Maria Schell, Das letzte Rezept (1952) mit Heidemarie Hatheyer und O. W. Fischer, Sauerbruch – das war mein Leben (1954) mit Ewald Balser oder Teufel in Seide (1956) mit Curd Jürgens und Lilli Palmer. Letztere ist als Jüdin 1933 emigriert und in England und Amerika ein Star geworden, alle anderen haben ihre Karriere im Nazi-Reich begonnen und gemacht.
Rolf Hansen fährt ein silbergraues, fabelhaft schönes Mercedes-Cabriolet mit weißen Ledersitzen und hat es gar nicht gern, wenn ich daran herumspiele. Abends warte ich, bis er einsteigt, und schaue, ob ich das Licht sehen kann, das beim Öffnen der Autotür angeht. Am Samstagabend, wenn wir längst schlafen sollten, lauern wir auf das Vorbeifahren des »beleuchteten Schiffs«, eines Vergnügungsdampfers mit Musik und Tanz. Das »Lido« in Seeshaupt, wo Ähnliches stattfinden soll, kennen wir nur vom Hörensagen.
Im Malvenhaus ist jedes Zimmer belegt. Im Erdgeschoss wohnt die Malerin Margarethe von Gaffron, der das Haus gehört. Sie ist taub, zieht Tabakpflanzen im Blumenkasten vor ihrem Fenster und schneidet sie mit der Nagelschere in Streifen. Am Hals hat sie ein Muttermal, das wie ein schwarzer, gepanzerter Käfer aussieht. Mich juckt es in den Fingern, es wegzuschnippen wie eine vertrocknete Hülse, aber ich halte mich zurück, denn Margarethe von Gaffron ist streng. Gelegentlich dürfen wir in ihre Zimmer, sie liegen abseits hinter einem Vorhang. Dort sitzt sie am Fenster und malt schöne Bilder nach Motiven der Umgebung: die Kirchen in Holzhausen und St. Heinrich, die Uferstraße am See, die Berge, auf die man blickt. In einer Holzkiste bewahrt sie Spielsachen auf, bemalte Würfel und anderes, sie hat sie nur ein, zwei Mal für uns geöffnet, bis heute erscheint sie mir als rätselhaftes Wunderwerk. Ihre Nichte heißt Ramée und kommt aus Indien. Geht sie abends im weißen Kleid durch den Garten, glaube ich, Schöneres nie gesehen zu haben. Ihr Neffe Janko braust auf dem Motorrad heran und gräbt ihre Beete um. Es sieht kinderleicht aus, die Schollen wirbeln durch die Luft. Ich versuche es auch und kriege die Gabel kaum in den Boden. Ich bewundere Janko und bedaure es, dass er so selten kommt. Mit seinem Sohn, dem Fotokünstler Klaus von Gaffron, bin ich später gut befreundet. Wir haben beide den Ehrenpreis des Schwabinger Kunstpreises bekommen und uns geärgert, dass es dafür kein Preisgeld gab und wir trotzdem so tun mussten, als freuten wir uns. 2012 habe ich deshalb eine Brandrede gehalten, der Ehrenpreis wurde abgeschafft, und seither bekommen alle Preisträger Geld.
Das Erdgeschoss-Eckzimmer hat Frau von Gaffron an Oma Goldi abgegeben. Die stammt aus Badenweiler und war, obgleich aus reicher Familie, lange Jahre sehr arm – ihre Mutter hat das Hotel Schloss Hausbaden, das ihren Eltern gehörte, mitten in der Inflation verkauft, aus Hass auf ihren Schwiegersohn, unseren Großvater Dr. Anton Regnier, der ein Sanatorium daraus machen wollte und kurz darauf gestorben ist. Das Vermögen war weg, und Oma Goldi musste vier Söhne allein großziehen, der Jüngste, Georg, genannt Tschu-Tschu, lag beim Tod unseres Großvaters im Jahr 1924 noch in der Wiege. Das erzählt mein Vater. Dass es sich dabei um Selbstmord gehandelt hat, möglicherweise aus Kummer über seine gescheiterten Pläne – vielleicht war auch eine Liebesaffäre im Spiel –, erwähnt er nicht. Auch Oma Goldi schweigt darüber, weniger aus Scham, meine ich, mehr aus einer Art stiller Trauer über ein längst vergangenes Ereignis.
Manchmal fährt Oma Goldi nach Paris zu Tschu-Tschu. Kommt sie zurück nach St. Heinrich, umweht sie ein Hauch von Frankreich. Zu anderen Zeiten fährt sie nach Badenweiler zu ihrer Mutter, der »Uroma«, die das Hotel verkauft hat. Die sei eine glühende Nationalsozialistin gewesen. »Schade, dass ich schon so alt bin, sonst könnte sich der Hitler in mich verlieben«, soll sie gesagt haben. Onkel Tschu-Tschu war nach dem Krieg in Frankreich wegen »collaboration« interniert. Was war das? Na ja, sagen die Erwachsenen, er hat irgendwie mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet – er sah französisch aus, sprach akzentfreies Französisch, da bot sich das an. Weiter wird darüber nicht gesprochen, vielleicht weil man nicht gerne daran zurückdenkt oder weil es eben so war. Im Lager habe es als Toilette einen Balken über einer Grube gegeben, erzählt der Onkel, dort sei man in langer Reihe gesessen, habe sein Geschäft verrichtet und sich dabei unterhalten: »Guten Morgen, wie geht es Ihnen, haben Sie gut geschlafen?« Er habe dann Typhus bekommen und aus Dankbarkeit die französische Krankenschwester geheiratet, die ihn gepflegt hat. 1996 hat er sich umgebracht, genau wie sein Vater, bei dessen Tod er noch in der Wiege lag.
Oma Goldi ist die sanfteste Frau, die mir je begegnet ist. Sie klagt nie, braust nie auf, wird nie ärgerlich, pocht nie auf ihre Rechte, auch wenn andere ungeduldig mit ihr sind. Ein einziges Mal meint sie, uns strafen zu müssen – und genau dieses eine Mal ist sie im Unrecht. Eine unserer Puppen ist verschwunden. Wir suchen und suchen und können sie nicht finden. Dann finden wir sie doch, im Schrank unserer Mutter, mit neuen Kleidern. Wir glauben an ein Wunder und laufen zu Oma Goldi, um es ihr zu berichten. Aber Oma Goldi hat die Kleider genäht, als Überraschung für uns, jetzt haben wir ihr die Freude verdorben. In gänzlich untypischer Strenge holt sie eine Reisigrute, vermutlich ein Überbleibsel des letzten Nikolausabends. Wir müssen uns aufs Bett legen, aber Oma Goldi bremst jeden Schlag so sorgfältig ab, dass auf unserem Hosenboden nur ein Streicheln zu spüren ist. Wir fühlen uns schuldig, obwohl wir es gerade dieses Mal nicht sind.
Im ersten Stock wohnt die Großfamilie Regnier-Wedekind, bestehend aus unseren Eltern Pamela Wedekind und Charles Regnier, den Kindern Carola, Adriana und mir, und Oma Tilly, mit richtigem Namen Tilly Wedekind, Schauspielerin und Dichterwitwe. Sie hat das größte und schönste Zimmer, mit zwei Fenstern nach Süden und einer Tür zum Balkon. In einer Ecke steht ihr Bett, daneben ihr Nachttisch mit Klosterfrau Melissengeist und den Losungen der evangelischen Kirche, obgleich sie als Österreicherin katholisch ist und auch mit uns in die Kirche geht. Ihre Depressionen haben sie fromm gemacht, das erfahre ich später aus ihren Briefen. Fährt sie weg, zeichnet sie uns mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn.
Am Fußende ihres Bettes, geschützt durch einen Paravent, steht ihr Waschtisch. Um Eventualitäten vorzubeugen, hängt sie bei entsprechender Gelegenheit ein Schild an ihre Tür: »Ich wasche mich!«
Moni Poerschke, meine älteste Freundin, die mit ihrer Mutter in Pischetsried wohnt und oft zum Spielen herüberkommt, hat die Tür einmal trotzdem versehentlich geöffnet und die Oma nackt in einer Waschschüssel vor ihrem Waschtisch stehend gesehen, mit aufgelöstem Haar, das bis zum Popo reichte, ein unvergesslicher Anblick sei das gewesen. Mir ist Oma Tillys Zimmer vor allem als Stätte unseres Mittagsschlafs in Erinnerung, den wir, obgleich kein bisschen müde, nach dem Essen halten müssen, in endlosen Minuten die Fasern der grünen Wolldecke auf ihrem Divan zählend, weil es sonst absolut nichts zu tun gibt.
Moni Poerschkes Mutter Irmgard ist eine Schwester des Journalisten Wilhelm Emanuel Süskind, mit dem unsere Mutter seit ihrer gemeinsamen Jugend mit Erika und Klaus Mann befreundet ist. Er kommt mit dem Auto, voller Schwung und Energie und ist eine der vielen Gestalten unserer Kindheit, die wir gut kennen, aber wenig über sie wissen. In Wahrheit hat das Dritte Reich auch in diese Gemeinschaft eine tiefe Kluft gerissen, denn Willy Süskind hat in diesen Jahren zwar das Literaturblatt der vergleichsweise unabhängigen Frankfurter Zeitung geleitet, aber auch für die im »Generalgouvernement« des »Schlächters von Polen« Hans Frank erscheinenden Krakauer Monatshefte geschrieben. Erika Mann hat ihm das nie verziehen, nachzulesen in einer Buchausgabe ihrer Briefe: »Ich bin niemandes Richter; doch steht es fest in mir, dass unsere Wege sich auf Nimmerwiedersehen getrennt haben.«1
Unsere Mutter, die auch in Deutschland geblieben ist und in Berlin mit der Duldung Hermann Görings am Preußischen Staatstheater in Berlin gespielt hat, erfährt ein anscheinend milderes Urteil: In einem hellgrünen Hillman Minx mit roten Sitzen fährt Erika Mann den Weg zum Malvenhaus hinauf, schwarzhaarig, im weißen Hosenanzug, mit roten Lippen und rot lackierten Fingernägeln. Die Erwachsenen ziehen sich in ein Zimmer zurück und reden lange miteinander. Wir können die Brisanz des Besuchs nicht ermessen, für unsere Mutter muss es erlösend gewesen sein, von der Freundin eine Art Vergebung zu erfahren, zumal diese weiß, dass auch ihr Ex-Ehemann und Todfeind Gustaf Gründgens, der »trostlose Gustaf«, wie sie ihn nennt, im Malvenhaus verkehrt.
Oma Tilly führt ausgedehnte Korrespondenzen, meist mit Menschen, von denen sie glaubt, dass sie Wedekinds Werk fördern könnten, das in den Nazi-Jahren nicht gespielt wurde und vor dem Vergessenwerden bewahrt werden soll. Ihre Briefe legt sie für den Postboten zum Mitnehmen auf einen Sockel am Treppenabsatz, er heißt Herr Hunger und tut dies aus Gefälligkeit, denn die Poststelle in St. Heinrich ist schwer zu erreichen, und der Moment, da er auf seinem Rad in die Einfahrt biegt und ein Bein zum Absteigen über den Sattel hebt, ist eine wichtige Zäsur im Tagesablauf des Malvenhauses – wer noch etwas zum Mitgeben hat, möge sich beeilen. Einmal ruft Oma Tilly: »Der Hunger kommt«, als sie ihn von ihrem Fenster aus sieht. »Schnell, das Essen«, ruft eine Hilfskraft in der Küche, »Frau Wedekind hat Hunger!« Wer sie war, ist nicht überliefert, nur die Anekdote ist geblieben. Oma Tilly gilt als herrisch und ist es wohl manchmal auch. In Wahrheit ist sie gutmütig und sanft und trotz ihrer Depressionen immer bemüht, die Familie zusammenzuhalten.
»In unserem Kinderzimmer schlafen wir zu dritt«: Adriana, Carola und Anatol im Malvenhaus.
In unserem Kinderzimmer schlafen wir zu dritt. Mein Bett steht in der Ecke zwischen dem Fenster nach Süden und der Balkontür zum See, hat also zwei Außenwände, darauf bin ich stolz, betrachte es als Privileg und genieße es, mir unter warmen Decken vorzustellen, dass ganz in meiner Nähe, nur durch die Mauer getrennt, Wind und Wetter ihr Spiel treiben. Hier lerne ich lesen: Der Schiffsjunge vom weißen Stern, Jonas sorgt für drei und natürlich die drei Bände Winnetou mit Old Shatterhand, Old Firehand und Old Death. Letzterer stirbt bei einem Schusswechsel. »Old Death war tot«, heißt es unvermittelt. Der Satz trifft mich wie ein Keulenschlag, ich muss ihn immer wieder lesen – »tot«, welch unbegreifliches Wort! In der Mitte des Zimmers steht ein Tisch, an dem wir morgens Malzkaffee und Brote bekommen, in der Ecke ein Ofen, daneben ein eisernes Waschgestell. Der Ofen ist mannshoch aus verziertem Gusseisen. Einmal komme ich beim Waschen zu nah an ihn heran und habe wochenlang ein Blumenmuster auf meinem Popo.
Eine Verbindungstür führt ins Zimmer unserer Eltern. Hier steht das Bett unserer Mutter, an der Wand hängt Frank Wedekinds Totenmaske mit diversen anderen Bildern von ihm. Bei seinem Tod war sie elf Jahre alt und spricht von ihm nur als »mein lieber Vater«. Bei guter Laune singt sie seine Lieder und begleitet sich dazu auf seiner Laute, die ich von Fotografien kenne. Sie hat breite Hände mit stumpfen Fingern, mit ihnen greift sie die Akkorde und zupft die Saiten. Ich versuche es auch und scheitere – wie kann ich meine Finger so weit spreizen? Nach und nach gewöhne ich mich, Wedekinds Lieder kann ich bald auswendig, auch anderes aus ihrem Repertoire, den »Blusenkauf« von Otto Reutter oder »Die Wanderratten« nach einem Gedicht von Heinrich Heine, das sie selbst vertont hat.
Unsere Mutter hat feuerrot gefärbte Haare und ein ebenso feuriges Temperament. Sie ist, wie Oma Tilly, gütig und großzügig, verliert aber oft ohne sichtbaren Anlass die Nerven. Dann schreit sie, schlägt Türen, und keiner weiß, warum. Ich bin es gewohnt und nehme es nicht sonderlich ernst, aber wen es unvermittelt trifft, kann einen Schock bekommen.
Unser Vater schläft auf einer Couch auf der anderen Seite des Zimmers. Das ist vollkommen in Ordnung, niemand findet etwas dabei, und niemand käme auf den Gedanken, dass ihm, und nicht unserer Mutter, der bequemste Schlafplatz zustünde. Das Zentrum der Familie ist er trotzdem. Morgens krieche ich zu ihm hinein, er macht im Schlaf Platz, und auch ich schlafe sofort wieder ein.
Charles Regnier, das Zentrum der Familie.
Gegessen wird im Atelier. Es liegt neben Oma Tillys Zimmer auf der Nordostseite des Hauses. Man blickt direkt in den Wald, wo gleichmäßiges Halbdunkel herrscht. In eine Ecke des Ateliers, um das Ostfenster und die Tür zum hinteren Balkon, hat man eine Holzhütte gebaut und in ihr eine Küche eingerichtet, mit Kohleherd, Arbeitstisch, zwei Elektroplatten und Geschirrschrank. Hier kocht Tante Manni, Tschechin aus Brünn und zweite Ehefrau von Tillys verstorbenem Bruder Dagobert Newes, genannt Onkel Bertl, weiland Bankdirektor in Prag. Wegen ihrer Ehe mit einem Österreicher wurde Tante Manni nach Kriegsende aus der Tschechoslowakei ausgewiesen, am Zug hat ihr ein Soldat mit einem Gewehrkolben die obere Zahnreihe ausgeschlagen. Sie kaut mit Vorsicht und schneidet ihr Brot ein, um es leichter abbeißen zu können. Tante Manni heißt mit Mädchennamen Marianne Srp, ihr Bruder Leo, von dem sie oft erzählt, heißt folglich Leo Srp. Sein Vor- und Nachname besteht aus nur sechs Buchstaben, wir finden das lustig und wiederholen es immer wieder. 1952 hören wir in ihrer Küche die Radioübertragung der Krönung von Elizabeth II.
Die böhmische Küche ist herrlich. Es gibt »Faschiertes« (sprich: Hackbraten), Serviettenknödel, Marillenknödel, Zwetschgenknödel mit zerlassener Butter und Bröseln, Mohn- oder Gleichgewichtskuchen. Nachmittags sitzt Tante Manni in ihrer Mansarde und hört die endlosen, vom Roten Kreuz im Radio verlesenen Namenslisten, in der Hoffnung auf Nachricht von ihrem Stiefsohn Peter, der zuletzt in Russland gesehen wurde. Sie hat eine Schwester in England, Gretel Fleischmann, die mit ihrem jüdischen Mann dorthin emigriert ist und in Rustington, Sussex, Porzellanpuppen herstellt.
Martin Fleischmann, ihr Sohn, wurde 1989 kurzzeitig weltberühmt und Anwärter auf den Nobelpreis, als bekannt wurde, dass ihm die sogenannte Kalte Fusion gelungen war, mit der sich schon der sowjetische Physiker Andrei Sacharow beschäftigt hatte. Die Nachricht war eine Sensation, man glaubte, unerschöpfliche neue Energiequellen gefunden zu haben, aber anderen Wissenschaftlern gelang es nicht, das Experiment zu wiederholen. Martin Fleischmann geriet in Misskredit und starb 2012; die »Kalte Fusion« wird weiter erforscht.
In der zum See gelegenen Mansarde wohnt Else Witzel, genannt Tati. Ihr Zimmer ist winzig, gerade mal ein Sofa, auf dem sie auch schläft, und ein Tisch passen hinein. An der Zimmerdecke ist ein großer Fettfleck. Butter sei darüber versteckt worden, heißt es, wahrscheinlich um sie vor dem Zugriff ehemaliger KZ-Häftlinge zu bewahren, die Ausgleich für die ihnen zugefügten Qualen forderten. In großer Zahl seien sie auf der Wiese vor dem Malvenhaus gestanden, erzählt mein Vater. Die Furcht vor ihnen sei groß gewesen, in manchen Häusern habe man nachts Topfdeckel an die Tür gelehnt, die beim Umfallen Lärm machen sollten. Er habe ihnen Kartoffeln gekocht und sich um Hilfe bemüht, trotzdem seien alle Fahrräder aus dem Keller geklaut worden. Man nahm es hin, wer wollte sich beklagen angesichts des Leids, das man ihnen zugefügt hatte? Die Butter habe man vergessen, irgendwann sei sie geschmolzen, daher der Fettfleck.
Frau Witzel hat drei Kinder: Egon Witzel, wohnhaft in Mindelheim, Elfriede Witzel, die auf ihrem Rex-Rad aus München kommt und Holz hackt (»Sie wäre besser ein Mann geworden«, sagt ihre Mutter), und Fritz Witzel, Fotograf, ebenfalls aus München, genannt Onkel Fritz. Wenn er zu Besuch ist, schläft er in der Abseite neben Tatis Zimmer und wirft, wenn wir auf dem Balkon frühstücken, Papierschnipsel auf uns herunter, aus Witz (nicht umsonst heißt er Witzel), und tut dann so, als sei er es nicht gewesen. Sein Lieblingswitz ist die Abwandlung des Satzes »Sieh mal, Muttchen, so macht man Pommes frites« in »Sieh mal, Muttchen, so macht man vom Fritz«. Solche Witze vergisst man nie.
Das Rex-Rad, auch bekannt als Fahrrad mit Hilfsmotor, ist ein Segen der Nachkriegszeit. Gerade mal sechzig Pfennig koste sie die Reise von München nach St. Heinrich und zurück, schwärmt Elfriede Witzel, welches andere Verkehrsmittel könne da mithalten? Sie ist groß und kräftig, hat eine tiefe Stimme und quer über der Nase eine Narbe. Sie raucht »Zuban«-Zigaretten (sonntags die teureren »Astor«, »da merkt man den Unterschied«, meint sie). Ihr bevorzugtes Kleidungsstück ist der Monteuranzug. Beim Holzsägen hinter dem Haus sind wir ein gutes Team (kein Waldspaziergang vergeht ohne Mitnahme eines Leiterwagens zum Holzsammeln). »Das geht durch wie Butter«, sagt Elfriede Witzel. Wenn es gut läuft und ich mich in den Rhythmus einfüge, dann macht die Arbeit Spaß und ist sogar irgendwie begeisternd. Am Abend habe ich das Gefühl, etwas geleistet zu haben.
Mein anderes Betätigungsfeld ist der Mandl-Hof der Familie Melf, über den Feldweg in ein oder zwei Minuten mit dem Rad erreichbar – der Bauer Hans Melf, die Bäuerin Theres, die Tochter Betty. Sie tragen beim Arbeiten Gummistiefel und stippen Brot in Milchkakao, anderes Essen gibt es nicht. Die Eltern sind unvorstellbar geizig, Radiohören ist nur sonntags erlaubt. Von der Küche geht es direkt in den Stall, links steht als Erste meine Lieblingskuh Ella. Ich versuche, mich nützlich zu machen – aber was kann ich tun? Oft habe ich das Gefühl, mehr zu stören als zu helfen.
Mit Betty verstehe ich mich gut. Sie ist zwar mindestens zwanzig Jahre älter als ich, trotzdem denke ich, dass wir eines Tages heiraten könnten. Gemeinsam treiben wir die Kühe aus, manchmal bis zu einer Wiese hinter St. Heinrich, mehr als einen Kilometer über die Landstraße, kein einfaches Unterfangen, des Autoverkehrs wegen, aber auch der Kühe selbst, die ans Wasser wollen oder anderen Unfug machen. Einmal obliegt das Zurücktreiben mir allein. Ich bin ein bisschen bang, aber traue es mir zu, es geht einigermaßen, ich gewinne Selbstvertrauen, bis ein Auto mit hektischen Erwachsenen einherkommt und das Abenteuer beendet. Jemand hat mich gesehen und Meldung gemacht: Um Gottes willen, der Anatol allein mit den Kühen auf der Landstraße! Ein anderes Mal fahre ich mit dem Bauern in den Wald, auf dem Schutzblech des Traktors »Dieselross«, das mit einem einfachen Geländer den Beifahrersitz darstellt. Der Bauer ist ungewöhnlich guter Laune, wir unterhalten uns angeregt, es dauert länger als erwartet, und als wir zurückkommen, ist es halb drei, das Mittagessen abgeräumt und die Aufregung groß.
Oma Tilly schwankt zwischen Depression und Hybris. Niemand leidet mehr darunter als sie selbst, unsere Mutter leidet unter ihrer Mutter, und wenn sie in einem bestimmten Tonfall »Mamale« ruft, ist die Spannung mit Händen greifbar. In Phasen der Hybris führt Oma Tilly Neuerungen ein, zum Beispiel Selterswasser der Firma Überkinger. Ich freue mich, denn ich erhoffe mir gesüßte Limonade, sogenannte Limo, die die Melfs bei jeder Gelegenheit trinken, aber das Selterswasser schmeckt nach gar nichts. Schüttelt man allerdings eine Flasche vor dem Öffnen, spritzt es nach allen Seiten. Das tue ich manchmal und freue mich an den Folgen, wenn Oma Tilly bei Tisch eine Flasche öffnet. Das Gedicht auf dem Etikett kann ich bis heute auswendig: Im Brunnentempel zu Bad Überkingen, der Edelwasser gute Geister singen. An heil’gen Tiefen sprudelnd laut, wir werden dem Genesung bringen, der ernsthaft gläubig unsrer Macht vertraut, der Quellen-Wunderkraft von Überkingen.
Das Selterswasser steht im Vorratskeller neben dem Sauerkrautfass. In der Waschküche wird Feuer unter einem gemauerten Kessel gemacht, in dem die Wäsche ausgekocht wird. Frauen, manchmal weiß ich gar nicht, wer sie sind, breiten sie auf einem Tisch aus und bearbeiten sie mit harten Bürsten. Gespült wird im See, getrocknet an der Leine. Des hohen Grundwasserspiegels wegen läuft der Keller oft voll, dann hocken dicke Kröten auf der Kellertreppe. Ihr Hals zittert beim Atmen, mit blanken Augen schauen sie uns an.
Die nächste Anschaffung von Oma Tilly ist eine »Volksbadewanne«, ein Ungetüm aus Zinkblech, das, mit heißem Wasser aus Töpfen befüllt, das fehlende Badezimmer ersetzen soll. »Jedem Deutschen wöchentlich ein Bad«, lautet die Reklame. Wir benutzen sie einmal, dann nie wieder. Das Entleeren ist fast noch mühsamer als das Befüllen, und wer legt sich gerne mitten im Zimmer nackt in eine Wanne? Sie steht dann jahrelang nutzlos auf dem Balkon.
Einschneidender noch ist Oma Tillys Versuch, die Ernährung der Familie auf die Diätkost des finnisch-schwedischen Gesundheitsapostels Are Waerland umzustellen, insbesondere auf das Zentrum seiner Lehre, den Getreidebrei Kruska, der, in einer Kochkiste gegart, mit gedünsteten Backpflaumen und Schlagsahne verzehrt werden soll. Er schmeckt unvorstellbar scheußlich. Ich schleiche mich weg und schleudere die Kruska vom Balkon in einen Jasmin-Busch.
Außer Moni Poerschke, die nur gelegentlich da ist, gibt es im Umkreis des Malvenhauses keine Kinder. Meine Schwestern und ich sind auf uns selbst angewiesen. Im Garten nahe der Straße steht ein Baum, der sich in etwa zwei Meter Höhe in zwei Stämme teilt. Wir klettern hinauf, setzen uns auf den Platz zwischen der Gabelung, nennen ihn unser »Vogelnest« und beobachten den Verkehr. Oder streunen durch das Nachbargrundstück, früher angeblich Ort einer Fuchsfarm mit allen möglichen Überbleibseln, alten Matratzen, Töpfen und dergleichen. Oder wir richten in einem Schuppen einen Kaufladen oder ein Lokal ein. »Gasthaus zum dreckigen Löffel« nennen wir es, einer Erzählung Tante Mannis folgend, die behauptet, in ihrer Heimat habe es ein solches gegeben.
Auf dem Speicher des Malvenhauses wühlen wir in einer Kiste mit Anziehsachen, ohne zu wissen, dass es die Bühnenkostüme von Frank und Tilly Wedekind sind, die sie bei Uraufführungen seiner Stücke und auf zahllosen Tourneen getragen haben. Adriana und ich setzen uns Perücken und Kappen auf, hüllen uns in dunkle Gewänder und gehen in die Küche, wo Tante Manni gerade am Herd steht. »Grüß Gott, Frau Manni!«, rufen wir mit tiefer Stimme. Die Tante sinkt lautlos zu Boden. Wir laufen weg, im festen Glauben, sie sei tot. Nein, tot ist sie nicht, aber ohnmächtig geworden, vermutlich ihrer von der Vertreibung verbliebenen Herzschwäche wegen. Dass Menschen, die Krieg und Flucht mitgemacht haben, davon gezeichnet sein könnten, kommt uns nicht in den Sinn.
Der einsamen Lage des Malvenhauses wegen ist die Angst vor Einbrechern groß. Oma Tilly hat eine Sirene auf ihrem Nachttisch. Zieht man an einer Schnur, heult sie los. Fremde werden argwöhnisch beobachtet. Einmal steht ein Mann vor dem Haus und sagt: »Bitte Essen, ich hab solchen Hunger.« Oma Tilly legt ein paar kalte Kartoffeln und eine Ecke Schmelzkäse auf einen Teller, macht ihm aber klar, dass er schnell verschwinden soll.
Auch zwei junge Männer erregen Verdacht, die am Waldrand nördlich des Malvenhauses zelten und sich mit einem langen Kabel Strom aus Frau von Gaffrons Küche holen. Ich besuche sie und wäre gern ihr Freund, aber ich muss zurück. Dann sind sie fort. Ich gehe viele Male an den Platz, wo ihr Zelt gestanden hat, aber immer vergeblich.
Eines Nachts ist draußen Lärm. Wir hören Stimmen, Lichter blitzen auf. Die Landpolizei aus Ammerland ist da. Am Morgen erfahren wir: Burschen sind samt Leiter angerückt, um in der klassischen Disziplin des »Fensterlns« in der zum Wald gelegenen Mansarde Anna zu besuchen, eine dralle Sechzehnjährige aus Holzhausen, die seit einiger Zeit bei uns angestellt ist. Die Polizei erwischt die Übeltäter quasi in flagranti. Anna ist ihren Posten los, hinausbefördert von unserer Mutter.
Was unsere Mutter nicht weiß und wir ihr nicht erzählen: Anna hat meine Schwestern und mich am See ihre Brüste sehen lassen. Irgendwie kamen wir auf das Thema zu sprechen, da sagte Anna: »Gut, ich zeig sie euch«, und zog den Badeanzug herunter. Es war schön und prickelnd, vermittelte ein Gefühl von Freiheit und Lust, als ob jetzt alles anders würde. Trotzdem war mir nicht ganz wohl dabei, denn eigentlich tut man so etwas ja nicht.
1 Erika Mann: Briefe und Antworten II, edition spangenberg, 1985, S. 49 f
WIEAUFEINEMPRÄSENTIERTELLERLIEGTder Feilitzschplatz vor unseren Fenstern. Ein paar Kastanien stehen darauf, bei Regen sammelt sich Wasser in tiefen Pfützen, sonst geschieht nichts auf ihm. Was hier einmal gewesen sein mag, hat der Krieg weggewischt. Links sehen wir den Turm der Erlöserkirche mit der Uhr, die uns die Zeit angibt, davor die Ruine einer Villa, gegenüber die Häuser der Ungererstraße.
Weiter rechts, auf einer anderen Brache (früher stand hier angeblich die Schwabinger Brauerei), schauen wir auf die Programmtafel des Kinos Filmburg in der Feilitzschstraße. Wir haben dort den Film Bambi gesehen. Die Szene, in der Rehe durch den brennenden Wald laufen, geht mir nicht aus dem Sinn. Vom Fenster aus grüße ich Bambi auf der Plakatwand, und als der Film wechselt und andere darauf zu sehen sind, bin ich traurig. Halb links unter uns, an einer langen Bretterwand, kleben Ankündigungen kommender Attraktionen: Auftritte von Marika Rökk, Gastspiele des Don Kosaken Chors mit Serge Jaroff, Faschingsbälle im Deutschen Theater. Politische Parteien werben für ihre Kandidaten. Einer von ihnen heißt Dr. Dr. Dr. Keller. Wir lachen und fragen uns, wie der wohl aussehen mag.
Wir wohnen im Haus Leopoldstraße 79 zwischen Herzog- und Clemensstraße, vierter Stock ohne Aufzug, drei Zimmer zur Straße, eines zum Hof, ein Badezimmer ohne Fenster, Ofenheizung. Die Zimmer sind winzig – lange nachdem wir ausgezogen waren, bin ich noch einmal hinaufgegangen. Man hatte die drei zur Straße liegenden Zimmer in einen schlauchartigen Raum verwandelt, aber auch dieser war klein und beengt – wie konnten wir hier zu fünft wohnen, mit Hausmädchen, das in der Kammer schlief, sogar zu sechst? Henri Regnier, der Bruder meines Vaters und aus Hamburg Besseres gewohnt, fragte bei seinen München-Besuchen regelmäßig: »Na, wohnt ihr immer noch in euren Löchern?«
Ob es in der vierten Etage vor dem Krieg überhaupt Wohnungen gab oder ob hier nur Speicherabteile waren, ist nicht sicher. Die unteren Stockwerke sind bester Altbau mit hohen Decken und Wohnungstüren aus edlem Holz, bei uns haben die Räume schräge Wände und Gaubenfenster, Fußboden und Türblätter sind billige Massenware. Aber Wohnraum musste her, da war für Luxus keine Zeit, und unsere Eltern waren froh, 1949 die Wohnung durch Vermittlung der Münchner Kammerspiele bekommen zu haben.
Tagsüber ist der Verkehrslärm so laut, dass man oft sein eigenes Wort nicht versteht, nachts ist es so still, dass man die Stöckelschuhe der Damen auf dem Pflaster hört. Wir schlafen sommers wie winters bei offenem Fenster. Ich habe ein amerikanisches Armeebett mit einer dünnen Rosshaarmatratze, mir gegenüber schläft Carola, hinter mir Adriana in ihrem Gitterbett. Kommen die Eltern spät nach Hause, schauen sie bei uns hinein. Kai Molvig, der älteste Freund meines Vaters, über den noch zu berichten sein wird, sagt dann: »Ach, ist das gemütlich! Da möchte man sich gleich dazulegen.«
»Charles Regnier mit seinem zehnjährigen Sohn Anatol beim Frühsport. Der kinderliebe Vater widmet sich gern seinen Sprösslingen, obwohl ihm nicht allzu oft Zeit dafür bleibt.« Film Revue, Nr. 4, 1955
Rund um den Feilitzschplatz sind in eilig errichteten Holzbuden Geschäfte untergebracht. Eines von ihnen, uns direkt gegenüber, ist die Schusterei Unertl. Es riecht nach Leder, die Kälte zieht durch die Ritzen, aber Frau Unertl, klein und flink, scheint immer gut gelaunt. Herr Unertl, ihr Mann, trägt in Anzug und Hut, die Aktentasche unter dem Arm, kaputte Schuhe in seine Werkstatt und bringt sie repariert zurück. Er sieht gut aus, könnte auch Geschäftsmann oder Diplomat sein, und dass die Werkstatt aus Platzgründen ausgelagert ist, verwundert nicht. Aber als ruchbar wird, dass er dort auch Zeit mit anderen Damen verbringt, ist Frau Unertl am Boden zerstört. Dann ereilt sie ein weiteres Missgeschick: Beim Einheizen ihres Kanonenofens erwischt sie versehentlich auch ihr künstliches Gebiss, das unter Zeitungspapier auf dem Ladentisch liegt. Es verbrennt, nur ein paar Drahtreste bleiben übrig. Wir müssen lachen, es ist ja auch komisch, aber Frau Unertl zeigt innere Größe: Sie verliert über ihren Mann kein weiteres Wort, trägt mit Würde ein neues Gebiss, ist freundlich und lustig wie zuvor. Als ich mich Jahre später verabschiede, um in London Gitarre zu studieren, sagt sie: »Ich wünsch dir, dass’t a recht a pfundiges Genie wirst.«
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: