Erinnerungen eines Weltbankiers - David Rockefeller - E-Book

Erinnerungen eines Weltbankiers E-Book

David Rockefeller

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Beschreibung

Geboren in eine der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien Amerikas, erzählt David Rockefeller auf überaus spannende und eindrucksvolle Weise die Geschichte seines Lebens. In den 70er-Jahren zählte man ihn zu den mächtigsten Wirtschaftsführern der Welt mit Kontakten von Michail Gorbatschow bis hin zu Ariel Sharon. Seit Dwight D. Eisenhower beriet Rockefeller jeden Präsidenten der Vereinigten Staaten in internationalen Angelegenheiten. Oft wurde er auch als Weltbankier bezeichnet. Grundlage für seine Position war die Chase Manhattan Bank, an der seine Familie beteiligt war und die er von 1960 bis 1981 führte. In dieser Zeit stieg sie zur zeitweise größten Bank der Welt auf. Der Leser wird auf eine Reise durch ein wirklich reiches und beeindruckendes Leben mitgenommen.

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Seitenzahl: 1019

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David Rockefeller

Erinnerungen eines Weltbankiers

Zur Erinnerung an meine Mutter

ABBY ALDRICH ROCKEFELLER

und meine Frau

PEGGY McGRATH ROCKEFELLER

DAVID

ROCKEFELLER

Erinnerungen eines

WELTBANKIERS

Der New-York-Times-Bestseller

FBV

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

David Rockefeller · Erinnerungen eines Weltbankiers

3. Taschenbuchauflage 2020

© 2008 by Finanzbuch Verlag,

ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Str. 86

80636 München

Tel. 089 651285-0

Fax 089 652096

Copyright © 2002, 2003 by David Rockefeller. All rights reserved. Die vollständige Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »David Rockefeller: Memoirs« bei The Random House Publishing Group, einem Imprint von Random House, Inc.

Für die deutsche vollständige Originalausgabe © 2008 by FinanzBuch Verlag. Für die deutsche vollständige Taschenbuch-Originalausgabe © 2010 by FinanzBuch Verlag.

Gesamtbearbeitung: Druckerei Joh. Walch, Augsburg

Übersetzung: B. Michael Andressen, Wolfgang Wurbs, Horst Fugger

Lektorat: Dr. Renate Oettinger

Schlusskorrektur: Rainer Weber

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe. Dieses Buch will keine spezifischen Anlage-Empfehlungen geben und enthält lediglich allgemeine Hinweise. Autor, Herausgeber und die zitierten Quellen haften nicht für etwaige Verluste, die aufgrund der Umsetzung ihrer Gedanken und Ideen entstehen.

ISBN Print 978-3-89879-918-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86248-749-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86248-750-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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eBook by ePubMATIC.com

Vorwortzur überarbeiteten Neuauflage

Ich danke dem FinanzBuch Verlag für die Veröffentlichung einer weiteren Ausgabe meiner Memoiren. Unsere Zusammenarbeit in den letzten Jahren war sowohl angenehm als auch produktiv.

In den zwei Jahren seit der Veröffentlichung der deutschen Erstausgabe hat sich viel verändert. Die Wahl von Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten schien eine ungewöhnliche Gelegenheit zur Neuordnung der Beziehungen zwischen der amerikanischen Supermacht und den anderen Staaten der Welt zu bieten. Als Präsidentschaftskandidat sprach Obama beredt über die Notwendigkeit, ein neues internationales System zu entwickeln, das auf gegenseitigem Respekt gründet und in dem die Staaten der Welt zusammenarbeiten, um eine Reihe von Problemen zu bewältigen – dabei sind die Konsequenzen des globalen Klimawandels die wichtigste Herausforderung, der die Weltgemeinschaft gegenübersteht.

Die Dinge haben sich – wie so oft in der Geschichte – nicht wie geplant entwickelt. Die Weltfinanzkrise, die in den Vereinigten Staaten begann und deren Wurzeln fast über drei Jahrzehnte zu dem System der Deregulierung zurückreichen, das von Margaret Thatcher und Ronald Reagan vertreten wurde, hat die Welt in die tiefste wirtschaftliche Rezession seit fast 70 Jahren gestürzt.

Die Kosten der »Großen Rezession« werden erst noch berechnet und mit ihren Auswirkungen und Folgen werden wir noch einige Jahre zu tun haben. Meiner Meinung nach sind es vor allem die gesellschaftlichen Institutionen – sowohl im staatlichen als auch im privaten Bereich –, die sich in den Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt haben, die jetzt zu den ersten Opfern der Krise gezählt werden müssen. In vielen Staaten, vor allem jedoch in den USA und den Ländern der Europäischen Union, gibt es eine starke Wahrnehmung dahingehend, dass die Mechanismen und Institutionen des Marktes versagt haben – es wird ihnen nicht zugetraut, ein nachhaltiges Wachstum und eine gerechte Verteilung des nationalen Wohlstandes sicherzustellen. Gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl, dass der Staat entweder seine Macht zu stark ausgeweitet hat oder dass er es sich nicht mehr leisten kann, im bisherigen Umfang Dienstleistungen anzubieten und Ansprüche zu erfüllen.

Der Verlust des Vertrauens in bestehende gesellschaftliche Institutionen ist schwerwiegend. Ich habe denselben Zusammenbruch in den 1930er-Jahren erlebt, und die daraus resultierenden Kosten für jedermann waren unermesslich hoch – sie bedeuteten Tod und Zerstörung sowie die Machtübernahme totalitärer Ideologien der Linken und der Rechten. Ich bete, dass wir nicht in eine ähnliche Phase der Weltgeschichte eintreten.

Zwar gibt es keine einfachen Lösungen für unsere Probleme, aber es gibt viele Männer und Frauen – darunter Barack Obama –, die in gutem Glauben handeln und ein wunderbares Talent haben. Sie geben uns ein Beispiel für eine gemäßigte Führung und eine wohlüberlegte Politik. Ich hoffe, wir werden auf sie hören und zusammenarbeiten, um die vielen Probleme zu lösen, denen wir gegenüberstehen.

Meine Hoffnung ist auch, dass diese Memoiren ein paar Lehren und Einsichten aus der Vergangenheit bieten, die uns bei der Bewältigung dieser schwerwiegenden Probleme helfen.

David Rockefeller

New York City

Juli 2010

Stimmen zuDavid RockefellersBuch

»Rockefellers 700 Seiten starke Autobiografie … gibt uns einen Einblick in sein Leben und in seine komplexe Karriere … Es handelt sich um eine aufschlussreiche direkte Darstellung eines jungen Mannes, der den Namen Rockefeller trägt, der wie kein anderer mit Macht, Privilegien und Verantwortung verbunden ist, und der in einer Zeit erwachsen wurde, als Amerika selber eine bedeutende Weltmacht wurde.«

Business Week

»Berührend seine Militärzeit im Zweiten Weltkrieg, seine Karriere im Bankgewerbe und seine Begegnungen mit ausländischen Politikern. Rockefeller berichtet freimütig und mit viel Gefühl über sein ereignisreiches Leben.«

Booklist

»Es gibt nur selten einen Autor, der offen und aufrichtig über sich selber schreiben kann, aber Rockefeller ist dies brillant gelungen. Seine Darstellung seiner Erziehung und der Verpflichtungen, die mit einem großen Vermögen verbunden sind, ist faszinierend, ebenso seine persönliche Betrachtung über vier Generationen Rockefeller. Was das Buch ebenfalls offenbart – unbewusst, aber mit großer Deutlichkeit –, sind die Anständigkeit, die Integrität und die Humanität von David Rockefeller.«

Dr. Henry Kissinger

»Rockefellers wohlorganisierte Erinnerung ermöglicht einen tiefen und faszinierenden Einblick in das Leben einer Legende.«

Publishers Week

»Memoiren, so reich wie ein Rockefeller, sollten Historiker, Experten und Kommentatoren auf den Plan rufen: auf jeder Seite unbeantwortete Fragen über ein bemerkenswertes Leben.«

Kirkus Reviews

»Lange bevor Globalisierung ein allgemeingebräuchlicher Begriff wurde, erkannte David Rockefeller die Bedeutung starker, vertrauensvoller Beziehungen mit Ländern und ihren Führern auf der ganzen Welt. Wir sind privilegiert, Nutznießer seines lebenslangen Einsatzes für den Weltfrieden zu sein und die Gelegenheit zu haben, seine Sichtweise dieser Erfahrungen in diesen herausragenden Erinnerungen zu finden.«

Nelson Mandela

»Ehrlich und faszinierend – die Memoiren sind ein Juwel und verdienen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.«

The Grand Rapid Press

»Mit diesen Memoiren gibt uns David Rockefeller eine Darstellung seines Lebens, die freimütig, prägnant und bewegend ist. Ob er über seine bemerkenswerte Familie schreibt, seine beachtliche Karriere oder seine bedeutende Rolle in globalen Angelegenheiten, er bietet eine einzigartige und unschätzbare Perspektive unserer Zeit.«

Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen

»Etwas, was Sie hier nicht finden werden, sind Mutmaßungen oder Selbstbeobachtungen … Aber das beeinträchtigt nicht wirklich die Qualität dieses aufrichtigen, ehrlichen und in höchstem Maße lesenswerten Buches.«

The Washington Post Book World

»Dies sind die Memoiren eines Mannes, der zweifelsohne die Gelegenheiten und die vielfältigen Erfahrungen schätzt, die ihm das Leben beschert hat, und jetzt, im Alter von 87 Jahren, ist er in der Lage, mit einer tiefen Zufriedenheit auf die vergangenen Jahre zurückzublicken.«

Houston Chronicle

»Dieser sehr gut lesbare und nachdenkliche Bericht eines einflussreichen Finanziers, Philanthropen und Kunstliebhabers wird das Interesse der Leser wachhalten.«

Library Journal

»David Rockefeller ist einer der vielseitig interessiertesten Männer unserer Zeit. Es war ein Vergnügen für mich, ihn und seine Arbeit kennengelernt zu haben, und dieses Buch, das Ergebnis seines einzigartigen Lebens, ist sowohl interessant als auch durch und durch bezaubernd. Durch die Erkenntnisse und das Vergnügen, die es in sich vereint, wird es jedermann gleichermaßen anziehen.«

Professor John Kenneth Galbraith

Inhaltsverzeichnis

Kapitel   1 Großvater

Kapitel   2 Mutter und Vater

Kapitel   3 Kindheit

Kapitel   4 Reisen

Kapitel   5 Rockefeller Center

Kapitel   6 Harvard

Kapitel   7 Unterricht bei den größten Volkswirtschaftlern

Kapitel   8 Eine Dissertation, eine Frau und ein Job

Kapitel   9 Der Krieg

Kapitel 10 Beginn einer Karriere bei der Chase

Kapitel 11 Start einer zweiten Karriere

Kapitel 12 Aufbau der Chase Manhattan Bank

Kapitel 13 Konflikt

Kapitel 14 Schwierige Veränderungen

Kapitel 15 Die Schaffung einer globalen Bank

Kapitel 16 Übernahme des Ruders

Kapitel 17 Einbeziehung der Sowjets

Kapitel 18 Durchdringung des Bambusvorhangs

Kapitel 19 Gesandter mit dem Ziel, das »Gleichgewicht der Kräfte« im Nahen Osten zu fördern

Kapitel 20 Die OPEC überleben

Kapitel 21 Turbulenzen im Unternehmen

Kapitel 22 Turbulenzen in der Familie

Kapitel 23 Konflikte unter Brüdern

Kapitel 24 Der Schah

Kapitel 25 Übergabe

Kapitel 26 New York, New York

Kapitel 27 Stolzer Internationalist

Kapitel 28 Südlich der Grenze

Kapitel 29 Meine Leidenschaft für moderne Kunst

Kapitel 30 Wiederbelebung des Rockefeller Centers

Kapitel 31 Partnerschaften

Bildteil

Epilog

Nachwort

Danksagung

Kapitel 1

Großvater

Es gibt ein Foto von allen Männern der Familie, wie sie am Tarrytown Bahnhof auf den Zug mit dem Sarg meines Großvaters warten, der aus seiner Winterresidenz in Ormond Beach, Florida, kommt. Er war ganz friedlich am 23. Mai 1937 im Alter von 97 Jahren in seinem Bett gestorben. Obwohl als offizielle Todesursache eine Herzmuskelentzündung angegeben wurde, wäre es einfacher zu sagen, dass er an Altersschwäche gestorben war. Ich kannte ihn nur als Großvater und nicht als den »Raubritter« oder den großen Philanthropen in den Geschichtsbüchern. Er war eine konstante Größe in meiner Kindheit gewesen: liebevoll, gutmütig, verehrt von meinem Vater, John D. Rockefeller Jr., und von der ganzen Familie.

Wenn ich mir heute das Bild anschaue, finde ich es bemerkenswert, wie gut es unsere Beziehungen untereinander erfasst, wo wir im Leben standen und wohin wir möglicherweise gehen würden.

John steht typischerweise ganz am Rand. Mit 31 Jahren ist er der älteste Sohn und damit der Erbe der Dynastie. Nachdem er in Princeton graduiert hatte, steckte Vater ihn in den Vorstand verschiedener Familieninstitutionen, darunter die Rockefeller Foundation, das Rockefeller Institute for Medical Research und Colonial Williamsburg, um ihn auf seine Rolle als Familienoberhaupt vorzubereiten, aber John ist schüchtern und sich seiner Fähigkeiten nicht sicher.

Nelson, auch das ist typisch, hat es geschafft, sich selbst genau in der Mitte des Bildes zu platzieren und herrisch in die Kamera zu starren. Mit 29 wird er bald Präsident des Rockefeller Centers werden.

Laurance, 27, der Philosoph und Geschäftsmann, blickt in die Weite vor der Kamera. Er war auf dem Weg, ein führender Investor in der Flugzeugindustrie zu werden und bald gemeinsam mit Eddie Rickenbacher, dem Flieger-Ass aus dem Ersten Weltkrieg, einen großen Anteil an Eastern Airlines zu kaufen.

Winthrop ist der Attraktivste. Irgendwie Mutter Aldrichs Züge – die man mit Charakter umschreiben könnte –, verbunden mit den Rockefeller-Genen, die beinahe das gute Aussehen von Filmstars verleihen. Win ist der Schwierigste von uns und passte sich nie so ganz an. Jetzt, mit 25, arbeitet er als Raubein auf den Ölfeldern in Texas.

Ich bin der Jüngste, 21 Jahre alt, und sehe so aus, als sei ich noch ziemlich feucht hinter den Ohren. Ich habe gerade mein erstes Jahr als Student der Wirtschaftswissenschaften in Harvard beendet und werde im Sommer nach England gehen, um mein Studium an der London School of Economics fortzusetzen.

Vater, dem man langsam seine 63 Jahre ansieht, wacht über uns alle, vollkommen direkt, ein freundliches, nettes Gesicht. Vielleicht ein wenig distanziert.

Wir brachten Großvater zurück in sein Herrenhaus auf dem Familienbesitz auf den Pocantico-Hügeln, das er und Vater 25 Jahre zuvor gebaut hatten. Dem Namen Kykuit entsprechend, dem holländischen Wort für Ausblick, bietet seine Lage auf den Hügeln einen großartigen Blick auf den Hudson. Am nächsten Tag hielten wir einen Gottesdienst für Großvater ab. Anwesend waren nur die Familie und ein paar engste Freunde. Ich erinnere mich daran, dass es ein wunderschöner Frühlingstag war, die Türen zur Terrasse geöffnet und der Hudson ein glitzerndes Blau unter uns. Großvaters liebster Organist, Dr. Archer Gibson, spielte auf der großen Orgel in der Haupthalle, in der wir als Kinder immer so getan hatten, als spielten wir Theater. Harry Emerson Fosdick, Hauptpfarrer der Riverside Church, die von meinem Vater errichtet worden war, hielt die Grabrede.

Als alle nach dem Gottesdienst die Halle verließen, gab mir Mr. Yordi, Großvaters Diener, ein Zeichen. Yordi, ein gepflegter Schweizer, war 30 Jahre lang Großvaters Diener und ständiger Begleiter gewesen. Ich kannte ihn gut, aber er war in meiner Gegenwart immer sehr reserviert. Ich ging zu ihm hinüber. Er zog mich in den inzwischen leeren Gang. »Wissen Sie, Mr. David«, begann er (seit ich mich erinnern kann, redete uns das Personal so an. »Mr. Rockefeller« wäre zu verwirrend bei so vielen Trägern des gleichen Namens gewesen und nur den Vornamen zu nennen, wäre zu familiär gewesen). »Ihr Großvater dachte immer, dass Sie von all Ihren Brüdern die größte Ähnlichkeit mit ihm hätten.« Ich muss sehr überrascht ausgesehen haben. Das war das Letzte, was ich von ihm zu hören erwartet hatte. »Ja«, sagte er. »Sie waren sein absoluter Liebling.« Ich dankte ihm etwas unbeholfen, aber er machte nur eine Handbewegung und sagte: »Nein, nein, ich dachte nur, Sie sollten es wissen.« Ich wusste nicht wirklich, was ich daraus schließen sollte. Ich hatte gedacht, es sei Nelson, aber ich konnte meine Freude darüber nicht verbergen.

THE STANDARD

Großvater hatte für fünf Dollar pro Woche als Büroangestellter in einem Warenhaus in Cleveland in Ohio begonnen und schließlich die Standard Oil Company gegründet und geleitet, ein Unternehmen, das praktisch die ganze Ölindustrie der Vereinigten Staaten darstellte, bis der Oberste Gerichtshof 1911 den Konzern nach einem erbitterten Rechtsstreit auflöste. Viele der Unternehmen, die nach der Zerschlagung entstanden, gibt es noch heute: ExxonMobil, Chevron, Amoco und noch etwa 30 weitere.

Standard Oil machte Großvater reich, möglicherweise zum reichsten Mann in den USA. Er war aber auch den größten Teil seines Lebens einer der verhasstesten Bürger. Die Boulevardpresse griff die Unternehmenspraktiken von Standard Oil immer wieder an und bezichtigte den Konzern krimineller Machenschaften – inklusive Mord – in dem angeblich unermüdlichen Bestreben, die gesamte Konkurrenz auszuschalten und die Monopolstellung in der Ölindustrie auszubauen. Großvater war das Angriffsziel von Progressiven, Populisten, Sozialisten und anderen, die mit der neuen kapitalistischen Ordnung in Amerika unzufrieden waren. Robert La Follette, der mächtige Gouverneur von Wisconsin, bezeichnete ihn als den »größten Kriminellen seiner Zeit«. Teddy Roosevelt benutzte ihn als Prügelknaben bei seinen Bemühungen, die industriellen Monopole zu Fall zu bringen. Ida Tarbell, die durch ihre Pamphlete vielleicht mehr als alle anderen dazu beigetragen hat, Großvaters Image als habgierigen und skrupellosen Räuberbaron zu manifestieren, schrieb: »Es gibt kaum Zweifel, dass Mr. Rockefeller hauptsächlich deswegen Golf spielt, damit er länger lebt, um mehr Geld zu verdienen.«

Heute würden die meisten Historiker zustimmen, dass das damalige Bild von Standard in höchstem Maße voreingenommen und häufig unkorrekt war. Großvater und seine Partner waren harte Konkurrenten, aber sie waren höchstens im Sinne der damals üblichen Geschäftsgebaren schuldig. Es war eine andere Welt in jener Zeit. Nur wenige der Gesetze, die heute den Wettbewerb regeln, waren vorhanden. Standard fungierte als Vorreiter auf dem Gebiet der Wirtschaft: ein neues, noch unerforschtes Territorium, in manchen Fällen buchstäblich wie der Wilde Westen. Sensationsjournalisten idealisierten die ersten Jahre der Ölindustrie als eine Art Garten Eden der Unternehmensgründer. In Wirklichkeit war es ein außerordentliches Massaker. Die Preise kreisten wild durcheinander und es gab große Schwankungen bei der Produktion, es gab entweder zu viel oder zu wenig Öl. Veredler und Produzenten gingen bankrott und wurden über Nacht aus dem Geschäft vertrieben. Großvater war nicht romantisch; er hielt die Situation für spekulativ, kurzsichtig und unwirtschaftlich und er begann hartnäckig, die Verhältnisse zu ändern.

Die Anschuldigung, dass Standard Witwen um ihre Anteile betrogen, Konkurrenzunternehmen in die Luft gesprengt und Wettbewerber mit allen verfügbaren Mitteln in den Ruin getrieben hätte – immer wieder munter von Tarbell und anderen wiederholt –, sind reine Erfindungen. Die Wahrheit ist, dass sich Standard bei seinen Geschäften wesentlich ehrenhafter verhalten hat als viele andere Wettbewerber. Während des Konsolidierungsprozesses bot Standard nicht nur einen fairen, sondern häufig auch einen großzügigen Preis für Konkurrenzraffinerien – so großzügig, dass Wettbewerber wieder ins Geschäft einstiegen, nur um die Gelegenheit zu haben, noch einmal aufgekauft zu werden. Großvaters Partner beschwerten sich bitterlich über das ständig gleiche Schema der »Erpressung«, aber er setzte seine Käufe fort, um seinen Plan zu realisieren.

Standard war ein Monopol. Auf seinem Höhepunkt kontrollierte das Unternehmen 90 Prozent der inländischen Ölindustrie und bemühte sich ohne Unterlass, die restlichen zehn Prozent auch noch aufzukaufen. Irgendwie sah Großvater nie etwas Negatives darin, den Markt zu beherrschen – nicht für die Besitzer und Arbeiter und auch nicht für die Konsumenten sowie für das Land an sich. Das wird in einschlägigen Werken allerdings ganz anders dargestellt, sodass es vielen Leuten schwerfällt, die Aufrichtigkeit in seinen Bemühungen zu erkennen. Während die Marktanteile von Standard zunahmen, sanken die Preise für Ölprodukte – in den ersten Jahrzehnten der Firmengeschichte in erster Linie Kerosin – für Verbraucher drastisch. Kerosin war plötzlich überall erhältlich und Standards Produkt war billiger und besser. Das Unternehmen investierte in neue Technologien, um die Bandbreite und die Qualität seiner Produkte zu verbessern und um neue Verwendungszwecke für Nebenprodukte zu entwickeln, die früher einfach weggeschüttet oder im nächsten Fluss versenkt worden waren. Benzin ist das deutlichste Beispiel für ein Abfallprodukt, das schließlich Verwendung in der Verbrennungsmaschine fand und zum wertvollsten Petroleumprodukt avancierte.

Es war Großvaters Politik, die Preise zu senken: Je preiswerter das Produkt war, so glaubte er, desto mehr würden die Leute kaufen, und je größer der Markt war, desto wirtschaftlicher würde die Massenproduktion für Standard werden. Ohne Wirtschaft studiert zu haben, verstand er die Bedeutung des Begriffs »elastische Nachfrage«. Er glaubte immer, dass es sich lohne, ein größeres Geschäft mit einer niedrigeren Gewinnmarge pro Stück zu machen. Viele Wirtschaftswissenschaftler sprechen vom Geschäft als der Antwort auf die Gesamtnachfrage des Marktes. Aber das entsprach nicht Großvaters Verständnis. Er entwickelte auch neue Märkte, indem er im eigenen Land und im Ausland neue Vertriebskanäle schuf. Zum Beispiel verschenkte Standard als Marketingtrick häufig Laternen, um so sicherzustellen, dass die Leute Kerosin kaufen – ähnlich wie Gillette Rasierapparate verschenkte, damit die Kunden auch weiterhin Rasierklingen kaufen. Großvater drängte seine Partner dazu, lange bevor die Nachfrage überhaupt existierte, Raffinerien zu kaufen, um neue Ölfelder zu erschließen und um die Produktion zu erhöhen. Standard verhielt sich während wirtschaftlicher Flauten, in denen sich andere zurückzogen, äußerst aggressiv, denn Großvater hatte eine langfristige Vorstellung von der Industrie an sich und davon, wie sie betrieben werden sollte.

Standard unterschied sich von seinen Rivalen durch eine Reihe von Faktoren: die Bereitschaft, in neue Technologien zu investieren, die ständige Sorge um die Produktionskosten und die permanente Aufmerksamkeit, was die Vermarktung der Produkte betraf. Großvater gelang es, die verschiedensten Elemente der Industrie, von der Förderung am Bohrturm bis zur endgültigen Auslieferung an den Kunden, in ein zusammenhängendes Unternehmen zu integrieren. Standard war das erste moderne Unternehmen, das alle Unternehmenszweige zusammenfasste. Das war Großvaters größter Erfolg: die Ölindustrie aufzubauen und im weiteren Verlauf ein fortschrittliches Unternehmen zu schaffen. Es war ein Triumph der Organisation, der die Unternehmenswelt verwandelte.

Die amerikanische Öffentlichkeit begrüßte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur Zerschlagung des Standard Oil Trust im Jahre 1911 mit großem Beifall. Dennoch soll daran erinnert werden, dass das endgültige Ergebnis von Großvaters Konsolidierung des Ölgeschäfts eine billigere, bessere und zuverlässigere Versorgung mit Ölprodukten war, die den Vereinigten Staaten dabei geholfen hat, sich von einer dezentralisierten Agrarnation in eine hochzentralisierte Demokratie zu entwickeln.

GELASSENHEIT IM ANGESICHT DES STURMS

Mein Vater, der später seine eigenen Schwierigkeiten mit der Presse hatte, pflegte Großvaters Gelassenheit im Angesicht eines über ihn hereinbrechenden Sturms immer mit einem gewissen Neid zu beschreiben. Als Großvater das Buch von Tarbell las, bemerkte er zu jedermanns Erstaunen, dass er es »durchaus vergnüglich« finde. In meinen Augen war es Großvaters tiefer religiöser Glaube, der ihm die Gelassenheit, das Selbstbewusstsein angesichts der persönlichen Angriffe und das ausgeprägte Selbstvertrauen gab, das ihn in die Lage versetzte, die amerikanische Ölindustrie zu konsolidieren. Er war ein überzeugter Christ, der nach den strikten Regeln des Glaubens der Baptisten lebte. Sein Glaube erklärte die Welt um ihn herum, führte ihn auf seinem Weg und bot ihm erlösende Strukturen. Das wichtigste dieser Prinzipien war, dass Glaube ohne gute Taten bedeutungslos war. Diese zentrale Glaubensregel führte Großvater dazu, als Erstes die »Lehre der Verantwortung« für sein großes Vermögen zu akzeptieren und es dann später in seinem Leben als Philanthrop zu verteilen.

Großvater war in bescheidenen Verhältnissen im Zentrum des Staates New York aufgewachsen. Sein Vater William Rockefeller war wohl mehr oder weniger ständig abwesend und hatte eine etwas dunkle Vergangenheit, aber seine Mutter, Eliza Davison Rockefeller, die Großvater und seine Geschwister allein großzog, war eine außergewöhnlich gottesfürchtige und charakterfeste Frau.

In unserer von weltlichen Dingen geprägten Zeit ist es schwierig, sich ein Leben vorzustellen, das von einem starken Glauben geprägt ist. Für viele scheint obendrein ein Leben nach den strikten Regeln der Baptisten – kein Alkohol, kein Rauchen, kein Tanzen – gleichbedeutend mit einer unerquicklichen Existenz zu sein. Aber Großvater trug die Gebote seiner Religion, all diese Dinge, die uns eine Last wären, mit Leichtigkeit und Freude. Er war der am wenigsten verdrießliche Mensch, den ich jemals kennengelernt habe; er lächelte ständig, war immer zu einem Scherz aufgelegt und erzählte lustige Geschichten. Häufig fing er beim Dinner an, leise eines seiner Lieblingslieder zu singen. Er sang nicht für irgendjemanden; es war eher, als wenn ein Gefühl von Frieden und Zufriedenheit aus ihm herausströmte.

Als Junge ging ich gelegentlich von Abeyton Lodge, dem Haus meiner Eltern, zum Hügel, auf dem Kykuit stand, um mit meinem Großvater zu frühstücken oder zu Mittag zu essen. Die Entfernung betrug ungefähr eine Viertelmeile. Zum Frühstück aß Großvater ausnahmslos Haferbrei, nur mit Butter und Salz und nicht mit Sahne und Zucker. Er aß sehr langsam und kaute jeden Bissen sorgfältig, denn er hielt es für eine wichtige Hilfe bei der Verdauung. Er war der Meinung, dass man sogar Milch kauen sollte, was er auch tat!

Großvater nahm seine Mahlzeiten nur selten allein ein. Häufig kamen Freunde und Kollegen vorbei, viele aus der alten Zeit in Cleveland, und leisteten ihm Gesellschaft. Nicht selten blieben sie auch länger. Die Mahlzeiten dauerten lange und verliefen ohne Eile und die Unterhaltung war familiär und angenehm. Über Geschäfte wurde nie geredet; stattdessen scherzte Großvater mit seinen Cousins und seiner langjährigen Haushälterin Mrs. Evans, einer äußerst beleibten und freundlichen Frau, die seine gutmütigen Scherze zu erwidern wusste. Gelegentlich nahm ich auch das Dinner mit ihm auf Kykuit ein. Nach dem Essen gingen wir alle in ein Wohnzimmer, wo Großvater vor sich hindöste, während sich seine Gäste unterhielten. Er zog sich immer sehr zeitig für die Nacht zurück.

Bei anderen Gelegenheiten liebte Großvater es, ein Kartenspiel mit dem Namen Numerica zu spielen. Die Karten waren rechteckig und trugen jeweils nur eine Zahl. Sinn des Spiels war es, die mathematischen Fähigkeiten zu prüfen und zu verbessern. Großvater fungierte immer als Kartengeber – und der Gewinner jeder Runde erhielt immer ein Zehn-Cent-Stück und der Verlierer fünf Cent.

Einmal, als ich schon ein wenig älter war und Großvater bereits in den Neunzigern, nahm er meine Einladung zu einem Hühnchenessen im Spielhaus an, wobei ich das Hühnchen zubereitete. Beide, er und Mrs. Evans, kamen und verkündeten, das Essen sei »wirklich köstlich«!

Ich besuchte Großvater auch in seinen Häusern in Florida und Lakewood in New Jersey. Großvater war ein leidenschaftlicher Golfer und legte private Plätze in Pocantico und Lakewood an. Als ich ein junger Mann war und gerade Golf spielen lernte, spielten wir ein paar Löcher zusammen. Großvater spielte zu jener Zeit nur noch, um nicht aus der Übung zu kommen, und beendete selten eine volle Runde.

Im Juni 1936, als Großvaters Gesundheit bereits angegriffen war, stattete ich ihm einen kurzen Besuch in Ormond Beach ab. Er war sehr erfreut, mich zu sehen, aber er war sichtlich kraftlos und müde. Die meiste Zeit verbrachte er schlafend oder ruhig in seinem Zimmer sitzend. Wir sprachen kurz über unwichtige Angelegenheiten, aber er schien zufrieden damit zu sein, dass ich einfach bei ihm im Zimmer war. Er erlaubte mir, dass ich ihn in seinem Sessel sitzend fotografierte. Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah.

Großvater war ein tief religiöser Mensch, aber er verurteilte oder verdammte andere nicht, die seinen Glauben nicht teilten. Als Antialkoholiker war Großvater sein ganzes Leben lang eine Ausnahme bei Standard, wo die meisten seiner engsten Mitarbeiter alles andere als gottesfürchtige Männer waren. John Archbold, ein ehemaliger Rivale, der schließlich ein enger Freund wurde, war ein Trinker und Großvater machte es sich zur Lebensaufgabe, ihn zu läutern. Großvater pflegte enge Freundschaften mit seinen Geschäftspartnern, zu denen Archbold, Henry Flagler und auch sein Bruder William gehörten, der von Anfang an mit ihm bei Standard dabei war. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich ihn über seine Karriere sprechen hörte, erzählte er von dem Spaß, den sie trotz der harten Arbeit und der unendlich langen Arbeitstage als Verbündete in einem großen, neuen Unternehmen gehabt hatten.

Großvater war von Natur aus bescheiden, und obwohl er ein Leben lebte, das sich nur Leute mit einem großen Vermögen leisten konnten, war er verhältnismäßig bedürfnislos. Zu einer Zeit, als sich die Carnegies, Fricks, Harrimans und Vanderbilts herrschaftliche Wohnsitze an der Fifth Avenue bauen ließen, kaufte Großvater ein Haus in einer Seitenstraße, dessen bisherige Mieterin, Arabella Worsham, die Geliebte von Collin P. Huntington war. Es war zwar ein sehr großes Sandsteinhaus und Großvater kaufte diverse angrenzende Gebäude, in die später die wachsende Familie ziehen konnte, aber es sagt etwas über ihn aus, dass er sich nie die Mühe gemacht hat, es zu renovieren. Mrs. Worshams rote Plüschtapeten und die schweren, reich verzierten viktorianischen Möbel blieben Zeit seines Lebens im Haus.

Seine einzige Schwäche scheinen Trabrennpferde gewesen zu sein. Er besaß ein paar zusammenpassende Gespanne und liebte es, mit ihnen in Pocantico und im Central Park zu fahren, wo er sich gelegentlich Rennen mit seinem Bruder und engen Freunden lieferte.

Großvater entbehrte jeglicher Eitelkeit. Er gab wenig auf Äußerlichkeiten. Als junger Mann war er gut aussehend gewesen, aber in den 1890er-Jahren erkrankte er an einer schmerzhaften Virusinfektion, Alopezie genannt, die sein Nervensystem angriff. Als Folge der Krankheit verlor er sein ganzes Haar. Auf einem Foto aus dieser Zeit trägt er eine schwarze Scheitelkappe, die ihn ein wenig wie den Kaufmann von Venedig aussehen ließ. Später trug er Perücken.

Einige Leute, allen voran Ida Tarbell, empfanden seine physische Erscheinung als abstoßend; andere sahen das nicht so. John Singer Sargent zögerte zunächst, Großvater zu porträtieren. Nach langen Gesprächen während der Sitzungen wurden sie schließlich Freunde. Am Ende erklärte Sargent Großvater, dass er ein zweites Porträt malen wolle, weil er inzwischen fasziniert von dem Motiv sei, und dass Großvater ihn an einen mittelalterlichen Heiligen erinnere.

DIE KUNST DES SCHENKENS

Die Wahrheit ist, dass Großvater es schwierig fand, sein Vermögen, das 1910 beinahe eine Milliarde Dollar betrug, zu verwalten. Sein jährliches Einkommen von Standard Oil und aus anderen Investitionen war enorm und Großvaters akribischem Naturell entsprechend musste es anständig angelegt werden. Da er kein Interesse daran hatte, Schlösser in Frankreich oder Schottland zu besitzen, und ihn der Gedanke, Kunst, Yachten oder mittelalterliche Ritterrüstungen zu kaufen – Aktivitäten, die seine extravaganten Zeitgenossen pflegten –, mit Entsetzen erfüllte, fand Großvater eine charakteristische Lösung: Er investierte einen großen Teil seiner Einnahmen in Kohlengruben, Eisenbahnen, Versicherungen, Banken, verschiedenste Produktionsbetriebe vor allem im Bereich Eisenerz und kontrollierte schließlich einen Großteil der Eisenerzvorkommen der Mesabi Range in Minnesota.

Aber nachdem sich Großvater 1897 von Standard zurückgezogen und zur Ruhe gesetzt hatte, begann er, sich verstärkt mit einer anderen Form der Investition zu beschäftigen: Philanthropie, auf die er als die »Kunst des Gebens« verwies. Indem er Gutes tat, empfand er die gleiche Befriedigung wie während seiner Zeit bei Standard Oil.

Seit er ein junger Mann gewesen und gerade ins Geschäftsleben eingetreten war, hatte Großvater jede Einnahme und Ausgabe, inklusive Spenden für wohltätige Zwecke, bis auf den Penny in einer Reihe von Hauptbüchern, beginnend mit dem berühmten »Hauptbuch A«, notiert. Alle Bücher werden im Rockefeller Archive Center in Pocantico Hills aufbewahrt. Buch zu führen wurde eine Familientradition. Vater folgte Großvaters Beispiel und bemühte sich mit unterschiedlichem Erfolg, meine Generation ebenfalls dazu zu bringen. Und ich probierte es mit meinen Kindern, wobei ich noch weniger Erfolg als Vater hatte.

Indem er es tat, folgte Großvater der religiösen Doktrin des »Zehnten«. Mit anderen Worten: Er gab den zehnten Teil seines Einkommens an die Kirche oder für andere gute Zwecke. Seine Spenden hielten mit seinen ständig wachsenden Einnahmen Schritt und erreichten für gewöhnlich zehn Prozent dessen, was er sich selbst zubilligte. Ab Mitte der 1880er-Jahre fand Großvater es schwierig, die karitativen Spenden selbst zu verwalten. Genau genommen handelte es sich um einen der größten Stressfaktoren für ihn in jenen Jahren. Er fühlte sich nicht nur verpflichtet zu geben, sondern klug zu geben, was viel schwieriger ist. »Es ist leicht, Schaden zu verursachen, indem man Geld gibt«, schrieb er. Inzwischen überschritt sein jährliches Einkommen eine Million Dollar und zehn Prozent davon zu verteilen war eine Vollzeitbeschäftigung. Schließlich engagierte er Reverend Frederick T. Gates, einen Baptistenprediger, um einen wohlüberlegten und systematischeren Weg zu finden, Einzelne und Organisationen einzuschätzen, die um Spenden baten. Glücklicherweise war Gates ein Mann mit umfassender Bildung und beachtlicher Weisheit. Innerhalb der nächsten Jahrzehnte planten sie die Verteilung von mehr als der Hälfte des Vermögens; der größte Teil des Rests ging schließlich an Vater, der sein Leben der Aufgabe verschrieb, ihre Arbeit fortzusetzen und zu erweitern.

Es gibt Leute, die sagen, dass Großvater und Vater gemeinsam mit Andrew Carnegie die moderne Philanthropie erfunden haben. Das mag stimmen, aber es mag auch übertrieben sein. Den beiden ist es jedenfalls gelungen, bei karitativen Aktivitäten die Betonung weg von der Behandlung der Symptome gesellschaftlicher Probleme und hin zum Verständnis und zur Beseitigung der unterschwelligen Ursachen zu bewegen. Das führte sie dazu, sich eine wissenschaftliche Methode zu eigen zu machen und die Arbeit von Experten auf vielen Gebieten zu unterstützen.

Großvaters erstes philanthropisches Projekt war in den 1890er-Jahren der Aufbau der Universität in Chicago. Allerdings ließ Großvater seine geschäftlichen Sorgen erst kurz nach der Jahrhundertwende endgültig hinter sich, um sich vornehmlich philanthropischen Aufgaben zuzuwenden. Eine seiner ersten Initiativen war die Gründung des Rockefeller Institute for Medical Research im Jahre 1901.

Großvaters Vision, entwickelt in enger Zusammenarbeit mit Gates, meinem Vater und dem ersten Direktor des Instituts, Dr. Simon Flexner, war es, eine Forschungseinrichtung nach dem Vorbild der Institute von Pasteur oder Koch in Europa zu schaffen. Bei der Gründung des Instituts bediente sich Großvater der gleichen Prinzipien, die er zuvor bei Standard Oil getestet hatte: Er engagierte gute Leute und gab ihnen Kompetenzbereiche. Obwohl er eng in die Gründung und Planung eingebunden war, machte er, nachdem das Institut seine Arbeit aufgenommen hatte, klar, dass er nicht in das Management eingreifen wolle. Er hielt es für angebracht, den Pädagogen und Wissenschaftlern die Zügel in die Hand zu geben, die Spezialisten auf ihren Gebieten waren. Vater wurde Vorstandsvorsitzender des Kuratoriums, um sicherzustellen, dass die Voraussetzungen für unabhängige wissenschaftliche Forschungen strikt aufrechterhalten wurden.

Das General Education Board (GEB), Großvaters nächste wichtige Initiative, entstand aus dem Bedürfnis, ein öffentliches Bildungssystem im Süden zu installieren, von dem sowohl Schwarze als auch Weiße profitieren konnten. Großvater versorgte das GEB im Laufe von dessen 30-jähriger Existenz mit einer Stiftung und Betriebsmitteln in Höhe von beinahe 130 Millionen Dollar. Das GEB arbeitete eng mit den lokalen Behörden und der Landesregierung zusammen, um seine Ziele zu erreichen. Es ist eines der ersten und erfolgreichsten Beispiele für eine öffentliche und private Zusammenarbeit, die unsere Familie gefördert hat.

Die Rockefeller Foundation, 1913 gegründet, war die erste philanthropische Organisation mit einer speziellen, globalen Vision und die Krönung von Großvaters Bestrebungen, eine Struktur zu schaffen, die in der Lage war, sein Vermögen für wohltätige Zwecke zu verwalten. Großvater stellte der Foundation über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr Geld zur Verfügung als jeder anderen Institution – ungefähr 182 Millionen Dollar, das sind mehr als zwei Milliarden Dollar heute. Die Foundation kämpfte gegen Hakenwürmer, Gelbfieber, Malaria, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten. In späteren Jahren wurde sie führend in der Entwicklung von Hybridformen von Korn, Weizen und Reis, die als Basis für die Grüne Revolution dienten, die so viel dazu beigetragen hat, Gesellschaften auf der ganzen Welt zu verändern.

PUBLIC RELATIONS

Es wurde häufig behauptet, dass Großvaters großzügige Spenden lediglich ein Public-Relations-Trick gewesen seien, um sein Image nach einem Leben voller habgieriger Profitsucht aufzupolieren. Wenn das tatsächlich seine Motivation gewesen wäre, hätte er es dann nötig gehabt, eine halbe Milliarde Dollar zu spenden, um dieses Ziel zu erreichen?

Der Public-Relations-Pionier Ivy Lee ist häufig mit dem alles umfassenden Plan, von der Gründung der großen Stiftungen bis hin zu Großvater, der glänzende Zehn-Cent-Stücke verteilt, um sein Image als skrupelloser Räuberbaron durch das eines warmherzigen, freundlichen und großzügigen alten Mannes zu ersetzen, in Verbindung gebracht worden. Das meiste davon ist absolut lächerlich. Großvater verteilte gelegentlich Zehn-Cent-Stücke an Leute, die er auf dem Golfplatz, in der Kirche oder auf der Straße traf, um einen lockeren Kontakt zu ihnen herzustellen. Es half, das Eis zu brechen, gab den Leuten ein gutes Gefühl – und es wirkte in der Regel.

In Wirklichkeit hatte Großvater so wenig Interesse an Public-Relations-Vorteilen für seine wohltätigen Projekte, dass er nicht zugelassen hätte, dass sein Name mit der Universität Chicago oder dem General Education Board in Verbindung gebracht würde, und erst nach langem Zögern stimmte er zu, seinen Namen für das Rockefeller Institute zu nutzen. Es ist schwer vorstellbar, dass Großvater, der sich geweigert hatte, Standard Oil zu erlauben, gegen die Verleumdungen anzugehen, die von den Skandalreportern verbreitet worden waren, den größeren Teil seines Vermögens darauf verwenden würde, sein Bild in der Öffentlichkeit zu manipulieren. Man hätte glauben müssen – was ich nicht tue –, dass er unter Bewusstseinsstörungen litt, die ihn dazu zwangen, seine »unrechtmäßig erworbenen Gewinne« rauszuschmeißen.

Großvater zeigte meinem Vater und seinen Enkeln oder irgendjemand anderen gegenüber niemals ein Zeichen der Reue über seine Unternehmenskarriere. Er glaubte, Standard Oil begünstige die Gesellschaft, und er hatte ein gutes Gefühl in seiner Rolle als Schöpfer des Ganzen.

Womit aber war Großvaters Philanthropie zu erklären? In meinen Augen entsprang sie seiner religiösen Erziehung und den Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hatte. Ida Tarbell und ihre intellektuellen Nachkommen hatten sich entschlossen, Großvater als den Inbegriff von Habgier und Ausgeburt von selbstsüchtigem Individualismus hinzustellen. Großvater war zwar ein ausgeprägter Individualist, aber er definierte den Begriff anders. Er widersprach der Idee des Idealismus als Selbstsüchtigkeit und Selbstverherrlichung. Stattdessen definierte er Individualismus als die Freiheit, etwas zu erreichen, und die Verpflichtung, der Gesellschaft, die ihn aufgezogen und gestützt hatte, etwas von Wert zurückzugeben. Ich glaube, das war sowohl die Quelle als auch der Sinn seiner Philanthropie.

Vater, weit davon entfernt, sich für Großvater zu schämen, war unendlich stolz auf ihn und auf seine vielen Leistungen. Wenn Vater gefühlsmäßig Konflikte gehabt hatte – und die hatte er –, dann lag es nur daran, dass er ihm nicht gewachsen war. Einen großen Teil seines Lebens dachte mein Vater, einer der größten Philanthropen in der Geschichte, dass er nur den Fußstapfen eines größeren Mannes folgte.

Kapitel 2

Mutter und Vater

Als meine Eltern am 9. Oktober 1911 heirateten, bezeichnete die Presse dies als die Vereinigung der zwei einflussreichsten Familien Amerikas: der Sohn und Erbe von John D. Rockefeller und die Tochter von Nelson Aldrich, Führer der republikanischen Mehrheit im US-Senat und nach Meinung einiger »der General der Nation«.

Vater war von Mutter seit ihrer ersten Begegnung angetan, aber er quälte sich lange mit der Entscheidung, ob er ihr einen Antrag machen solle. Es ist bezeichnend für Vaters Ernsthaftigkeit, dass er, als er den Senator schließlich um die Hand seiner Tochter bat, in eine langatmige Erklärung seiner finanziellen Verhältnisse verfiel, offensichtlich ängstlich bemüht klarzustellen, dass er eine passende Partie war. Der Senator, irgendwie amüsiert, unterbrach ihn mitten im Satz und sagte: »Mr. Rockefeller, ich bin nur daran interessiert, dass meine Tochter glücklich wird.«

Ich hege keinen Zweifel daran, dass Vater Mutter glücklich machte und sie ihn. Sie standen sich außerordentlich nahe – vielleicht zu nah, wie ich gleich erklären werde –, und ich glaube, sie liebten sich sehr. Mutter gab Vater mit der Hochzeit das Gefühl von Freude und Spaß, das er dringend brauchte.

Mutter war in einer großen Familie mit acht Geschwistern – fünf Jungs und drei Mädchen – in Providence auf Rhode Island aufgewachsen. Mutter war das drittälteste Kind, die zweitälteste Tochter und stand ihrem Vater besonders nah. Ihr Vater spielte eine Schlüsselrolle bei der Festsetzung von hohen Tarifen und bei der Schaffung von mehr Flexibilität bei Zahlungsmitteln und eines stabileren Bankensystems durch die Errichtung des Federal Reserve Systems. Mutter erinnerte sich daran, wie er und seine Kollegen aus dem Senat in seinem Haus in Washington bei einer Partie Poker und ein paar Drinks über Gesetze diskutierten. Großmutter Aldrich war lange invalide, mindestens schon zehn Jahre vor der Hochzeit von Mutter und Vater, und so fungierte Mutter oft als Gastgeberin für ihren Vater. Sie war in den Mittelpunkt der Washingtoner Szene gestoßen worden und nicht nur ungezwungen, sondern höchst geschickt im Umgang mit den Anforderungen der »Gesellschaft«.

Großvater Aldrich liebte es zu reisen und war außerordentlich stark an Kunst interessiert. Mutter und ihre Geschwister begleiteten ihn oft nach Paris, Rom und London, wo er an offiziellen Konferenzen teilnahm. Schon in früher Jugend lernte sie so Paris und seine Kunstszene kennen und entwickelte ein entspanntes Verhältnis zu den neuen Formen und Ideen jener Zeit.

EINFLUSSREICHE NORMEN,EMOTIONALE ZERBRECHLICHKEIT

Die Familie, in die Mutter einheiratete, konnte nicht unterschiedlicher sein als ihre eigene. Ihre Geschwister, allen voran ihre ältere Schwester Lucy, neckten sie ob der »puritanischen« Rockefellers und machten sich anfangs Sorgen, ob sie in der Lage sein würde, sich anzupassen.

Während des größten Teils von Vaters Kindheit war seine Mutter, Laura Spelman Rockefeller, die dominante Figur in seinem Leben. Sie hatte die Hauptverantwortung für seine Erziehung und Bildung und legte Wert auf eiserne Disziplin. Ihre Eltern waren tiefgläubig und sowohl in der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei als auch in der Abstinenzbewegung aktiv gewesen. Ihre Porträts und Fotografien zeigen eine Respekt einflößende Persönlichkeit, die nicht unbedingt zur Fröhlichkeit neigte.

Großmutter Rockefeller war für Vaters religiöse Einstellung verantwortlich, seinen ausgeprägten Sinn für moralische Rechtschaffenheit und die ersten Andeutungen, dass er eine schwere Verantwortung für die Verwaltung des immensen Familienvermögens tragen würde. Großmutter Rockefeller trat der Woman’s Christian Temperance Union kurz nach der Gründung bei, fest davon überzeugt, dass der »Dämon Rum« Ursache aller sozialen Probleme jener Zeit war: Armut, Laster und Verbrechen. Als Junge besuchte Vater regelmäßig Abstinenzlertreffen und als er zehn war, unterzeichnete er ein Gelöbnis, sich »des Tabak, jeglichen obszönen Verhaltens und des Trinkens jeglicher berauschender Getränke« zu enthalten. Bis er aufs College ging, war Vaters Leben auf die Familie und die Baptistenkirche ausgerichtet. Vaters College-Jahre an der Brown University gaben ihm erstmals Gelegenheit, dem Einfluss seiner Mutter zu entkommen, aber es war eine schwierige Aufgabe und er bewältigte sie nie ganz. Allerdings sammelte er ein paar neue Erfahrungen, die sein Weltbild erweiterten und ihm eine Reihe von Freundschaften bescherten, die sein ganzes Leben lang währten. Noch wichtiger jedoch, zumindest aus meiner Sicht: Er traf meine Mutter und begann, um sie zu werben, was mehr als acht Jahre später zur Hochzeit führte.

Selbst mit den besten Voraussetzungen in Form eines College-Abschlusses, eines sicheren Familienlebens und eines großen Freundeskreises trat Vater mit einer beträchtlichen Unsicherheit ins Leben. Seine Hochzeit war, trotz seiner anfänglichen Zweifel und seines Zögerns, ein Geschenk Gottes. Mutters Munterkeit, Geselligkeit und Ungezwungenheit halfen ihm, mit seiner Schüchternheit und Selbstkritik umzugehen und seine Schwächen, die ihm durchaus bewusst waren, zu kompensieren. In Mutter hatte er jemanden gefunden, der ihn verstand, sich um ihn sorgte und seine emotionale Zerbrechlichkeit beschützte. Er wollte sie immer bei sich haben – wenn nicht stets an seiner Seite, dann wenigstens stets in der Nähe. Er wollte sich mit ihr in die Zweisamkeit zurückziehen. Einerseits war das romantisch und ich glaube, dass ihre Beziehung unglaublich intensiv und liebevoll war. Andererseits schloss das Band, das sie verband, alle anderen aus, ihre Kinder inbegriffen. Und darin lag der Ursprung für viele Spannungen, unter denen Mutter litt.

Wir wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass wir, wenn wir Mutters Aufmerksamkeit erringen wollten, mit Vater in den Wettstreit treten mussten. Wir wussten, wie viel wir ihr bedeuteten und wie sehr sie die Zeit mit uns zusammen genoss, und es war für uns offensichtlich, dass ihr der Konflikt zwischen seinen und unseren Bedürfnissen viel Kummer bereitete. Es war ein niemals endender Kampf für sie und der Anlass für eine Menge Sorgen; und es war etwas, was sie niemals lösen konnte. Vater erwartete, dass Mutter für ihn da war, wenn er sie brauchte, und seine Bedürfnisse waren in diesem Sinne so gut wie unstillbar.

EINE WUNDERSCHÖNE FRAU

Abgesehen von dieser Spannung, die meine Erinnerungen an die Kindheit überschattet: Wann immer ich an meine Mutter denke, tue ich es noch heute mit einem Gefühl der Liebe und des Glücks. Ich vermute, dass man sie, gemessen an den gegenwärtigen Maßstäben, nicht als schöne Frau bezeichnet hätte. Nelson und ich haben ihre Aldrich-Merkmale geerbt, vor allem die markante Aldrich-Nase. Dennoch habe ich meine Mutter immer als schön empfunden, so wie es auch viele ihrer Freunde und Bekannten taten, denn diese Merkmale waren von einer unglaublichen Lebhaftigkeit geprägt und von viel Wärme durchzogen. Es war eine Schönheit, die nur schwer in einem Foto oder Gemälde eingefangen werden konnte, und in der Tat werden ihr nur wenige Bilder wirklich gerecht. Seltsamerweise ist ihr eine Zeichnung am ähnlichsten, die nach ihrem Tod Fred W. Wright nach einem sehr guten Foto angefertigt hat, auf dem sie Nelsons ältesten Sohn Rodman auf dem Arm hält, als er noch ein kleiner Junge war. Irgendwie fängt es ihren Ausdruck besser ein als jedes formale Porträt.

Mit der Aldrich-Physiognomie habe ich von Mutter auch einen großen Teil des Aldrich’schen Temperaments geerbt. Ihr ausgeglichenes Gemüt stand deutlich im Gegensatz zu der angespannten, getriebenen Art von Vater und einigen meiner Geschwister. Ich habe immer ein ganz besonders inniges Verhältnis zu ihr gehabt. Mutter liebte kleine Kinder und ohne Zweifel war es mein Vorteil, der Jüngste zu sein. Meine Brüder beschuldigten mich häufig, eine Sonderbehandlung zu bekommen, obwohl sich unsere Eltern immer deutlich bemühten, keinen von uns vorzuziehen. Aber Mutter und ich hatten eine ungezwungene Beziehung. Wir hatten viele gemeinsame Vorlieben. Eine meiner stärksten Erinnerungen ist ihre Liebe zur Kunst und wie sie sie mir fast unmerklich und geduldig nahebrachte. Wunderschöne Objekte erwachten in ihren Händen zum Leben, als ob ihre Bewunderung sie mit einer ganz besonderen Aura der Schönheit versah. Je länger sie ein Gemälde betrachtete, desto mehr fand sie darin, als ob eine besondere Magie ihr neue Tiefen, neue Dimensionen eröffnete, die dem normalen Betrachter verborgen blieben.

Mutter hatte nur wenig von einer Sammlerin in sich; eine komplette Serie von etwas zu besitzen, interessierte sie weniger als die Qualität jedes einzelnen Objekts. An ihrer Seite absorbierte ich einen Teil ihres Geschmacks und ihrer Intuition, die unerschöpflich war. Ich lernte mehr von ihr über Kunst als von allen Kunsthistorikern und Kuratoren zusammen, die mich im Laufe der Jahre über die technischen Aspekte der Kunstgeschichte informierten und die Beurteilung der Kunst lehrten.

Während Mutter und Vater »offiziell« in den wichtigsten Fragen unserer Erziehung übereinstimmten und mit einer Stimme zu den Kindern sprachen, trennten sie vom Temperament her Welten. Es blieb uns Kindern nicht verborgen, dass Mutter nicht an unseren morgendlichen Andachten teilnahm und es stattdessen vorzog, gemütlich im Bett zu bleiben, die Zeitung zu lesen oder ihre Korrespondenz zu erledigen. Oder dass sie gewagte neue Formen der Kunst ins Haus brachte – häufig zusammen mit den Künstlern, die sie produzierten –, was Vater aufbrachte. Oder dass sich ihr Gesicht erhellte, wann immer sie die Gelegenheit hatte, mit uns zusammen zu sein oder allein mit uns zu spielen. Sie liebte Abenteuer und das Unerwartete. Spontan zu sein war ganz natürlich bei ihr und sie hatte die größte Freude dabei, Dinge kurzentschlossen zu tun.

PFLICHT, MORAL, ANSTAND

Vater war ganz das Gegenteil. Er wollte, dass das Leben nach geordneten Mustern verläuft. Er wusste immer lieber im Voraus, was wie und mit wem in welcher Reihenfolge zu tun war. Egal ob zu Hause oder in den Ferien, der Tag wurde vorab geplant und Abweichungen wurden mit Missbilligung aufgenommen. Ich erinnere mich an seinen Spruch, wenn jemand etwas Neues vorschlug: »Aber wir haben etwas anderes geplant.« Für ihn war das Grund genug, diesen Vorschlag nicht anzunehmen.

Wenn wir im Sommer nach Maine zogen, wurden Vaters Koffer drei Tage, bevor wir die Stadt verließen, hervorgeholt; einige waren alte Schiffskoffer, die einen Deckel hatten, der von oben geöffnet wurde. Andere waren bekannt als »Kofferneuheit«; sie ließen sich von vorn öffnen und hatten auf der einen Seite Platz für Anzüge zum Aufhängen und auf der anderen Schubladen für Wäsche. Vater füllte ein halbes Dutzend oder mehr Koffer und Taschen für die zwei oder drei Monate, die er fort sein würde. Zuerst trafen er und sein Diener William Johnson eine Auswahl der Dinge, die mitzunehmen waren – Mäntel, Pullover, Anzüge, Reitanzüge und so weiter. Dann packte William die Sachen ein.

Die Kleiderordnung war damals eher formell; im Winter trug Vater einen Smoking zum Abendessen und Mutter ein langes Kleid, selbst wenn die Familie nur unter sich war. Trotzdem war die Menge der Kleidung, die sie mit auf Reisen nahmen, erstaunlich. Vater wagte sich sogar im Sommer nie ohne Mantel aus dem Haus für den Fall, dass es kalt würde, und er trug im Freien immer einen Hut. Ein Foto von Vater und mir, das in einem Sommer während meiner Jahre im College während einer Spritztour durch den Südwesten aufgenommen wurde, zeigt uns unter einer einsamen Pinie mitten in der Wüste von Arizona auf einer wollenen Reisedecke sitzend. Vater trägt einen Anzug mit Krawatte, einen Filzhut auf dem Kopf und hat den obligatorischen Mantel griffbereit in der Nähe.

Ich hege keinen Zweifel daran, dass Vater alle seine Kinder sehr liebte, aber seine eigene strenge Kindheit trug zweifelsohne einen großen Teil zu seiner Unbeweglichkeit als Vater bei. Er war förmlich, nicht kalt, aber nur ganz selten wirklich liebevoll. Gleichwohl war er während meiner Kindheit physisch präsenter als viele andere Väter und möglicherweise mehr bei seinen Kindern als ich bei meinen. Er arbeitete hart, aber meistens in seinem Büro zu Hause, wo er nicht gestört werden wollte. An den Wochenenden war er mit uns in Pocantico zusammen und er verbrachte die Sommerferien mit uns in Maine, aber auf gefühlsmäßiger Ebene war er immer distanziert.

Es gab natürlich Ausnahmen. Wenn wir spazieren gingen, ausritten oder gemeinsam auf Reisen waren, sprach er manchmal offen über seine Jugend und hörte mir mit wirklichem Interesse und Zärtlichkeit zu, wenn ich über meine Belange sprach. Das waren wichtige Momente in meinem Leben.

Trotzdem bevorzugte Vater, wenn es um etwas Wichtiges ging, vor allem bei Dingen mit bedeutendem emotionalem Inhalt, den Austausch von Briefen. Das passierte häufiger, als wir aufs College gingen und meine Eltern auf ausgedehnten Reisen waren, aber es war auch das bevorzugte Kommunikationsmittel, wenn wir alle unter einem Dach lebten. Vater diktierte seine Briefe seiner Sekretärin, die sie tippte und verschickte – mit einer Kopie für die Akten.

Obwohl Vaters Liebe für uns aufrichtig und von Herzen war, verleitete ihn sein Sinn für elterliche Pflicht gelegentlich zu Monologen über Pflicht, Moral und anständiges Benehmen. Mein Bruder Laurance erinnert sich bis heute mit einiger Betrübnis an einen Brief, den er von meinem Vater erhielt, nachdem er von seiner Klasse in Princeton zum »wahrscheinlich erfolgreichsten Absolventen« gewählt worden war. Vater erinnerte ihn daran, dass er den Rest seines Lebens damit verbringen müsse, der positiven Beurteilung seiner Klassenkameraden gerecht zu werden. So eine Reaktion war typisch für Vater.

Aber hinter Vaters förmlichem, korrektem Verhalten verbarg sich eine zärtliche, warme Seite, die immer dann zutage trat, wenn einer von uns in Schwierigkeiten war. Das brachte jedes Mal eine Seite von ihm zum Vorschein, die mir sehr kostbar war. Sie hilft dabei, die enge Beziehung zwischen Vater und Mutter zu erklären, die beinahe fünf Jahrzehnte andauerte. Ich wusste, dass ich mich auf seine Liebe und Unterstützung verlassen konnte, wenn ich ihn wirklich brauchte, selbst wenn er das, was ich getan hatte, möglicherweise missbilligte.

Vater war ein komplizierter Mensch. Großvater war ein Selfmademan, der aus dem Nichts heraus ein großes Vermögen erwirtschaftet hatte – eine Leistung, die Vater niemals hätte nachmachen können. Sogar nachdem er selbst einen soliden Leistungsnachweis erbringen konnte, wurde er immer wieder von einem Gefühl der Unzulänglichkeit geplagt. Er beschrieb sein kurzes Intermezzo in der Welt der Wirtschaft, als einer der vielen Vizepräsidenten bei Standard Oil, einmal als »einen Wettlauf mit meinem eigenen Gewissen« und in gewissem Sinne stand Vater sein ganzes Leben lang im Wettstreit damit, sich seines Namens und seines Erbes würdig zu erweisen.

In seinen frühen Dreißigern litt Vater unter einem »nervösen Zusammenbruch« – wir würden es heute Depression nennen. Es war die Zeit, als er begann, sich von seiner aktiven Beteiligung bei Standard Oil zurückzuziehen. Um sich zu erholen, nahm Vater meine Mutter und meine Schwester Abby, damals gerade ein Jahr alt, mit auf eine vierwöchige Reise nach Südfrankreich. Ihr Aufenthalt dort verlängerte sich allerdings auf sechs Monate und als sie schließlich zurückkamen, zog Vater sich zu Hause zurück und ging nur noch selten aus. Es verging beinahe ein Jahr, bis er sich wieder in der Lage fühlte, ins Büro zurückzukehren, und selbst dann nur für ein paar Stunden täglich.

Möglicherweise ist es verständlich, dass er mir nie selbst etwas über diesen Vorfall erzählte, auch wenn er ein- oder zweimal darauf hinwies, dass er als junger Mann gewisse emotionale Probleme gehabt habe. Das erste Mal, dass es mir gewahr wurde, dass er eine schwierige Zeit durchgemacht hatte, war ein paar Jahre nach meinem Abschluss am College, als ein enger Freund von mir eine ähnlich depressive Phase durchlief. Vater verbrachte Stunden mit ihm und mein Freund sagte, dass meinem Vater die Tränen übers Gesicht gelaufen seien, wenn er von seinen eigenen Erfahrungen erzählte. Erst damals verstand ich, wie ernst seine Depressionen gewesen waren.

Nachdem Vater seine Depressionen überwunden hatte, zog er sich vollständig aus Standard Oil zurück und verschrieb sich einzig und allein der Philanthropie und der Verwaltung von Großvaters persönlichen Angelegenheiten. Als ein Ergebnis daraus überschrieb Großvater ihm im Laufe von zehn Jahren einige Unternehmensanteile und andere Besitzungen, aber es handelte sich immer nur um relativ kleine Mengen. Im Jahre 1915, als ich geboren wurde und Vater 41 Jahre alt war, besaß er insgesamt etwa 250 000 Dollar in Anteilen an Standard Oil.

Worauf wartete Großvater? Ich bin mir nicht sicher, ob er jemals vorgehabt hatte, seinen Kindern ein großes Vermögen zu hinterlassen. Sein ursprünglicher Plan für Vaters Erbanteil entsprach dem seiner Töchter: Er wollte Vater genug hinterlassen, damit dieser es bequem hätte und nach den meisten Maßstäben sogar »reich« gewesen wäre. Aber im Vergleich zu dem, was er tatsächlich vererbte, wäre es – ausgehend von verschiedenen Größenordnungen – wenig gewesen. Großvater glaubte wirklich daran, als er im Zusammenhang mit Philanthropie einmal sagte: »Es gibt keinen einfacheren Weg, Unheil anzurichten, als durch Geld.« Und offensichtlich traf das seiner Meinung nach ganz besonders auf seine Kinder zu. Frederick Gates schrieb Großvater ein Memo, wie sich sein Geld in einer »Lawine ansammelt«, die ihn und seine Kinder unter sich begraben würde. Großvater war vermutlich leicht erstaunt darüber, dass sein Vermögen auch lange, nachdem er sich von Standard Oil zurückgezogen hatte, immer noch wuchs. Er sah seinen Sohn, der mit seinen eigenen Gefühlen und damit zu kämpfen hatte, seinen Platz in der Welt zu finden, und der schon jetzt gebeugt war unter der Last der Verantwortung, die er nicht mehr tragen konnte, und der wahrscheinlich vollends zusammenbrechen würde, wenn man ihm auch noch ein immenses Vermögen auflud. Darum hatte Großvater bis 1915 vor, entweder noch vor seinem Tod oder per Testament den größten Teil seines Vermögens an wohltätige Institutionen zu geben. Doch Ludlow änderte seine Meinung.

LUDLOW

Das Massaker von Ludlow, als das es in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat, war eines der bekanntesten und niederträchtigsten Ereignisse in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung. Es war aber auch eines der grundlegenden Ereignisse in der Geschichte meiner Familie.

In Ludlow, einer Kohlebergbaustadt im Süden von Colorado, betrieb die Colorado Fuel & Iron (CF&I) eine Reihe von Minen und anderen Unternehmen, an denen Großvater mit rund 40 Prozent beteiligt war. Großvater besaß, obwohl längst im Ruhestand, große Anteile an vielen Unternehmen, aber er betrachtete sie als passive Investitionen in sichere Anlagen und achtete wenig auf das tägliche Geschäft. Vater saß im Vorstand von CF&I, aber die Vorstandssitzungen wurden in New York abgehalten und er besuchte nie die Hauptverwaltung in Colorado.

Im September 1913 bestreikten mehr als 9000 Minenarbeiter die Minen im Süden von Colorado, darunter auch die der CF&I. Grund dafür war eine Reihe von Missständen, darunter die Löhne, die Arbeitszeit, die Sicherheitsbedingungen und, ganz wichtig, die fehlende Anerkennung der Gewerkschaft. Monate sporadischer Gewalttätigkeiten zwischen den Streikenden und den Sicherheitskräften, die von den Unternehmen angeheuert worden waren, zwangen den Gouverneur von Colorado, die Nationalgarde zu Hilfe zu rufen. Im Winter eskalierte die Situation, und am 20. April 1914 brach ein offener Krieg aus. Während einer Feldschlacht zwischen den Streikenden und dem Wachpersonal kamen elf Frauen und Kinder in einem kleinen Zwischenraum unter ihrem brennenden Zelt ums Leben; zahlreiche andere Menschen auf beiden Seiten wurden in den folgenden Tagen getötet oder verletzt. Präsident Woodrow Wilson sah sich schließlich gezwungen, Truppen zu entsenden, um einen – unsicheren – Frieden zu erzwingen.

Es war eine schreckliche Tragödie und weil der Name Rockefeller so mächtige Gefühle erweckte, wurden Großvater und Vater vollständig in den Konflikt hineingezogen. Es gab sogar Demonstrationen vor unserem Haus in der West 54th Street, bei denen die Rockefellers der Beihilfe an den »Verbrechen« von Ludlow bezichtigt wurden.

Vater erschien vor verschiedenen Ausschüssen des Kongresses, die die Verhältnisse vor und nach der Tragödie in Colorado untersuchten. Zuerst nahm er eine harte Haltung gegen die Streikenden ein, zweifelsohne beeinflusst von Gates, der die Streikenden für nur unwesentlich besser als Anarchisten hielt. Nach Ludlow begann Vater die Zuverlässigkeit von Gates in Frage zu stellen. Er entließ den verachteten Chef von CF&I und engagierte Ivy Lee, der vorschlug, dass Vater einen Experten für Arbeitsrecht beschäftigen solle, um die Probleme zu lösen. Lee war viel mehr als ein Imagebildner. Er überzeugte Vater, dass er die Ursachen der Unzufriedenheit der Bergarbeiter angehen müsse.

Vater stellte daraufhin William Lyon Mackenzie King ein, der später Premierminister in Kanada werden sollte. King wurde Vaters engster Freund und auf seinen Vorschlag hin implementierte Vater einen »Industrial Representation Plan« bei CF&I, der ein Meilenstein für die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung wurde. Vater reiste mit nach Colorado, wo er ein paar Tage mit den Bergarbeitern verbrachte und sogar bei einem Square-Dance mit ihren Frauen tanzte.

Vaters Ziel war es, die Arbeitsbeziehungen in den Vereinigten Staaten zu verbessern, indem die Missstände aufgedeckt und die Unternehmer davon überzeugt werden sollten, ihre Verantwortung ihren Arbeitern gegenüber anzuerkennen. Aus diesem Grund endete sein Engagement in Arbeitsangelegenheiten auch nicht mit Ludlow, sondern blieb für den Rest seines Lebens ein zentrales Anliegen. In den frühen 1920er-Jahren gründete er eine neue Firma, Industrial Relations Counselors, um Unternehmen in Bezug auf Arbeitsbedingungen zu beraten. Die Firma kam gut an und eine Reihe von großen amerikanischen Unternehmen, darunter einige aus der Standard-Oil-Gruppe, nutzte den Service.

Ludlow hat Vater beim Erwachsenwerden geholfen. Obwohl er weder vom Talent her noch von der Tendenz her ein Unternehmer war, hatte er seine Fähigkeiten und seine Courage bewiesen. Was Großvater aber wohl am meisten beeindruckt haben muss, waren Vaters Entschlossenheit und seine Charakterstärke, die er unter aufreibenden Umständen gezeigt hatte. Überdies hatte er diese Qualitäten in einer Zeit einer großen persönlichen Tragödie unter Beweis gestellt: Im März 1915 starb seine geliebte Mutter Laura nach langer Krankheit und sein Schwiegervater, Senator Aldrich, starb einen Monat später an einer Hirnblutung. Das alles passierte kurz vor meiner Geburt am 12. Juni 1915. Es war eine traumatische Zeit für meine Eltern.

Ludlow und seine Folgen scheinen Großvater davon überzeugt zu haben, dass sein Sohn in der Lage war, die schwere Last der Verantwortung über sein großes Vermögen zu tragen. Mit Beginn des Jahres 1917 fing Großvater an, seine verbliebenen Vermögenswerte auf Vater zu übertragen – damals ungefähr eine halbe Milliarde Dollar, was heute etwa zehn Milliarden Dollar entspricht. Vater begann sofort, sein Leben neu zu strukturieren, um mit der großen Verantwortung, die der große Reichtum mit sich brachte, fertig zu werden. Im Wesentlichen würden seine Ziele die gleichen sein wie die der Rockefeller Foundation: »Dem Wohle der Menschheit auf der ganzen Welt verpflichtet«. Das bedeutete eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Institutionen, die Großvater gegründet hatte: dem Rockefeller Institute for Medical Research, dem General Education Board und der Rockefeller Foundation, bei der Vater bereits eine bedeutende Führungsposition innehatte. Aber es gab ihm auch die Gelegenheit, eigene Projekte zu initiieren – Projekte, die alle Bereiche menschlicher Aktivitäten von der Religion bis hin zur Wissenschaft, Umwelt, Politik und Kultur umfassten.

Kapitel 3

Kindheit

Ich kam am 12. Juni 1915 im Haus meiner Eltern in der West 54th Street zur Welt. Ihr Haus war kein Schloss mit Türmchen, zinnenbewehrten Mauern und prächtigen Ballsälen wie die Häuser der Vanderbilts und der anderen Familien, die entlang der Fifth Avenue lagen, aber es war auch nicht schlicht. Zur damaligen Zeit war es die größte private Residenz in New York City und verfügte über neun Stockwerke sowie einen geschlossen Spielbereich für Kinder auf dem Dach. Darunter befanden sich ein Squash Court, eine Sporthalle und eine private Krankenstation, in der ich geboren wurde und in der Familienangehörige mit ansteckenden Krankheiten wie Masern oder Mumps behandelt wurden. Im zweiten Stock war der Musiksalon mit einer Orgel und einem Flügel; hier veranstalteten meine Eltern Konzerte und andere musikalische Darbietungen mit so berühmten Künstlern wie Ignacy Jan Paderewski und Lucretia Bori.

UMGEBEN VON KUNST

Das Haus war angefüllt mit Kunst aus vielen Teilen der Welt, mit Stilrichtungen und aus verschiedenen Perioden, die die sehr unterschiedlichen Geschmäcker und Persönlichkeiten meiner Eltern reflektierten. Mutters Geschmack war sehr breit und reichte von der Kunst der Antike bis zu zeitgenössischen Arbeiten aus Europa und den Vereinigten Staaten. Ihr Interesse an zeitgenössischen amerikanischen Künstlern erwachte in den 1920er-Jahren. Unter der Anleitung von Edith Halpert, der Besitzerin einer Galerie in der Innenstadt, erwarb Mutter Arbeiten von Sheeler, Hopper, Demuth, Burchfield und Arthur Davies. Während dieser Zeit lernte sie auch Lillie Bliss und Mary Quinn Sullivan kennen, die ihre Begeisterung für moderne Kunst teilten. Die drei machten sich Gedanken darüber, dass talentierte Künstler kaum Aussicht hatten, in einem Museum gezeigt zu werden, bis sie tot waren – wenn überhaupt. Sie entschlossen sich, ein Museum für moderne Kunst zu gründen, in dem die Werke zeitgenössischer Künstler ausgestellt werden sollten. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass Ende 1929 das Museum of Modern Art (MoMA) in New York eröffnet wurde.

Obwohl Vater seine Frau mit reichlichen Mitteln für ihre persönlichen Bedürfnisse unterstützte, verfügte sie doch nicht über unabhängige Geldmittel, um teure Kunstwerke zu kaufen; Gemälde von Monet, Manet, Degas, Matisse und anderen waren jenseits ihrer Möglichkeiten. Stattdessen erwarb sie Drucke und Zeichnungen von vielen dieser Künstler und verfügte schließlich über eine bemerkenswerte Sammlung, die sie später zum großen Teil dem MoMA stiftete.

Vater mochte keine moderne Kunst. Er empfand sie als »unecht«, hässlich und störend und forderte Mutter auf, keine zeitgenössische Kunst in den Teilen des Hauses aufzuhängen, die er frequentierte. Obgleich sie seine Einstellung respektierte, blieb sie in ihrem wachsenden Interesse unerschrocken. Im Jahre 1930 entdeckte Mutter Donald Deskey, den Designer, der später die Ausstattung der Radio City Music Hall übernahm, und beauftragte ihn, das ehemalige Spielzimmer der Kinder im siebten Stock in Haus Nummer 10 in eine Galerie umzugestalten.

Vaters eher traditioneller Geschmack überwog in anderen Teilen des Hauses, auch wenn Mutters Einfluss und guter Geschmack auch hier gleichwohl bemerkbar war. Mutter teilte ebenso Vaters Vorliebe für antike und klassische Kunst wie für die Kunst der Renaissance und Post-Renaissance. Mutter liebte Schönheit, wo immer sie sie fand, Vaters Geschmack beschränkte sich hingegen auf die mehr konventionellen und realistischen Formen der Kunst.

Kurz nach dem Bau der Nummer 10 fanden meine Eltern schon keinen Platz mehr für einige der großen und wichtigen Stücke, die sie erworben hatten, und so kauften sie das Nachbarhaus dazu. Auf drei Etagen von Nummer 10 wurden Verbindungstüren durchgebrochen. Hier fand Vater Platz für ein paar seiner Lieblingswerke, inklusive zehn Gobelins aus dem 18. Jahrhundert, die Monate des Lucas, ursprünglich gewebt für Ludwig XIX., und eines Satzes französischer Wandteppiche aus dem frühen 15. Jahrhundert, die berühmte Jagd auf das Einhorn.