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Wenn der Schatten über das Licht der Sterne fällt, wird ein Königreich dem Untergang geweiht sein ... Shedir hat eine erschreckende Vision: Der Blutprinz wird seinen eigenen Bruder töten. Dabei hat er ihr nur Stunden zuvor seine Liebe gestanden – und sie gerade erst angefangen, ihm zu vertrauen. Doch die Sterne haben ihr gezeigt, dass das Schicksal eines Königreichs nicht leicht zu verändern ist. Um es dennoch abzuwenden, lässt Shedir Lior gefangen nehmen. Der Verrat sitzt tief, aber im Schatten lauert ein noch größerer Feind und die Zeit drängt. Shedir wird klar, dass sie ihren so attraktiven wie geheimnisvollen Prinzen trotzdem braucht, als ihr eine neue Zukunft offenbart wird: Ihrer aller Rettung liegt nicht allein in den Sternen, sondern auch in den magischen Kräften der vier Monde. Und einer von ihnen ist Lior. »Gefallene Finsternis« ist eine Enemies to Lovers Romance und stellt sowohl das Schicksal als auch das Vertrauen auf die Probe.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
ImpressDie Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Dana Müller-Braun
Legacy of Stars. Gefallene Finsternis
Shedir hat eine erschreckende Vision: Der Blutprinz wird seinen eigenen Bruder töten. Dabei hat er ihr nur Stunden zuvor seine Liebe gestanden – und sie gerade erst angefangen, ihm zu vertrauen. Doch die Sterne haben ihr gezeigt, dass das Schicksal eines Königreichs nicht leicht zu verändern ist. Um es dennoch abzuwenden, lässt Shedir Lior gefangen nehmen. Der Verrat sitzt tief, aber im Schatten lauert ein noch größerer Feind und die Zeit drängt. Shedir wird klar, dass sie ihren so attraktiven wie geheimnisvollen Prinzen trotzdem braucht, als ihr eine neue Zukunft offenbart wird: Ihrer aller Rettung liegt nicht allein in den Sternen, sondern auch in den magischen Kräften der vier Monde. Und einer von ihnen ist Lior.
»Gefallene Finsternis« ist eine Enemies to Lovers Romance und stellt sowohl das Schicksal als auch das Vertrauen auf die Probe.
Wohin soll es gehen?
Widmung
Hinweis des Verlags
Buch lesen
Danksagung
Content Note
Vita
© privat
Dana Müller-Braun wurde Silvester ’89 in Bad Soden im Taunus geboren. Geschichten erfunden hat sie schon immer – mit 14 Jahren fing sie schließlich an ihre Fantasie in Worte zu fassen. Als das Schreiben immer mehr zur Leidenschaft wurde, begann sie Germanistik, Geschichte und Philosophie zu studieren. Wenn sie mal nicht schreibt, baut sie Möbel aus alten Bohlen, spielt Gitarre oder verbringt Zeit mit Freunden und ihrem Hund.
Für Sabrina,
weil du meine Sirrah bist.
Vorbemerkung für die Leser*innen
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.
Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
Dana Müller-Braun und das Carlsen-Team
KAPITEL1
»Shedir!« Obwohl es nur ein Flüstern ist, dröhnt die Stimme laut in meinem Kopf. Ich blinzle und öffne meine Augen. Erkenne die steinerne Zelle, die mir nach all den Wochen nicht mehr fremd ist. Spüre den leichten Windzug, der zusammen mit dem zarten Mondschein durch das winzig kleine Fenster in das Innere dringt. Feuchtigkeit und Kälte legen sich auf meine Haut und lassen sie unangenehm prickeln.
Das Tropfen des Wassers, das durch die Steine hineindringt, lässt meinen Kopf monoton hin- und herwippen. Ich spüre kaum noch etwas in mir. Da ist nur mein schwacher Körper, der sich fremd anfühlt und in dieser Zelle liegt.
»Shedir«, flüstert die Stimme wieder. Sie ist mir so vertraut. Aber mein Geist ist nicht wach genug, um auf die Erinnerung zuzugreifen. Als hätte er in all der Zeit hier aufgegeben. »Komm zu mir«, flüstert die Stimme und endlich drehe ich mich ihr zu. Doch statt jemanden in diesem düsteren Kerker zu erkennen, ändert sich das Bild um mich herum und wird zu einem Zimmer. Plötzlich lehne ich nicht mehr schwach an der Steinwand, sondern sitze auf einem Bett.
Und dann tritt er zu mir. Ich erkenne ihn und dieses Mal zuckt mein Geist kurz.
»Lior«, hauche ich seinen Namen, als wäre er wirklich hier. Aber es ist nur einer von vielen Träumen. Es ist nicht echt. Und auch er ist nicht hier, um mich in meinem Traum zu besuchen wie früher. Ich habe es mir so oft gewünscht. Aber immer waren es nur dumme normale Träume, in denen sein Gesicht zu einer grausamen Fratze wurde.
»Geh weg«, fauche ich also und drehe mich um. Versuche mir vorzustellen, dieses Bett wäre echt und ich würde morgen nicht mit weiteren schmerzenden Knochen aufwachen.
»Shedir«, sagt er gebrochen und plötzlich spüre ich seine Berührung an meiner Wange. Ich sehe auf. Er steht da und streicht sanft über meine Wange. Und es fühlt sich so echt an, dass ich schluchze.
»Was ist passiert?«, fragt er und setzt sich neben mich.
Kopfschüttelnd weiche ich zurück. »Geh weg! Das ist nur ein Traum!«
»Ich bin hier, Shedir.« Er nimmt meine Hand und legt sie auf seine Brust, sodass ich seinen Herzschlag spüren kann. »Ich habe monatelang versucht, dich zu erreichen. Wo bist du?«
Krampfhaft schlucke ich gegen meinen trockenen Hals an. Lior reagiert sofort, nimmt ein Glas von dem Nachttisch und hilft mir, etwas zu trinken. Auch das fühlt sich wunderbar echt an.
»Aber das ist es nicht«, sage ich und sehe dabei zu, wie Lior irritiert den Mund verzieht. Er schnipst und plötzlich liege ich in einem roten Kleid auf der Chaiselongue in dem Bordell, in dem wir uns wiederbegegnet sind.
»Wo zu den Göttern bist du, Shedir?« Seine Stimme wird drängender. Gleichzeitig wirkt er schwach. Als würde ihn das hier viel Kraft kosten.
»In Lishan. In Huan.«
»Was?« Seine Hände umfassen mein Gesicht, als würde er mich wach rufen wollen. »Warum bist du dort?«
»Sie haben uns mitgenommen. Er hat …« Mir versagt die Stimme, als ich an den König denke und … Nisha. Tränen wandern über meine Wangen.
Er wischt sie sanft weg, bleibt aber fordernd, als er wiederholt: »Wer hat euch mitgenommen?«
»Der König. Sie haben uns abgefangen. In Tharos, kurz nachdem ihr weggefahren seid.«
Lior steht auf und fährt sich aufgebracht durch sein Haar. »Hat er dir etwas angetan, Shedir? Hat er …« Sein Blick sucht meinen Körper ab.
Ich zucke zusammen. »Er hat Nisha getötet und … ich werde ihn heiraten.« Es ist das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor die Tage verschwommen sind. Er sagte, ich würde seine Frau werden.
Liors Hände ballen sich zu Fäusten und der Raum um uns herum versinkt in Nebel. Auch er wird blasser. Wie ein Geist.
»Nein!«, wimmere ich und stehe auf. Ich kann mich kaum halten, also falle ich förmlich in seine Arme. »Bitte lass mich nicht allein. Es tut mir leid«, spreche ich das aus, was ich ihm in den letzten Monaten so gerne gesagt hätte. »Ich musste sie schützen. Ich habe gesehen, was du tun würdest, und …«
»Ich hätte das nie getan, Sternschnuppe. Das schwöre ich auf alles, was mir etwas bedeutet. Deine Vision muss dich getrogen haben.«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Sie können nicht falsch sein.«
»Diese war falsch. Ich habe dir damals auf Astras versprochen, dass ich dich niemals in eine dieser Zellen stecken würde, und das meinte ich genau so.«
Unsicherheit ergreift mich. Könnte es wirklich sein, dass ich etwas Falsches gesehen habe? Oder mir die schlimmstmögliche Zukunft offenbart wurde? Allein, weil wir unsere Kräfte vereint haben und Sirrah, Mirfak und auch Alderamin nur vom Schlimmsten bei Lior ausgegangen sind?
»Wann soll die Heirat vollzogen werden, Shedir?« Er verblasst immer mehr. »Schnell!«
»Zum Blutmondfest.«
Lior schließt die Augen. »Ich hole dich. Ich …« Sein Körper ist nun beinahe durchsichtig. Ich falle zu Boden, als er mich nicht mehr halten kann. »Du kannst Ajnur sagen, dass ich ihn töte, wenn er dich anfasst.«
»Ich …« Die Kälte kehrt zurück und ich spüre wieder den kalten, nassen Boden. Als ich die Augen öffne, bin ich wieder in der Zelle. Aber etwas ist anders. Ich sehe hinab auf meinen Unterarm und das Symbol, das die letzten Monate verschwunden war, leuchtet wieder. Ein Stern, der durch eine Linie mit einem Mond verbunden ist. Ich starre es minutenlang an, bis mir endlich bewusst wird, dass Lior mich wirklich in meinem Traum besucht hat. Er war es. Jetzt weiß er endlich, wo ich bin. Und als ich das begreife, platzen die Tränen aus mir heraus. Seltsame Laute verlassen meinen Mund, während ich das Salz schmecke und mit ihm all den Schmerz und die Trauer hinausschreie und weine, bis mir keine Tränen mehr bleiben.
. . . . . .
Tage und Nächte werden zu einem einzigen Brei aus Stunden, die ich darauf warte, dass er mich wieder besucht. Aber das tut er nicht. Vielleicht war es doch nur ein Traum, der meiner Hoffnung entsprungen ist.
Auf einmal betreten zwei Wachen die Zelle. Nie zuvor habe ich bewusst Menschen hier unten gesehen. Die hellbraunen Leinenhosen und grünen Hemden, über denen sie eine Schärpe in den Staatsfarben Lila und Weiß tragen, wirken, als wären sie für einen Staatsempfang gekleidet. Auch die gleichfarbigen, aber mit Gold verzierten Hüte wirken nicht, als gehörten sie zu einer alltäglichen Uniform. Wie ein scheues Tier weiche ich zurück. Sie reden nicht, stattdessen packen sie meine Arme und schleppen mich hinaus. Mein Körper ist zu schwach, um sich zu wehren. Ich erinnere mich nicht einmal, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe.
Sie tragen mich eine steinerne Treppe hinauf, die schier unendlich zu sein scheint, bis wir in einem Saal ankommen, der vollkommen mit Gold verkleidet wurde. Es blendet mich regelrecht. Ich kneife die Augen zusammen und brauche eine ganze Weile, bis ich wieder sehen kann. Die Wachen setzen mich ab und ich blicke blinzelnd auf den Thron vor mir. Meine Knie schmerzen auf dem heißen, ebenfalls goldenen Boden.
Vor mir sitzt Ajnur. Er scheint nicht mehr nur der Kronprinz zu sein, sondern der König. Der Mann, der Nisha getötet hat. Ich nehme all meine Kraft zusammen und spucke vor seine Füße. Gelangweilt hebt er seine Brauen.
»Du bist also immer noch nicht bereit, dich zu fügen?« Er schnaubt. Die Erinnerungen der letzten Monate in der Zelle sind verschwommen. Kaum greifbar. Aber ich erinnere mich, dass er mir noch in Tharos sagte, dass ich seine Frau werden würde.
»Ich soll einen Mann heiraten, der meine Freundin, ein Mädchen, ohne mit der Wimper zu zucken, getötet hat?«
Ein kraftloses Lachen verlässt meine Kehle. »Ich werde mich Euch nie fügen.«
Er verdreht die Augen. »Das ist es also?« Ajnur wirkt ehrlich überrascht und winkt jemanden zu sich, mit dem er kurz in seiner Sprache spricht, um sich dann wieder mir zu widmen.
»Die Drachen sind seit Jahrtausenden ausgestorben. Und das vor allem, weil es keinen Hüter mehr gab, der rein genug war, damit sich ein Drache an ihn bindet. Und du denkst wirklich, dass ich Nisha einfach so töten würde?«
Nisha? Warum nennt er sie bei ihrem Namen? Er kann sie nicht kennen. Immerhin hat er sie einfach ermordet. Ohne je zu erfahren, wer sie ist. Am liebsten würde ich ihm die Augen auskratzen.
»Ich habe gesehen, wie Ihr sie umgebracht habt«, entgegne ich und höre, wie die Tür hinter mir aufgeht. Automatisch drehe ich meinen Kopf und starre Nisha an. Die Zeit steht still. Immer wieder blinzle ich, aus Angst, dass mich der Schein nur trügt. Und auch wenn sie ein wenig erwachsener wirkt, allein durch ihre stramme Haltung und den ernsten Blick, ist sie es. Hinter ihr tritt Sternschnuppe ein – er ist mittlerweile doppelt so groß wie Nisha, die auf mich zurennt und sich auf mich stürzt.
»Was …?«, frage ich mit schmerzverzerrter Stimme. Ich drücke sie von mir, stehe gemeinsam mit ihr auf und streiche ihr das Haar aus dem Gesicht. Es ist länger geworden und schimmert bläulich, wie auch Sternschnuppes Schuppen. »Du lebst? Aber er hat dich getötet. Ich habe es gesehen.«
»Ich war tot«, gesteht sie ein. »Aber Ajnur hat mir erklärt, dass ein Hüter erst sterben muss, um sich dann bei der Auferstehung auf ewig an seinen Drachen zu binden. Ich kann Sternschnuppe jetzt sogar noch besser hören. Er freut sich übrigens auch, dich zu sehen.« Ein Schnaufen von ihm soll die Aussage wohl unterstützen.
Mir wird schwindelig. Sternschnuppe ist also wirklich ein Drache? Und Nisha seine Hüterin? Benommen schüttle ich den Kopf und wende mich mit zornigem Blick Ajnur zu. »Und das konntet Ihr uns nicht einfach vorher sagen?«
Er atmet tief ein und aus. Jede seiner Regungen zeigt, wie genervt er von mir ist. Als würde ich ihm seine wertvolle Zeit stehlen. »Ich habe es nicht nötig, dir die Geheimnisse und Bräuche unseres Landes zu erklären, Stern.« Das letzte Wort spuckt er aus wie eine Beleidigung.
»Und jetzt tut Ihr es dennoch?«
»Weil ich dich brauche.«
»Ich werde Euch nicht heiraten. Und Lior wird Euch töten.«
»Ach wirklich?« Er lacht und sieht sich herausfordernd in dem goldenen Saal um. »Aber wo ist er denn nur, der kleine Sternenschlächter?«
»Er …« Ich stoppe mich selbst.
Wissend legt Ajnur den Kopf schief. »Er hat dich also besucht? Nicht schlecht über diese Entfernung.«
»Er ist mächtiger, als Ihr glaubt«, entgegne ich, weil Lior aktuell mein einziger Trumpf ist. Meine einzige Hoffnung. Ich vermute, dass Sirrah und die anderen ebenfalls in Zellen gehalten werden. Doch ich werde sie befreien.
Er schnauft erneut. »Weil er dir ganz romantisch in deinen Träumen all das gezeigt hat, was seine wahre Seele ausmacht?« Seine Stimme klingt abfällig. Dann erhebt er sich und geht vor mir in die Hocke. »Schlaf!«, flüstert er und alles um mich herum wird schwarz. Ich bin zu schwach, um mich gegen diese Macht zu wehren. »Was hättest du denn gern, um dich wohlzufühlen?«, fragt Ajnurs Stimme und nach und nach bildet sich vor mir ein wunderschöner Garten. Weiter hinten tost ein riesiger glänzender Wasserfall. Sowohl die Blumen als auch die Blüten der Bäume sind rosa und weiß. Leuchtende Schmetterlinge fliegen um den König herum. Ich sehe ihn skeptisch an. Seine dunklen Haare und die schmalen silbernen Augen, deren Farbe mich an die von Lior erinnert.
»Ihr seid ein Fengari.«
Er hebt ehrlich überrascht seine Brauen. »Das war dir nicht klar? Mein Name bedeutet Mond, Stern.«
Natürlich war mir klar, dass er ein Fengari ist. Er hat mein Licht reflektiert und mich in einen Schlaf versetzt. Aber als verarmte Waise hatte ich nicht das Glück, so etwas wie Bildung zu erfahren, und aus den Gilden bin ich zu schnell herausgeflogen, um die Bedeutung seines Namens zu kennen.
»Ich will hier nicht mit Euch sein.«
»Zuerst einmal: Ich bin Ajnur. Dieses majestätische Zeug kannst du dir sparen.«
Mir wird bitterkalt. Das hier ist etwas, das ich nur mit Lior geteilt habe. Es ist persönlich und er hat in meinem Traum, in meinem Kopf, nichts zu suchen.
»Bitte hör mir zu, Shedir.«
»Ach, du weißt also, wie ich heiße?«, frage ich ironisch, weil er mich bisher einfach nur »Stern« genannt hat.
Wieder stöhnt er genervt. »Da du nichts von meinem Namen wusstest, gehe ich davon aus, dass Lior dir nicht die ganze Wahrheit erzählt hat.« Er deutet auf einen freien Platz zwischen all den Blumen, wo sich plötzlich eine Bank befindet. Widerwillig folge ich ihm und wir setzen uns. »Mir wurde zugetragen, dass du Janus auch schon kennengelernt hast. Einer der wichtigsten Monde aus deiner Heimat, dem Himmel, heißt wie er. Janus’ Eltern haben ihn nicht ohne Grund so genannt.«
Ich verenge meinen Blick. Jeder in Nimue weiß, dass auch der Name Lior für Licht steht und Lunas Mond bedeutet. Jedoch habe ich Lior nie danach gefragt, wieso seine Eltern ihm den Namen gegeben haben. Es erschien mir zuvor nicht wichtig. »Aber warum haben Liors Eltern dann seinen Bruder Lunas genannt und nicht ihn?«
»Weil Lunas der Erstgeborene ist. Und nur die Erstgeborenen dieser Generation der königlichen Familie Fengari sind.«
»Aber … er ist kein Mond.« Das alles ist zu viel. Ich begreife nicht, was das bedeutet, und bin zu schwach, um es zu verstehen. Als wäre mein Geist in den letzten Wochen erschlafft. Trotzdem glaube und vertraue ich Ajnur auf eine verstörende Weise. Als würde ich ihn kennen. Seine tiefsten Geheimnisse. Was ist in den letzten Wochen nur mit mir passiert?
»Nicht mehr, nein.« Er bewegt seine Hand, dann sehe ich vor mir die Königin und den verstorbenen König von Nimue. Sie gehen zusammen mit zwei Jungen einen Bergpass hinauf. Ich muss nicht raten, wer sie sind. Diese Vision, oder was das hier ist, zeigt mir den sechzehnjährigen Lunas und den dreizehnjährigen Lior. Lunas sieht bereits ziemlich erwachsen aus, während Lior noch beinahe ein Kind ist. Seine Schultern sind schmal, er hat dunkle verwuschelte Haare und seine Augen glitzern schelmisch. Allerdings sind sie blau und nicht silbern wie heute. Nach und nach begreife ich, wo sie sind. Aber woher kennt Ajnur diese Erinnerung? Wie kann er mir das hier zeigen?
Es ist Buswar, denn ich erkenne die Kathedrale der goldenen Nimue, die sich in dem Dorf befindet und auf die sie gemeinsam zugehen. Als sie oben ankommen, sehe ich das Gebäude zum ersten Mal in meinem Leben so lebhaft vor mir, auch wenn es nicht echt ist. Bisher kannte ich es nur von Zeichnungen. Eine riesige Kathedrale, die einem goldenen Schloss ähnelt. Im Inneren befinden sich wunderschöne goldene Bemalungen und in der Mitte eine gigantische, ebenfalls aus Gold bestehende Statue von Nimue.
Die Königin geht vor ihr auf die Knie und beginnt laut zu schluchzen. Mit versteinerter Miene steht Lunas daneben und zieht immer wieder an Liors Umhang, damit er nicht herumrennt. Der König tritt hinter die Königin und legt ihr die Hand auf die Schulter.
»Bitte nimm es von ihm. Gib es unserem Jüngsten!«, fleht sie.
»Was soll sie mir geben?«, fragt Lior neugierig an Lunas gerichtet. Sein Gesichtsausdruck jagt mir einen Schauer über den Rücken. Er ist eiskalt. Herablassend. Lunas sieht seinen Bruder an, als würde er nur leben, um ihm zu dienen. Um seine Bürde zu nehmen.
Nichts geschieht.
»Gib es ihm!«, sagt Lunas laut und deutlich, es klingt wie ein Befehl. Die Kathedrale erbebt. Reflexartig strecke ich die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, während der kleine Lior sich an seinen großen Bruder klammert. Der aber drückt ihn von sich und tritt zu seinen Eltern. »Ich bin der Erbe deines Königreichs und befehle dir, ihn statt meiner zu einem Fengari zu machen. Es war euer Pakt. Der Pakt der Könige, als sie unsere Königreiche vereinten. Und nun entscheide ich.«
Jetzt bebt auch die Statue. »Bist du dir sicher, dass du ihm das auferlegen willst?«, ertönt eine melodische, allumfassende Stimme. Meine Haut prickelt. »Das wird dich etwas kosten und er ist nicht dafür geboren. Es könnte ihn töten.«
»Und mich wird es töten!«, knurrt er. »Also tu es.«
»Dein Wunsch sei mir Befehl, Erbe von Nimue.« Ihre Stimme klingt, als würde sie ihn verurteilen. Und dann erstrahlt die Statue so hell, dass ich die Augen schließen muss. Ich höre Schreie. Laute, kindliche Schreie. Ich zwinge mich, meine Lider wieder zu öffnen, und sehe dabei zu, wie der kleine Lior dort auf dem Boden liegt und sich schreiend krümmt. Tränen platzen aus meinen Augen. Ich will zu ihm gehen und ihn in den Arm nehmen, weil niemand es tut. Sie stehen einfach nur da und beobachten, wie ihr Kind, ihr Bruder leidet. Für Lunas, der nun noch herzloser und kühler wirkt als zuvor.
Das Bild verschwimmt, bis ich mich wieder in der prächtigen Natur auf einer Bank befinde. Ich brauche noch einen ganzen Moment, bevor ich mich zu Ajnur drehe. Auch ihn hat diese Szene nicht kaltgelassen. Seine Augen sind wässrig und sein Körper angespannt. Er scheint zu verstehen, welche Bürde sie ihm damals wirklich übertragen haben. Aber warum ist es eine solche Last? Nimue sagte, dass es Lior töten könnte. Aber Fengari haben auch Macht und Lior hat sich nie darüber beklagt, ein Mond zu sein.
»Warum ist es tödlich, ein Fengari zu sein?«, frage ich. »Und woher kennst du diese Bilder?«
»Wie du weißt, hat er es überlebt und ist seitdem ein Fengari, obwohl er keiner hätte sein sollen. Aber uns stehen gefährliche Zeiten und Prüfungen bevor. Wenn es so weit ist, werde ich dir das alles erklären.« Er schnauft. »Lunas’ Schicksal verändert das allerdings nicht. Und das alles weiß ich, weil wir Fengari auf eine bestimmte Art verbunden sind. Wir alle kennen diese Erinnerung, weil sie uns betrifft.«
»Sie dachten, dass er deshalb sterben wird, und haben Nimue gebeten, Lior zu einem Fengari zu machen?« Es ist so unmenschlich und unverständlich, dass ich es nicht wahrhaben will. Ich weiß, dass Lunas immer an erster Stelle stand. Aber das?
»Sie haben Lior viel schlimmere Dinge angetan, um Lunas zu retten.«
Ich will gar nicht wissen, was noch schlimmer sein könnte als das, was ich da gerade gesehen habe. Den Gesichtsausdruck des verängstigten kleinen Lior werde ich nie vergessen. Und auch nicht den von Lunas.
»Lunas war nie dein Mond, Shedir. Und somit ist es auch Lior nicht.«
Ich sehe zu Boden, bete, dass er nicht weiterspricht. Dass ich es nicht hören muss.
»Von Anfang an war ich es und bin es noch. Der Erbe des Lishan, des Feuerdrachen, ist der Mond, der mit der Königin des Himmels verbunden ist.«
»Warum? Warum haben sie damals bestimmt, dass die Erstgeborenen eurer Generation Fengari werden? Deine Eltern und die von Lior sind keine.«
»Als die Sterne fielen, wussten meine Vorfahren, dass ihre Herrschaft in Gefahr ist. Weil unter den wiederkehrenden Sternen auch die königliche Familie des Himmels sein würde.« Er erhebt sich ebenfalls und geht ein Stück über den grünen Rasen vorbei an Sträuchern und bunten Blumen. Ich folge seiner großen drahtigen Statur. »Also sammelten sie ihre Kräfte, um Monde zu erschaffen, die mächtig genug sein würden, um sich an die Sterne zu binden oder sie zu töten.«
Ich mustere die rosafarbenen Blüten und die kleinen Schmetterlinge, damit er meine Ahnungslosigkeit nicht in meinen Augen lesen kann. Und die Tatsache, dass ich ihm glaube. Ihm lausche, als würde ich einem Freund zuhören. Warum hat er diese Wirkung auf mich? Ist er wirklich mein Mond? Ich darf ihm nicht einfach alles glauben, was er sagt – immerhin hat er mich wochenlang in dem feuchten Kerker verrotten lassen. »Aber wir würden doch eine Eklipse hervorrufen, würden wir uns wirklich verbinden. Warum solltest du das wollen?«
»Das ist kein Thema, das wir jetzt besprechen sollten«, sagt er und sieht sich um. »Es wird Zeit aufzustehen. Ich werde erwartet.«
In dem Moment erwache ich auf dem warmen, goldenen Boden und sehe zum Thron, von wo aus mich Ajnur nachdenklich anschaut. Etwas hat sich verändert. Vielleicht wirkt er ein bisschen weniger genervt von mir.
Hinter mir räuspert sich eine der Wachen. »Raja Ajnur, die Botschafter für das Blutmondfest sind hier.«
Ohne den Blick von mir abzuwenden, nickt er. »Bist du bereit für ein echtes Zimmer?«
Seine Frage trifft mich unvorbereitet. Ich bin davon ausgegangen, wieder eingesperrt zu werden. Was wollte er damit bewirken? Mich schwach und fügig machen? Wahrscheinlich hat er sein Ziel erreicht. Aber vergessen werde ich das nicht, dennoch nicke ich. Zurück in diese kalte Zelle will ich auf keinen Fall.
»Dann bring sie zu den anderen«, weist er Nisha an und schenkt ihr ein Lächeln, das tatsächlich echt aussieht. Dann wendet er sich wieder mir zu. »Wenn du gebadet und dir etwas anderes angezogen hast, würde ich mich freuen, wenn du im Sonnengarten mit mir speist.«
»Bekomme ich dann Antworten?«, frage ich und stehe auf. Meine Beine halten mein Gewicht kaum, mit wackligen Knien sehe ich ihn fest an.
»Ein paar«, antwortet er knapp, erhebt sich ebenfalls und geht mit seinen Wachen aus dem Saal. Erst als die Tür zufällt, drehe ich mich zu Nisha und stütze mich auf sie.
»Vertraust du ihm etwa?«, frage ich, als sie mich mühevoll aus dem Saal schleppt.
»Ajnur? Ja, natürlich«, sagt sie, als wäre es selbstverständlich, dass man jemandem traut, der einem ein Messer ins Herz gerammt hat. »Er ist wirklich nett und er weiß einfach alles. Du kannst dich auf ihn verlassen, Shedir.«
»Auf Ajnur?« Ich schnaube. »Er hatte mich monatelang in eine Zelle gesperrt, Nisha. Ich habe kaum etwas zu essen bekommen.«
»Ich verstehe, dass das schlimm gewesen sein muss, aber …«
»Aber was?«, frage ich etwas zu harsch, denn sie zuckt zusammen.
»Du hast seine halbe Mannschaft mit deinem Sternenstaub getötet, Shedir. Und dann hast du hier fast den Palast zerstört.« Wir treten in den Eingangsbereich, wo Menschen auf hohen Leitern stehen und die Wände mit Lehm reparieren.
»Das war ich?«
»Ja. Und Ajnur hat alles versucht, um dich zu beruhigen. Auch dass ich noch lebe, hat er dir ein paarmal gezeigt und mich mitgenommen, aber du warst auf der Fahrt die ganze Zeit von heißem Sternenstaub umgeben. Auch noch in der Zelle. Er war jeden Tag da, um mit dir zu reden und dich zu beruhigen, aber du warst wie abwesend. Wir alle haben es probiert.«
Ich versuche, mich daran zu erinnern. Ich weiß, dass da in diesem Kerker immer ein Licht war. War das also nicht der Mond, sondern ich selbst? »Wie lange war ich dort unten?«
»Fast drei Vollmonde. Der nächste ist der Blutmond in einem Monat.«
Mir wird übel. Ich erinnere mich kaum an etwas, aber ich weiß, dass Ajnur mir gesagt hat, dass wir an diesem Tag heiraten werden. Wie kann Nisha einem Mann vertrauen, der mich zwingen will, ihn zu ehelichen?
»Tu mir den Gefallen und hör dir an, was er zu sagen hat. Bitte.«
Ich nicke, weil ich zu etwas anderem keine Kraft habe. Und weil ich ebenfalls Antworten will.
Wir gehen eine wunderschöne goldene Treppe hinauf. Der Handlauf wurde in Form einer Lilie geschmiedet, die sich hinaufrankt. Als wir durch einen Gang auf eine Tür zutreten, danke ich den Göttern, dass ich endlich ein Bad und etwas zu essen bekomme. Nisha öffnet die Tür und führt mich in einen bereits dampfgeschwängerten Raum. Ätherische Gerüche steigen mir in die Nase und beruhigen meine Sinne.
»Shedir!« Sirrah kommt auf mich zugerannt und mustert mich, nimmt mich allerdings nicht in den Arm. »Geht es dir gut?«
»Ah, sie glüht nicht mehr«, sagt Alderamin, der nackt am Rand eines gigantischen Beckens sitzt und mir einen abschätzigen Blick zuwirft. Frya, die gerade schwimmt, winkt mir zu. Ebenfalls nackt. Mirfak sehe ich nirgendwo. Stattdessen bilde ich mir ein, Lior wäre hier, wie damals, als er mir beim Baden zusah. Mir wird schwindelig.
»Komm, wir waschen dich«, sagt Sirrah, die zumindest einen dünnen Stofffetzen trägt, der ihre Brüste und ihren Schambereich bedeckt. Sie beginnt, mich auszuziehen, während Nisha mich weiter hält.
»Sie hat schlimme Verbrennungen«, sagt sie und wirkt in allem, was sie tut, erwachsener. Nicht mehr wie das fünfzehnjährige Mädchen, das sich benommen hat, als wäre es neun. Ich spüre ihre Berührungen kaum. Genauso wenig wie die Verbrennungen, von denen sie spricht.
Hinter uns rumpelt es und ich drehe mich schwerfällig zur Tür.
»Nein, Sternschnuppe!«, zischt Nisha. »Du bist zu groß für …« Doch der nicht mehr so kleine Erdlöwe drückt sich mit all seiner Kraft durch die Öffnung und lässt damit ein wenig Putz von dem Rahmen bröckeln. »Na super«, brummt Nisha und verdreht die Augen.
Sirrah lacht leise, während sie mich weiter auszieht und die besudelte Kleidung angeekelt wegwirft. Es ist die, die ich damals in Tali anzog, bevor wir nach Tharos aufbrachen. Verbrannt ist sie allerdings nicht.
»Aber wehe, du springst ins …« In dem Moment hat Sternschnuppe bereits mit Anlauf einen Satz in das große Becken gemacht. Frya, die komplett nass gespritzt wird, lacht laut und herzhaft und selbst Alderamin hebt einen Mundwinkel. »Du hast ihn echt super unter Kontrolle, Nish«, sagt er und auch in seiner Stimme klingt ein Lächeln mit. Nish? Ich versuche, das brennende Gefühl zu unterdrücken, das in mir aufkommt. Was ist das? Eifersucht, weil sie alle in den drei Monaten eine Bindung aufgebaut haben, von der ich weder etwas weiß noch selbst besitze?
»Er hört, wenn ich sage, dass er jemandem den Kopf abfackeln soll«, kontert sie.
Jetzt lacht Alderamin aus vollem Hals. »Mit dem kleinen Funken komme ich schon zurecht.«
Sirrah schüttelt lächelnd den Kopf und übernimmt mich dann von Nisha, um mich in das Becken zu führen. Das Wasser begrüßt mich mit einer warmen Umarmung und legt sich doch angenehm wie ein Schleier auf meine Haut. Nach all den einsamen Monaten fühlt es sich geborgen an und nun schmerzen auch die Wunden, die mein eigenes Licht mir zugefügt hat.
Es dauert nicht lange, bis ich mich gestärkt fühle. Irgendetwas scheint in dem Wasser zu sein, denn es glitzert leicht.
»Warum seid ihr noch hier? Hat er euch eingesperrt?«
»Sehen wir denn eingesperrt aus, Prinzessin?«, fragt Alderamin herausfordernd. Er sitzt da, nach hinten auf seine Arme gelehnt, als würde er sich nackt genauso selbstsicher fühlen wie angezogen.
»Er hat uns die Wahl gelassen«, erklärt Sirrah.
»Und …«
»Ich bin deinetwegen geblieben, aber auch weil …« Sie atmet tief ein und aus, bevor sie eine Seife nimmt und meinen Körper damit abzureiben beginnt. »Es ist meine Heimat und Ajnur ist wirklich nett.«
Mir entgeht nicht, dass auch Nisha ihn als nett bezeichnet hat. Aber was soll das bedeuten? Dass sie für immer bei ihm bleiben wollen? Als was? Seine Gäste?
»Er hat Nisha abgestochen und uns gegen unseren Willen mitgenommen. Außerdem war ich monatelang eingesperrt. Ein Wunder, dass ich noch lebe und nicht verhungert bin«, erinnere ich sie.
»Er hat für dich gesorgt und außerdem Gründe dafür, aber die wird er dir sicher noch …«
»Ich will keine Erklärungen, Sirrah. Er will, dass ich ihn heirate.«
Sie alle schweigen. Als hätte ich etwas angesprochen, was sie zu ignorieren versucht haben.
»Bitte sagt mir nicht, dass ihr dieses Vorhaben unterstützt!«
Als sie weiterhin nichts sagen, bete ich, dass Lior sein Versprechen hält und herkommt. Mich hier rausholt. Dieser Ajnur scheint sie alle hypnotisiert zu haben.
»Ich bringe dich in unser Zimmer und wir ziehen dir etwas an«, sagt Sirrah, nachdem sie auch meine Haare gewaschen hat. Sie steigt aus dem Wasser und greift nach einem großen Tuch, das sie mir umlegt, als ich aussteige.
Ich beschließe, sie unter vier Augen noch einmal zu fragen, was hier los ist, und folge ihr. Das Wasser scheint meine Knochen und Wunden ein wenig geheilt zu haben, weshalb ich selbstständig gehen kann.
Wir gehen zurück in den Flur und hinein in ein großes Zimmer mit zwei Betten.
»Dort schlafe ich«, sagt sie und deutet auf das ungemachte Bett. Die Wände sind ebenfalls in Gold gehalten, mit schwarzer und rosa Farbe bemalt. Wunderschöne Blumen und Bäume erstrecken sich bis zu einem Fenster, das auf einen Balkon führt.
Sirrah geht zu einem Schrank und nimmt ein paar Kleider heraus. Eines zieht sie sich selbst über den Kopf und mit dem anderen tritt sie zu mir. Noch immer stehe ich an der Tür und würde am liebsten wegrennen.
»Was soll das?«, frage ich sie ernst. Sie bringt das Kleid zu meinem Bett und winkt mich dann zu sich. »Spielst du nur eine Rolle oder …« Ich weiß nicht, ob ich dieses Oder hören will.
»Shedir, ich vertraue ihm. Und wenn du mit ihm geredet hast, wirst du …«
»Das werde ich nicht. Allein, weil er mich heiraten will, obwohl wir uns nicht kennen, Sirrah!«
Sie zuckt zusammen. Fast, als würde auch ihr die Vorstellung missfallen.
»Magst du ihn etwa?«, frage ich erschrocken.
Sie hebt ihre Brauen. »Ja, ich mag ihn. Aber nicht so, wie du denkst.« Sie schüttelt sich, weicht aber meinem Blick aus.
»Was hat er euch versprochen?«
»Er musste uns gar nichts versprechen, Kleines. Wenn du eine Weile hier bist und mal vor die Tür kommst, in die Stadt, dann wirst du sehen, was dieser Mann aus Lishan gemacht hat.« Sie steht auf, schreitet zur Balkontür und öffnet sie. Ein süßlich duftender Wind stößt hinein. »Er hat einen Ort für jeden geschaffen, Shedir. Auch wir Asteria sind hier willkommen.«
»Das sagt er«, knurre ich.
»Ich habe es gesehen und erlebt. Vergiss nicht, dass ich lange hier gelebt habe. Er hat das Königreich verändert. Es besser und freier gemacht.«
»Und deshalb darf er mich in eine Ehe zwingen und euch gefangen nehmen?«
Sie seufzt. »Ich bin dir gefolgt, Shedir, obwohl ich Zweifel hatte. Ich habe dir vertraut. Vertrau jetzt mir und hör ihn an.«
Ich balle meine Hände zu Fäusten. Ich wünschte, mein bescheuerter Körper hätte nicht getan, was er die letzten Monate getan hat. Wie auch immer er so viel Licht erschaffen konnte. Vielleicht hätte ich das hier verhindern können. Verhindern, dass er sie um den Finger wickelt. »Schön, ich rede mit ihm.«
»Sehr gut. Aber dafür solltest du etwas anziehen.« Sie nimmt das silbrige Kleid vom Bett und hält es hoch.
Als ich es angezogen habe, fühlt es sich an, als wäre ich immer noch nackt, so sehr schmiegt sich der dünne Stoff an meine Haut. Er glänzt, als wären Tausende Diamanten in ihm verwoben.
»Ich bringe dich zum Sommergarten«, sagt sie und geht aus unserem Zimmer.
Mit einem mulmigen Gefühl folge ich ihr. Ich fühle mich ausgeschlossen und … einsam. Schlimmer noch als in dieser Zelle. Zwar habe ich kaum richtige Erinnerungen daran, aber ich habe gebetet, wieder zu ihnen kommen zu können. Und nun sind sie mir fremd.
Die Verzierungen und all den Prunk nehme ich kaum noch wahr, bis wir durch eine Tür in einen Garten treten, der umgeben von Glas ist. Hunderte exotische Pflanzen und auch Tiere rauben mir den Atem. Sie geben wunderschöne Töne und Gesänge von sich, während die Blumen einen himmlischen Duft ausströmen. Sirrah verabschiedet sich und lässt mich zurück. Überall summen Insekten und Vögel zwitschern. Sogar einen Bachlauf oder einen kleinen Wasserfall höre ich. Er muss irgendwo hinaus aus dem Wintergarten fließen. Es ist fast magisch hier.
Langsam schreite ich über die Wiese, spüre das Gras unter meinen nackten Füßen. Als ich einen Palmenwedel zur Seite schiebe, erkenne ich Ajnur. Er sitzt an einem kleinen runden Mosaiktisch und beobachtet zwei Vögel, die aus einem Wasserspiel trinken.
Dann dreht er sich mir zu, obwohl ich meiner Meinung nach lautlos über das Gras gehe.
Sein Mund ist geöffnet, als hätte er etwas sagen wollen, aber mein Anblick scheint ihm die Sprache verschlagen zu haben. Er sieht mich lange und intensiv an, bevor er sich erhebt und mir den Stuhl zurechtschiebt. »Schön, dass du gekommen bist.«
»Hatte ich denn eine Wahl?«, frage ich bissig und setze mich. Vor allem aber, weil Essen auf dem Tisch steht. Exotische Früchte und verschiedene Nüsse.
»Greif ruhig zu«, sagt er, als er meinen gierigen Blick deutet, und fügt hinzu: »Man hat immer eine Wahl.«
»Hatte ich die auch, als du mich und meine Freunde überfallen und mitgenommen hast?«
Ich schnappe nicht nach dem Essen, obwohl es mich all meine Überwindung kostet. Er beobachtet meine bebenden Finger und greift dann selbst zu und endlich nehme auch ich mir irgendeine Frucht und beiße hinein. Er selbst hält seine Ausbeute, eine Traube, nur in der Hand. Als hätte er sie nur genommen, um mir das Essen zu ermöglichen. Ja, die Etikette beherrscht er. Aber was lauert hinter der Fassade? Auf dem Steg in Tharos wirkte er nicht so. Ganz im Gegenteil. Was also hat sich verändert?
»Konnte das Mondwasser deine Wunden etwas beruhigen?«, fragt er und sieht mir dabei zu, wie ich die nächste Frucht esse, als wäre ich ein verdammtes Raubtier. Ich wünschte, ich könnte mich mehr beherrschen.
Während ich den Bissen herunterschlucke, nicke ich.
»Mir ist bewusst, dass du Hunger hast, aber du solltest etwas langsamer essen. Ich konnte dir nur ein einziges Mal ein wenig Brühe einflößen. Wärst du ein Mensch, hättest du das nicht überlebt.«
Ich sehe auf seine Hand, zwischen seinen Fingern hält er immer noch die Traube. Dort sind frische Narben, die nach Verbrennungen aussehen. Sind die etwa von mir, als er mich … gefüttert hat?
»Wie hast du es geschafft, dass meine Freunde hierbleiben wollen? Was hast du ihnen versprochen?«
Er legt einen Fuß auf seinem Oberschenkel ab. »Ich habe ihnen ein Zuhause angeboten. Und das werde ich auch dir anbieten.«
»Und ich dachte, du wirst mich heiraten, ob ich will oder nicht. Hast du es nicht ungefähr so formuliert?«
»Das ist richtig.« Er räuspert sich. »Aber wen du liebst oder mit wem du diese Liebe vollziehen willst, ist allein dir überlassen.«
»Wie gütig«, gebe ich schnaubend zurück und fühle mich allmählich wie ein bockiges Kind. Eigentlich habe ich jedes Recht, so zu sein. Aber seine ruhige Art lässt mich ein schlechtes Gewissen spüren. »Ich will dich nicht heiraten.«
»Weil du Lior liebst?«
Ich zögere. Liebe ich Lior? Nein. Ich kann nicht lieben. Oder will es vielmehr nicht. Aber ich hätte ihn lieben können. In einer anderen Welt und vor allem mit anderen Erfahrungen. Liebe bedeutet Schmerz und Verlust. Zumindest für mich.
»Vorrangig zählt, dass ich dich nicht liebe, Ajnur«, sage ich ruhig und ehrlich. Als ich seinen Namen sage, zuckt er kaum merklich zusammen.
»Und ich nehme an, dass du es auch nicht willst.«
Ich sehe ihn nachdenklich an. Natürlich will ich es nicht. Es ist nicht so, als wären wir zwei unbelastete Fremde, die sich treffen und ineinander verlieben. Das wird nicht passieren, also nicke ich.
»Gut. Dann weiß ich, woran ich bin, und du weißt, dass ich dich nicht auf diese Art berühren werde.«
Ich blinzle.
»Aber du kannst mir nicht verbieten, dich zu lieben«, fügt er hinzu.
Was redet er da? Irritiert schüttle ich den Kopf. »Warum willst du mich heiraten?« Es muss einen anderen Grund geben, als dass er mein Mond ist. Falls er das überhaupt wirklich ist. Auch Janus sprach davon, dass die Nachfahren der Königshäuser ein Recht auf mich hätten. Janus, Lunas, Ajnur und der König von Karrak, Badru. Aber was würde passieren? Wären sie mächtiger, nur weil sie die Königin des Himmels geheiratet haben?
»Weil es mein Schicksal ist.«
»Aber es ist nicht meins«, sage ich. Immerhin habe ich mein Schicksal gesehen. Ich werde Lior lieben. Mit ihm gemeinsam kämpfen und ihn … ich schiebe den Gedanken beiseite.
»Wirklich? Hast du gesehen, dass wir nicht heiraten? Genau das hast du gesehen?«, fragt er, als wäre es normal, dass ich mein eigenes Schicksal kenne.
Ich ziehe die Brauen zusammen, sage aber nichts, denn das habe ich in der Tat nicht.
»Ich allerdings habe es erblickt.«
»Du bist ein Fengari. Kein Asteri.«
»Du weißt, dass man eine Vorsehung teilen kann. Ich habe Bilder gezeigt bekommen, die ein Asteri in mir gesehen hat.«
»Und was war das? Eine pompöse Trauung unter dem Blutmond?«
Er schnaubt, was mir vertrauter ist als diese gespielt beruhigende Art. Mir ist es also erneut gelungen, dass er genervt von mir ist. »Ich sah deinen Tod. Und wenn es stimmt, was mir deine Familie erzählt hat, hast auch du diesen Tod gesehen.«
Dass er sie wie selbstverständlich als meine Familie bezeichnet, rührt mich so sehr, dass ich kurz vergesse, was er da gesagt hat. »Wir haben meinen Tod nicht wirklich gesehen. Nur die Tatsache, dass er mir vorausgesagt wird. Und Lior es verhindert.«
»Und doch habt ihr auch eine Zukunft erblickt, in der Lior es nicht abwendet, sondern dich einsperrt, statt seinen Bruder aufzuhalten, oder? Wer sagt dir, dass Lunas dich nicht doch getötet hätte, bevor Lior dir wirklich geglaubt hätte?«
Nachdenklich befeuchte ich meine Lippen. In der Vision, die ich hatte, wollte Lior es nicht wahrhaben, ja. Aber ich bin mir sicher, dass er meinen Tod dennoch verhindert hätte. »Und in deiner Vision hast du mich gerettet?«
»Nein. In dieser Vision habe ich nicht in deiner Welt existiert. Und doch wurden mir diese Bilder gezeigt. Also entschied ich, diese unbekannte, wunderschöne Frau zu suchen und ihr zu helfen. Und weißt du, was dann geschah?« Er beugt sich vor und berührt meine Hand. Als sich sein Ärmel dabei ein wenig hochschiebt, erkenne ich, dass seine Haut leuchtet. Meine allerdings nicht. Wie kann er dann mein Licht reflektieren, obwohl ich zu schwach bin, um meines unterdrücken zu können?
Sowohl seine Berührung als auch seine Stimme lösen etwas in mir aus. Es beruhigt mich. Als hätte sie das bereits die letzten Monate getan, ohne dass ich mich erinnere.
»Dein und mein Schicksal änderten sich in dem Moment, als ich entschied, nach dir zu suchen. Und in dieser Vision heirateten wir zum Blutmond. Zumindest sah es so aus. Du trugst eine Krone und nahmst meine Hand. Komplett in Schwarz gekleidet, wie es in Lishan Brauch ist. Glaub mir, ich kannte dich nicht. Auch jetzt kenne ich dich nicht und selbst wenn ich dich rein äußerlich sehr ansprechend finde, war es nicht mein Wunsch, eine Fremde zu heiraten.« Er zieht seine Finger zurück und seltsamerweise vermisse ich diese wärmende Berührung. Er erhebt sich und schreitet zur verglasten Front, um der untergehenden Sonne zuzusehen, wie sie in ihrem rötlichen Licht verschwindet. »Ich suchte nach einem Ausweg. Einem Weg, mein Schicksal wiederherzustellen. Ohne diese Hochzeit. Ich verstand nicht, warum ich dir nicht einfach helfen konnte, ohne direkt unsere Leben so sehr aneinander zu binden. Aber ich erkannte auch, dass nicht nur dein Leben in Gefahr ist, sondern auch meines. Das aller Fengari. Ich las wirklich viel und reiste, wenn es meine königlichen Pflichten zuließen, um Gelehrte und Asteri zu befragen. Und als meine Hoffnung beinahe versiegt war, suchte ich nach dem Blutmond und seiner Bedeutung. Vorher habe ich nie darüber nachgedacht, dass auch das eine Rolle spielen könnte. Aber ich wurde fündig.«
Ich nehme mir ein paar Nüsse, um zu überspielen, dass ich tatsächlich neugierig geworden bin. Mehr noch. Ich beginne, ihm zu glauben. Zu vertrauen. Verdammt. Wenn er die Wahrheit sagt und die Fengari in großer Gefahr sind, dann muss ich sie als Königin des Himmels schützen. Asteria und Fengari sind nicht ohne Grund miteinander verbunden.
»Ein Blutmond entsteht, wenn Mond und Sonne sich genau gegenüberstehen und sich zwischen ihnen die Erde befindet. Eine totale Mondfinsternis also. Und genau dann ergibt sich die einzige Möglichkeit, um nicht nur zu heiraten, sondern einen Stern mit seinem Mond zu verbinden. Die Energie, die dabei entsteht, wenn die Erde genau zwischen Mond und Sonne steht, sorgt dafür, dass genug Macht da ist, um …«
»Uns ewig aneinander zu binden? Was genau bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass ich dein Licht reflektiere, auch wenn du nicht da bist.«
»Und ich verliere einen Teil meines Lichts?« Unruhig rücke ich auf dem stählernen Stuhl hin und her.
Ajnur legt den Kopf schief. »Du wirst mächtiger. So viel Zeit, wie du mit Lior verbracht hast, da dachte ich, du wüsstest das. Er musste dafür aber in deiner Nähe sein. Wenn du mit einem Fengari verbunden bist, hast du diese Macht immer.«
Ich verziehe den Mund und denke darüber nach, ob ich in Liors Gegenwart stärker war. Aber wann hatte ich ihn nicht bei mir, wenn ich meine Macht wirklich genutzt habe? Er war immer in der Nähe. Außer als die Lishaner uns angriffen. Aber da hat es doch an den Fesseln gelegen, dass ich keinen Sternenstaub nutzen konnte. Oder?
Ajnur erhebt sich und geht zu einer der Wände, die nicht aus Glas gefertigt sind. Dort steht ein kleiner Brunnen, über dem ein verzierter alter Spiegel hängt. Sein Glas ist matt und doch kann ich sehen, wie er mich durch ihn hindurch ansieht.
»Wenn das Sonnenlicht auf den Mond trifft und er es reflektiert, werden Teile der Erde beleuchtet, die sonst im Dunkeln liegen würden. Wenn Licht auf etwas trifft, das es reflektiert, wird es verstärkt, wie bei einem Brennglas. Deine Macht steigt also an durch einen Mond. Statt dass dein Licht verschwindet und verschluckt wird, reflektieren wir Monde es und schicken es zurück zu dir und in diese Welt.« Er kommt wieder zum Tisch und wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. »Würden wir uns verbinden, wäre das immer so. Egal, wie weit wir voneinander entfernt sind.«
Das klingt zwar alles plausibel, aber was ist mit Lior? Will ich mit jemand anderem verbunden sein als mit ihm? Ein Teil von mir hat wohl gehofft, er wäre mein Mond, obwohl er mir sagte, dass es nicht so ist.
»Warum sollte ich dir vertrauen, Ajnur?«
»Ich könnte dir die Gründe nennen. Doch um sie mir zu glauben, müsstest du mir vertrauen, und damit fängt der Kreislauf an. Aber ich kann dir zeigen, was ich gesehen habe. Die Sterne lügen nicht.«
Er hält mir seine Hand entgegen, als würde er um Erlaubnis bitten, mich in meinem Traum zu besuchen. Dort, wo ich in ihm lesen kann. Oder er will es mir zeigen, so wie Lior es bei der Verlobungsfeier getan hat.
Ich zögere. In mir weigert sich ein Teil, eine andere Wahrheit anzuerkennen. Die Shedir, die will, dass Lior ihr Schicksal ist, will nicht sehen, dass ein anderer Weg für sie bestimmt ist. Wie könnte ich auch? Und doch ergreife ich seine Hand. Es ist anders als bei Lior. Von Anfang an wusste ich, dass mit ihm echte, körperliche Anziehung existiert, aber keine kosmische. Hier und jetzt mit Ajnur spüre ich die Verbindung. Eine, wie ich sie bei Sirrah, Alderamin und Mirfak fühle und wie sie nur die Sterne beschlossen haben können.
»Mein Geist ist geöffnet. Wenn du es sehen willst …«
Ich kühle meinen Körper herunter und augenblicklich durchläuft mich prickelnde Macht. Die Wärme der Sterne. Des Lichts. Will ich in ihm lesen? Nein. Muss ich es tun? Ja. Also gebe ich nach und schließe die Augen.
In meinem Geist formt sich ein Bild. Ich sehe Ajnur und erkenne Lior in ihm wieder. Ihre Blicke ähneln sich, voller Liebe und Zuneigung. Aber warum? Weil ich die Königin des Himmels bin? Nach und nach erkenne ich den blutenden Mond hinter ihm. Meine Hand liegt in seiner. Und mit einem Mal reflektiert er mein Licht. Es ist so hell und wunderschön, dass die Menschen um uns herum raunen.
Und dann endlich lasse ich es komplett zu und sehe mich aus seinen Augen. Die Welt bebt. Der Himmel brennt. Und auch mein Ich in dieser Vision sieht ihn sicher an. Das Bild ändert sich. Wir tanzen in einem leeren Saal. Wir lachen. Wieder verändert sich die Szenerie. Eine Wiese breitet sich vor mir aus. Wir sitzen auf ihr, reden und auch jetzt lachen wir gemeinsam. Diese Bilder – es folgen mehr – wirken glücklich und ganz anders als die mit Lior. Sie sind ruhiger. Fröhlicher. Aber sie haben kaum etwas von der alles zerreißenden Leidenschaft, die Lior und mich in unserer Zukunft und der Gegenwart verbunden hat.
Als ich Ajnurs Hand loslasse, habe ich das Gefühl, er würde mir in die Seele sehen. Er ist die klügere Wahl. Die bessere. Eine, die mich erden wird.
Kurz denke ich an den Abend, an dem ich Lior das erste Mal begegnet bin. Unser Gespräch in der Schenke. Das Spiel. Diese Nacht. Und all die Tage und Nächte danach.
»Was wird aus ihnen? Aus Lior und Lunas?«
»Du willst ihn weiterhin retten? Er wird dich eines Tages töten, wenn du ihn leben lässt.«
Freudlos lache ich auf. Wenn ich ihn leben lasse. Ist es das? Bestimme ich, indem ich Schicksale ändere oder eben nicht, wen ich leben lasse und wen nicht? Spiele ich Gott?
»Ich …« Ein Beben unterbricht mich. Ich lasse Ajnur los und halte mich an meinem Stuhl fest. Mir wird übel, während die Teller und Gläser klirrend zu Boden fallen und zerschellen.
»Was ist das?«, schreie ich gegen das Tosen an. Die Pflanzen biegen sich wie bei einem schrecklichen Sturm.
»Ich denke, der erste Gast ist gekommen, um der Hochzeit beizuwohnen«, sagt er und atmet schwer. Langsam lässt der Sturm nach. »Oder eher, um sie zu verhindern.« Er sieht mich durchdringend an. »Hast du ihm in deinem Traum gesagt, wo du bist?«
Und da weiß ich, wer hier ist. Lior. Er ist wirklich gekommen. Doch will ich noch gerettet werden? Wie oft kann ich mich noch gegen die Sterne stellen, bevor ich selbst daran zerbreche? Sie wollen, dass ich mein Erbe annehme, und auch ich will das. Ich habe mir geschworen, die Erfüllung meiner Pflichten vor Lior und meine Bedürfnisse zu stellen. Ich habe ihn gelinkt und in diesem Schiff zurückgelassen. Und ich kann das wieder tun.
»Ajnur.« Die Stimme zerreißt mein Herz. Doch als ich mich umdrehe, um zu dem Mann zu sehen, den ich fast geliebt habe, ist er nicht derselbe. Wildes verwüstetes Haar, düster glänzende silberne Augen, aus denen er Ajnur fixiert. Sein Körper ist übersät von Wunden und blauen Flecken, seine Kleidung zerrissen. Seine Hände sind zu Fäusten geballt und er schnauft wie ein wildes Tier. Der Mann, der da steht, sieht mehr denn je wie der Sternenschlächter aus, als der er bekannt ist.
KAPITEL2
»Lior«, entgegnet Ajnur sachlich. »Wer hat dich reingelassen?« Er muss eine unendliche Geduld und Ruhe in sich tragen. Lior dagegen wirkt gefährlich und mordlustig.
»Meine Einladung zur Hochzeit ist wohl verloren gegangen.«
»Das ist schade, aber wie ich sehe, hast du den Weg dennoch hergefunden.«
Liors Blick wandert zu mir. Kurz funkelt etwas darin, das ich wiedererkenne. Ihn wiedererkenne. Mein Herz pocht schnell und das Blut rauscht in meinen Ohren. Er ist gekommen. Ich habe ihn auf diesem Boot gefesselt weggeschickt und er ist dennoch gekommen.
»Ich würde gerne allein mit Shedir reden.«
»Sicher«, sagt Ajnur immer noch ruhig, nickt und geht ohne ein weiteres Wort.
Eine ganze Weile schweigen wir uns an, bevor Lior auf mich zutritt und über meine Wange streicht. »Geht es dir gut?«
»Mir?«, frage ich überrascht und sehe an ihm hinab. »Wie geht es dir? Was ist passiert?« Meine Stimme ist brüchig.
»Alles gut«, raunt er und verschließt sich vor mir. Stattdessen mustert er mich und das Kleid, als sei ich eine Fremde. »Du scheinst dich hier gut eingelebt zu haben.«
»Ich …« Mir fehlen die Worte. »Ich bin heute erst zu mir gekommen.«
»Und was war die letzten Monate? Wann hast du entschieden, ihn wirklich zu heiraten? Selbst die Schiffsjungen reden darüber. Und du wirkst nicht, als würde man dich zwingen. Eher wie ein Schatten deiner selbst.«
»Ich habe nicht entschieden, in eine Zwangsheirat einzuwilligen«, fauche ich. »Die anderen meinten, dass ich nicht ansprechbar war und umgeben von Sternenstaub.«
Er atmet schwer. Ich will ihm nah sein. Ihn spüren. Und gleichzeitig ist eine Mauer zwischen uns, die vorher nicht da war.
»Wirst du ihn heiraten, Narbenmädchen?«, fragt er so ehrlich und gebrochen, dass ich schluchze. Weil ich ihn vermisse, fast schon bereue, ihn gehen gelassen zu haben, und weil …
»Ich denke, dass ich das muss.« Es ist wie ein Schlag in mein und sein Gesicht. Plötzlich begreife ich, wie ernst ich Ajnurs Worte nehme. Vor allem aber die Tatsache, dass die Fengari in Gefahr sind, sollte ich es nicht tun.
Seine Lider zucken und ich muss an den Jungen denken, der er einst war. Die Bilder, die ich sah. Seine Schreie. Sein Schmerz. Und Lunas und seine Eltern, die es nicht kümmerte.
»Er ist mein Mond, sagt er.«
»Ist er das?«, fragt er zweifelnd. Aber tief in seinen Iriden, hinter dem grauen Schleier, der sich über sie legt, erkenne ich, dass er nicht weiß, ob es eine Lüge ist.
Ich räuspere mich. »Ist Lunas bei dir?«
Er schüttelt den Kopf. Alles ist so anders. Warum waren wir früher so selbstverständlich miteinander und sind es jetzt nicht mehr? Weil wir uns gegenseitig verraten haben – auch wenn sein Verrat nur in einer Vision stattgefunden hat?
»Wirst du … meine Familie und mich mitnehmen?«, frage ich, woraufhin er mich verständnislos ansieht. Ich lache. »Erzähl mir nicht, dass sich deine Pläne plötzlich geändert haben, Lior.« Ich hole Luft und versuche, damit Mut in meine Lungen zu pumpen. »Du willst deinen Bruder retten und dafür brauchst du uns.«
Müde streicht er sich über sein Gesicht, die Blutkrusten und seinen Bart, den er nicht gestutzt hat. »Was genau hast du gesehen?« Seine Stimme bricht und Tränen stehen in seinen Augen.
»Ich konnte nichts Genaues erkennen. Da war nur die Erkenntnis, dass Lunas mich töten will und du es erfährst. Ich habe gespürt, wie sehr es dich brechen würde, und ihn für dich getötet. Wir haben es zusammen getan. Mit unserer Macht.«
Er nickt und fährt sich über den Mund. Seine Bewegungen wirken unruhig, fast hektisch. Als würde sein Inneres beben.
»Was ist passiert, Lior?«, frage ich und hebe meine Hand. Als ich seine Haut berühre, zuckt er zusammen. Als bräuchte er ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass diese Berührung nicht feindlich ist.
Seine Hände beginnen zu zittern. Dann packt er mein Handgelenk und zieht meine Finger von seiner Wange. Ich schlucke bittere Enttäuschung hinunter.
»Karrak hat Nastras angegriffen, als Lunas und ich nicht da waren. Bei unserer Rückkehr konnten wir die Lage einigermaßen unter Kontrolle bringen, aber Regulus hat sich ihnen angeschlossen.« Er lässt mich los und geht ein paar Schritte hin und her. Wie ein Gejagter. Getrieben von Schmerz und … ja, was ist das noch? Ich kann es nicht erkennen. Nicht greifen.
»Es herrscht Krieg. Hat dir das dein Verlobter etwa nicht erzählt?«
Ich presse die Zähne aufeinander. Ajnur ist nicht wirklich mein Verlobter. Obwohl ich tief in mir weiß, dass ich nie meine eigenen Entscheidungen getroffen habe, sondern die Sterne mein Schicksal bestimmen.
Lior schüttelt den Kopf, als würden ihn böse Geister verfolgen. Ich verenge meinen Blick.
»Wie bist du hergekommen?«
»Über Manswek«, sagt er und sieht sich um, als sollte das niemand hören.
»Ist jemand bei dir?«
»San, Kaori.« Er atmet tief ein und aus.
Ich versuche, das alles zu ordnen. Wenn Karrak Krieg gegen Nimue führt, warum sind sie hier? Vor allem San und Kaori. Müssten sie nicht an der Front kämpfen, das Königreich schützen oder Verbündete suchen? Ich blinzle. Verbündete. »Lior?«
Er befeuchtet angespannt seine Lippen und ich beginne zu begreifen, warum er sich so benimmt. Was ihn beschäftigt und derart verletzt. Er ist nicht hier, um die Hochzeit zu verhindern. Er ist hier, um es zu unterstützen und in Ajnur und mir Verbündete zu finden.
Etwas bricht in mir, weil es wieder nur um seinen Bruder und sein Königreich geht. Er will mich nicht aufhalten. Vielmehr braucht er diese Hochzeit. Weil ich eine Freundin bin und Ajnur als mein Mann zusammen mit Nimue gegen Karrak kämpfen würde. Aber Ajnur würde doch sicher auch ohne diese Verbindung helfen. Natürlich waren die Feuerlande immer Verbündete. Aber die Zeiten haben sich verändert. Und vor allem ist Ajnur ein anderer Herrscher, als sein Vater es war. Wieder verstehe ich meine eigenen Gedanken nicht. Woher kommt dieses Vertrauen und all das Wissen? Spüre ich das alles durch die Sterne? Nein. Da muss etwas anderes dahinterstecken. Als hätten nicht nur Sirrah und die anderen ihn in den letzten Monaten kennengelernt, sondern auch ich. Es fühlt sich an, als wäre Lior mir fremder als Ajnur.
Ich senke meine Lider. Versuche, den Schmerz wegzuatmen. Ist das unser Schicksal? Die Sterne sind stumm. Sie wehren sich nicht. Mehr noch: Sie sind zufrieden.
»Ich werde ein Wort bei ihm einlegen«, flüstere ich, weil ich es nicht laut aussprechen kann. Denn diese Worte bedeuten auch, dass ich es mir verdienen muss, ihn um etwas zu bitten.
Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich in die von Lior. Ja, da ist etwas Kaputtes, Verletztes. Aber so wie immer wird er vor allem von Pflichtgefühl und Härte beherrscht.
Ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Lior wurde nie zu einem eigenständigen Menschen erzogen. Man hat ihn seiner Identität beraubt, indem man ihn von Beginn an nur als Schutzschild für seinen Bruder nutzte. Er war nie von Bedeutung. Wäre er gestorben an dem Tag in der Kathedrale der goldenen Nimue … hätte auch nur ein einziger Mensch eine Träne um ihn vergossen?
Als ich an die Vision denke, kommt es mir unwirklich vor, dass er Lunas je für mich hätte töten können. Was, wenn mir die Sterne einen Streich gespielt haben, um mich genau hierher zu bringen? Was, wenn sie dieses eine Mal eingegriffen haben, damit ich nicht bei ihm bleibe? Ihn nicht lieben werde. Ihn verlasse.
»Diese Verbindung wird dich stärker machen, sonst wird sie nichts verändern. Nicht zwischen uns.«