Fallen Kingdom 1: Gestohlenes Erbe - Dana Müller-Braun - E-Book
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Fallen Kingdom 1: Gestohlenes Erbe E-Book

Dana Müller-Braun

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Beschreibung

Können sie sich retten? Oder werden sie sich gegenseitig zerstören?   Navien ist eine Heroe mit dämonischem Blut, dazu verdammt, das eigene Leben für ihre Schwester und Thronerbin Aviell zu opfern. Als das Fürstentum angegriffen wird, schlägt Naviens Stunde: Sie verhilft ihrer Schwester zur Flucht und schlüpft in deren Rolle. Getarnt als Prinzessin lernt sie die übrigen Reiche kennen, in denen die Fürsten der sieben Todsünden herrschen. Schnell merkt sie, dass nichts, was sie über ihr Leben und ihre Welt zu wissen glaubt, wahr ist. Als wäre das nicht schon genug, begegnet sie Aviells Verlobtem Taron – und dem undurchsichtigen Liran. Navien weiß, dass sie in dieser gefährlichen Welt ihr Geheimnis bewahren muss. Aber je länger sie am fremden Hof weilt, desto stärker fühlt sie sich zu Liran hingezogen. Doch wenn sie sich auf ihn einlässt, ihm vertraut, wird das ihr Untergang sein.   Knisternd, dunkel, fesselnd: »Gestohlenes Erbe« ist der erste Band einer Dilogie voller dramatischer Action, grandioser Twists und einer starken Heldin mit großen Gefühlen. Die New Adult Romantasy ist kein Standalone und spielt in einer düsteren Welt mit tödlichen Intrigen, lauernden Gefahren und prickelnden Beziehungen.

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Dana Müller-Braun

Fallen Kingdom

Acht Reiche, sieben Todsünden und nur eine Wahrheit

In Jaraskai herrschen seit jeher die Fürsten der sieben Todsünden. Nur ein Fürstentum – das Reich der Wahrheit – wurde geschaffen, um ihre Macht einzudämmen. Als dieses angegriffen wird, ist es Naviens Pflicht, ihre jüngere Schwester zu schützen. Denn als Heroe von dämonischem Blut muss sie ihr Leben für das der Thronerbin geben. Ohne zu wissen, welcher der Fürsten den Putsch geplant hat, gibt sie sich als Prinzessin aus und verhilft so ihrer Schwester zur Flucht. Doch ausgerechnet einer der Fürsten bringt nicht nur Naviens Herz, sondern auch ihre Pläne aus dem Takt. Denn der hochmütige Liran scheint ihre wahre Identität zu kennen …

Wohin soll es gehen?

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Vita

© privat

Dana Müller-Braun wurde Silvester ’89 in Bad Soden im Taunus geboren. Geschichten erfunden hat sie schon immer – Mit 14 Jahren fing sie schließlich an ihre Fantasie in Worte zu fassen. Als das Schreiben immer mehr zur Leidenschaft wurde, begann sie Germanistik, Geschichte und Philosophie zu studieren. Wenn sie mal nicht schreibt, baut sie Möbel aus alten Bohlen, spielt Gitarre oder verbringt Zeit mit Freunden und ihrem Hund.

Für meine Mama

PROLOG

ZWANZIG JAHRE ZUVOR

Die Schreie der Fürstengattin hallen durch die Palastgänge. Ihre Amme hat mir eingebläut hierzubleiben. Vor der Tür zu warten, bis ich meine Aufgabe erfüllen kann.

Wieder diese ohrenbetäubenden Schreie im Gleichtakt mit dem Donner und dem Regen, der gegen die riesigen Fenster des Palastes der Wahrheit prasselt. Kurz zucke ich zusammen und werfe einen Blick auf den Heroer, der mir gegenübersteht. Ich weiß, dass sein Name Nath ist, auch wenn er kaum spricht. Er ist der Heroer des Fürsten. Genau genommen handelt es sich um seinen älteren Bruder. Der Erstgeborene. Aber so wie das Kind, das die Fürstengattin gerade zur Welt bringt, sind die Erstgeborenen immer von dämonischem Blut. Sie sind das Resultat der Erbsünde. Denn die Götter haben einen Fluch über all die Fürstenfamilien gelegt, die vor Tausenden von Jahren aus der Unterwelt hinauf auf die Erde stiegen. Erst der Zweitgeborene wird wirklich als Kind und damit Thronerbe anerkannt, da er nichts Dämonisches in sich trägt. Und doch sind die Seelen der Geschwister unweigerlich miteinander verbunden.

Ein weiterer Heroer betritt den schmalen Gang vor dem Schlafgemach der Fürstengattin. Er ist noch jung, gerade einmal sieben Jahre, aber er strahlt bereits mehr Stärke aus, als ich es mit meinen siebzehn Jahren kann.

»Warum schreit Schwägerin Everline?«, fragt er mit schief gelegtem Kopf und sieht Nath an, der erst ganz starr bleibt, dann tief durchatmet, bevor er ihm mit der flachen Hand gegen sein Ohr schlägt.

»Sie ist nicht deine Schwägerin!«, knurrt er und plötzlich trifft mich sein düsterer Blick.

Ich senke sofort den Kopf. Natürlich ist sie seine Schwägerin. Ich weiß das und sie wissen es auch. Doch der kleine Heroer, Marec, ist der Drittgeborene des ehemaligen Fürsten, der vor drei Jahren gestorben ist, und somit wieder ein Dämon. Denn bevor ein normales Kind zur Welt kommen kann, muss immer erst ein Dämon geboren werden. Etwa so, als würden sie das Kind, das nach ihnen kommt, von allen Sünden befreien. Zuerst wurde Nath geboren, dann unser Fürst, danach Marec und schließlich Andrews, der als einzig wahrer Bruder des Fürsten gilt und somit der Duke unseres Fürstentums ist. Nath und Marec sind zwar ebenfalls seine Brüder, aber Dämonen gehören rein rechtlich nicht zur Familie.

Marec wird das noch lernen müssen. Er ist allein. Dazu bestimmt, ein Leben zum Schutze seines kleinen Bruders, des Dukes, zu führen. Und vielleicht wird er irgendwann vergessen, dass eigentlich auch er ein Teil dieser Familie ist.

Ich schließe die Augen, als die Fürstengattin wieder so laut aufschreit, dass die Fackelhalter an den Wänden erbeben. Der Wind pfeift durch die undichten Fenster und verursacht mir Gänsehaut am ganzen Körper.

Erneut sehe ich zu Nath und er wagt ebenfalls einen flüchtigen Blick auf mich. Mein Herz stolpert. Dieser Heroer hat schon immer eine Art Anziehung in mir ausgelöst. Aber wir wissen beide, dass wir niemals zusammen sein könnten. Ich würde ausschließlich dämonische Kinder zur Welt bringen, und sie würden sofort getötet werden, weil ich keine Adelige bin, die ein Recht auf einen Heroer oder eine Heroe hat. Sie werden ausgebildet, um den Adeligen zu dienen. Genießen sie diese Ausbildung nicht, sind sie viel zu gefährlich.

»Kessedi, es ist so weit!«, ruft die Amme hinter der Tür und sofort eile ich in das Gemach.

Die Fürstengattin liegt auf einem Bett aus dunklem Edelholz, angelehnt an Dutzende purpurne und goldene Kissen. Cuminfarbene Vorhänge ummanteln die Balken, die bis hinauf zur Decke reichen. Schweiß rinnt der wunderschönen Fürstengattin über die Stirn. Sie ist leichenblass und vor ihren Beinen ist das Laken blutgetränkt. Und dann fällt mein Blick auf das kleine Baby in den Armen der Amme.

»Es ist ein Mädchen, Euer Gnaden«, flüstert sie, als würde sie eine schlechte Nachricht überbringen. Und ja, das ist tatsächlich so, denn eine Frau darf kein Fürstentum übernehmen. Das heißt, dass die Fürstengattin zuerst noch ein Mädchen ohne dämonisches Blut zur Welt bringen wird und danach versuchen muss, einen Thronerben zu gebären. Und vor ihm seinen Heroer. Das ist der Lauf der Dinge. Die Natur. Es werden immer zwei Kinder desselben Geschlechts nacheinander geboren.

»Lasst sie mich sehen«, stößt die Fürstengattin hervor, als die Amme das Bündel in meine Hände legt. Ich zögere, doch die ältere Frau schüttelt den Kopf.

»Euer Gnaden, das da ist nicht Euer Kind. Es ist ein Dämon!«, wiegelt sie ab, aber die Fürstengattin beginnt zu schluchzen und beugt sich zu mir vor. Greift vergeblich nach mir und dem Mädchen.

»Lasst sie mich sehen!«, schreit sie nun voller Verzweiflung. »Sie ist mein Kind!«

»Das ist sie nicht!«, knurrt die Amme und umklammert das Symbol unseres Glaubens an ihrem Hals. »Sie ist ein Dämon!«, sagt sie dann nachdrücklicher.

Die Fürstengattin beginnt bittere Tränen zu vergießen und in diesem Moment entscheide ich mich, auf sie zuzugehen. Die Amme flucht. Aber das hier vor mir ist meine Fürstengattin und ich bin ihr verpflichtet. Ich lasse das Kind nicht los, halte es jedoch vor sie. Weitere nasse Perlen strömen aus ihren Augen, während sie ganz zart über die rosige Haut des kleinen Mädchens streicht.

»Ich nenne dich Navien«, flüstert sie, beugt sich vor und küsst das Baby, bevor sie zurück in ihre Kissen sinkt.

Die Amme zischt wieder und ich wende mich ab.

»Nein!«, schreit die Fürstengattin. »Bring sie zurück!« Ihre Stimme ist so gebrochen. So voller Trauer, dass auch mir Tränen über die Wangen laufen.

»Los!«, befiehlt die Amme.

Ich sehe noch, wie die Fürstengattin hinter mir aus dem Bett rutscht, doch sofort zu Boden fällt. »Bringt sie mir zurück!« Ihre Stimme lässt mich erschaudern. Mein Herz will ihr das kleine Mädchen in die Arme legen. Aber das hier ist meine Aufgabe. Ich muss das dämonische Kind in die Obhut von Abt Rejan und seinem Orden geben, damit sie es großziehen, bis es ausgebildet werden kann. Also renne ich los. Renne und renne, bis die Schreie der Fürstengattin hinter mir verstummen.

KAPITEL 1

Die Buchstaben vor mir auf der Seite verschwimmen. Sie sirren in meinen Ohren, bevor sie sich zu einem Satz zusammenfügen. In einer Sprache, die nur wir Heroe verstehen.

»Sagt, was seht Ihr?«

Abt Rejan ist der Einzige, der mich mit der majestätischen Anrede anspricht. Und er weiß genauso gut wie ich, dass es sich nicht ziemt. Dass ich, obwohl ich die Erstgeborene des Fürsten bin, keinen Adelstitel trage – tragen darf – und deshalb geduzt werde. Doch in dem dunklen Studierzimmer seines Ordens sind wir unbeobachtet. Da sind lediglich die gigantisch hohen Regale voller Bücher, die wenigen Fackeln und Kerzen, die den Raum in ein geheimnisvolles Licht tauchen, und der alte Schreibtisch, an dem ich sitze.

Ich schlucke schwer und beginne mich zu konzentrieren. Wenn ich nach meinem Verstand gehen würde, wären das hier nur seltsam aneinandergereihte Worte, die keinen Sinn ergeben. Aber mein Geist kann sie lesen. Sie erfassen und verstehen. Heute stammen sie aus dem 134. Buch der Apokryphen, das ich für ihn übersetze. Schriften über die Unterwelt und die Lichtwelt. Ihre Geschichte, die ausschließlich Wesen mit dämonischem Blut entschlüsseln können. Ich weiß nicht, was der Abt und die Fürsten darin zu finden hoffen. Doch es muss etwas sehr Wichtiges sein, denn neben mir werden auch all die anderen Heroen dazu gezwungen, die Apokryphen zu lesen.

Kurz schließe ich die Augen und fahre die Zeilen vor meinem inneren Auge noch einmal entlang.

»Du, der du geboren bist, um Heil zu bringen«, flüstere ich, um meine Kraft nicht abzulenken, »bist erwählt zu schützen, was die Sünden zu zerbersten drohen.«

Ich stocke, als die nächsten Zeilen in meinem Geist erscheinen, und öffne die Augen. Nun kann ich sie auch deutlich vor mir geschrieben sehen. Als Erste geboren, als Zweite gesühnt. Verbunden durch Seelen, den Schmerz nicht gespürt. Der Tod wird dich suchen, doch findet er dich nicht. Denn dein ist die Herrschaft, versunken in Licht.

Schmerz flammt in meinem Kopf auf.

»Heroe«, brummt der Abt ungeduldig. Aber etwas in mir hindert mich daran, ihm diese Worte zu nennen. Als hätten sie die Kontrolle über meinen Körper. Als würden sie sich materialisieren und mit ihren verheißungsvollen Händen meine Kehle zudrücken.

»Ich kann nicht«, bringe ich hervor und keuche vor Schmerz.

»Ihr könnt nicht?«, hakt Rejan nach und durchbohrt mich mit seinen glasigen grünen Augen, als ich hinaufschaue. »Ihr könnt nicht oder Ihr wollt nicht? Sprechen die Worte wieder mit Euch, Navien?«

Meine Lider zucken. Rejan benutzt immer dann meinen Namen, wenn er etwas will. Wenn er Vertrauen in mir auslösen will, um an Informationen zu kommen. Und sonst erzielt er damit auch genau diese Wirkung. Nur heute nicht. Diese Apokryphe hat mehr Macht über mich als die Vertrautheit, die Rejan in mir hervorruft. Und das muss schon etwas heißen, denn seit ich fünf Jahre alt bin, sitze ich hier jeden Tag mit ihm zusammen und übersetze Texte, von denen es Tausende gibt und die er nicht imstande ist zu verstehen. Der Abt war jedoch stets gut darin, mir ab und zu kleine Geschenke mitzubringen. Süße Speisen oder Puppen, die ich sonst nicht haben durfte. Und wenn ich nicht gehorcht habe, dann hat er … Bilder und Schmerzen zucken durch mich hindurch, die ich sofort verdränge.

»Ich kann diese Passage nicht lesen. Als würde sie sich vor mir verschließen«, lüge ich und verziehe entschuldigend den Mund, während Rejan mich immer noch mit Argusaugen beobachtet. Ich spüre es. Er glaubt mir nicht. Aber ich habe längst keine Angst mehr vor seinen Bestrafungen.

»Wir machen morgen weiter«, sagt er dann mit einer Handbewegung, als würde er mich wie ein Insekt verscheuchen. Er ist enttäuscht. Ich habe versagt, und schon habe ich meinen Wert für ihn verloren.

Mein Herz pocht laut und schwer, als ich aufstehe, mich verbeuge und das Studienzimmer verlasse. Selbst als ich die langen steinernen Gänge des Ordens entlanggehe, kann ich kaum atmen. Um mich zu beruhigen, zähle ich die kunstvoll verzierten Säulen, die den Weg zum Schloss säumen, und erst als ich auf dem riesigen grasbewachsenen Platz vor dem Palast ankomme, hole ich tief Luft. Obwohl das Kloster direkt an das Schloss angrenzt, stütze ich meine Hände auf die Oberschenkel und keuche. Was war das? Und warum wollten die Worte nicht vom Abt gehört werden? Schon vorher gab es Apokryphen, die mit mir gesprochen haben oder mir beim Lesen Schmerzen verursacht haben, als wollten sie nicht, dass ich sie ausspreche. Aber das hier war besonders. Als hätten sie mich lieber an ihnen ersticken lassen, als dass ich sie offenbare. Davon habe ich noch nie gehört.

Aber ich weiß schon sehr lange, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen Heroen eine begabte Leserin bin. Spätestens, als ich Kampfeinheiten ausfallen lassen sollte, um zu lesen, war es mir klar. Keine anderen Heroen hier im Fürstentum der Wahrheit werden so oft zum Lesen zitiert wie ich.

»Navien!«, ertönt eine vertraute Stimme.

Ich blinzle, um meine Sicht zu schärfen. »Marec«, gebe ich dann hauchend von mir und sehe hinauf zu dem Heroer des Dukes, dem Bruder des Fürsten. Marec ist nicht viel älter als ich, obwohl er genau genommen mein Onkel ist. Ich denke, dass die Fürstenmutter nicht geplant hatte, noch einmal zwei Kinder zu bekommen, nachdem sie bereits Nath als Erstgeborenen zur Welt gebracht hatte und nach ihm den heutigen Fürsten. Aber es ist ein Gesetz der Natur, dass immer zwei Kinder geboren werden.

»Ist alles in Ordnung? Hat Rejan es wieder übertrieben?« Er legt mir eine Hand auf die Schulter und mustert mich. Seine blauen Augen lösen Vertrauen und Vorsicht aus, was einen Krieg in mir bewirkt. Sollte ich ihm von den Worten erzählen? Nein. Denn ich, als Erstgeborene, als Dämon, als Heroe, weiß besser als jeder Adelige, dass wir den Zweitgeborenen verpflichtet sind. Nicht einfach nur so – nein, es ist viel mehr. Wir sind mental und emotional mit ihnen verbunden. Und ich würde niemals ein Geheimnis vor meiner kleinen Schwester haben. Aviell. Sie ist mehr für mich als lediglich ein Geschwisterteil. Mehr als nur die Zweitgeborene, die als erste Frau den Thron erbt und in ferner Zukunft Fürstin des Reichs der Wahrheit sein wird. Sie ist der andere Teil meiner Seele.

Die Fürsten und Äbte nennen es die Erbsünde. Für mich ist es einfach der Lauf der Dinge. Mein Schicksal als Erstgeborene.

Seit ich klein war, wurde ich dazu erzogen, die wenigen dämonischen Fähigkeiten, die ich nutzen darf, gegen Aviells Feinde zu richten. Ich kann die anderen Heroen in meinem Kopf hören, andere Heroen erspüren und manchmal Absichten von Menschen erahnen. Mehr weiß ich nicht über meine Kräfte.

Aber ich wurde zusätzlich auf menschliche Art im Kampf ausgebildet, um Aviell mit meinem Leben zu schützen. Und genau das würde ich jederzeit tun. Dazu mussten sie mich nicht erziehen. Aviell ist die Liebe meines Lebens. Auch wenn andere meinen, das könnte nur jemand sein, den man fleischlich liebt. Ich sehe das anders. Sie ist alles für mich.

Ich räuspere mich, um mich erneut auf mein Gegenüber zu konzentrieren. »Nein«, sage ich schließlich, denn es war nicht Rejan, der mich in diesen Zustand versetzt hat, sondern die Stimmen der Apokryphe.

Marec nickt, wirkt allerdings nicht überzeugt. »Aviell ist mal wieder der Hysterie verfallen«, redet er dann weiter.

Ich schließe kurz die Augen und suche in mir nach ihrem Gemütszustand, bekomme ihn jedoch nicht zu greifen.

»Bist du deshalb hier?«, erwidere ich und straffe die Schultern.

»Nein«, gibt er zu und kommt einen Schritt näher.

Sofort prickelt mein Körper. Wenn es nach Aviell ginge, würde ich Marec heiraten. Aber da ist nicht nur diese Anziehung, die mich unruhig werden lässt. Da ist vor allem Misstrauen. Und die unumstößliche Tatsache, dass er mein Onkel ist. Obgleich die Fürsten der Meinung sind, wir hätten keine Familie.

»Wir konnten dich hören«, raunt er verschwörerisch.

Verdammt. Ich beiße mir auf die Wange und suche nach einer Erklärung.

»Was konntet ihr hören?«, frage ich fast beiläufig, während mein Körper sich immer mehr anspannt, ich jedoch über die Wiesen und unzähligen bunten Blumen im Schlosspark sehe.

»Es war nicht sehr logisch und es waren auch keine Worte. Eher das Gefühl, etwas zurückhalten zu müssen.«

Ich nicke, weil ich nicht in der Lage bin zu sprechen. Da sich die Heroen gegenseitig in Gedanken hören können, sind wir in der Lage, uns zu warnen, sollte es zu Angriffen auf das Königshaus kommen. Aber ich übe mich schon seit Jahren heimlich darin, nicht alles von mir preiszugeben.

Im Studienzimmer des Abtes war ich nur anscheinend zu abgelenkt, zu bedroht, um mich darauf zu konzentrieren, meinen Geist vor den anderen Heroen zu verschließen. Und so, wie ich Nath kenne, den Heroer des Fürsten, hat er ihm längst mitgeteilt, dass von mir ein Gefühl des Zurückhaltens ausgegangen ist. Und das erklärt auch, warum Aviell wütend ist. Wahrscheinlich hat der Fürst nach mir schicken lassen. Und noch wahrscheinlicher ist, dass er mir morgen bei der Lesestunde Nath zur Seite stellen wird, damit er meine Gedanken mitliest. Verflucht sei er.

Mein Blick wandert über die riesige Grünanlage bis hin zum majestätischen Schloss. Die Gärten des Palastes wurden nach den Vorstellungen der Fürstengattin errichtet. Ihr Geschmack ist makellos. Alles hier sieht friedlich und sonnig aus. Die vielen bunten Blumen, die akkuraten Sträucher und Wege. Die Krönung des Ganzen ist allerdings ein riesiger Springbrunnen, der sich vor dem Eingang befindet und den ein Steinmetz zu Aviells Geburt angefertigt hat. Er stellt eine Frau dar, eine Hand auf der Brust, die andere, aus der das Wasser fließt, in die Höhe gereckt. Es soll Aviell abbilden, und ich bin immer aufs Neue verwundert, wie gut sie getroffen wurde, obwohl sie damals noch nicht einmal geboren war.

Als ich wieder einmal begreife, wie unterschiedlich meines und Aviells Leben sind, sehe ich zu Marec, der genau wie ich die schwarze Kampfkleidung der Heroen trägt. Hose, Oberteil, Stiefel. Es spiegelt uns wider. Unsere Identitätslosigkeit. Aber es ist nicht so, als würde ich es beklagen, eine Heroe zu sein. Mir ist sehr früh klar geworden, dass ich niemand bin. Dass ich keine Familie habe. Dass man mich schlagen und behandeln darf, als wäre ich Vieh. Das wusste ich schon mit sechs Jahren. Und sollte ich es einmal vergessen, haben die Menschen genug Narben auf meinem Körper hinterlassen, um mich immer wieder daran zu erinnern. Ich schüttle den Kopf und damit die Gedanken ab.

»Ich gehe zu Aviell«, brumme ich und will mich abwenden, doch Marec hält mich noch einmal zurück. Seine Berührung brennt sich regelrecht in meinen Arm.

»Sie ist beim Fürsten.«

»Ich weiß«, gebe ich zurück und reiße mich los. Heroen und ihre Schützlinge teilen ein untrennbares, starkes Band. Allerdings ist mir bisher niemand mit einer Verbindung begegnet, die auch nur im Ansatz der von Aviell und mir gleicht. Manchmal ist es so, als wären wir ein und dieselbe Person.

Schnellen Schrittes marschiere ich den Kiesweg entlang, auf den riesigen weißen Palast mit all seinen kleinen Erkern und Türmchen zu. In der Sonne schimmert er, als wäre das hier das Reich des Himmels. Aber genau deshalb wurde dieses Königreich auch erbaut. Als die Lichtwelt im Krieg mit der Unterwelt stand, weil die Fürsten der Unterwelt hinauf auf die Erde wollten, erschuf die Lichtwelt kurz vor ihrer Niederlage ein achtes Fürstentum, um die sieben Todsünden, die die anderen verkörpern, auszugleichen. Dafür wurde das alles erschaffen. Das achte Reich. Das Reich der Wahrheit. Doch bis heute hat es kein Fürst unseres Königreichs geschafft, es wirklich auszubauen. Es gibt bis auf den Palast und das angrenzende Kloster nur ein kleines Dorf. Was auch bedeutet, dass wir auf die anderen Fürstentümer und deren Landwirtschaft angewiesen sind. Vor allem das Fürstentum des Zorns, das im Südosten an unser Land grenzt, ist ein wichtiger Handelspartner. Mehr noch als das, denn der erste Fürst der Wahrheit hat damals die Tochter des Fürsten des Zorns geheiratet, weshalb auf der Fürstenfamilie der Wahrheit ebenfalls der Fluch der Heroen liegt.

Doch sobald Aviell Fürstin ist, weiß ich, dass sich alles ändern wird. Sie ist voller Tatendrang und träumt davon, unser Fürstentum wachsen zu lassen und zu einem wunderbaren Ort zu machen, nachdem sie, wie es ihre Pflicht ist, jedes Fürstentum der Todsünden besucht hat.

Als ich durch einen Seiteneingang ins Schloss schlüpfe und die riesigen Gänge entlanglaufe, spreche ich mir selbst Mut zu, bis ich vor der Flügeltür zum Thronsaal ankomme und sie aufstoße. Solange Aviell sich hier befindet, darf auch ich eintreten. Allein wäre mir das nicht gestattet, außer der Fürst würde ausdrücklich nach meiner Anwesenheit verlangen.

Aviells Blick ruht sofort auf mir, als hätte sie mich bereits kommen gehört. Gespürt. Sie steht vor ihrem Vater, der auf dem Thron sitzt und die Brauen hebt. Neben ihm hat die Fürstengattin Platz genommen, der Aviell wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Rabenschwarzes Haar, dunkle Augen und diese Porzellanhaut, die so wunderschön schimmert.

Der Fürst schnalzt mit der Zunge. »Wird aber auch Zeit, Heroe«, knurrt er.

»Mein Fürst, ich bitte um Gnade, ich wurde aufgehalten«, sage ich kühl und fließe in eine ausladende Verbeugung. Als ich wieder aufschaue und mich kurz seine eisblauen Augen treffen, erschaudere ich. Es sind die gleichen Augen, in die ich jeden Tag blicke, wenn ich in den Spiegel sehe. Doch obwohl ich ihm äußerlich wirklich gleiche – viel mehr als Aviell oder Philipp vor seinem Tod –, fühlt es sich nicht an, als wäre er mein Vater. Auch die Fürstengattin neben ihm ist nicht mehr als Aviells Mutter für mich. Aber nicht meine. Vielleicht dachte ich mal eine Weile, als ich klein war, dass sie mich ebenfalls wie ihr Kind liebt. Doch das war nur Wunschdenken. Sie sind nicht meine Eltern. Das haben sie mir mein Leben lang deutlich zu verstehen gegeben.

»Vater!«, empört sich Aviell.

Er macht eine gnädige Geste. Ein kaum merkliches Nicken. Aviell ist sein Engel. Aber hier wird sie keine Milde bei ihm erreichen.

»Lass mich ausreden, mein Kind«, sagt der Fürst und winkt mich zu sich.

»Hast du dem Abt Worte vorenthalten, Heroe?«

»Sie hat einen Namen, Vater.«

Er schließt die Augen, offenbar um sich zusammenzureißen. »Nennt mich nicht so, Aviell.«

»Mein Fürst«, verbessert sie sich bissig und wirft mir einen verstohlenen Blick zu.

Ich wünschte, sie könnte auch nur ein einziges Mal still sein und sich nicht fortwährend in derartige Situationen begeben.

»Also, Dämon!«, spricht er wieder mich an. Seine Strafe für Aviell.

»Nein, Euer Gnaden«, lüge ich.

Warum ich ausgerechnet in das Fürstentum der Wahrheit hineingeboren wurde, ist mir schon immer ein Rätsel gewesen. Die einzige Person, die ich noch nie angelogen habe, ist Aviell. Ansonsten bin ich eine Meisterin darin. Und das in einem Königreich, in dem jeder direkt und ehrlich ist. Ich habe mich bereits oft gefragt, ob ich so oft angeprangert worden wäre, würde ich in einem anderen Fürstentum leben. Hier gehört es zur Ordnung, dass jedes kleinste Vergehen gemeldet wird.

»Nath!«, winkt der Fürst seinen älteren Bruder zu sich. Er ist der einzige Heroer, den er mit seinem Namen anspricht. »Sag uns, was du gefühlt hast.«

»Sie hat sich dagegen gewehrt, etwas von ihrem Wissen preiszugeben.«

Ist das sein Ernst? Das könnte alles bedeuten.

»Es ging nicht um die Apokryphen, Euer Gnaden. Ich war heute abgelenkt. Es hatte etwas mit Aviell zu tun. Und ihr gilt all meine Loyalität und Verpflichtung.«

Aviells Blick ruht auf mir, und ich weiß genau, was sie da tut. Sie sucht in meiner Seele nach der Wahrheit. Und wir beide wissen, dass sie da nicht lange suchen muss.

»Ist das wahr, Mistress?«, fragt er seine Tochter, die noch einmal mein Gesicht fixiert, um die Finte perfekt zu machen. Sie weiß längst, dass ich lüge.

»Ja, mein Fürst«, lügt nun auch sie. Ich spüre Wut zu mir hinüberschwappen. Sie ist verärgert, weil ich sie dazu bringe, unehrlich zu sein, denn anders als ich ist Aviell die geborene Fürstin der Wahrheit.

»Dann geht! Nath wird dich morgen begleiten und ich erwarte bessere Ergebnisse beim Lesen der Apokryphen!«

Ich nicke, verbeuge mich und warte, bis Aviell vorgeht, damit ich ihr folgen kann.

Sie ist schnell. Rennt fast, bleibt aber die elegante Thronfolgerin, die sie nun einmal ist, während mir immer mehr Wut entgegenströmt.

Als wir in ihren Gemächern ankommen, schließt sie die Tür und lehnt ihren Kopf daran. Atmet, bevor sie sich zu mir umdreht und mich böse anfunkelt.

»Was hast du getan, Navien?« Sie berührt ihre Brust, als würde sie das Korsett darunter erdrücken. Ihr die Luft nehmen, die sie benötigt, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.

»Ich konnte nicht –«

»Was konntest du nicht?«

»Wenn du mich nicht unterbrechen würdest, Avi, dann würde ich es dir erklären«, gebe ich genervt zurück.

Beschwichtigend hebt sie die Hände, bevor sie sie wieder auf ihren ausladenden goldenen Rock legt. »Entschuldige.« Sie kommt auf mich zu, berührt meine Wange mit ihrer weichen Hand und schenkt mir ein verzweifeltes Lächeln. Ein Grübchen bildet sich auf ihrer rechten Wange. So wie bei mir, wenn ich grinse. Wahrscheinlich das Einzige, was wir äußerlich gemeinsam haben.

»Die Worte haben mich gezwungen, sie nicht auszusprechen. Es war … als würden sie mir die Kehle zuschnüren.«

»Was waren das für Worte?«, hakt sie nach und setzt sich auf die rote Chaiselongue, die vor den großen weißen Sprossenfenstern steht.

»Als Erste geboren, als Zweite gesühnt. Verbunden durch Seelen, den Schmerz nicht gespürt. Der Tod wird dich suchen, doch findet er dich nicht. Denn dein ist die Herrschaft, versunken in Licht«, wiederhole ich und nehme gegenüber von ihr Platz.

Aviell beißt sich auf die Unterlippe, während sie nachdenkt. »Geht es da um die Heroen?«

Ich zucke mit den Schultern und senke kurz meinen Kopf. »Du sollst mich nicht immer beschützen, Avi. Ich bin ein Dämon. Ich muss dich schützen.«

»Red nicht so ein dummes Zeug, Navi. Du weißt, dass ich das anders sehe.« Ihr Blick wirkt betrübt. Denn egal, wie sie das alles sieht – das ist die Wahrheit, und auch sie wird eines Tages eine Erstgeborene zur Welt bringen, die als Dämon verachtet und nur am Leben gelassen wird, um das der Zweitgeborenen zu schützen.

Wir beide waren dabei, als Philipp starb. Unser Bruder. Der Jüngste von uns vieren. Sein Heroer Kaleb wurde noch in der gleichen Sekunde vom Fürsten geköpft. Vor unseren Augen. Denn ohne ihren Schützling verlieren alle Heroen sofort ihren Wert und müssen sterben. So will es das Gesetz.

Über Aviells Wange rinnt eine Träne. Sie spürt, was ich spüre. Erinnert sich, genauso wie ich. Obgleich wir erst zehn und elf waren. Die Tode unserer Brüder haben auf ewig ein Loch in unseren Seelen hinterlassen.

Und vor allem haben sie bewiesen, dass ich ohne Aviell augenblicklich sterben würde. Sie hasst den Gedanken. Ich allerdings weiß nicht, ob ich ein Leben führen wollen würde, in dem meine andere Hälfte nicht existiert.

»Behalte die Worte weiter für dich«, flüstert sie plötzlich, erhebt sich und geht zum Fenster. Ihr langer Rock streicht sanft über den Dielenboden. Das Rascheln des Stoffes durchdringt die Stille im Raum. »Wenn dir dein Gefühl sagt, sie sollen nicht an ihre Ohren gelangen, so vertraue ich darauf.«

Ich nicke stumm, obwohl sie es nicht sehen kann.

»Er will, dass ich heirate«, beginnt sie übergangslos mit belegter Stimme und mit schützender Mauer um ihre Gefühle. »Ich bin die erste Frau, die den Thron besteigen wird, weil Philipp und Kaleb tot sind und Mutter keine Kinder mehr bekommen kann, und Vater sagt, ein Duke oder ein einfacher Adeliger käme nicht infrage.«

Ich verenge meinen Blick. Es ist üblich, dass die Fürsten eine Nicht-Dämonin aus einer Königsfamilie zur Frau nehmen. Wenn Aviell aber einen der sieben Fürsten heiraten soll … »Dann würden sich zwei Fürstentümer vereinen«, spreche ich den Gedanken aus.

Aviell zuckt mit den Schultern. »Unser Vater scheint genau das zu wollen.«

Ich schnaube, halb vor Wut, halb lachend. Das ist absurd. Es gibt acht Fürstentümer. Acht Fürsten. Die Königreiche können sich nicht vereinen.

»Er sagt, genau dafür wurde das Königreich der Wahrheit von Gott erschaffen. Um ihre Sünden auszugleichen, indem wir unsere Eigenschaften mit ihnen verbinden und unsere Kinder eine bessere Welt erschaffen.«

»Und deshalb heiraten die Fürsten die nicht-dämonischen Kinder der anderen Fürsten, die keinen Anspruch auf ihren Thron haben. Du wirst Fürstin sein, Aviell. Nicht die Frau eines dieser … Monster. Also solltest auch du keinen Fürsten heiraten, sondern einen ihrer Brüder.«

»Vielleicht sind sie nicht so schlimm, wie wir denken«, flüstert sie kraftlos.

»Jeder von ihnen steht für eine der sieben Todsünden. Sie sind die Nachfahren der Fürsten der Unterwelt, die leibhaftig aus der Hölle stammten, Avi. Sie sind schlimm«, fauche ich. In mir bricht Panik aus. Das darf ich nicht zulassen.

»Beruhig dich bitte«, haucht sie schwach und berührt angestrengt ihre Stirn.

»Es tut mir leid«, gebe ich kleinlaut zurück. Sie hat sicher genug mit ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen, da braucht sie nicht noch meine zu spüren.

»Und welcher soll es sein?« Ich bemühe mich, meinen unbändigen Hass in meinem Geist zu behalten.

»Zorn.«

Ich sage nichts, weil jedes Wort nur mehr Wut auslösen würde. Aviell wartet einen Moment, dann dreht sie sich zu mir um und mustert mich, als würde sie etwas in mir suchen. Zustimmung?

»Es gibt Schlimmere«, presse ich eine Lüge hervor.

Ganz leicht hebt sie einen Mundwinkel. »Das ist wahr.«

»Sieht er wenigstens gut aus?«, versuche ich das Gespräch aufzulockern. Doch es hat keinen Sinn. Avi weiß, was ich davon halte.

»Wir werden es in wenigen Tagen herausfinden. Morgen beginnen wir die Reise in sein Fürstentum. Nach deiner Lesestunde.«

Ich nicke wenig überrascht, denn dass wir bald aufbrechen müssen, war uns beiden bewusst. Der Fürst der Wahrheit hat vor ein paar Monaten entschieden, dass Avi schon jetzt ihre Reise durch die Fürstentümer antreten soll, um ihren Soll zu erfüllen, damit sie eines Tages Fürstin der Wahrheit werden kann. Doch dass es um weitaus mehr gehen wird als reine Pflichterfüllung, scheint der Fürst Avi bis zuletzt verschwiegen zu haben. Warum, weiß ich nicht; eigentlich ist er jung und kraftvoll genug, um weiter zu herrschen.

Am liebsten würde ich schreien. Aber das hier ist nicht mein Schicksal. Ich habe kein Recht zu leiden. Es ist ihres. Und es liegt auch nur in ihrem Ermessen, sich zu wehren oder nicht. Offenbar hat sie sich entschieden, dem Willen ihres Vaters Folge zu leisten.

»Warum muss das alles so schnell gehen, Avi? Ist dein Vater krank?«

»Nein. Es gibt Unruhen.«

Ich runzle die Stirn, weil ich nichts davon wusste. Wie viel verbirgt sie noch vor mir? Ich scheine nicht die Einzige zu sein, die ihren Geist verschließen kann.

»Unruhen?«, hake ich also nach und trete einen Schritt näher.

»Ja, die Menschen sprechen von dem Fürsten der Unterwelt, der uns alle stürzen will und …«

»Und?«, hake ich kühl nach. Irgendein selbst ernannter Fürst macht mir keine Angst.

»Und von der Rückkehr der Erzengel.«

Ich würde laut loslachen, aber das ist eine Seite an mir, die ich nicht nach außen trage. Also bleibe ich weiter aufmerksam und kühl.

»Deshalb ist ihnen das Lesen der Apokryphen wichtiger geworden. Sie hoffen in den alten Schriften der Lichtwelt Hinweise auf den Verbleib der Erzengel zu finden und darauf, ob sie wieder auferstehen können.«

Ich erwidere nichts. Was sollte ich schon sagen? Aviell kennt die Apokryphen nicht. Es sind lediglich Geschichten, und ja, vielleicht sind sie genau so einmal passiert. Doch über die Erzengel habe ich nie auch nur ein Wort gelesen.

»Nichtsdestotrotz reisen wir morgen ab und bringen meine Pflicht hinter uns. Diese Vereinigung ist schlau. Wir brauchen ihre Landwirtschaft und könnten unsere Fürstentümer vereinen, was uns ebenfalls zugutekäme.«

Ich beiße zornig die Zähne aufeinander.

Aviell bedenkt mich mit einem Blick, den ich nur zu gut kenne. Sie ermahnt mich zwar fortwährend, meine Gefühle für mich zu behalten, sollten sie zu stark werden, aber gleichzeitig verlangt sie, dass ich ich selbst bin. Das ist womöglich der einzige Punkt, in dem wir uns so uneins sind.

»Dafür lebe ich«, antworte ich auf ihre unausgesprochenen Gedanken.

»Wer bist du, Navi?«

Meine Lippen beben. Ich hasse es, wenn sie das fragt. Niemand auf dieser Welt kennt mich so gut wie sie. Und doch betont sie immer wieder, dass ich keine eigene Identität besitze. Und das schmerzt.

»Deine Heroe«, sage ich kühl, weil es die Wahrheit ist. Avi mag sich dagegen wehren. Es nicht einsehen. Aber sie kann die vorbestimmten Dinge nicht ändern. Und vor allem wird sie nicht ändern können, dass ich für sie lebe. Nur für sie und nicht für mich.

Stille breitet sich zwischen uns aus, die mir die Luft abschnürt. Also verbeuge ich mich leicht und verlasse ohne ein weiteres Wort den Raum.

Manchmal würde ich in solchen Situationen gerne weinen. Einfach, weil es bei Avi und den anderen so wirkt, als könnten diese Tränen einen Teil der Schmerzen mit sich nehmen. Ihn aus der Seele in die Welt tragen, wo er trocknet und verschwindet. Ich habe noch nie auch nur eine Träne vergossen. Nicht einmal, als Philipp und Kaleb starben. Heroen sind nicht in der Lage dazu. Dämonen weinen nicht.

Ich schreite die imposanten Gänge entlang und versuche den ganzen Prunk zu ignorieren. Die samtenen Vorhänge, die goldenen Kerzenhalter und vor allem die Gemälde der Fürstenfamilie. Ich kämpfe nicht mit mir selbst, weil ich, obwohl ich ebenfalls ihr Kind bin, nicht dazugehöre. Einzig, wenn Aviell mir diese eine Frage stellt, schmerzt es. Als würde ich die Antwort zu meiner Identität hier direkt vor meinen Augen haben, sie aber nicht greifen dürfen. Sie kennt meine Rolle. Mein Schicksal. Warum also will sie mehr? Warum, da sie doch genau weiß, dass ich keine Identität habe, außer der, ihre Heroe zu sein?

Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, dass sie mir genau damit alles nimmt, was ich habe.

Als ich endlich die Treppe zum Keller erreiche, in dem sich die Zimmer der Heroen befinden, stocke ich. Eine leise männliche, flüsternde Stimme zieht meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Bist du dir sicher?«

Eine weitere Stimme ertönt. Eine, die mir bekannt vorkommt. »Es ist alles arrangiert.«

Ich verziehe den Mund und denke nach. Suche in mir nach der Stimme, bis das Gesicht der neuen Dienstmagd vor meinem inneren Auge erscheint.

»Mit dir steht und fällt alles«, erklingt die männliche Stimme vom Anfang, die ich nicht kenne.

»Ich weiß. Niemand wird sich wehren.«

Wehren? Wogegen? Mein Instinkt meldet sich. Es droht Gefahr.

Ich gehe einen Schritt vor, als die beiden ein wenig gedämpfter weiterreden.

»Hier ist das Mittel«, sagt der Mann.

Die Dienstmagd erwidert nichts, weshalb ich noch eine Treppenstufe nehme und einen Blick in den Gang werfe.

Stahlblaue Augen treffen mich. Mein Herz pumpt alles Blut in meinen Kopf und meine Muskeln. Meine Hand greift mein Schwert. Doch der vermummte Mann mit den eiskalten Augen hebt seine Handfläche an seinen Mund und pustet mir dämonische Macht entgegen, bevor ich den anderen Heroen eine Warnung zukommen lassen kann.

Meine Sicht verschwimmt. Ich verliere meine Sinne – und dann geben meine Beine nach. Das Letzte, was ich sehe, sind die panischen Augen der Dienstmagd und der kleine Flakon mit grüner Flüssigkeit in ihrer Hand. Gift. Dämonisches Gift.

KAPITEL 2

Bringt die Fürstenfamilie hier weg!, hallt es in meinem Geist wider.

Langsam blinzle ich, kämpfe gegen den Nebel in meinem Kopf an. Doch das bereue ich fast sofort, denn mit einem Mal schreien Dutzende Heroen Kommandos in meine Gedanken hinein.

Avi. Mein Verstand kehrt so schnell zurück, dass ich beinahe wieder in die Bewusstlosigkeit stürze. Wo bin ich? Dunkelheit umhüllt mich. Es muss bereits Nacht sein. Zumindest bin ich nicht gefesselt und scheine nur auf einer Art Pritsche zu liegen. Vorsichtig rapple ich mich auf und suche nach einem Ausgang aus der Schwärze. Ein sanfter Lichtstrahl zeigt mir den Weg zu einer Tür.

Der Duke!, brüllt Marec in meinem Kopf. Sie töten den Duke!

Panik ergreift mich. Ich muss zu Avi.

Meine Hände umklammern die Klinke, reißen an ihr, aber nichts bewegt sich. Also hole ich aus und versuche die Tür einzutreten, bis ich schließlich dagegenrenne und sie mit meiner Schulter aufstoße. Rauch und Geschrei schwirren mir entgegen.

»Aviell!«, rufe ich durch die nebeligen Gänge und beginne zu rennen. Ich schreie es immer wieder. Auch in meinem Geist.

Aviell ist im Thronsaal! Marecs Stimme klingt geschwächt. Kaputt. Auf ewig gespalten. Der Duke ist tot. Sein Seelenverwandter ist … tot.

Ich haste weiter, bis ich begreife, dass ich mich im Trakt der Dienstmägde befinde. Vor mir blitzen die Bilder der Magd auf, die ich gesehen habe, bevor ich mein Bewusstsein verlor. Sie hatte Gift bei sich. So schnell ich kann, stürme ich die Treppe hinauf. Schreiende, blutende Menschen kommen mir entgegen. Die Adeligen, die hier im Schloss oder auf kleineren Anwesen in der Gegend leben, während hinter ihnen ihre Heroen die Feinde abwehren. Vermummte Gestalten mit Schwertern.

Ich biege ab und sprinte den Dienstbotengang zum Thronsaal entlang. Ich bin nicht hier, um für diese Adeligen zu kämpfen. Mein einziges Ziel ist Aviell.

Navien!, schreit Nath, der Heroer des Fürsten, in meinem Kopf. Ist Aviell in Sicherheit?

Ich antworte nicht. Renne einfach weiter durch den Rauch, bis ich endlich den Thronsaal erreiche. Mein Herz pocht laut, aber meine Sinne sind geschärft. Wie einen Blitz spüre ich ihre Angst durch mich hindurchzucken.

Erleichtert darüber, dass sie noch am Leben ist, brauche ich nur eine Sekunde, um sie hinter dem Thron zu entdecken. Dort hat sie sich zusammengekauert, verborgen vor den Angreifern, die sich in der ganzen Halle unerbittliche Kämpfe mit den Heroen liefern. Und dann begreife ich den tiefen Schmerz, den ich in Aviells Seele spüre. Alles in mir erstarrt, während ich das leblose Gesicht des Fürsten erblicke. Seinen Körper, der aufgespießt an der Wand hängt. Unter ihm kämpft Nath mit seelenlosen Augen.

Ich habe sie, flüstere ich ihm in Gedanken zu. Ich würde gerne mehr sagen. Zeigen, dass es mir leidtut. Aber das tue ich nicht.

Nath spürt meine Anwesenheit und schaut zu mir. Schmerz flammt in seinen Iriden. Das erste Mal, dass ich eine menschliche Reaktion in den Augen meines Onkels sehe. Bring sie zum Fürsten des Zorns!, ist die letzte Anweisung, die ich von ihm erhalte. Dann stürzt er sich weiter in den Kampf. Brüllend köpft er zwei vermummte Angreifer und zieht so all die Aufmerksamkeit auf sich.

Schnell nutze ich die Chance und gelange unbeachtet zu Aviell. Ich knie mich neben sie und reiße ihre Schultern zu mir hoch. Tränen rinnen aus ihren Augen.

»Wir müssen hier weg«, flüstere ich und bemühe mich, liebevoll zu klingen. Aber das hat keinen Sinn.

»Sie haben sie getötet«, schluchzt sie und krallt ihre zittrigen Finger in meinen Arm. »Sie haben Mutter und Vater getötet, Navi.« Ihre Stimme bricht.

Ich zerre an ihr. Hebe sie mit all meiner Kraft hoch, weil sie selbst nicht in der Lage ist aufzustehen. »Avi!«, flehe ich sie knurrend an. Ihr Schmerz erdrückt mich beinahe. Diese Menschen haben mir nichts bedeutet. Und doch trauere ich gerade um sie, als wären sie mir die Eltern gewesen, die sie für Avi waren.

Ich zwinge mich, ihre Gefühle auszublenden. Mich auf meinen Geist und ihre Rettung zu konzentrieren. Aviell ist die Thronfolgerin. Sie ist jetzt die Fürstin dieses Königreichs. Und noch viel mehr: Sie ist alles für mich.

Ich stütze sie und ziehe ihren Körper mit all meiner Kraft zu dem kleinen Geheimgang des Fürsten. Er ist einfach zu erreichen, da er sich hinter dem Banner unseres Fürstentums befindet. Avis Vater hat nie die normalen Wege genommen, aber da diesen Gang niemand außer ihm benutzen durfte, habe ich keine Ahnung, wohin er führt. Wohin?, schreie ich Nath an. Aber mir schlägt nur eiskalte Leere entgegen. Nath ist nicht mehr. Marec ist nicht mehr. Ich spüre keinen einzigen Heroer dieses Schlosses in meinem Geist.

Ich schüttle den Gedanken ab und gehe weiter. Schleppe Aviells bebenden, weinenden Körper mit mir.

»Reiß dich zusammen!«, schreie ich sie immer wieder an. Aber es hat keinen Sinn.

Der Gang ist dunkel. Und dann, endlich, sehe ich Licht. Ich setze Aviell ab, schiebe den Vorhang zur Seite und schaue mich in dem Raum um. Es ist eine Art Bibliothek, die ich nie zuvor gesehen habe. Trotzdem erkenne ich sofort, dass die Regale mit Apokryphen gefüllt sind. An der Wand hinten entdecke ich zwei Kurzschwerter, die in einem Rahmen hängen, steuere darauf zu und reiße sie von der Wand. Meine Waffen müssen mir die Dienstmagd und der vermummte Mann abgenommen haben und so habe ich zumindest etwas Brauchbares in der Hand. Keuchend lasse ich meinen Blick über den Boden zu meiner Linken wandern. Schlieren. Mein Herz stolpert. Da muss ein Gang sein. Das Regal wurde ganz offensichtlich bereits Tausende Male über die Dielen geschoben.

Ich stecke die Schwerter in meinen Brustgurt, stürme zurück, hieve Aviell hoch und zerre sie mit. Das Regal lässt sich wie erwartet bewegen und hinter ihm öffnet sich ein steinerner Durchgang. Ein Weg hinaus. Das muss es sein.

Schreie ertönen von draußen. Ich lasse Aviell los, die sich gerade so halten kann, kralle meine Nägel in das Holz der Bücherwand und ziehe sie wieder zu mir. In der Sekunde, als ich Schritte und Stimmen höre.

»Ich bin mir sicher, dass der Weg hierherführt«, sagt das neue Dienstmädchen.

Ich schließe die Augen und hole tief Luft. Ich werde sie töten. Eines Tages werde ich dieses Monster für das töten, was sie getan hat.

»Ich dachte, du hast sie eingesperrt!«, knurrt ein Mann. Ich bin mir unsicher, ob es der von vorhin ist. Was auch immer mir da ins Gesicht gepustet wurde, hat meine Sinne benebelt. »Sie ist die Heroe der zukünftigen Fürstin. Man kann sie nicht einfach so einsperren.«

»Dann hättest du ihr das Gift geben müssen.«

»Du weißt genau, dass ihr Überleben zum Handel gehört.«

Ich verenge meinen Blick, doch in dem Moment wimmert Aviell. Sofort stürze ich mich auf sie und drücke ihr die Hand auf den Mund. Mit meinem anderen Arm hieve ich sie wieder hoch und versuche weiterzugehen. Weg von den Angreifern. Ich bin eine ausgebildete Kämpferin, ja. Eine sehr gute Kämpferin. Aber allein gegen sie alle würde ich nicht bestehen.

»Da ist was!«, schreit jemand hinter mir.

Ich packe Aviell fester. »Wenn du jetzt nicht zu dir kommst und rennst, stirbst du!«, knurre ich, so leise ich kann. Sie schüttelt weinend den Kopf. In ihr spüre ich eine so tiefe Trauer, dass es mir den Atem nimmt. Sie hat alles verloren. Nur eines nicht. »Dann sterbe ich!«

Ihr Blick erstarrt. Und schließlich nickt sie. Ich nehme ihre Hand und nur eine winzige Sekunde später rennen wir los. Hinter uns ertönt ein lauter Knall, und ich weiß genau, dass es das Regal war, das uns von ihnen abschirmte.

Mein Atem rast. Das hier ist meine Aufgabe. Der einzige Grund, warum ich lebe. Ich muss Aviell beschützen. Ich muss sie in das Fürstentum des Zorns bringen. Und so Gott will, wird der Fürst seinen ganzen Zorn auf diese Barbaren niederregnen lassen.

Wir rennen weiter. Unsere Verfolger kommen immer näher. Ich spüre sie und ihre bestialischen Absichten.

Und dann öffnet sich der Gang vor uns und offenbart einen Blick auf den düsteren Wald hinter dem Palast.

Zumindest wirkt er jetzt finster und kühl. Eigentlich mag ich diesen Ort. Es hat sich immer nach Freiheit angefühlt, wenn Avi und ich als Kinder zwischen den knorrigen Stämmen und verwachsenem Geäst spielten. Überall führen kleine Bäche hinab zu einem See, und durch die hohe Feuchtigkeit hier im Westen sind die Bäume und der Boden moosbedeckt. Früher einfach magisch wirkend, kommt mir das Moos heute zugute, weil es unsere Schritte ein wenig dämpfen wird. Doch das alles bringt nichts, wenn Avi nicht mithilft.

»Los!«, schreie ich Avi an und laufe. Ziehe ihren schwachen Körper mit mir hinaus in die kalte Nachtluft. Sie stolpert immer wieder, aber ich halte sie fest.

Wir rennen und rennen, bis mir klar wird, dass wir sie nicht abschütteln werden. Es nicht können. Ich habe nur eine Chance, also packe ich Avi und schubse sie unsanft hinter einen umgefallenen Baum.

»Das ist nicht dein Kampf!«, bläue ich ihr ein. »Akzeptier einmal in deinem Leben, wozu ich geboren wurde und wer du bist.« Mit diesen Worten ziehe ich die Schwerter und stelle mich den dunklen Gestalten. Es sind vier. Große, starke Männer. Alle verhüllt. Aber keiner von ihnen ist ein Heroer. Das kann ich fühlen. Und wofür auch immer sie kämpfen, mein Grund, zu kämpfen und zu siegen, ist stärker.

Als ich das begreife und in mir all meine dämonische Kraft sammle, schlage ich zu. Ich bin nicht mehr Navien. Ich bin eine Mörderin. Eine der gefährlichsten Kämpferinnen, obwohl wir Heroen im Königreich der Wahrheit nicht lernen dürfen, dämonische Zauber einzusetzen. Ich brauche sie nicht. Meine Klingen durchbohren ihre Körper. Ich spüre das Blut an meinen Händen. Und als ich dem Letzten von ihnen mein Schwert in die Brust ramme und im Mondschein dabei zusehe, wie alles Leben aus seinen Augen weicht, realisiere ich, dass ich es nie werde abwaschen können.

Ausgebildet werden, um zu töten, ist etwas vollkommen anderes als das hier. Es ist echt, brutal, unerbittlich und endgültig.

»Komm!«, sage ich zu Avi und strecke ihr meine blutverschmierten Hände entgegen, nachdem ich die Schwerter weggesteckt habe.

Sie zögert, kriecht dann aber aus ihrem Versteck und mustert mich. Nicht nur in mir hat sich etwas verändert. Auch in ihr. Die Art, wie sie mich anstarrt, schmerzt mehr als die Erkenntnis, was in mir schlummert. Denn zum ersten Mal in meinem Leben sieht Avi mich an und erkennt dabei den Dämonen, der ich bin.

Trotzdem ergreift sie meine Hand und lässt sich weiter von mir durch den Wald ziehen.

Die Käuzchen schreien. Die Wölfe heulen. Und es fühlt sich an, als würden sie das Lied meiner gebrochenen Seele singen. Aviell ist langsam. Viel zu langsam, weshalb ich an ihrem Arm zerre.

Wie konnte das alles passieren? Warum waren diese Angreifer mächtig genug, alle Heroen zu töten? Den Fürsten zu töten? Und warum sagte diese Dienstmagd, mein Überleben gehöre zum Handel? Ich versuche meine Gedanken zu ordnen und nicht mehr über all den Tod nachzudenken. Und dann knackt es weit hinter uns. Ich bleibe stehen und versuche das Geschöpf zu fühlen, das da auf uns zukommt. Es ist kein Tier.

»Gib mir deinen Umhang und deine Krone!«, befehle ich und sehe Avi auffordernd an.

»Navien«, flüstert sie, als würde sie an den Teil in mir appellieren, der ich noch vor ein paar Stunden gewesen bin. An die Person, von der sie verlangt hat, sich selbst zu finden. Ich habe mich gefunden. Das ist mein wahres Wesen.

»Ich kann nichts dafür, wenn es dir nicht gefällt, wer ich wirklich bin.« Ich spreche es aus und spüre in unser beider Geist, dass wir die Wahrheit dahinter erkennen. Dann nickt sie freudlos und legt ihren königlichen Umhang und ihre Krone ab, die sie als Thronerbin seit Philipps Tod trägt. Sie müssen gerade beim Abendessen gewesen sein, als diese Barbaren angegriffen haben. »Du versteckst dich hier, und sobald es hell wird, rennst du Richtung Osten. Verstanden?«

Sie schluckt, als müsste sie Säure trinken. Währenddessen greife ich in meine kleine Ledertasche und lege ihr einen kleinen Kompass in die Hand. Dieser gehört neben Heilkräutern, Brennpulver, um Wunden auszubrennen, einem Messer und einer kleinen Fackel zur Grundausrüstung eines Heroen, die wir immer bei uns tragen müssen. Endlich hat es mal einen Zweck. Ich zögere nur kurz, bevor ich die Tasche komplett abnehme und sie Avi überreiche. Ich bezweifle zwar, dass sie sich eine Wunde selbst ausbrennen würde, aber man weiß ja nie.

Ich atme noch einmal tief durch, ziehe mir dann den Umhang über und setze die schmale Krone auf meinen Kopf. Darauf bedacht, dass meine Strähnen meine Schläfe verdecken. Niemand soll das Mal sehen, das mich dort brandmarkt.

»Sie werden davon erfahren, was passiert ist. Und der Fürst wird dich suchen.«

»Und was machst du?«, fragt sie bitter und verzieht ihr Gesicht beinahe abschätzig. Sie weiß, was ich tun werde. Doch sie muss es hören.

»Ich locke sie von dir weg.«

Avis Kiefer mahlt. Sie nickt nicht. Sagt nichts. Aber ich brauche ihre Erlaubnis nicht. Sie mag meine Fürstin sein, in diesem Moment ist es jedoch meine Aufgabe, über sie zu bestimmen. Ihr das Leben zu retten.

Ich trete einen Schritt zu ihr, lege meine Hand in ihren Nacken und meine Stirn auf ihre.

»Ich liebe dich«, flüstere ich und warte nicht, bis sie es erwidert, sondern stoße sie gleich von mir weg.

»Und jetzt versteck dich!«

Sie folgt meinem Befehl, und ich drehe mich zu dem Geräusch um. Zu der bösen Seele, die ich hinter mir spüre.

Ich will wegrennen, ihn von Avi weglocken, aber ich erstarre, als ich ihn erkenne.

Wenn wir noch zu jung sind, um die Zweitgeborenen zu schützen, werden wir monatelang in Camps ausgebildet. Der junge Mann, der da vor mir steht, ist der Bruder des Fürsten des Hochmuts. Er ist der Drittgeborene. Der Heroer des Dukes des Fürstentums des Hochmuts.

»Ka?« Meine ungläubige Stimme hallt durch den düsteren Wald. Ein silbriger Nebel bildet sich vor meinem Mund.

»Ich wusste, dass ich dich einst töten werde«, stößt er mit ekelerregender Befriedigung in seinem Tenor hervor.

»Was soll das?«, knurre ich und suche nach Avis Seele. Versuche zu erfahren, ob sie ein Versteck gefunden hat.

»Wo ist das kleine Dreckstück Navien?«

Ich stocke wieder. Er erkennt mich nicht. Wie kann das sein? Aviell ist meine Schwester. Doch wir sehen uns kaum ähnlich. »Navi ist tot«, gebe ich kühl zurück.

Er lacht. Und ich bin mir nicht sicher, ob das hier nur ein Spiel ist. Ja, wir waren zehn, als wir uns das letzte Mal begegneten. Aber allein mein blondes Haar steht im Kontrast zu Avis pechschwarzem. Er tritt näher. Meine Hände umklammern die Griffe der Schwerter. Und dann erblicke ich seine Augen. Seine schwarzen dämonischen Augen. Kein Weiß. Keine Seele. Ich schlucke bittere Galle und verstehe endlich, warum er mich nicht erkennt. Er ist besessen.

Ich weiche einen Schritt zurück.

»Was hat er dir angetan?«

Er lacht wieder. Seelenlos. Ich habe davon gehört, dass Herrscher ihre Heroen einem Zauber unterziehen, um ihre dämonische Seite an die Oberfläche zu holen. Sie nehmen ihnen all ihre menschlichen Attribute, und was dabei rauskommt, steht jetzt vor mir.

»Navi ist nicht tot. Ich spüre sie in der Nähe.«

»Sie ist dabei zu sterben«, lüge ich. Was will er von mir? Reicht es ihm nicht, dass hier in seinen Augen die neue Fürstin der Wahrheit steht?

»Dann werde ich sie töten.«

»Dafür musst du an mir vorbei!«, knurre ich und ziehe meine Schwerter.

Ein unmenschlicher Laut verlässt seinen Mund. »Dein Tod gehört nicht zum Plan, Aviell, Fürstin der Wahrheit.«

Nein … Ich blinzle und will auf ihn losgehen. Ihn töten. Aber die Erkenntnis, was ich getan habe, lässt mich zu Eis erstarren. Ka scheint einen anderen Plan zu verfolgen als diese Männer, die uns verfolgt haben. Und nun hat er es auf Avi abgesehen, die er für mich hält.

»Töte sie, Larakai!«, ruft Ka plötzlich durch den Wald, und als ich gerade losrennen will, zu ihr – reißt meine Seele.

Nein! Schmerz durchflutet mich. Ein so abgrundtiefer, endgültiger Schmerz, dass ich auf die Knie sinke. Die Schwerter fallen neben mir zu Boden. Nein. Avi …

Ihr Schrei hallt durch den Wald. Meine Seele reißt weiter. Trennt sich von ihrer, weil sie stirbt. Ein Licht erhellt kurz den Wald um mich herum. Ein Licht, das von mir auszugehen scheint. Doch diesen Gedanken verdränge ich mit Macht, es ist reiner Unsinn.

Avi!, schreie ich innerlich. Kein Wort verlässt mehr meinen Mund. Ich will aufstehen. Zu ihr rennen. Sie retten. Aber der Schmerz meiner Seele lähmt mich. Er ist schlimmer als jede Wunde. Er ist so allumfassend, dass eine Träne mein Auge verlässt. Das erste Mal in meinem Leben.

Avi … Ihr Name ist das Letzte, was ich denke. Der winzige Rest ihrer Seele, das Letzte, was ich fühle, bevor mein Geist den Schmerz nicht mehr aushält und alles in bodenlose, grausame Dunkelheit getaucht wird.

Als ich die Augen irgendwann erneut öffne, ist der Schmerz verschwunden. Doch noch etwas fehlt. Eine Verbindung, die ich schon mein Leben lang in meinem Herzen trage.

Über mir erscheint ein Gesicht, das nicht Ka gehört. Dunkle Augen richten sich auf mich. Ich schlucke und will etwas sagen, aber der junge Mann über mir legt einen Finger auf seine Lippen.

Sein Blick wandert an mir hinab. Ich spüre, dass er mir meinen Waffengurt abnimmt.

»Nein!«, krächze ich und will mich wehren, auch wenn Avis und meine Seele getrennt wurden. Sie ist nicht ganz verschwunden. Sie ist nicht tot. Und ich muss sie retten.

Wieder legt er seinen Finger auf seine Lippen und für einen kurzen Moment verliere ich mich in seinem Antlitz. Was ist er? Ein Dämon? Er gleicht eher einem Gott.

»Überlebe, Aviell«, raunt er heiser, steht auf und verschwindet aus meinem Sichtfeld.

Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis mein Bewusstsein vollends zurückkehrt. Er hat meine Waffen wirklich mitgenommen. Doch es ist mir egal. Ich werde Avi retten, und wenn ich dafür jemanden mit meinen bloßen Händen umbringen muss.

Ich rapple mich hoch und gehe mit zittrigen Beinen zu der Stelle, an der ich Avi das letzte Mal gespürt habe. Als ich dort ankomme, blicke ich hinab auf Blut. Viel zu viel Blut. Aber Avi ist nicht mehr da.

»Aviell!«, schreie ich aus vollem Halse. Mein Verstand setzt aus. Ich renne los. Suche nach ihr. Nach ihrer Seele. Schreie immer und immer wieder, während eine rote Sonne hinter den Baumkronen aufgeht. Wie lange war ich bewusstlos?

Ich falle auf meine Knie. Avi ist nicht mehr hier. Doch sie ist am Leben. Ich spüre es.

Hufe. Pferde. Männer. Ich höre sie, bevor ich sie sehe. Sie halten vor mir inne. Menschen rennen auf mich zu. Als Erstes kommt ein Mann bei mir an. Er trägt einen Fürstenumhang. Auf seiner Brust prangt das Symbol des Zorns – ein Z, umschlungen von einem Ziegenwesen –, und ich weiß, dass er mich jetzt töten wird. Avi ist weg. Und ich bin nur ein Dämon, der keine Berechtigung mehr hat zu leben. Der all seinen Wert auf dieser Welt verloren hat.

»Mistress Aviell«, vernehme ich seine Stimme.

Ich öffne meinen Mund, um ihm zu erklären, dass sie nicht tot sein kann. Dass er mich leben lassen muss, weil ich ihre einzige Chance bin.

»Ich bin so froh, Euch gefunden zu haben.«

Ich erstarre. Und dann begreife ich. Ich trage immer noch Avis Krone und ihren Umhang. Und meinen Waffengurt hat dieser Dieb mitgenommen. Zudem hat kein Wesen der anderen Königreiche die Thronerbin des Fürstentums der Wahrheit je gesehen. Seit unsere Brüder gestorben sind und Avi an erste Stelle der Thronfolge gerückt ist, wird sie vor allem vor den Fürsten versteckt gehalten, weil klar war, dass sie einst einen von ihnen heiraten soll. Da ihr Vater jedoch wollte, dass diese Vereinigung auf politischen Vorteilen basiert, hatte er wohl Angst, sie könnte sich selbstständig verlieben und entscheiden. Und nun halten sie mich für sie. Und ich muss mitspielen, wenn ich überleben will, um dann Avi zu retten. Krampfhaft richte ich meine Gedanken wieder auf den Mann vor mir.

Ich habe mir den Fürsten des Zorns anders vorgestellt. Nicht so jung. Und ich hätte ihm niemals dieses wunderschöne kantige Gesicht und die gütigen Augen zugetraut.

Sein Aussehen zu beobachten, jede Regung in seinem Gesicht, lenkt mich von dem Schmerz ab, den Avis Verlust in mir verursacht. Aber ich darf mich dem nicht hingeben. Ich muss Stärke aus alldem ziehen. Denn Avi ist nicht tot. Meine Seelengefährtin ist nicht verloren.

Ich lasse mich von dem Fürsten auf eines der Pferde heben, so wie es eine Mistress tun würde. Er setzt sich hinter mich und legt mich im Damensitz in seine Arme.

»Wie habt Ihr mich gefunden?«, finde ich endlich meine Stimme wieder, verleihe ihr jedoch mehr Güte, als sie normalerweise hat.

»Mein Heroer hat eine Bedrohung von diesem Fürstentum vernommen.«

Ich verenge meinen Blick und bin froh, dass er mich nicht so genau sehen kann, während wir durch den Wald reiten. Wie soll es möglich sein, eine Bedrohung über so viele Meilen wahrzunehmen?

»So etwas können Heroen? Auf die Entfernung?«, frage ich scheinbar ahnungslos. Aber ich weiß, dass es nicht möglich ist. Oder sein Heroer ist sehr mächtig.

»Seit wir verlobt sind, konzentriert sich mein Heroer nur auf Euer Königreich, Mistress Aviell. Meine Zukünftige soll in Sicherheit sein. Wir waren zuerst beim Schloss; dort war keiner mehr am Leben und ich gab die Hoffnung beinahe auf, doch dann konnte mein Heroer euch im Wald erspüren.« Seine Finger, die die Zügel halten, streichen mir kurz über den Arm. Eine liebevolle, behutsame Geste, die ich noch nie von einem Menschen außer Aviell erfahren habe. Ohne es zu wollen, frage ich mich, wie es sich angefühlt hätte, wäre ich mein Leben lang so behandelt worden wie eine Zweitgeborene. Ich schließe die Augen und schweige den restlichen Weg, weil ich zu schwach bin. Die Trennung von Avi nimmt mir meine Lebensenergie.

Es dauert lange, bis wir langsamer werden. Ich drehe den Kopf ein wenig und blicke auf ein gigantisches Schloss. Es ist kaum vergleichbar mit dem Palast der Wahrheit, in dem ich aufgewachsen bin.

»Aviell«, sagt der Fürst behutsam und berührt meine Wange.

Ich lache innerlich. Wüsste er, wer ich wirklich bin, würde er mich köpfen, statt mir diese liebevolle Geste zu schenken.

»Wir sind da.«

Ich nicke und lasse mir von ihm vom Pferd helfen. Dienstmägde eilen herbei und stützen mich, während der Fürst ihnen Befehle entgegenruft und dann selbst zu seinen Begleitern verschwindet.

Die Frauen hieven mich in das Schloss. Die Gänge entlang, Treppen hinauf, hinein in ein Zimmer und weiter zu einer großen Wanne.

Während mir zwei von ihnen den Umhang ausziehen und eine andere die Wanne füllt, die einen lieblichen Lavendelgeruch ausströmt, kehrt endlich mein Verstand zurück und ich halte sie auf. Ich rede nicht und benehme mich wie ein verwundetes Tier. Und sie sehen es, das erkenne ich in ihren Augen, also fasse ich mich.

»Lasst mich allein«, stoße ich dann hervor. Meine Lippen beben bedrohlich. Vielleicht ist das der Grund, warum sie gehorchen. Oder weil sie mich für Avi halten.

Als sie gegangen sind, schleppe ich mich zu einem großen Spiegel und lasse mein Oberteil fallen. Das dämonische Mal sticht mir verräterisch ins Auge. Beinahe hätten sie es gesehen und begriffen, wer ich wirklich bin.

Ich schließe kurz die Augen, bevor ich wieder auf das schwarze Herz auf meiner Brust starre und dabei meine Hose ausziehe. Für einen winzigen Moment sehe ich hinab auf die Narben an meinen Schenkeln und dann hinauf in mein Gesicht. Ich streiche mir die blutigen Strähnen aus der Stirn. Es ist ein verdammtes Wunder, dass der Fürst nicht entdeckt hat, dass ich das Zeichen der Dämonen an meiner Schläfe trage.