Erster Mai - Manfred Rebhandl - E-Book

Erster Mai E-Book

Manfred Rebhandl

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Beschreibung

Spiel mir das Lied vom Gemeindebau: Ein Mann im Jogginganzug kämpft den Kampf der Gerechten. Schleich di, Kapitalismus! Superschnüffler Rock Rockenschaub wacht wieder mal vom Baulärm auf: Ein Immobilieninvestor mit Riesenohren hat das Haus gegenüber gekauft. Ausgerechnet Kumpel Ringo bekommt Besuch von dessen Prügeltrupp. Gentrifizierung und Verdrängung klopfen an, und das am Vorabend des 1. Mai, dem Tag aller Tage! Rock schwenkt in Gedanken schon seine rote Fahne, aber es kommt was dazwischen: Nachdem es ihn in den Schmalanzugträgerclub "La Famiglia" verschlagen hat, kann er sich am nächsten Morgen an nichts mehr erinnern, ist dafür frisch verliebt und findet ein abgerissenes Ohr in seiner Tasche. Eigentlich ruft der Maiaufmarsch, doch Bullenkumpel Gutti hat schlechte Nachrichten: Im Gemeindebau liegen zwei Leichen, darunter eine junge Kommunistin und Umweltschützerin. Wer hat die Greta aus dem Gemeindebau umgebracht? Auf zum letzten Gefecht! Eigentlich wollte Rock ja nur zum großen Festumzug, aber der scheiß Kapitalismus, nomadische Ohren und jetzt auch noch die Toten verderben ihm den Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse. Dass es nicht nach Plan läuft, das ist Rock eigentlich eh gewohnt: Fünf Fälle hat der Superschnüffler bereits gelöst. Dabei hat er Premiumpornos unters Volk gebracht, ein paarmal die Liebe seines Lebens gefunden und eine Midlife-Crisis überwunden. Er verdreht den Chicks im Hawaii-Hemd oder im gelben Jogginganzug den Kopf, und egal, ob Bademeister retten oder das rote Wien beschwören: Superschnüffler Rock Rockenschaub macht es mit ganzer Seele. Zeit für eine Kampfansage! Rosa Luxemburg dreht sich im Grabe um – vor Lachen! In Adiletten, mit dem Schießeisen im Hosenbund und der roten Nelke im Herzen macht Rock sich auf, vor dem Festumzug noch schnell einen Fall zu lösen. Er latscht von Stiege zu Stiege, trifft auf einen leicht bekleideten Prepper und eine Pensionistin mit Argusaugen, auf Sozialdemokraten im repräsentativen Dachausbau und andere Trickbetrüger. Klassenkampf, Oida! "Rebhandl ist Familie. Er gibt uns alles, was wir wollen." Thomas, Schmalanzugträger "Mei Parteibiachl is ned deppad!" Ein echter Wiener "Ab sofort Pflichtlektüre bei uns!" Renate, sozialdemokratische Lehrerin

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Manfred Rebhandl

Erster Mai

Rock Rockenschaub löst

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Ich wachte vom Baulärm auf, ...
Manfred Rebhandl
Zum Autor
Impressum

Ich wachte vom Baulärm auf, schälte mich aus dem Bett, ging zum Fenster und schaute auf das Haus gegenüber. Ein verdammter Investor hatte es übernommen und mit dem Haus auch die Wohnung meines Kumpels Ringo, der dort ohne rechtes Bein, dafür aber mit unbefristetem Mietvertrag wohnte. Aber wie lange noch?

Die Masche, mit der diese Geldsäcke alte Mieter mit gültigen Verträgen rausekelten, war immer die gleiche: Sie rockten das Haus mit Balkanmethoden herunter und eröffneten zunächst im Keller ein Schlaflager für illegale Bauarbeiter. Dann brachte man ein paar Extrapostkästen für Scheinfirmen an, was wiederum Stiernacken anlockte, die einmal pro Woche mit ihren Verbrecherkutschen vorfuhren, um sich die Post vom Finanzamt oder der Sozialversicherung für ihre Scheinfirmen abzuholen. Die fälligen Beiträge wurden aber erst recht nicht bezahlt.

Am Wochenende kamen dann dieselben Stiernacken mit minderjährigen Mädchen, deren Dienste sie halbstundenweise an die Bauarbeiter unten im Keller verkauften. Dabei ließen sie ihre Verbrecherkutschen gerne eine halbe Stunde lang mitten auf der Straße bei laufendem Motor stehen, während sie selbst sich gemütlich in die Hose fassten. Bald stand Tag und Nacht das Haustor offen, sodass sich herumsprach, dass man darin gratis pissen und kacken konnte, am besten gleich im Stiegenhaus.

Dann zogen die ersten Mieter aus, weil sie den Gestank nicht ertrugen, während immer mehr Junkies der Umgebung das Haus nutzten, um sich darin ihren Stoff reinzuziehen. In den bereits geräumten Wohnungen ließ man verlauste Punks wohnen, die die Einstürzenden Neubauten hörten, obwohl es doch ein Altbau war, der bald abgerissen werden sollte. Die nächsten Mieter hatten genug und zogen aus, weil sie den Lärm nicht ertrugen, und die, die noch nicht genug hatten, wurden speziellen Methoden unterzogen: Man hängte den Gatten Kopf voran aus dem Fenster, bis die Gattin die Kündigung unterschrieb – auch wenn sie lieber auf den Gatten verzichtet und dafür die Wohnung behalten hätte!

Waren am Ende alle draußen, rissen ein paar illegale Rumänen alles nieder, was ein paar Böhmen mit vielen Ziegeln vor hundert Jahren errichtet hatten. Wer gut im Raten war, der wusste, dass statt des Gründerzeithauses bald Luxusimmobilien entstehen würden, die nur jemandem gehörten, in denen aber niemand wohnte. Die Polizei interessierte sich nicht dafür, und das Bauamt war korrupt bis hinauf zum Chef des Bauamts.

Während ich aus meinem Fenster hinüber auf dieses Haus schaute, fragte ich mich wieder einmal, was eigentlich aus dem guten alten, roten Wien geworden war? Anstatt den Spekulanten die Eier abzuschneiden, ließen sich die Spitzen der Stadt von Verbrechern aus einschlägigen Herkunftsländern sowie heimischen Steuerschonern in den Arsch ficken. Jemand musste endlich etwas dagegen tun!

Ich schrie hinüber: „He! Ein Mensch muss auch mal ausschlafen können!“ Aber wegen des Lärms hörte mich keiner, also ging der Lärm einfach weiter.

Wo ich nun aber schon mal wach war, leimte ich mich für das Werk des kommenden Tages zusammen: Ich wählte den gelben Jogginganzug mit Kapuze zu weißen Socken, trank einen ersten Becher Russenschnaps und rauchte einen ersten Joint. Ich steckte mir die Bleispritze in die Unterhose und schlüpfte in die blauen Adiletten, weil ich wegen eines Hühnerauges zurzeit keine Tanzschuhe tragen konnte.

Ich schwang mich hinunter und querte die Straße hinüber zum Abbruchhaus, an dem eine riesige Tafel angebracht war mit dem Namen des neuen Eigentümers: ALPESTE-Developing GmbH. Na klar! Wenn es keine Developing GmbH war, dann galt es nicht! Dazu eine detaillierte Auflistung der zu errichtenden Wohneinheiten. Überraschenderweise sollten es zweiunddreißig Luxuseigentumsappartements werden.

Die Eingangstüre war ruiniert und stand offen. Ich trat ein und bewegte mich langsam die Treppe hinauf. Die alten Elektroleitungen waren bereits herausgerissen, die alten Gasleitungen aufgestemmt, nur noch ein paar Holzverstrebungen hielten die Bude überhaupt zusammen.

Endlich sah ich einen, der wie ein Bauarbeiter aussah, aber in Wahrheit ein Balkanmafioso war. Ich winkte ihn zu mir und deutete nach oben zur Decke. Dabei fragte ich ihn, ob man die wunderschöne Lampe eventuell mitnehmen könnte, wo man schon mal hier war. Als er dort oben aber keine Lampe sah, weil dort oben keine Lampe war, nahm ich ihn beim Eiersack und fuhr ihm noch mit den Fingern in die Augen. Es war unglaublich, dass immer noch jemand auf den alten Trick hereinfiel! Mit der linken Hand drückte ich ihm gegen die Kehle und prüfte mit der rechten seinen Hosenbund, und siehe da – ich fand ein Messer und einen Schlagring: das Handgepäck durchreisender Balkanmafiosi.

„Wer du?“, fragte ich vielleicht eine Spur zu Balkanesisch.

„Ich Mirco.“

Er konnte aber auch Dragan heißen oder Zlatan. Wichtiger war ohnehin etwas anderes: „Wem gehören Haus?“

„Nix verstehen! Nix wissen!“ Er versuchte es also mit den bekannten Stehsätzen.

Ich verlegte meine Linke an seinen Schritt und drückte ordentlich zu: „Du verstehen alles, und du wissen mehr als nix, ich sein sicher!“

„Bissi mehr vielleicht“, stöhnte er. „Aber du sein diskriminierend, weil du reden mit mir in Blödsprache.“

War das also auch schon bei einem hundert Kilo schweren Balkankiller angekommen, dass man so nicht mit ihm reden durfte, nur weil er sich am Ende vielleicht „verletzt“ fühlen konnte?

Ich sagte: „Ehre, wem Ehre gebühren, Blödi. Und jetzt hör zu: Entweder du redest oder du bist bald ein Eunuche. Falls es dich interessiert: Das ist ein Typ, der früher ein Mann war.“

Ein Geschlecht, mit dem man sich übrigens noch nicht beim Amt eintragen lassen konnte.

Ich verstärkte den Druck: „Also, wem gehört das Haus?“

„Heißt Altsteinbär“, keuchte er endlich.

„Altsteinbär? Bist du dir da ganz sicher?“

„Ja!“

„Will alter Steinbär auch das Haus vom alten Drogenbär gegenüber kaufen?“ Der alte Drogenbär war mein Freund Lemmy, dem das Haus gehörte, in dem ich wohnte.

„Ich nix wissen.“

„Du lügst!“ Ich drückte kräftiger zu.

„Will alle kaufen Häuser!“, wusste er plötzlich.

„Will kaufen alle Häuser!“, korrigierte ich ihn, bevor ich ihm eine in die Visage drosch, die ihn zu Boden sinken ließ. Dort ließ ich ihn liegen und schraubte mich weiter die Treppe hinauf. Da wusste ich noch nicht, wie sehr mich das Treppensteigen die nächsten Tage beschäftigen würde.

***

Die Türe zu Ringos Wohnung im dritten Stock war aufgebrochen worden und stand halb offen. Ringo hieß nicht nach dem Drummer der Beatles, sondern nach dem Hund seiner Mutter. Er war hier der letzte verbliebene Mieter und hielt die Ehre der Sozialhilfeempfänger hoch. Davon kaufte er sich Gras bei Lemmy, meistens sein Origano Speziale, das ihn in einen verlässlichen Dämmerschlaf versetzte. Aber nun schlief er nicht, denn ich hörte ängstliches Wimmern aus seiner Bude: „Bitte nicht! Bitte, bitte nicht!“

Vorsichtig trat ich ein. Mit der Bleispritze voran bewegte ich mich weiter ins Innere der Zweizimmerwohnung und kam in den finsteren Raum, dessen einziges Fenster zum Lichthof hinausführte, aus dem allerdings nur wenig Licht hereinkam. Dort checkte ich die Lage: Ein Stiernacken stand bei diesem Fenster und hielt einen Fuß zwischen seine mächtige Brust und seine massigen Arme geklemmt. Mir war sofort klar, dass es Ringos verbliebener Fuß sein musste, an dem er ihn da festhielt, und dass der Rest von ihm Kopf voran beim Fenster hinaushing.

„Hände hoch oder ich schieße!“ wäre also in diesem Moment die schlechteste Ansage gewesen. Denn einen Motorradunfall auf Kreta konnte man überleben – wenn auch ohne rechtes Bein! –, nicht aber einen Sturz aus dem dritten Stock in den Lichthof dieses Hauses. Ich entschied mich also für ein dezentes „Psssst“, worauf der Stiernacken sich langsam zu mir drehte und in die Mündung meiner Bleispritze schaute. Sie gefiel ihm nicht.

Ich deutete ihm, dass er Ringo wieder hochziehen sollte, was er ohne die geringste Anstrengung auch tat. Als er ihn wieder auf den Boden in seiner Wohnung stellte, fiel Ringo allerdings um.

Im Liegen stammelte er: „Rock! Da unten liegen schon zwei andere!“

Bevor ich nachsehen konnte, wer da unten im Lichthof schon lag, spürte ich einen harten Schlag gegen meinen Schädel. Und dann sah ich nur noch Sterne.

***

Ich wachte in den Armen eines Sandlers auf, was mir ein wenig peinlich war. Er beträufelte mein Gesicht mit einem nassen Fetzen, den er normalerweise in seinem Schuh trug, damit er ohne Blasen durch den Sommer kam. Kurz fragte ich mich, wovon dieser Fetzen so nass war – von meinem Schweiß oder von seinem? Themenwechsel!

„Hast du zwei Euro?“, fragte er mich.

„Woher denn nehmen?“, fragte ich zurück. Dann fiel mir wieder ein, warum ich überhaupt hier war: „Hast du Ringo gesehen?“

„Den Einbeinigen?“

„Genau den!“

„Heute noch nicht. Aber hör zu, hast du nicht vielleicht was zu trinken?“

„Wasser?“

„Doch nicht Wasser!“

„Dann habe ich was.“

Ich rappelte mich hoch und fasste in meine Brusttasche, in der mein Flachmann steckte. Er leerte ihn gierig, während ich zum Fenster stolperte, mich hinauslehnte und hinunter in den Lichthof schaute, wo ich Ringo auf dem ganzen Haufen Bauschutt liegen sah. Eine Eisenstange hatte sich durch seinen verbliebenen, linken Oberschenkel gebohrt, was mit dem vielen Blut daneben nicht gut aussah. Der Rumäne (oder was er am Ende war) hatte ihn einfach hinausgeworfen, nachdem mir zuvor ein Zweiter das Licht ausgeblasen hatte. Danach waren sie getürmt, zwei Reisende in Sachen Körperverletzung und Mord, die gegen ein wenig Bargeld kleinere und größere Jobs auf dem Kontinent erledigten. Ein stets wachsender Arbeitsmarkt und verdammt lukrativ im Vergleich zu einem Drecksjob in einer Fleischfirma, wo der Rest ihres Volkes arbeiten musste. Wenn du mit Sklavenarbeit kein Geld mehr verdienen kannst, dann versuchst du es halt irgendwann bei der Mafia.

Ich lief wie eine alte Kuh die Treppen hinunter und wollte wie ein Geißlein bei der Türe im Erdgeschoß zum Lichthof hinaus. Aber die war durch heruntergeworfenen Müll versperrt. Also kämpfte ich mich wieder zurück in den ersten Stock und stieg durch das Fenster hinaus auf den ganzen Dreck, wo ich mir erst mal eine anzündete.

Schließlich stand ich neben Ringo und schaute ihm ins Gesicht, dann auf sein verbliebenes Bein. Interessanterweise klagte er über Phantomschmerzen in seinem verlorenen Bein, während ich ihm versicherte, dass sein anderes Bein gerade das größere Problem war.

Er fragte: „Werd ich es schaffen?“

Ich sagte: „Aber sicher.“

Ich rief die Bullen und dann die Sanitäter, von denen ich hoffte, dass sie das viele Blut, das er gerade verlor, wieder in ihn hineinkriegten. Sicher war ich mir aber nicht mehr. Da war eine Menge Blut, und es sollte nicht einfach so aus ihm herauslaufen.

„Rock, in meiner Hosentasche sind noch ein paar Euros“, hörte ich ihn plötzlich sagen. „Kannst du damit zu Richie hinaufgehen und eine gute Wette für mich platzieren? Morgen ist Erster Mai, da laufen die Einjährigen in der Krieau.“ Er meinte das Traberrennen, das wir uns traditionell an jedem Ersten Mai gemeinsam anschauten.

Ich fasste in seine Hose, die voller Blut war, und holte die paar Münzen heraus, insgesamt keine fünf Euro. „Das werde ich für dich tun, Ringo, ich werde für dich auf den Sieger setzen. Und mach dir vor allem keine Sorgen, mein Freund. Alles wird gut.“

Dann kippte er weg.

***

Staub wehte in meine Augen, als ich die Straße zurück zu unserem Haus querte. Ich schob mir die alte Carrera-Sonnenbrille auf die Nase und schaute zum Himmel hinauf. Der war blau, aber irgendwo da oben zogen bestimmt schon wieder die nächsten Wolken heran. Und was soll ich sagen? Da waren sie schon!

Ich sah, wie ein mobiles Klo aus zwei Meter Höhe von einem Lastwagen auf den Gehsteig geschleudert wurde, direkt vor Lemmys Türe, die ins Quattro Stazione hinunterführte. Aus dieser ehemaligen Pizzeria im Souterrain des Hauses heraus verkaufte er seine Grassorten Vaya Con Dios und Origano Speziale – bei den Sozialhilfeempfängern der Gegend gleichermaßen beliebt wie bei den verrückten Bobomüttern, die sich hier immer weiter ausbreiteten.

Es machte einen ordentlichen Rumms, und der Eingang zu seinem Loch war beinahe vollständig zugestellt. Ich schrie zum Kranwagenführer hinauf: „Könnt ihr eure Scheißhäuser nicht woanders abstellen?“

Aber er schrie nur zurück: „Nix verstehen!“

Lemmy hatte das abgerockte Haus am Wiener Brunnenmarkt vor ein paar Jahrzehnten gekauft, als die Grasgeschäfte noch gut liefen und einem die Häuser hier für einen Sack Zwiebeln und eine Stange Sellerie nachgeschmissen wurden. Ich hatte den Zweitschlüssel für sein Kellerloch, seit wir Freunde waren und er mir im ersten Stock eine kleine Bude vermietete, deren Fenster werbewirksam auf den Brunnenmarkt hinausgingen und für die ich keine Miete zahlte. In den Dreck der Fenster hatte ich mit einem Finger hineingeschrieben:

SUPERSCHNÜFFLER ROCK ROCKENSCHAUB

Löst auf alle Fälle alle Fälle

0–24 Uhr

Erst zu spät hatte ich gemerkt, dass sich das Firmenschild von außen spiegelverkehrt las. Scheiß doch der Hund drauf!

Bei Lemmy unten roch es schon in guten Zeiten nicht so gut, in schlechten Zeiten aber war das Raumklima unerträglich. Im Winter, wenn er den Schwedenofen anheizte, stank es wie am Arsch des Teufels, im Sommer wurde sein Loch zu einem Sammelbecken der Düfte, die sich von der Straße zu ihm hereindrängten. Aber nicht Jasmin und Tausendundeine Nacht, sondern Zwiebel und Hundepisse. Im Mai konnte es zwischendurch sogar ganz angenehm riechen, weil da der Duft des Wiener Flieders die Stadt dominierte. Dazu kamen die Maiglöckchensträuße, welche die Blumenmädchen aus Rumänien verkauften, wenn sie nicht gerade irgendwo betteln mussten oder mit ausgefeilten Tricks irgendwelche alten Männer um ihre Ersparnisse brachten. Manchmal nahm ich ihm einen Strauß mit, dann freute er sich darüber und fragte, wie man das Zeug rauchen könne.

Als ich die Türe öffnete, roch es aber nicht nach Maiglöckchen und Origano Speziale, sondern nach Kälte und Tod, nach Lemmys Abwesenheit. Und das machte mir Sorgen.

Vor drei Tagen noch hatten wir über dem Hauseingang die Fahne für die morgigen Feierlichkeiten zum Ersten Mai angebracht. Aus diesem Anlass hatten wir ordentlich was geraucht und auch ordentlich was getrunken, waren aber trotzdem nicht von der Leiter gefallen, wie uns die herumstehende, zugewanderte Jugend prophezeit hatte. Danach war ich auf einen Sprung zu meinem Brotha Lovegod nach Bratislava hinübergefahren, der nicht mein Bruder war, aber eben mein Brotha. Ich wollte mit ihm ein paar Hotdogs futtern und ihm seinen neuen, gefälschten Reisepass bringen, den ich für ihn über Richie Richs Wettbüro oben am Gürtel organisiert hatte. Den brauchte er, um endlich vollwertiges Mitglied der EU zu werden mit Anspruch auf Sozialleistungen auch für seine Kinder, von denen er mittlerweile fünf hatte, von fünf verschiedenen Osteuropäerinnen. „Dafür hast du etwas gut bei mir!“, hatte er gesagt.

Als ich gestern früh zurückkam in die Hood, war Lemmy nicht mehr da. Das war noch nie vorgekommen, seit ich hier wohnte. Viel öfter kam es vor, dass er tagelang da unten in seiner speckigen Lederhose auf seiner versauten Ledercouch saß und sich nicht rührte, weil er von einem Drogencocktail, den er sich aus weiß der Teufel was zusammengebraut hatte, so breit war, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Außerhalb seines Verkaufsraums aber bewegte er sich nur, wenn ich ihn zur Samenspende brachte oder hinauf zu Dirty Willi ins Swedish Pornhouse, wo er sich einmal im Jahr alte Jack-Schleck-Filme anschaute, um sich daran zu erinnern, wie eine Frau nackt aussah. Oder ich machte eine Ausfahrt mit ihm in meinem mintgrünen Datsun 280ZX, wenn ich ihn wieder einmal durchlüften musste. Dann hielt er den Schädel bei der Beifahrerseite hinaus und war glücklich wie der Hund eines Motorradfahrers, der im Beiwagen mitfahren durfte. Dass er ohne mich außer Haus ging, das kam hingegen nie vor.

Ich trat ein und schaute mich auf der Suche nach Hinweisen und Spuren um. Da lagen seine Zähne auf dem Boden! Und einer seiner Cowboystiefel auch, der andere aber nicht. Seine Stiefel zog Lemmy nie aus, auch nicht zum Schlafen. Hatte er sich also gewehrt, als man ihn wegbrachte, und dabei einen seiner Stiefel verloren? Möglich war es!

Plötzlich wurde mir klar, wie wichtig Lemmy für mich war. Nicht nur als Drogenlieferant, sondern auch als Hausherr und Vermieter. Wo sollte ich pennen, wenn das Haus in die Hände eines Investors fallen würde, der mich beim Fenster hinausgehängt hätte, bevor ich die freiwillige Kündigung unterschrieb? Würde ich bald einer der vielen Obdachlosen der Stadt sein, die in ihrem eigenen Dreck schlafen mussten? Panik beschlich mich.

Ich ging zum Plattenspieler, auf dem sich noch immer beständig der Plattenteller drehte, hob die Nadel vom Vinyl und schaltete ihn aus. Dann gab ich „Made in Japan“ von Deep Purple zurück in die Hülle und stellte das Album ins Regal.

***

Gegen Ende des Monats wurde bei uns allen das Geld immer ein wenig knapp, so wie bei Ringo, der dann immer nur noch ein paar kleine Münzen übrig hatte, so klein, dass er sie gerne größer gemacht hätte. Oft bat er mich dann, ihn zu Richie Richs Wettbüro oben an der Grundsteingasse Ecke Gürtel zu begleiten, die neben Dirty WillisSwedish Pornhouse lag. Richie leitete von dort aus auch das Büro der Kommunisten in der Gegend, trug sein Hammer-und-Sichel-Abzeichen ganzjährig und verkaufte Brieflose, Ein-Leben-lang-dreitausend-Euro-pro-Monat-Lose, Lottoscheine und ein paar andere Sachen, welche für die ganzen Freaks der Gegend, die hier mit Dosenbier, schlechter Haut und starrem Blick auf die Fußspitzen ihre Tage vertrödelten, die einzig realistische Chance waren, jemals ein Vermögen aufzubauen. Im Grunde machten sie es dabei wie die Reichen und versuchten, mit Geld noch mehr Geld zu machen. Sie kauften ein Los um zwei Euro und hofften auf einen Gewinn von fünf. Aber irgendwie klappte das trotzdem nie mit der Vermögensbildung, weil sie, wenn sie mal fünf Euro gewannen, immer Zigaretten kauften, anstatt sie zur Seite zu legen.

Wenn einer wie ich in die Wettbude kam, im kanariengelben Sonntagsstaat, dann freute sich Richie, denn wie ich schätzte er gute Kleidung. Und er schätzte meine Aufträge für gefälschte Papiere, die er dann gerne erledigte, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Ich schob ihm die Gage von Brotha Lovegod hinüber und versicherte ihm, dass der Kunde zufrieden war, und Richie steckte die Scheine routiniert weg.

„Gefiel ihm sein neuer Name?“, fragte Richie.

„Gernot Roithenfellner? Nun, er findet den Namen eigentlich ganz flott für einen ehemaligen Nigerianer, der früher Easygoing Ezechiel Mpenza hieß.“

„Dann ist es ja gut.“

Unsere gemeinsame Leidenschaft aber waren Pferdewetten, die Traberrennen in der Krieau und die Galopprennen in der Freudenau. Leider gab es immer weniger Rennen, weil die Tierschützer nun auch schon für Pferde ein drittes Klo forderten. Daher gab es auch nur mehr sehr wenige Spinner, die bei Richie Wetten platzierten. Ein weiterer Grund für die Flaute war, dass vor ein paar Jahren einer den Computer erfunden hatte, was Richie geschäftlich stark zusetzte. Die Leute wichsten lieber zu Hause als im Kino, und sie wetteten dort auch lieber auf Pferde als bei ihm oder auf der Rennbahn.

„Rocky! Morgen um 17:10 Uhr Graf-Nilacsi-Gedenkrennen der Einjährigen über tausendzweihundert Meter: Family Hero, der letztes Jahr den Prix Seydoux Super gewonnen hat und einem neureichen Investor, der eng mit dem Kanzler befreundet ist, gehört, ist Favorit mit einer Quote von 2:1.“

„Lass mich in Ruhe mit den neureichen Investoren, da kriege ich gleich Sodbrennen. Einer von denen hat gerade unseren Freund Ringo aus dem Fenster werfen lassen. Und sag bitte nicht Rocky zu mir, ich heiße Rock wie der Felsen und nicht Rocky wie das Felschen, as you know!“

„Jaja, ich weiß, ich weiß. Und wie geht es Ringo? Hat er nicht immer Phantomschmerzen in seinem amputierten Bein?“

„Wenn er nur dort Schmerzen hätte!“

„Ich verstehe. Willst du russische Brühe?“

Er schenkte mir gut ein, und dann füllte ich mir mit dem Zeug noch meinen Flachmann, den der Penner in Ringos Abbruchhaus geleert hatte, bis oben hin an.

Schließlich fragte ich: „Wer läuft denn als Außenseiter in diesem Rennen?“ Außenseiter sagten mir insgesamt mehr zu als Favoriten, und wenn sie mal etwas gewannen, dann zahlte es sich auch aus.

„Fanny Bunny mit einer Quote von 1:18.“

„Fanny Bunny oder Funny Bunny?“

„Fanny.“

„Also Funny?“

„Ja.“

„Mit U?“

„Nein!“

„Fanny mit A?“

„Ja!“

„Aber ich dachte, es laufen Hengste?“

„Vielleicht war dieses Bunny ja auch früher ein Hengst, was weiß denn ich!“

„Oder der Hengst läuft im rosa Kleidchen?“

„Möglich! Frag mich bitte nicht, wohin das alles noch führen soll, wenn man bald auch bei Pferden nicht mehr weiß, ob sie ein Hengst oder eine Stute sind!“

„Meine Worte. Hast du noch Brühe?“

Er schenkte mir abermals gut ein und fragte dann, wie viel ich setzen wollte. Ich könnte mein elendes Geld verachtzehnfachen, wenn ich schon unbedingt auf Fanny Bunny setzen wollte.

Ich antwortete: „Wenn dem so ist, dann werde ich wohl zwei große Scheine riskieren.“

„Zwei Tausender also auf Fanny Bunny?“

Tausend war aber nicht das, was ich einen großen Schein nannte. Die Geschäfte als Privatdetektiv liefen schlecht, und wenn Lemmy nicht bald auftauchte, dann musste ich eventuell mit einem neuen Eigentümer rechnen, der dann Miete von mir verlangte.

Daher schob ich Richie am Ende nur zwei Zehner in Form von Münzen hinüber. Den einen kratzte ich aus meiner eigenen Hosentasche zusammen, den anderen hatte ich zuvor Ringo aus seiner Hosentasche gekratzt, als er mich darum gebeten hatte. Sollte Fanny Bunny gewinnen, dann könnte er sich davon einen halben Rollstuhl leisten, falls er auch noch sein linkes Bein verlieren würde.

Der Münzhaufen aber schmeckte Richie gar nicht. „Sag mal, spinnst du? Wie soll ich denn etwas verdienen, wenn du mir nur die paar Münzen rüberschiebst?“

Das mit dem Geldverdienen war so eine Sache, wenn man nicht genug Geld hatte, aus dem man weiteres Geld machen konnte. Das Gewicht hatte sich in den letzten vier Jahrzehnten stark in Richtung der verdammten Reichen verschoben, die ohnehin schon genug Geld hatten, aber immer noch mehr drauflegen wollten, während Leute wie Richie bald gar nichts mehr zu fressen hatten, weil das ganze Geld am Ende doch immer irgendwie bei den Reichen landete.

Ich sagte: „Das fragst du mich nach vierzig Jahren, in denen du nichts verdient hast?“

„Aber ich hätte etwas verdienen können, wenn ihr mehr gesetzt hättet!“, zettelte er eine Hätte-wäre-Debatte an – die Lieblingsdebatte von uns Habenichtsen –, auf die ich bereitwillig einstieg.

„Als Kommunist hättest du bestenfalls etwas verdienen können, wenn du vor deiner Bude Münzen aufgehoben hättest! Die Zeiten sind vorbei, wo man bei einem wie dir Wetten platziert! Schließlich gibt es schon seit Längerem dieses … na … wie heißt es?“

„Telefon?“

„Ja, das auch! Aber eben auch das … na … mir fällt’s gleich ein, dieses Inter…irgendwas. Richie! Was du hier machst, ist vollkommen sinnlos. Und wenn du schon nicht glauben willst, dass es vollkommen sinnlos ist, dann ändere wenigstens deinen Namen! Richie Rich passt einfach nicht mehr zu dir.“

***

Eine halbe Stunde später saß ich in Jolandas Gulaschbude Hard & Heavy, einem ehemaligen Plattenladen an der Ecke Brunnengasse und Yppenplatz, dessen Namen sie nie geändert hatte, so wie Lemmy den Namen der ehemaligen Pizzeria, in der er jetzt wohnte, nie geändert hatte. Jolanda war noch im alten Jugoslawien geboren worden und hatte mal was mit Tito, oder Moment, mit seinem Sohn? Oder doch nur mit einem, der seinen Sohn kannte? Jedenfalls trieben sie es auf diesem Schiff, das heute im Hafen von Zagreb liegt, oder Moment, im Hafen von Split? Oder doch nur auf einer kleinen Schabracke vor der Küste? Egal!

Aus ihren Lautsprechern schepperte den ganzen Tag lang Blechmusik, die vom sterbenden Kommunismus, dem Jolanda ihr Leben lang nachtrauerte, erzählte. Ihre Bude war so abgerockt wie ihr Jugoslawien in den Achtzigerjahren, die Plastiktischtücher klebten an den wackeligen Tischen, der Boden klebte an unseren Schuhen und die Biergläser klebten an unseren Fingern. Mit anderen Worten: Nirgendwo war es schöner als bei Jolanda.

Darum hatte ich mich hier mit meinen Kumpels verabredet, um den Ablauf der morgigen Feierlichkeiten zum Ersten Mai zu besprechen: Wer wann ab wo mit welcher Gruppe und roter Nelke im Knopfloch in Richtung Rathaus marschieren würde. Eine rote Nelke in meinem gelben Hoodie – das hatte ich mir lange gewünscht und vorgestellt, und morgen würde es endlich so weit sein. Jeder, der etwas von roten Nelken und gelben Jogginganzügen verstand, würde mich ansprechen und sagen: „Großer Vorsitzender, du siehst hervorragend aus!“

Zunächst aber musste die Frage beantwortet werden, in welche Wirtshäuser wir auf dem Weg zum Rathaus einkehren wollten, um dort ein kleines und ein großes Bier zu trinken – ein kleines gegen den Durst und ein großes auf die Revolution. Und dann war da noch die Frage zu besprechen, wer von uns den zweiten Bass singen sollte, wenn wir „Die Arbeiter von Wien“ und „Bella Ciao“ röhrten. Aber außer meinem Freund Kubelka dem Seelenschuster war niemand gekommen, was irgendwie niederschmetternd war. So niederschmetternd, dass Ku mich gleich fragte: „Willst du darüber reden?“ Aber das wollte ich nicht.

Guttmann der Bulle hatte Schmerzen in den Knien und war deswegen für morgen entschuldigt. Und Willi das Schwein, dem oben am Gürtel Dirty Willis Swedish Pornhouse gehörte, hatte sich längst von den Sozis verabschiedet. Irgendwann hatte er sich in die Eiserne Lady verschaut. Zwar war die Schreckschraube seit ein paar Jahren tot, aber sie gefiel ihm halt immer noch, seit er in den Achtzigerjahren einen ziemlich abseitigen Schwarzweißporno ins Programm genommen hatte, der Maggie and the Coalminers hieß und in einer Kohlegrube in der Gegend um Sheffield spielte. Da hätte auch ein Farbfilm nicht mehr daraus machen können.

Fink der Griffelschwinger wiederum, der für den Schmetterling schrieb, hatte uns „Sorry, aber ich arbeite an einer großen Geschichte über die Korruption beim sozialistischen Bauamt, mir fehlt gerade die Identifikation mit der Bewegung“ ausrichten lassen, während Herschel der Jude, den ich seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, mir mitgeteilt hatte, dass er mit seinen knapp neunzig Jahren am Buckel Besseres zu tun hätte, als die Welt zu retten: „Ich bin nahe dran, einen Fick zu organisieren!“, hatte er ins Telefon gebrüllt, er träumte von einem letzten „Fick“, wie Che Guevara ein Leben lang von warmen Eislutschern geträumt hatte, und ich wusste gerade nicht, was trauriger war.