Eroberung des Elfenbeinturms - Fabian Burstein - E-Book

Eroberung des Elfenbeinturms E-Book

Fabian Burstein

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Beschreibung

Was läuft falsch im Kulturbetrieb? Machtmissbrauch, Seilschaften, Korruption und vieles mehr: Fabian Burstein wirft einen alarmierenden Blick in die Produktions- und Wirkungsstätten von Kunst und ­Kultur und zeigt, dass es so nicht weitergehen kann. Wir müssen eine neue Debatte über Kultur führen, über ihren Sinn und Zweck in einer lebendigen Gesellschaft – aber vor allem über die toxischen Strukturen, die von der Politik über das Kulturmanagement und die Künstler:innen bis hin zum Publikum reichen. Fabian Burstein ist als Autor und Kulturmanager in Deutschland und Österreich ein Insider des Kulturbetriebs. »Eroberung des Elfenbeinturms« ist sein gut recherchiertes, leidenschaftliches Plädoyer für eine »bessere« Kultur, das nicht nur viele höchst brisante aktuelle Zustände offenlegt, sondern auch optimistische Lösungsstrategien aufzeigt.

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Inhalt

Kultur, was ist das eigentlich?

Die existenzielle Krise des Kulturbetriebs: ein Generationenkonflikt

Österreichische Kulturskandale der letzten 10 Jahre – eine Bilanz des Grauens

Ein klarer Kulturbegriff für eine klare Zukunftsstrategie

Kunst muss gar nichts: ein Missverständnis, das zum gefährlichen Selbstläufer wurde

Kultur ohne Ideologie. Oder: der Untergang kulturpolitischer Visionen

Publicity-Killer Kultur: eine politische Fehleinschätzung

Rechte Ideologie und ihre kulturellen Mitstreiter: ein schauriges Rollenmodell

»Populistische« Gegenansprachen

Eine »Kultur GmbH« als Blackbox der Entscheidungsfindung

Vom Insiderjob zu einem Job für Kultur-Insider

Eine neue Bildungskultur mit Kultur in der Bildung

Der Kampf gegen das kulturelle Bildungsversagen kann beginnen: Lasst uns Klartext reden!

Transformation? Nein, danke! Oder: das Digitaldesaster im Kulturbetrieb

Unsere einzige Chance: eine digitale Machtumkehr im kulturellen Generationengefüge

Unreif, aber alles andere als jung: die toxische Networking-Kultur der Alt-98er

Ein apokalyptischer Vorreiter namens Napster – ein Beispiel dafür, wie Kultur keine oder die falschen Rückschlüsse zieht

Plädoyer für eine Renaissance der Neugier

Die österreichische Variante von Neugier: Kenn ma ned, brauch ma ned, hamma schon!

Warum nicht? Der Versuch einer Trendwende

Solidarität – kein Kampfbegriff, sondern ein Kulturbegriff

Eine Utopie namens »Applaus 2024«

23 Denkanstöße für einen reformierten Kulturbetrieb

Quellenverzeichnis

Literaturempfehlungen

Lesenswerte Links

Personenregister

Bring mir die Söhne von allen Huren und Nutten

Bring mir die Fiebrigen und die Kaputten

Bring mir die Dicken und bring mir die Sünder

Die ohne Hoffnung sind, hungrige Münder

Gib mir Funken und Flammen, um zu brennen

Gib meinen Lungen Luft, um zu rennen

Es sind harte Zeiten, um alleine zu stehen

Doch harte Zeiten werden kommen und harte Zeiten werden gehen

Thees Uhlmann – 17 Worte

Kultur, was ist das eigentlich? Mit der bedeutungsschwangeren Anbetung dieser Frage könnte man Hunderte Seiten für einen epischen Wälzer schinden. In historischen Abrissen ließe sich der Kunstbegriff der Antike von Griechenland bis China ausrollen, um gleich im Anschluss die inhaltliche Abgrenzung zwischen Kunst und Kultur zu diskutieren. Je nach universitärer Fachrichtung wäre dann zu klären: Ist Kultur bloß Platzhalter für die Lebensweise eines Volkes und seiner gesellschaftlichen Gruppen oder doch ein Sammelbegriff für materielle und geistige Güter der Menschheit? Dürfen wir uns dazu hinreißen lassen, Kultur als Alltagsbegriff für künstlerische Angebote zu verwenden, was natürlich vollkommen unwissenschaftlich wäre? Und wenn ja, müssten wir dann zumindest einen kulturphilosophischen Diskurs zu Theodor W. Adornos Theorie der Kulturindustrie anzetteln, damit wir beim nächsten großen Festival sattelfest zwischen E- und U-Musik – vulgo »ernster« und »Unterhaltungs«-Musik – unterscheiden können? Provozieren wir ein bisschen, indem wir mit Hilfe von Sigmund Freud eine Portion Sex in die Debatte bringen und kreative Tätigkeiten als schöngeistige und vor allem nichtsexuelle Veredelung unserer Triebe präsentieren? Oder lassen wir die Kirche im Dorf und zitieren einfach die UNESCO, die mit der lebensfremden Technokratie einer weltumspannenden Megabehörde festhält: »Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen« – oder einfacher ausgedrückt: Laut UNESCO ist alles Kultur.

Ja, wir könnten uns auf so eine Reise der ausufernden Definitionen begeben. Oder aber wir machen Schluss mit diesem Eiertanz, der sinnbildlich für die Bemühungen des Kulturbetriebs steht, sich sämtlichen Kategorien des Hausverstandes durch Abstraktion, scheinbare Intellektualisierung und hochtrabenden Phrasen-Overkill zu entziehen. So kompliziert nämlich die sprachlichen Codes der kulturellen Akteurinnen und Akteure für Außenstehende wirken, so bequem sind sie für den Kulturbetrieb an sich, der sich dadurch jeglicher Form von Bewertung durch die Mehrheitsgesellschaft entzieht und eine hermetisch abgeriegelte Blase bildet. Was sich als harte Schule des kulturellen Diskurses tarnt, ist in Wahrheit eine Komfortzone der beliebigen Ermessensspielräume.

Für die Lenker:innen des Kulturbetriebes bedeutet das nämlich, dass sie sich niemals auf harte Fakten wie zum Beispiel Ziel- und Leistungsvereinbarungen festnageln lassen wollen, sondern lieber Zuflucht im Labyrinth der hehren Ziele suchen, wo sich die passende Rechtfertigung hinter einem Bücherregal voller Dissertationen, Kurator:innentexte und philosophischer Herleitungen verbirgt.

Für den Nachwuchs auf den Kunsthochschulen bedeutet das, dass das Kreisen um sich selbst und die eigenen künstlerischen Gefühle zuungunsten einer radikalen Auseinandersetzung mit der Welt bereits im zarten Hochschulalter beginnen darf und auch nicht an handwerkliche Maßstäbe gebunden ist. »Wenn ich sage, dass ich Künstler bin, dann bin ich es auch!« Solche und ähnliche Sätze hallen um drei Uhr nachts durch die Student:innenkneipen in der Nähe der Kunsthochschulen. Das Sendungsbewusstsein der Urheber:innen ist zwar bierselig – das ändert aber nichts daran, dass sie es bierernst meinen. Grenzziehungen obliegen ausschließlich der Professor:innenschaft, die sich wiederum hinter einem konservativen Geniebegriff verschanzt und diesen ohne didaktische Einschränkungen in der Lehre exekutiert.

Für die Künstler:innen und Kulturschaffenden bedeutet das, dass sie weiterhin jede Form von Rechenschaft gegenüber Verwaltung und Politik als Kleingeist einer verständnislosen Bürokrat:innenbande diskreditieren dürfen, und für Kulturverwaltung und Kulturpolitik bedeutet das, dass sie die Anliegen der Künstler:innen und Kulturschaffenden weiterhin als Spleen weltfremder Chaot:innen abtun wird.

Insgesamt müssen wir festhalten: Was sich für den Kulturbetrieb wie ein schicksalhaftes Perpetuum mobile mit musengeküsstem Antlitz anfühlt, ist für die Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft ein destruktiver Teufelskreis. Das ist aus zwei Gründen deprimierend.

Erstens, das theoretische Referenzsystem aus den Kultur- und Geisteswissenschaften, aus der Philosophie und aus dem forschenden Kunstbetrieb bezieht sich nach wie vor auf Quellen aus anderen Jahrhunderten. Das ist so, wie wenn wir E-Mobilität mit dem Aristotelismus erklären: Ist irgendwie schlüssig, beinhaltet aber keine operativen Handlungsanleitungen für das Hier und Jetzt. Auf einem derart rückwärtsgewandten Fundament muss man auch nicht mehr argumentieren, warum die Shakespeares, Tizians und Mozarts dieser Welt dringend zeitgenössische Äquivalente benötigen. Diese »Nichtargumentierbarkeit« spielt wiederum den Führungskräften des Kulturbetriebs in die Karte, die von der Ochsentour befreit sind, mit Nachwuchskünstler:innen den beschwerlichen Weg zum zeitlosen Klassiker zu gehen, und sich stattdessen lieber im Altbewährten suhlen.

Zweitens, das renitente »Sich-Entziehen« aus breitenwirksamen Regelwerken und Strukturen hat auch schon mal Sinn ergeben. Zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg, als Österreichs Institutionen von der totalitären Ideologie des Dritten Reichs verpestet und das Personal der öffentlichen Einrichtungen von den Schergen dieser Ideologie unterwandert war. Das Abtauchen in die unverdächtigen Ideenwelten früherer Epochen diente hier ebenso als künstlerische Überlebensstrategie wie die radikale Skepsis gegenüber dem Publikum, Kolleg:innen und offiziellen Vertreter:innen des Verwaltungsestablishments – schließlich waren hier nach wie vor die Stützen und Erfüllungsgehilfen eines noch nie dagewesenen Massenmordes zugegen. Oder anders gesagt: Dass man sich Zwischenrufe aus den ethisch verwahrlosten Reihen unzureichend entnazifizierter Kultur-, Parteien- und Beamtenapparate verbat, war ebenso verständlich wie eine generelle Vorsicht gegenüber der beachtlichen Masse an ehemaligen NSDAP-Mitläufern in den Sitzreihen. Man kann hier von einem wehrhaften Tunnelblick im Sinne des humanistischen Wiederaufbaus sprechen, der als Provisorium Sinn ergab. Richtig problematisch wurde es erst, als sich das Provisorium zur Dauereinrichtung und seine Architekt:innen zu Rollenmodellen für die nächsten 60 Jahre einzementierten: Die hoch notwendige Katharsis pervertierte sich zur Hypothek für eine stetig veränder- und damit auch verbesserbare Zukunft des Kulturbetriebs. Denn der Tunnelblick grenzte ab einem gewissen Zeitpunkt nicht nur die Zurufe und Interventionen ausgrenzungswürdiger Antidemokraten, sondern auch ein Gros der Menschen mit demokratischem Kulturbedürfnis aus. Kultur als Elitenthema nahm auf diese Weise immer mehr Fahrt auf.

Die existenzielle Krise des Kulturbetriebs: ein Generationenkonflikt

Publikumsschwund, mangelnder politischer Rückhalt, Monotonie bei den Angeboten und den ausführenden Akteur:innen, Entfremdung gegenüber dem Publikum und seinem migrantischen Antlitz, toxische Machtstrukturen, intellektuelle Arroganz: Das sind nur einige Symptome, die den Kulturbetrieb der 2020er-Jahre prägen. Der daraus resultierende Bedeutungsschwund ist eine gesellschaftliche Retortenkrankheit, die die 68er-Generation maßgeblich miterschaffen hat, um sich jenem schmerzlichen Prozess der Erneuerung zu entziehen, den sie ihren Vorgängern mit aller Konsequenz zugemutet hat. Pointiert ausgedrückt: Nach der aufreibenden Revolution war Ausruhen angesagt. Damit es sich die ehemals Unbequemen in ihrer von Altnazis und Reaktionären befreiten Realität bequem machen konnten, mussten sie auch die »Erzählung« ihrer Errungenschaften etablieren. Ihr berechtigter Stolz über die angestoßenen Veränderungen wich einer ungesunden Überhöhung der eigenen Leistung. »Wir und nur wir haben das Land vom Mief der Vergangenheit befreit«, »Uns ist es zu verdanken, dass die Kultur- und Bildungseinrichtungen vom Geist des Totalitarismus befreit wurden«, »Eure künstlerische Freiheit ist das Resultat unseres Kampfes« und so weiter und so fort. Irgendwann war klar, dass sich die nachkommende Generation von den Leistungen der Alt-68er genauso beeindruckt zeigte wie die 68er-Generation von den Standpunkten der 1950er-Jahre: Die Glorifizierung erntete Spott und Hohn und erfuhr im oberflächlichen Yuppietum der 1980er einen ersten knallharten Schuss vor den Bug. In dieser Phase griff ein uraltes sozialpsychologisches Prinzip. Wenn die Selbsterhöhung nichts mehr nützt, hilft nur noch die Entwertung der anderen. Im Kulturbetrieb wurde dieses Prinzip bis zum Erbrechen zelebriert. Auf Theaterproben und Filmsets, in Orchestergräben und Intendant:innenbüros, in den Vorzimmern der Maestros und Direktor:innen – auf den Schlachtfeldern der Kultur regierte verbaler Mord- und Totschlag. Die gekränkte Generation der Alt-68er setzte alle Hebel in Bewegung, um die Bedeutung ihrer potenziellen Nachfolger- und Herausforder:innen kleinzuhalten. Sie institutionalisierte die eigenen Rollenbilder in allen gesellschaftlichen Bereichen und verpackte sie zum einen in unverhohlenen Autoritarismus und zum anderen in eine verlogene Hülle des Kümmerns und Gutmeinens. Fortan ging es darum, sich jenem Veränderungsdruck zu entziehen, den die Alt-68er ihrer Elterngeneration voller Inbrunst zugemutet hatte. Aus Sit-in-Profis wurden Profis fürs Aussitzen. Jeder noch so kleine Aspekt des kulturellen Miteinanders wurde in hierarchische Schemata gepresst, nur um das manipulative Vermitteln und Vorkauen, das Konservieren der eigenen Deutungshoheit über den selbstbestimmten Entdeckungs- und Entwicklungsdrang der nächsten Generation zu stellen. Dadurch hielten die Alt-68er die Innovator:innen, die Ausprobierer:innen, die Getriebenen, die Überzeugungstäter:innen der Kulturlandschaft systematisch von populären Wirkungsstätten fern.

Warum?

Weil Innovator:innen eine unkalkulierbare Form von Leidenschaft vermitteln. Ihr Erneuerungswille ist kaum kontrollierbar und basiert auf einem Weltbild, in dem das Brennen für das eigene Betätigungsfeld als Hauptmotor für Zukunftsentscheidungen dient. Jede:r weiß, dass ein ordentlicher Brand nur schwer einzudämmen ist. Deshalb fürchteten die erschöpften Revoluzzer zuallererst eine lichterloh brennende Armada an jungen Wilden, die sich mit ihrem Charisma und ihrem Veränderungsdrang als Manager:innen und Kulturvermittler:innen engagieren und alte Helden in die Heldenrente schicken würden. Die Lösung der Alt-68er: In einem nie für möglich gehaltenen Gleichschritt mit erzkonservativen Kräften instrumentalisierten sie unsere Orte der Freiheit – Kulturstätten, Bildungsbetrieb, Parteiapparate. Aus unterschiedlichen Motiven, aber mit identen Zielen betrieben Alt-68er und Konservative eine antiinnovative Generalprävention. Die Ableger dieser fragwürdigen Entwicklung sind von Angst zersetzte Theater- und Orchesterbetriebe, verkrustete Förderund Verwaltungsstrukturen, realitätsferne Kunsthochschulen, resignative Kulturpolitiker:innen, reaktionäre Orte der Bildenden Kunst und – am allerschlimmsten – eine ganze Generation an Kulturschaffenden, die in dieser Gemengelage sozialisiert wurde und die alten Muster reproduziert. Ein System, das als moralische Instanz erblühen könnte, erweist sich viel zu oft als Biotop für Verschwendung, Missbrauch und emotionale Gewalttätigkeit. Dass wir hier nicht von einem katastrophierenden Stimmungsbild sprechen, zeigen die Turbulenzen der letzten Jahre sehr deutlich.

Österreichische Kulturskandale der letzten 10 Jahre – eine Bilanz des Grauens

2011 wird Peter Noever, Direktor des Wiener Museums für angewandte Kunst, fristlos entlassen, weil er die repräsentativen Hallen des Hauses mehrfach und auf Kosten des Steuerzahlers zur privaten Geburtstagslocation für seine Mutter umfunktioniert hat. Der Rechnungshof prangert im Nachgang eine katastrophale Registratur sowie ausufernde und zudem feudal ausgestaltete Dienstreisen des Direktors an – all das im Gleichschritt mit einem massiven Besucher:innenschwund.

2014 wird Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann seines Amtes enthoben, nachdem das Haus in einen beispiellosen Finanzskandal inklusive des Verdachts auf Urkunden-, Beweismittel- und Bilanzfälschung, Geldwäsche sowie Untreue und einem Verlust von rund 13 Millionen Euro gerutscht ist. Hartmann gerät 2018 nochmals in die Schlagzeilen, weil sich 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ermutigt durch die #MeToo-Bewegung, in einem offenen Brief zu den Arbeitsbedingungen unter ihm äußern. Auf diese Weise erfährt die Öffentlichkeit, dass der oberste Repräsentant des ehrwürdigen Burgtheaters Schauspielerinnen zur Vereinbarkeit von Oralverkehr, Spermaschlucken und kalorienbewusster Ernährung befragt und im Vorfeld von Premieren Toitoitoi-Klapse auf Hintern verteilt hat. Einen dunkelhäutigen Choreografen hat Hartmann als »Tanzneger« bezeichnet und den Theateralltag auch gerne mal mit homophoben Witzen garniert. Der Zeitpunkt des Briefes soll übrigens kein Zufall, sondern vielmehr ein Signal an den designierten Direktor Martin Kušej gewesen sein, dem man in Theaterkreisen ebenfalls recht rustikale Umgangsformen nachsagt.

2016 endet die Ära von Belvedere-Chefin Agnes Husslein zwar vertragskonform, aber ohne Chance auf die gewünschte Verlängerung, weil schwerwiegende Compliance-Vorwürfe, etwa der Einsatz von Mitarbeiter:innen für private Arbeiten, im Raum stehen. Husslein soll ihre Untergebenen zu sich nach Hause geschickt haben, um Druckerpatronen auszutauschen, den Abfluss zu reinigen oder Umbauarbeiten zu beaufsichtigen. Nur dank umfangreicher Schadensersatzzahlungen entgeht sie einer strafrechtlichen Verfolgung.

2018 legt der Dirigent und Intendant Gustav Kuhn erst nach massivem öffentlichen Druck seine Funktionen bei den Tiroler Festspielen Erl zurück, nachdem fünf Musikerinnen in einem offenen Brief sexuelle Übergriffe beklagt haben. Unterstützung gibt es von mehreren männlichen Kollegen, die Kuhn ebenfalls übergriffiges Verhalten und strukturelle Gewalt vorwerfen. Die Gleichbehandlungskommission des österreichischen Bundeskanzleramts stellt im Nachgang mit schauderhafter Direktheit fest, dass es zweifelsfrei zu sexuellen Belästigungen gekommen sei.

2019 kommt durch Ermittlungen der Kinder- und Jugendanwaltschaft und Enthüllungen diverser Medien ans Tageslicht, dass in der Ballettakademie der Wiener Staatsoper Kinder systematisch gedrillt, gedemütigt und in einigen besonders schlimmen Fällen auch sexuell missbraucht wurden. Was viele zu diesem Zeitpunkt kaum glauben können: dass es sich nicht um ein Stück Vergangenheitsbewältigung – wie etwa beim Kinderheimskandal –, sondern um brandaktuelle Missstände handelt. Hauptschuldige soll eine einzelne Lehrerin gewesen sein. Staatsoperndirektor Dominique Meyer gibt an, »traurig und böse« zu sein. Das Urteil einer Sonderkommission Ende 2019 gleicht einer kulturpädagogischen Totalvernichtung. Der Vorwurf eines weitreichenden Führungs- und Kommunikationsversagens gehört noch zu den harmloseren Vorhaltungen. Die Kommission spricht von fehlendem Problembewusstsein in Bezug auf Kinderschutz und Kindeswohl und einer unzulänglichen medizinischen beziehungsweise therapeutischen Versorgung der Eleven, die ob des anhaltenden Terrors in Essstörungen und andere psychische Ausnahmezustände getrieben wurden.

2020 wendet sich der Schauspieler Manuel Bräuer über die Wiener Stadtzeitung Falter an die Öffentlichkeit. Er berichtet über den Theatermacher Paulus Manker, der sich seit mehreren Jahren notgedrungen in der freien Szene austobt – im institutionalisierten und ebenfalls nicht gerade zimperlichen Theaterbetrieb gilt er bereits als untragbar. In Bräuers Bericht geht es um Gebrüll, obszöne Beschimpfungen, Gesundheitsgefährdung, Ausbeutung, Übergriffe und Manipulation. Es sind Schilderungen, die hinter vorgehaltener Hand seit Jahren kursieren. Schilderungen, die zumindest in groben Zügen auch dem gutbürgerlichen Publikum von Mankers zweifelsohne imposantem Stationentheater bekannt sind. In Gesprächen darüber hört man immer dieselbe Leier: ein sadistischer Narzisst – aber ein Genie. Im Kulturbetrieb dürfen diese ohnehin zweifelhaften Dimensionen nebeneinander existieren.

Die beschriebenen Skandale sind nur die Leuchttürme des Systemversagens. Dazwischen liegen zahlreiche Aufwallungen, die als Branchen-Gossip, mediale Randnotizen oder Auseinandersetzungen in politischen Gremien aufploppen. Umso wichtiger ist eine Verdichtung und thematische Vernetzung. Denn nur so wird deutlich, dass wir es nicht nur mit unglücklichen Schlaglichtern, sondern mit einem tief verwurzelten Missstand zu tun haben.

Die daraus resultierenden Verwerfungen versauen seit mehr als fünf Jahrzehnten den kulturellen Entdecker:innengeist unserer Kinder und machen sie mit schablonenhaften Kulturkonzepten, scheinprogressiven Alibiaktionen und destruktiven Bewertungssystemen zu den Leidtragenden des kulturellen Stillstands. Über allem steht der unheilvolle Schlachtruf: »Haltet die Füße still.« Wer die Füße stillhält, kann auch nichts erneuern.

Mit dem Vertrauensverlust und dem Mangel an Integrität verspielt die Kultur zudem den Rückhalt für ihre verfassungsmäßig festgeschriebenen Rechte und Schutzzonen. Im Oktober 2021 beendeten schwerwiegende Vorwürfe wie Korruption und Untreue sowie mehrere Razzien die Bundeskanzler-Ära von ÖVP-Politiker Sebastian Kurz. Die Veröffentlichung von Chats innerhalb des Umfelds des Jungkanzlers zeichneten ein Sittenbild, das den Enthüllungen des Ibiza-Skandals um nichts nachstand und aufgrund des Themas Inseratenkorruption das Vertrauen in die »Vierte Gewalt«, nämlich die unabhängige Presse, erschütterte. Der Kulturbetrieb spielte in diesen Tagen des politischen Chaos keine Rolle – weder als moralische Instanz noch als kritische Stimme oder gar Diskursraum. Vereinzelt kamen Persönlichkeiten wie Burgtheaterdirektor Martin Kušej zu Wort. Als er in einem Interview mit der Tageszeitung Der Standard seiner Betroffenheit über die freigelegte »Wortwahl« und »Dreistigkeit« Ausdruck verlieh und konstatierte, dass »ein Baustein aus einem löchrigen Gebäude herausgefallen« sei, ein Gebäude, »welches heißt: Wertigkeit, Wahrheit, Information«, hätte man den Eindruck bekommen können, er rede über den Kulturbetrieb und nicht über die strauchelnde Politikerriege. Mit genau diesem Kulturbetrieb lässt sich kein Diskurs machen. Das verdeutlichte einmal mehr die kollektive Handlungsunfähigkeit der Institutionen bei Ausbruch des Ukraine-Krieges. Tagelang verschanzten sich die österreichischen Kulturtanker hinter blau-gelb bestrahlten Fassaden und wortreichen Social-Media-Verurteilungen. Ihre mächtigsten Waffen – die Bühnen, Veranstaltungsräume und Ausstellungsflächen der jeweiligen Häuser – blieben zunächst ungeladen: eine Form von Abrüstung, die unserem demokratischen Wertekanon teuer zu stehen kommt.

Keiner verlangt eine heroische Tat, wie sie etwa die künstlerische Leiterin des Moskauer Theaterzentrums Vsevolod Meyerhold, Elena Kovalskaya, vorgelebt hat. Sie kündigte unmittelbar nach Kriegsbeginn ihren Rücktritt an und verkündete: »Man kann nicht für einen Mörder arbeiten und von ihm bezahlt werden.« Man darf aber zumindest eine Reaktion wie jene der Schaubühne Berlin erwarten. Dort änderten die Verantwortlichen bereits einen Tag nach Beginn der russischen Invasion das Programm und luden für den darauf folgenden Sonntag zu einem prominent besetzten Diskussionsabend im Herzen des Theaters, nämlich auf der Bühne, ein.

Ein klarer Kulturbegriff für eine klare Zukunftsstrategie

Der Moment ist gekommen, sich einen neuen Kulturbegriff zuzulegen. Ein Kulturbegriff, der das Rad nicht