Hundert Kilo Einsamkeit - Manfred Rebhandl - E-Book

Hundert Kilo Einsamkeit E-Book

Manfred Rebhandl

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Beschreibung

Windel hochziehen und Schnabelbecher festhalten: Rock Rockenschaub ermittelt in tattrigem Umfeld! A schöne Leich gibt es in Wien öfter - aber Allerheiligen ist nur einmal im Jahr. Zu Allerheiligen treffen sich der berühmte schwarze Humor der Alpenrepublik und die (Wahl)familie von Superschnüffler Rock Rockenschaub am place-to-be: dem Wiener Zentralfriedhof. Wie jedes Jahr versammeln sich die abgelebten Gestalten um das Grab ihres weltberühmten Freundes Jack Schleck. Doch diesmal fehlt die traditionelle Rinderzungen-Niederlegung, und überhaupt ist alles anders! Wegen einer Filmrolle sind nämlich alle von derselben. Das alte Band verdirbt Pornokinobesitzer Dirty Willi gehörig die Laune, ist darin doch seine frühere Freundin Heidrun zu sehen. Aber wer noch? Doch es bleibt kaum Zeit nachzudenken, wer oder was auf dem Band abgeht! In der Luxuspension für alte weiße Männer, in der Herschel seinen Lebensabend verbringen will, gibt sein alter Freund Django den Löffel ab, bevor sie eine Schachpartie beenden konnten. Ganz andere Sorgen hat Guttmann, der als Polizist für die durch eine gewisse Svetlana bedrohte Sicherheit bei einem exklusiven Polit-Dinner verantwortlich ist. Ist Guttmanns neue Flamme, die mit dem neuen Besitzer von Herschels Heim unglücklich verheiratet ist, etwa dieselbe Frau? Sind sie zu alt, bist du zu schwach. Egal ob am Zentralfriedhof, in Rocks abgefuckter Wohnung, in den glitzernden Palais der inneren Stadt oder im Altersheim, wo die Röcke der Pflegerinnen gefühlt immer kürzer werden: Manfred Rebhandl präsentiert Wien von seiner authentischen - also grindigen - Seite! In diesem schlag- und zungenfertigen Stakkato des abgründigen Humors bleibt nichts und niemand verschont. Schon gar nicht die Themen, von denen nicht gesprochen wird: Alter, Einsamkeit und der sich nähernde Tod. In seiner treffsicheren Sprache erzählt Rebhandl vom Derb-Warmherzigen, vom Siffig-Vertrauten und vom Ruppig-Zärtlichen, das Wien und seine Menschen ausmacht. Schokoriegel, Tschick und beste Freunde: Gut gegen Einsamkeit! Markante, schrullige Figuren sind das Markenzeichen von Manfred Rebhandl: Sie sind so wenig salonfähig, wie sie dauerspitz und unanständig sind. Dafür sind sie so liebevoll authentisch gezeichnet, dass man sie einfach gernhaben muss. Egal, ob der heißblütige Laszlo, seines Zeichens Moderator beim renommierten Sender Gosse24, Guttmann, der Bulle im Khaki-Outfit, oder der dauergelangweilte Therapeut Kubelka: Sie alle entsteigen den unteren Schubladen und zielen dorthin, wo es wehtut. Damit bieten sie durchaus Identifikationsmöglichkeiten, auch wenn wir das vielleicht nicht immer allzu gerne eingestehen.

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Seitenzahl: 265

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Inhalt

CoverTitelWidmungPrologDer AutorImpressum

 

Für meinen lieben Freund Markus,

der nun sieben Bücher hat.

Prolog

Es war der zurückliegende Sommer und einer dieser Tage, die sich in letzter Zeit häuften. Über dreißig Grad schon am frühen Morgen und während der stickigen Nacht nicht viel weniger. Langsam glaubte auch ich, dass an diesem verdammten Klimawandel etwas dran sein musste. Jedenfalls floss das Blut nur noch wie dicker Brei durch meine verstopften Venen, und sobald ich mich bewegte, regnete es Schweiß aus meinen Drüsen. Selbst die Abdullahs draußen vor meinen Fenstern, die das Gestänge für ihre Gemüsestände von den Kellern heraus auf die Gehsteige schmissen, schwitzten schon vor Sonnenaufgang und ließen es daher ruhiger angehen.

Auch bei Lemmy unten im Quattro Stazzione staute sich die Hitze und mit der Hitze der Gestank verfaulten Gemüses und der angepissten Hosen seiner Kunden vom Sozialamt. Kein Lüftchen wehte, das ein wenig von diesem Gestank aus der Stadt hinausgewirbelt hätte. Lemmy hatte neues Gras gezüchtet und es Truth or Lie genannt, und ich war sein erster Testraucher geworden. Wie er auf den Namen gekommen war, das konnte er mir zunächst nicht erklären, aber sobald ich es rauchte, verstand ich es: Die Augen zogen sich irgendwie zurück in die Hirnmasse und kamen dann frisch gewaschen wieder zurück, sodass man die Wahrheit ganz anders sah.

Capito?

Gemütlich diese Joints rauchend, lag ich den ganzen Tag in meiner Wanne im kalten Wasser und schüttete Eiswürfel nach, solange ich im Eisfach des Kühlschranks welche fand. Seit zwei Tagen aber hatte ich keine mehr gefunden, entsprechend abgestanden war die Suppe, in der ich lag. Ich hörte Syl Johnsons Is It Because I’m Black? und dachte, das Lied würde sich um mich drehen, obwohl ich doch weiß wie Seife war. Das war verdammt noch mal Lemmys Gras!

Ich wollte mich gerade ertränken, als die Schelle läutete. Es war mein Freund Willi das Schwein, dem oben am Gürtel Dirty Willis Swedish Pornhouse gehörte und der mich mit der Frage löcherte: „Du kommst doch heute Abend?“ Und ich löcherte mit der Frage zurück: „Aber warum denn?“

Eigentlich hatte ich ja Urlaub, weil Willi sein Pornokino die ersten zwei Juliwochen eines jeden Jahres geschlossen hielt, aber scheiß der Hund drauf! Ich war am Ende ganz froh, dass er die Bude nun überraschend doch aufsperren würde, und es war mir letztlich egal, warum er es tat. Wichtig war, dass er dort eine leidlich gute Klimaanlage hatte, die wie ein sehr großer Vibrator schnurrte.

Als es langsam Abend wurde, holte ich Lemmy in seinem Keller ab, aus dem heraus er seine Grasspezialitäten verkaufte. Wir rauchten noch einen ordentlichen Ofen und dann gingen wir gemütlich hinauf Richtung Pornhouse. Dabei fragte mich Lemmy: „Du kommst doch morgen zur Grasernte?“

Diesmal ersparte ich mir das „Aber warum denn?“. Die Geschäfte liefen schlecht und mit den Ladys wurde es auch immer schwieriger. Da war man froh, wenn man den einen oder anderen Kumpel hatte, der einen noch zur Grasernte einlud.

Guttmann der Bulle, den ich auch informiert hatte, dass Willi das Pornhouse aufsperren würde, stand dann schon davor in seinen kurzen Khakihosen, die seine weißen Waden noch erbärmlicher aussehen ließen, und auch er richtete gleich eine Frage an mich: „Du fährst doch dann im Herbst wieder mal mit mir ins Outlet hinauf eine Cordhose kaufen?“ Aber diesmal sagte ich: „Willst du nicht mal mit einem anderen fahren?“

Nicht weniger weiß waren die Waden von Kubelka dem Seelenschuster, der auch kurz trug und den ich ebenfalls informiert hatte, dass Willi heute vielleicht einen heißen Film zeigen würde. Als ich Kubelka so sah, musste ich an den letzten Sommer denken, als ich bei Bademeister Horst draußen im Ottakringer Bad auf der Wiese lag und er mir entgegenkam wie eine sehr riesige, sehr weiße Qualle. Aber auch in diesem Sommer war er nicht in Bestform, die Hitze setzte ihm zu und seine Patientinnen langweilten ihn: „Diese verdammten Kuratorinnen und Dramaturginnen aus Kunst und Kultur mit ihren trockenen Scheiden!“

Hört, hört! Immer öfter jammerte also auch er, dass er eine fürs Leben suchen würde, keine mehr, die ihn auf Trab hielt. „Und wenn sie nebenher ein Zinshaus hat – wer würde zu so einer Nein sagen?“

Wir bestimmt nicht!

Sein letzter geplanter Bestseller (Die trockene Scheide – Ursache und Bekämpfung) hatte sich nämlich ebenso wie sein davor in den Sand gesetzter geplanter Bestseller (Die Mutterbrust – Folgen und Wirkung für den Heranwachsenden) als Ladenhüter entpuppt und langsam fragte auch er sich, wie er seine Rechnungen bezahlen sollte: „Hast du vielleicht eine Idee, worüber ich ein Buch schreiben könnte?“

Und ich sagte: „Gerade nicht!“

Am besten kam noch Fink vom Schmetterling, den ich ebenfalls informiert hatte, dass Willi vielleicht einen heißen Film zeigen würde, mit der Hitze zurecht. Ungerührt trug er das ganze Jahr über seinen schmierigen schwarzen Wollanzug, in dessen Taschen er stets ein paar Dosen Bier mit sich herumschleppte. Bier war seine treue Begleiterin, besser gesagt warmes Bier, und auch er musste mich etwas fragen: „Willst du eines?“

„Danke, aber nein danke!“ Die Plörre war nämlich so warm, dass er sie ruhig mit Kubelka und Guttmann teilen sollte, nicht aber mit mir. Ich würde mich an meine Thermoskanne halten, in der ich eiskalte russische Brühe bunkerte.

Dann kam endlich Willi das Schwein selbst, der seit einer Woche nur noch ein Schatten seiner selbst war. Inmitten der ganzen schönen Filmplakate in seinen Schaukästen (Jack Schleck!), die doch nichts anderes als Freude versprachen, sah er vollkommen freudlos aus, als auch er mich sofort wieder etwas fragen musste: „Was machen denn die ganzen Idioten hier?“

„Gegenfrage: Hast du nicht gesagt, dass ich kommen soll?“

„Ja, du!“

„Aber wie hätte ich denn wissen sollen, dass du nur mich meinst?“

Langsam merkte ich, wie anstrengend meine Freunde waren.

Da es nun aber auch schon egal war, bat Willi mich zusammen mit den anderen in den Kinosaal, wo wir ein jeder in unserem bevorzugten Sitz Platz nahmen. Wie eine Lehrerin stellte er sich dann vor die Leinwand und schaute uns an, richtete sich mit seiner Ansprache aber alleine an mich: „Hör zu! Vor einer Woche habe ich ein Paket zugeschickt bekommen, es hatte die Größe und Form einer Super-8-Filmrolle. Sechs Tage lang habe ich das Paket nicht geöffnet, am siebten Tag aber sah ich, dass es tatsächlich eine Super-8-Filmrolle war.“

Er redete wie dieser Typ, der damals die Erde erschaffen hatte. Wie war noch gleich sein Name?

„Nach einer ersten Sichtung, die ich gestern alleine vorgenommen habe, werde ich dir den Film jetzt zeigen. Dir als Privatdetektiv, nicht dir als Privatperson.“

Das setzte mich gleich ein wenig unter Druck und ich fragte mich, ob ich für diesen Fall nicht ein Honorar verlangen sollte? Andererseits hoffte ich natürlich, dass ich sein Pornhouse mal erben würde, wenn es mit ihm den Bach runterging, und dann würde ihn eine Honorarforderung vielleicht verärgern.

„Ist es ein Meisterwerk?“, fragte Fink, der sich immer für wahre Filmkunst begeistern konnte.

„Das geht dich einen Scheißdreck an! Ich rede nur mit dem da!“, schrie Willi.

Aber warum sollte Fink nicht fragen, ob in der Filmrolle ein Meisterwerk lag? Das Pornhouse konnte ein Meisterwerk dringend gebrauchen, denn auch seine Kassen waren leer und die Bude füllte sich nur noch selten. Verdammtes Internet! Und dann waren seit zwei Jahren auch noch die russischen Geschäftsreisenden weggeblieben, die gerne mal zu zweit hierherkamen und sich im Kino gegenseitig einen runterhobelten, was sie zu Hause ja nicht durften.

Wieder wandte sich Willi mit strengem Ernst nur an mich: „Ich möchte, dass du dir den Film sehr genau ansiehst und mir danach sagst, was du gesehen hast.“

„Als Privatdetektiv oder als Experte?“, fragte ich.

„Als beides!“, schrie er mich an.

„Dann werde ich das sehr gerne tun“, sagte ich, ohne dass ich wissen konnte, worauf ich mich da einließ.

Willi verschwand nach oben in den Projektionsraum, und dann gingen schon die Saallichter aus. Und kaum, dass er den Super-8-Projektor angeworfen hatte, sah man auf der Leinwand den wackeligen Vorspann:

Eine Female-Power-Production

Was denn, was denn, fragten wir uns alle. Was war denn bitte eine verdammte Female-Power-Production? Von einem Female Power als Produzenten hatten wir alle noch nie etwas gehört.

„Oder du schon?“, fragte ich Fink, als ich mich zu ihm umdrehte.

„Nie“, sagte er und bot mir wieder eines seiner warmen Biere an, das ich erneut ablehnte.

„Ich kenne nur Teresa Orlowski und Beate Uhse.“

Und dann:

Mit Kitti Natale in der Hauptrolle

Was denn, was denn, fragten wir uns wieder alle. Wer war denn bitte das und was sollte denn diese Kitti Natale für eine Hauptrolle spielen?

„Möchtest du Wodka?“, fragte ich Fink.

Und der sagte: „Na, gib schon her!“

Und dann:

Mit John Porn in einer weiteren Hauptrolle

„Schon mal von ihm gehört?“, fragte ich Fink.

„Nie!“, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck aus meinem Flachmann.

Und dann:

Mit Hedda Horny in einer Nebenrolle

Gleiche Frage, gleiche Antwort: „Nie gehört!“

Und schließlich:

Copyright Juni 1971

„Was denn, was denn?“, fragte ich Fink. „War denn da überhaupt schon einer von uns auf der Welt oder war das noch vor der Mondlandung?“

„Wir alle waren schon auf der Welt“, sagte er und gab mir meinen Flachmann zurück.

„Ich auch?“

„Du vor allem! Verdammt, du solltest wirklich nicht so viel von Lemmys neuem Gras rauchen!“

Dann sahen wir den Titel des Streifens:

KITTI NATALE – DIE WAHRE KÖNIGIN DER ESKIMOS

Du lieber gütiger Himmel! Was war denn das für ein beschissener Titel? Wir hatten noch nie von einer Eskimokönigin gehört und erst recht nicht von einer wahren! Ich drehte mich wieder um und schaute in die Gesichter meiner Kumpels. Lemmy immerhin hatte bereits die Hosen offen – oder hatte er sie immer offen? Kann natürlich auch sein.

Dann starrte auch ich wieder nach vorn auf die Leinwand und sah billigste verwackelte Bilder, auf denen man kaum etwas erkennen konnte. Das alles sah mir verdammt nach Kunst aus, und verdammt, ich hasste Kunst! Ich wollte schon „Kannst du uns keinen richtigen Porno zeigen?“ nach hinten zu Willi hinauf in den Vorführraum rufen, da sah ich, wie dieser John Porn in seiner Rolle als „Weihnachtsmann“ über „Grönland“ in seiner „Kutsche“ bei starkem „Schneetreiben“ abstürzte und „überlebte“ – so weit der Beginn der „Handlung“.

Lemmy war da schon wieder eingeschlafen, weil der Film ihn noch nicht richtig gepackt hatte. Kein Wunder auch, denn das erhoffte Meisterwerk entpuppte sich als Machwerk! Als hätte es Charlie Chaplin gedreht!

Also tauschte sich auch Kubelka längst wieder auf seinem Phone mit einer seiner Patientinnen über ihre trockene Scheide aus, während sich Fink ein weiteres warmes Bier aufmachte. Sie sahen daher gar nicht mehr, wie der Weihnachtsmann sich bei „Wind“ und „Schnee“ mit „gebrochenem Fuß“ bis zum „Dorf der Eskimofrauen“ durchschlug (das wie draußen in den Wienerwald hineingebaut aussah!) und sich dabei auf seine gewaltig dimensionierte Zunge stützte.

Was denn, was denn? Auf seine gewaltig dimensionierte Zunge?

Endlich kam er in diesem Eskimodorf vor einem Iglu zu stehen, auf das jemand Die wahre Königin der Eskimos geschrieben hatte, in Krixikraxischrift. Im Iglu drinnen lag dann eine gut gebräunte Rothaarige, die wirklich sehr lecker aussah, schon halbnackt auf ihrem Eisbärenfell und besorgte es sich mit einem pinken Vibrator. Sie hatte ein Muttermal oberhalb der Lippe und ihr linkes Ohr war ein bisschen größer als das andere. Neben ihr lag eine, die ein ordentliches Pfund war und mit einem Berg schwarzer Haare ausgestattet, und zwar Haaren überall unter ihrem weit geöffneten Eisbärenfellmantel! Ihre darstellerische „Leistung“ war mies und reden konnte sie auch nicht. Wieder drehte ich mich zu meinen Kumpels um und wieder blickte ich in fassungslose Gesichter. „Was soll denn der Scheiß bitte?“

„Bringet den Weihnachtsmanne herein!“, lispelte die Dicke auf Hochdeutsch. „Er solle entscheiden, wer die wahre Königin der Eskimos sei!“ Und als ich wieder nach vorne auf die Leinwand schaute, sah ich, wie sie ihre behaarten Schenkel breit machte und dabei die bemooste Schiene für den Weihnachtsmann öffnete, während sich die Rothaarige verführerisch räkelte. Die eine bot sich dem Weihnachtsmann dar wie eine üppige Jause, die andere – um beim Thema zu bleiben – wie ein süßes Kekserl. Und er sollte wohl wählen.

Wir alle riefen dem Weihnachtsmann zu: „Nimm die Rothaarige!“

Aber verdammt! Schon sahen wir seinen schmalen Schniedel, und mit dem voran legte er sich, ohne dass ihn jemand dazu hätte zwingen müssen, auf die Dicke drauf anstatt auf die Rothaarige. Die quietschte auch sofort zufrieden wie eine sehr große Badeente, obwohl er sie nur ohne erkennbare Freude pimperte, ganz so, als hätte er gar keine Ahnung, wie das überhaupt richtig ging. Die unter ihm aber war zufrieden. Grinsend schaute sie in die Kamera und schien stolz auf das, was sie dem Weihnachtsmann zu bieten hatte – Fett und Haare! –, während die Rothaarige als Verliererin halbnackt den Iglu verließ und draußen in der Kälte vermutlich erfror.

Der Weihnachtsmann hatte sich für die Dicke entschieden – das war die Aussage des Films. Und das feierten die übrigen Eskimofrauen, die sich um die beiden herumscharten und tanzten, bis es im Iglu so heiß wurde, dass die verdammten Eisziegel schmolzen und der Weihnachtsmann der Königin gleich einen neuen bauen musste. „Avanti, avanti!“

Und dann war dieser verdammte Film auch schon wieder zu Ende, der Spuk hatte keine drei Minuten gedauert. Im Saal gingen die Lichter an und Willi stapfte herunter aus seinem Vorführraum, wo er sich sonst eigentlich nur noch Buddy-Movies auf VHS anschaute, am liebsten mit Walter Matthau und Jack Lemmon. Er stellte sich vor die Leinwand und spielte wieder die Lehrerin, aber diesmal die ratlose. Fragend schaute er mich an und wir alle schauten fragend zurück. „Na?“

„Ähem!“, sagte Kubelka endlich in die schon etwas unangenehme Stille hinein. „Mal ganz abgesehen davon, dass es sich bei dem Film um einen Akt kultureller Aneignung handelt, da sowohl die beiden weiblichen Darstellerinnen als auch der männliche Hauptdarsteller, wie ich vermute, selbst keine Eskimos, die wiederum eigentlich Inuit genannt werden wollen, waren, sieht dieser Film für mich aus wie ein erster Versuch, wenn du mich fragst, wie ein erstes Herantasten an die Filmkunst gleichermaßen wie an das damals noch junge Subgenre des Feministinnenpornos. Es geht darin, so scheint es mir, um … äh … Selbstermächtigung und ein Narrativ, das dahingehend lautet: Seht her, es ist gar nicht so, dass der Weihnachtsmann die leckeren Kekse haben will, er will eigentlich lieber die schwere Jause, sprich: Tradierte Schönheitsideale wie Schlankheit und muskulöse Schenkel gelten nicht mehr, auch das Fett hat seinen Platz in der Welt, und Eskimokönigin kann daher auch eine werden, die fett ist. Sie braucht dann auch auf den Weihnachtsmann und dessen Bedürfnisse keine Rücksicht mehr zu nehmen, denn der hätte ja wohl gerade um diese Zeit des Jahres auch anderes zu tun, als diesen Fleischberg zu pimpern. Nachsatz: Dass der Weihnachtsmann in einem Feministinnenporno eine so tragende Rolle spielt, dass ihm quasi die Wahl der wahren Eskimokönigin obliegt, finde ich, nebenbei bemerkt, nicht so feministisch. Willst du noch hören, was ich zur Kameraarbeit zu sagen habe?“

„Darauf scheiß ich!“, sagte Willi.

„Also mir hat der Film eigentlich ganz gut gefallen, die Rothaarige besser als die Dicke“, sprach dann Guttmann, dem eigentlich immer alle ganz gut gefielen, aber die Rothaarigen besser als die Dicken. „Was ich mich allerdings frage, ist, wo denn die anderen Männer waren in diesem Eskimodorf? Waren die vielleicht beim Walfang?“

Und Willi sagte: „Verdammter Idiot!“

Da rempelte Fink seinen Ellenbogen in Lemmys Rippen, sodass der nun endlich aufwachte und „Wo bin ich?“ rief.

„Im Kino!“, schrie Willi zurück, aber da schlief Lemmy schon wieder, das Zeug, das er rauchte, war wohl mit einem schweren Amboss verschnitten.

Blieb also nur noch Fink selbst übrig, der sich bisher zum Film nicht geäußert hatte, es aber nun tun wollte: „Also, ich fand eigentlich recht gut, wie sie das mit den Iglus gemacht haben. Das Styropor, das sie als Schneeziegel verwendet haben, sah für mich sehr überzeugend aus. Mich würde interessieren, wie sie das zum Schmelzen gebracht haben, irgendwer eine Idee?“

Aber wir alle schwiegen, weil keiner eine Idee dazu hatte.

„Und du?“, wandte sich Willi schließlich an mich. „Was hast du gesehen?“

„Na ja“, sagte ich. „Die Dicke war nicht rasiert, das fand ich nicht so gut, ich finde immer besser, wenn sie rasiert sind wie die Rothaarige, und die hatte auch ein sehr süßes Muttermal oberhalb der Lippe.“

Alle nickten, außer Kubelka, der die Ladys immer lieber à la nature vernaschte, wie er oft sagte, und dem das Muttermal gar nicht aufgefallen war.

Das aber genügte Willi nicht. Er kam langsam näher, und bald drang sein abgestandener Atem in jede Falte meines abgestandenen Gesichts.

„Und was hast du noch gesehen mit deinem verdammten Private Eye?“

„Na ja“, sagte ich. „Wenn du mich schon fragst, dann wurde diese Eskimokönigin meiner Meinung nach von einer dicken Deutschen gespielt, die lispelte.“

„Von einer Deutschen also, die lispelte?“, schrie er mich an.

„Von einer dicken.“

„Von einer dicken Deutschen also, die lispelte?“, wiederholte Willi schon einigermaßen genervt. „Und hast du vielleicht auch gesehen, was sie gemacht hat?“

„Na ja“, fragte ich ein wenig bescheuerter, als ich eigentlich war. „Ließ sie sich nicht im Iglu pimpern?“

„Genau das tat sie!“, schrie er. „Aber hast du nicht auch gesehen, von wem sie sich pimpern ließ?“

Seine Nase stieß nun bereits an die meine, und mit seinen dürren Händen hatte er mich an beiden Schultern gepackt und rüttelte mich ordentlich durch. Ich drehte mich hilfesuchend zu meinen Kumpels um, aber die zuckten alle nur ahnungslos mit den Schultern.

Hatte es außer mir tatsächlich keiner gesehen?

„Na ja“, ließ ich es endlich raus. „Der Weihnachtsmann hat sich ja auf seine gewaltig dimensionierte Zunge gestützt, als er sich mit gebrochenem Fuß durch den Wald schleppte, sodass ich mich frage, ob es nicht vielleicht Jack Schleck war, der die dicke Deutsche gepimpert hat, anstatt sie zu schlecken, wie es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre, in einer sehr frühen Rolle, als er noch John Porn hieß?“

***

Nun war es Ende Oktober geworden und morgen war Allerheiligen. Das schüchterne Azorenhoch des zurückliegenden Sommers hatte endgültig den Schwanz eingezogen, jedenfalls bliesen die Eismänner aus Norden herunter, von dort her, wo der Weihnachtsmann abgestürzt war, und die Eiszapfen drängten freudig in meine Bude herein. Langsam wurde es Zeit, dass mir der Vermieter neue Fenster einbaute, denn die alten hielten weder den Lärm noch den Gestank draußen und schon gar nicht die Kälte. Leider hieß mein Vermieter Lemmy, und der war meistens so zugedröhnt, dass er gar nicht mehr wusste, dass er mein Vermieter war. On the upside: Genau deswegen vergaß er auch immer, mir den Zahlschein für den monatlichen Zins in den Postkasten zu legen, denn wo mein Postkasten war, das wusste er auch schon lange nicht mehr.

Gegen die Kälte wappnete ich mich mit Schokoriegeln. Ich hatte mir beim Diskonter einen Karton davon besorgt, und schon wieder griff ich hinein. Während ich den nächsten Riegel futterte, fasste ich mir nachdenklich an die sehr ordentliche Wampe, die ich mir seit dem Sommer angefressen hatte, und ermahnte mich zur Vorsicht: Noch ein paar nächtliche Fressattacken und du wirst dreistellig sein – und meine Wohnung im ersten Stock von Lemmys Haus, die zugleich mein Büro war, zu erreichen, würde dadurch natürlich nicht leichter werden.

Die Narbe an meiner Stirn, über die ich nun strich, stammte von Dirty Willis goldenem Dupont-Feuerzeug, das er nach mir geworfen hatte, kaum dass ich erwähnte, dass wohl sein alter Kumpel Jack in einer frühen Rolle als John Porn diese Kitti Natale gepimpert hatte. Dabei war er auf und ab gehüpft wie ein Rüttler auf der Straße, bevor er sich auf dem Boden wälzte wie ein verlauster Hund in der Wiese. Natürlich hatte der Film sich auch für mich wie Verrat angefühlt, schließlich war es Jacks fantastische Zunge, der er, in der Rückschau, seine große Karriere verdankte, und nicht sein durchschnittlicher Lümmel. Und gewiss konnte man sich fragen, warum er nicht sofort auf die leckere Rothaarige draufgesprungen war, aber das stand dann vermutlich so im Drehbuch. Also kein Grund, mir deswegen den halben Schädel wegzuschlagen! Schließlich war ich doch sein Freund.

Nicht mehr ganz so elastisch wie noch im Sommer schälte ich mich endlich aus den Federn und dachte dabei ein bisschen an die Rothaarige mit ihrem süßen Muttermal. Seltsam, dass ich immer noch scharf auf sie war, obwohl der Film doch 1971 gedreht wurde. Wie sie wohl heute aussah? Das fragte ich mich, als ich zu den Fenstern meiner Wohnung watschelte, die oberhalb der Biomülltonnen des Brunnenmarkts lag. Dort stopfte ich noch ein paar Zigarettenstummel zwischen Fensterstock und Fensterrahmen, um die Dichtung zu verstärken, aber das nützte natürlich auch nichts mehr. Der Lärm der vorbeiziehenden Autos hämmerte gegen meinen Kopf, denn da draußen lagen überall Pflastersteine, auf denen sie fuhren, und die Autos darauf wurden immer schwerer und die Reifen immer breiter. Neun von zehn Drogenfreaks aus den umliegenden Bobobezirken, die bei Lemmy ihr Origano Speziale oder Vaya Con Dios kauften oder sein neues Kraut Truth or Lie, setzten sich in ihre tonnenschweren SUVs und fuhren zu uns heraus, anstatt mal die paar Meter zu Fuß zu gehen. Hier in der Vorstadt angekommen, drehten die Opas, die allesamt in Kunst, Medien und freien Berufen tätig waren, dann um Lemmys Haus herum ihre Runden, bis sie endlich eine Lücke zum Einparken fanden. Dort ließen sie den Motor laufen und blieben erst mal ein paar Stunden lang in ihren Monstern sitzen und spielten mit ihren Handys, weil ihre vom vielen Kiffen weiche Birne ganz vergessen hatte, wo sie überhaupt waren und was sie hier überhaupt wollten. Kubelka hatte mir mal erklärt, was mit denen los war: „Ihre Autos sind ein einziger Schrei nach Liebe!“

„Glaubst du nicht, dass sie einfach ein gewaltiges Schwanzproblem haben?“, hatte ich geantwortet.

„Das sicher auch!“

Kreiste nun also seit Wochen dieser Chevy Bel Air Impala mit 5,7-Liter-Big-Block-Achtzylindermotor um meine Bude, und nicht selten parkte sich der Schwanzpatient darin genau vor meinem Fenster damit ein und schickte ordentliche Abgaswolken zu mir herauf. Mir reichte es langsam. Ich schrie hinunter: „He, du Schwanzpatient! Dreh gefälligst deinen scheiß Motor ab!“

Aber der lehnte sich nur aus seiner Kiste heraus und schrie breit grinsend zu mir herauf: „Du bist wohl für die Verstädterung des Dorfes! Äh, ich meine natürlich für die Verdorfung der Städte?“

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, schloss das Fenster und sprang zurück in die Kiste. Dort drehte ich das Nachmittagsfernsehen auf und schaute den Sender Gosse24, in dem mein Freund Laszlo die How low can you go Show moderierte.

Laszlo stammte ursprünglich aus Ungarn und gehörte zur sympathischen Gruppe der Mađarski Cigani, was man ihm auch ansah: zwei klassische Kastanien als Augen; das ebenso klassische schwarze Rosshaar mit reichlich Brillantine an den Schädel geklebt; eine stets schwarze Anzughose mit breitem Gürtel und fetter Schnalle um die Hüfte; darüber ein stets schwarzes, weit geöffnetes Hemd über der ordentlichen Wampe und oberhalb der Wampe auf der behaarten Brust und an den Fingern reichlich Gold.

Er sah gut aus!

Im Sommer saß er untertags in seiner knapp geschnittenen schwarzen Badehose, in der sich sein mächtiger Lümmel bog, im Garten und genoss sein Leben mit Sonne, Schnaps und Lederschwulen, und in der Nacht zeigte er in seiner Show Filmchen über Leute, mit denen es nicht mehr weiter bergab gehen konnte. Allerdings hatte er seine eigene Show mittlerweile so weit in den Dreck geritten, dass sie knapp vor der Absetzung stand, und das wollte etwas heißen bei einem Sender, der vor allem aus dem Klo heraus sendete. Sein reicher Boss, der sich mit einem klebrigen Eierlikördrink namens Yellow Egg, für den er das Rezept aus dem Sudan mitgebracht hatte, dumm und dämlich verdiente, drohte ihm schon mit der Absetzung.

„Ich brauche mal wieder ein paar richtig gute Filme!“, jammerte er mich also ständig voll. „Ein paar Hits, die sich auch die Jungen auf YouTube anschauen! Hast du nicht gute Leute für mich?“

***

Einer, den ich ihm vielleicht anbieten konnte, rief mich dann an: „Superschnüffler Rock Rockenschaub löst auf alle Fälle alle Fälle, was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin’s, Gutti.“

Es war Guttmann der Bulle, der die letzten dreißig Jahre bei der Abteilung Mord-West ermittelt hatte. Wegen einer Lappalie (er hatte einem von uns ein paar Kartons voll mit Russenschnaps plus drei riesige Umzugstaschen voll mit sichergestellten geschmuggelten Zigaretten aus der Asservatenkammer zukommen lassen, was, wie gesagt, eine Lappalie ist, gegen die sein Anwalt Beschwerde eingelegt hatte mit hoher Aussicht auf Erfolg) war er vor zwei Monaten zum Patrouillendienst auf den Straßen Favoritens versetzt worden, wo sich die härtesten Straßen der Stadt befanden: „Ey, Brudi, willst du Watsche mit Fuß?“ – solche Leute. Als Gutti von seiner Versetzung per Telefonanruf erfahren hatte, knapp nach Dienstschluss (oder doch drei Stunden davor?), war er mit uns am Tisch in Jolandas Gulaschbude Hard & Heavy gesessen und hatte gerade den fünften Teller von Jolandas Feinstem gelöffelt: ihr leichtes, bekömmliches Herbstgulasch, das sie bis Anfang Oktober auf den Speiseplan setzte für die Tage, an denen der Mensch auch sonst noch genug Wärme tankte, sodass er die Wärme nicht ausschließlich über Jolandas Gulasch aufnehmen musste (danach hatte sie dann für die langen Wintermonate Jolandas Schärfstes auf der Karte, von dem ein Teller genügte, um einen als kleines Heizkraftwerk durchgehen zu lassen). Gutti mochte ihr Gulasch wirklich, aber Jolanda selbst mochte er noch mehr, ebenso wie Fink, und beide machten sich ewige Hoffnungen, dass sie den Zustand ihrer ewigen Einsamkeit beenden möge. Sie aber hatte die Menopause längst hinter sich und die Schnauze insgesamt voll von uns Männern, nur ich kriegte hin und wieder noch einen heruntergerubbelt hinten in ihrer Küche, wenn ich ihr dort beim Paprizieren half. Aber davon sagte ich Gutti und Fink natürlich nie etwas, denn Freunde mussten schließlich nicht alles wissen.

Guttmann sagte: „Wir müssen reden!“

Eine halbe Stunde später saßen wir schon wieder alle bei Jolanda in der guten warmen Stube, wo sie einen ordentlichen Schwedenofen pollern ließ. Den Tisch gleich daneben hatte sie immer für uns reserviert, als Gegenleistung trugen wir ihr das Brennholz herauf aus dem Keller.

Diese verdammte Gaskrise!

Dort saßen wir nun also wieder, tranken Bier und aßen Jolandas Schärfstes, und ich aß dann gleich noch eines.

Woher mein Hunger?

„Du willst Liebe!“, sagte Kubelka. „Aber deine latente Bindungsangst lässt sie dich nie erfahren.“

„Ach, leck mich doch am Arsch mit Liebe und dem anderen Scheiß!“, sagte ich. „Ich will meine Ruhe!“

Gutti war noch immer schön durchgefroren vom Straßendienst in Favoriten, und bevor er mit mir redete, wollte er wissen: „Was machen denn die anderen alle hier?“

Er meinte Fink, Kubelka und Lemmy, die auch mit uns am Tisch saßen. Fehlte eigentlich nur noch Willi, aber der ging ja seit letztem Sommer kaum mehr aus dem Haus.

„Na ja“, sagte ich. „Wolltest du nicht reden?“

„Ja, mit dir!“

Mir war, als hätte ich Ähnliches schon mal gehört.

„Na gut, aber dann musst du mir das halt sagen!“

Wo wir nun aber schon mal alle um den Tisch herumsaßen, tischte Guttmann uns allen die neueste Neuigkeit auf: „Schon mal vom EU-Gipfel gehört?“

„Ist das das, wo sie über krumme Gurken reden?“

„Genau. Und damit ihnen dabei nicht langweilig wird, werden sie das heuer in unserer schönen Stadt machen, denn bei uns gibt es Schnitzel und Sachertorte.“

„Und Gurkensalat“, sagte Fink, der Gurkensalat wirklich liebte.

„Aber das ist doch großartig“, sagte ich. „Das belebt die Wirtschaft! Und wenn es der Wirtschaft gut geht, dann geht es uns allen gut!“

Wir kriegten uns alle kaum mehr ein vor Lachen, denn: Wer diesen Spruch mal erfunden hatte, den würden wir gerne mal kennenlernen! Und den, dem „Wir schaffen einen neuen Mittelstand“ eingefallen war, gleich mit dazu.

„Einerseits großartig, andererseits auch nicht“, sagte Gutti. „Denn wo viele Wichtige sind, da sind mindestens ebenso viele, die sie in die Luft sprengen wollen.“

„Und was geht’s dich an?“, fragte ich.

„Na ja“, sagte er kleinlaut. „Der Innenminister hat mich zum Sicherheitsbeauftragten für das Abendessen der Wichtigen ernannt, und es findet schon übermorgen statt.“

„Aber Abendessen klingt doch großartig!“, sagte ich. „Da kommen wir einfach alle mit!“

Wo doch die Lebensmittelpreise auch immer weiter anzogen!

„Das ist alles, was dir dazu einfällt?“, fragte er.

„Fürs Erste: Ja.“

Aber halt!

Dann fiel mir doch noch etwas ein: „Mit dir geht’s echt ganz schön bergab!“

Zwar hatte Gutti sich, so die Spatzenpost, auf den Straßen Favoritens ganz gut geschlagen. Denn immer, wenn ein paar Halbstarke auf ihn zukamen, um ihn zu töten, zu schlagen, zu überfallen oder einfach nur zu verarschen, weil er in seiner engen Uniform aussah wie Chief Wiggum aus den Simpsons, ließ er einen panischen Schrei heraus, der ihnen die Eier in den Arsch drückte oder auch mal ganz hinunter zu den Schuhsohlen zog. Jedenfalls spürten sie ihre Eier dann nicht mehr so richtig, und ohne das Gefühl für ihre Eier lief bei den Halbstarken da draußen rein gar nichts. Die Verbrechensrate im Bezirk war also rückläufig, womit niemand gerechnet hatte, aber ob wegen Guttis Schreien oder nicht, war letztlich schwer zu sagen. Beweisen konnte man es nicht, jedoch hörte man manchen seiner Schreie bis zu uns herüber. Dass er nun aber für die Sicherheit bei diesem Abendessen verantwortlich sein sollte, das war noch einmal eine Stufe tiefer als der Straßendienst in Favoriten!

Ich rauchte meinen Joint zu Ende, und dann sah ich plötzlich mit meinem inneren Auge Folgendes: „Das bist du aber vom Typ her einfach überhaupt nicht, dass du Verantwortung übernimmst!“

Und alle nickten zustimmend, sogar Guttmann, denn er wusste ja selbst am besten, dass er ein Sack im Wind war, ein Fetzen, den man auswinden konnte, ein hohler Baum, in dem sich Kleintier gemütlich einrichten konnte. All das war er, nur kein Stück Eisen, das man gegen irgendwelche Angreifer stellen konnte.

„Also?“, sagte Kubelka.

„Ja?“, fragte Gutti.

„Was meinst du genau?“, mischte sich nun auch Fink ein.

„Wenn nicht gerade 1. April ist, und wir sind am Vortag des 1. November denkbar weit entfernt vom 1. April“, fuhr ich fort, „dann verarschen die dich entweder oder sie wollen dich für irgendetwas benutzen!“

Das interessierte nun wieder Kubelka: „Meinst du das jetzt sexuell?“

Ich konnte sehen, wie er überlegte, darüber ein Buch zu schreiben.

„Ich meine es natürlich nicht sexuell!“, sagte ich entschieden. „Sieh ihn dir mal an! Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass irgendeine Frau ihn sexuell für irgendetwas benutzen möchte! Aber wenn unser rechtsextremer Innenminister persönlich einen wie Gutti zum Verantwortlichen für das Staatsbankett der Regierungschefs macht, dann kann er damit nicht deren Sicherheit garantieren wollen, sondern …“

Ich machte eine Pause wie Cäsar früher im Zirkus, bevor er den Arm ausfuhr und den Daumen nach unten oder nach oben drehte, je nachdem, ob ihm der Gladiator gefiel oder nicht.

Alle fragten: „Sondern was?“

Ich überlegte. Mir fiel nichts mehr ein. Aber da mich alle so fragend anschauten, sagte ich halt: „Das genaue Gegenteil!“

Es trat eine unangenehme Stille ein, die plötzlich den Druck spüren ließ, der auf Gutti lastete. Kann natürlich auch sein, dass ich einfach den „Druck weitergab“, wie Kubelka das immer nannte, weil ich immer noch den Druck von Willi aus dem Sommer spürte.

„Dann wäre Gutti wie ein Konditor, dem der rechtsextreme Innenminister seine Torte abkauft, aber nicht, weil er sie essen will, sondern weil er kotzen möchte?“, fragte Kubelka.

Ich überlegte wieder kurz und sagte: „Was?“

Am meisten litt natürlich Gutti darunter, dass er benutzt werden sollte, denn das war schon verdammt demütigend. Er hätte es sich am liebsten einfach gemacht, sich draußen in die Mitte irgendeiner Kreuzung gestellt und sich von einem Auto überfahren lassen – Sargdeckel drauf, und sollte die Erde sich doch mit ihm unter der Erde weiterdrehen! Ich holte also ein paar Stück Würfelzucker heraus, die ich für den Fall der Fälle immer mit mir in der Hosentasche trug, und legte sie ihm hin wie einem Pferd. Er griff danach, schluckte sie gierig und sah dann gleich wieder besser aus.

Wir wollten also endlich zum gemütlichen Teil übergehen, da fiel auch Fink noch etwas ein. Er war Griffelschwinger beim Schmetterling