Falsch verdächtigt - Alexander Stevens - E-Book

Falsch verdächtigt E-Book

Alexander Stevens

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Beschreibung

Schuldig bis zum Freispruch Ein Arzt mit Geldproblemen, dessen vermögende Mutter plötzlich verstirbt, und eine Gefängnispsychologin, die behauptet, von einem Insassen erpresst zu werden … In seinem neuen Buch stellt Alexander Stevens wahre Fälle vor, bei denen seine Mandant:innen behaupten, zu Unrecht verdächtigt worden zu sein. Die Anschuldigungen reichen von Körperverletzung, Brandstiftung und Diebstahl bis hin zu mutmaßlichen Sexual- und Tötungsdelikten. Doch werden wirklich in allen Fällen die Richtigen verdächtigt oder bleibt der wahre Täter womöglich unentdeckt?

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort von Gisela Friedrichsen

Der Axtmord

Asche zu Asche

Die Influencerin

Abenddämmerung

Der Brandstifter

Silvesternacht

Dein Freund und Helfer

Der Rasenmähermann

Die Vollzugsbeamtin

#KeineKonsequenzenFuerLuke

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort von Gisela Friedrichsen

Der erste Fall, über den in diesem Buch berichtet wird, ist der des unglücklichen Johann Evangelist Lettenbauer. Achtzehn Jahre lang hielt man den schlichten, verwirrbaren Mann für den Mörder seiner Tochter und seines Enkels und ließ ihn im Zuchthaus und in einer Anstalt büßen. Als schließlich herauskam, wer die Tat wirklich begangen hatte, war Lettenbauer 82 Jahre alt. Die Täter musste man laufen lassen. Es war nichts mehr gutzumachen. Lettenbauers Geschichte ist als eine der tragischsten und unrühmlichsten in die bundesdeutsche Kriminal- und Justizgeschichte eingegangen. Was aber leider nicht heißt, dass man Lehren daraus gezogen hätte. Im Gegenteil. Dieser Fall könnte sich heute, mehr als 70 Jahre später, genauso wieder ereignen. Es müssen nur ein paar Dinge zusammenkommen – etwa eine etwas kauzige oder geistesschwache Person, Umstände, die sich den Ermittlern nicht sofort erschließen, sondern zu Spekulationen veranlassen, eine Tatversion, die dem ersten Anschein nach passt, oder ein Geständnis, zu dem sich der Verdächtige überreden lässt – und schon ist es wieder passiert.

Immer wieder gelangen diese Fälle an die Öffentlichkeit. Es sind diejenigen, die zufällig die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Mitleid oder Empörung wecken, im Gegensatz zu jenen unbekannten Opfern der Strafjustiz, um die sich keiner schert. Stets geht es, wie bei Lettenbauer, um voreilige und fahrlässige Verdachtsschöpfung, weil jemand »komisch« wirkt, weil sich der Betreffende anders verhält als von den Ermittlern erwartet, weil man dem oder der Verdächtigen ein Verbrechen zutraut. Oder weil man stur an einer einmal aufgestellten Tathypothese festhält, unfähig, das eigene Handeln auch nur einmal kritisch zu hinterfragen.

Als Erstes fällt mir Harry Wörz aus Birkenfeld bei Pforzheim ein, der viereinhalb Jahre lang unschuldig im Gefängnis büßte, weil er angeblich seine von ihm getrennt lebende Frau 1997 hatte umbringen wollen, die seither schwerstbehindert ist. 2010 wurde er endlich freigesprochen und ist seither ein gebrochener Mann. Der mutmaßlich wahre Täter, Liebhaber des Opfers und Angehöriger der Pforzheimer Polizei, blieb bis heute unbehelligt.

Auch von Rudolf Rupp, der 2001 angeblich von seiner Familie zerstückelte und von Hofhunden aufgefressene bayerische Bauer, dessen Leiche man 2009 unversehrt aus der Donau zog, hat der eine oder andere wohl schon gehört. Seine Angehörigen hatten ihre Strafen da schon weitgehend verbüßt. Sie wurden freigesprochen, auch wenn die Justiz von ihrem Verdacht, sie hätten doch irgendetwas mit dem Tod Rupps zu tun, nicht abließ.

Dann wäre da noch Horst Arnold, der Lehrer aus Hessen, 2002 zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt, die er wegen angeblicher Vergewaltigung einer Kollegin bis zum letzten Tag absaß; den Freispruch 2011 aufgrund erwiesener Unschuld überlebte er nur um ein Jahr. Zur beruflichen Rehabilitation des Mannes hatte sich die Ministerialbürokratie nicht durchringen können.

Und jeder hat wohl von Ulvi Kulac gehört, 2004 wegen Mordes an der damals neunjährigen Peggy Knobloch zu lebenslanger Haft verurteilt, was auf unsägliche Polizeiarbeit und einen hochfahrenden Gutachter zurückzuführen ist. Zehn Jahre später wurde der geistig behinderte Mann freigesprochen. Trotzdem verstummte der Verdacht nicht, er habe die Tat doch begangen.

Gustl Mollath und Manfred Genditzki – zwei weitere Fälle für folgenreiche Falschverdächtigungen: Mollath war wegen falscher Anschuldigung, skandalöser Begutachtung und richterlicher Ignoranz acht Jahre lang in die geschlossene Psychiatrie gesperrt worden, bis er 2014 nach einem Wiederaufnahmeprozess endlich in Freiheit kam. Genditzki, der Hausmeister aus Rottach-Egern, steht nach dreizehn Jahren Haft wegen Mordes an einer alten Frau, die höchstwahrscheinlich versehentlich in ihre Badewanne gestürzt war, zum dritten Mal vor Gericht. Bis zuletzt hält die Justiz am einmal geschöpften Verdacht fest.

In diesem Buch wird von zahlreichen zerstörten Leben, vernichteten Existenzen und nicht wiedergutzumachenden Folgen falschen Verdachts berichtet. Nicht immer liegt es an voreingenommenen, karrieresüchtigen oder fahrlässig handelnden Ermittlern, wenn Menschen falsch beschuldigt werden. Nicht immer dauert es bis zu einem Prozess, an dessen Ende ein Urteil steht, das die Wahrheit ans Licht bringt. Auch vorher bereits angerichteter Schaden kann irreversibel sein, Freispruch hin oder her.

Es wird die Rede sein von einem Hochkriminellen, der den schwärmerischen Idealismus einer jungen Vollzugsbeamtin brutal ausnutzte, sie vergewaltigte und erpresste, bis sie angesichts der Behauptung des Verbrechers, sie habe ihn verführt, in bitterbösen Verdacht geriet und daran fast zugrunde ging.

Es wird beschrieben, wie schlüpfrige Gerüchte von einer farblosen Spiegel-Mitarbeiterin von einem MeToo-Verdacht bis hin zu einem Schuldbeweis aufgebauscht wurden, über dessen Sinnhaftigkeit nur spekuliert werden kann.

Alexander Stevens zerlegt die Fälle wie unter dem Brennglas in ihre Bestandteile und zeigt, was die schnelle Schlagzeile verschweigt. Mit seinem Fachwissen als Strafverteidiger ordnet er Sachverhalte und klärt – etwa im Fall Mockridge – über jene Hintergründe auf, die die Gerichte bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen haben. Kennt man sie nicht oder ist man nicht bereit, sie nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, führt man die Öffentlichkeit in die Irre, schürt falschen Verdacht und ruiniert das Vertrauen in den Rechtsstaat.

Dabei scheut Stevens nicht davor zurück, fehlerhaftes Handeln klar zu benennen. Etwa im Fall eines Polizisten im Drogensumpf, der seiner verflossenen Freundin schaden wollte und schließlich sogar seine Anwälte bezichtigte, als er aus seinen Verstrickungen nicht mehr herausfand.

Der Rechtswissenschaftler Gustav Radbruch (1878–1949) fand für die Irrungen und Wirrungen der Rechtsfindung bedenkenswerte Worte:

»Der Deutsche ist geneigt, wenn der erste Westenknopf falsch zugeknöpft ist, auch den zweiten, dritten und letzten im selben Sinn weiterzuknöpfen, die einmal gewählte Linie stur festzuhalten, nicht nur aus Folgerichtigkeit, sondern auch aus ästhetischem Bedürfnis nach der geschwungenen Kurve und der ungebrochenen Linie.«

Und so bleibt denn auch der falsche Verdacht ein Verdacht, oftmals für immer.

Der Axtmord

Menschen töten andere Menschen aus den sinnlosesten Motiven. In Edgar Allan Poes Kurzgeschichte »Das verräterische Herz« besaß das Opfer eine physische Anomalie in Gestalt eines blassblauen Auges, welches von einem dünnen Häutchen überzogen war und dem Auge eines Geiers ähnelte. Der Mörder konnte das Auge nicht ansehen, ohne von tödlichem Hass ergriffen zu werden und zu morden.

Im Gegensatz dazu erscheint der Streit über einen nicht gedeckten Frühstückstisch dann schon fast wieder als ein nachvollziehbares Mordmotiv. Doch hier kam alles ganz anders. Aber eins nach dem anderen …

An einem lauen Frühlingsabend wurde eine Streifenbesatzung der Polizei in Eitorf an der Sieg zu einer Gaststätte beordert, deren Name dem Gewicht der späteren Enthüllung alle Ehre machen sollte.

Die beiden Polizisten ahnten davon jedoch noch nichts, als sie gegen 21 Uhr in der Gaststätte Hammer eintrafen. Sie waren eher ein wenig belustigt ob des vermeintlichen Routineeinsatzes: Grund war nämlich der Anruf eines angetrunkenen Gastes, der angeblich sehr wichtige Angaben zu einer noch unbekannten Straftat machen könne.

Derartigen Anrufen muss die Polizei nachgehen, sie erweisen sich aber in den allerwenigsten Fällen als ergiebig. Zwar erleichtern Menschen gar nicht selten unter Alkoholeinfluss ihr Gewissen, allerdings lässt auch das Urteilsvermögen von Betrunkenen bekanntermaßen rapide nach. Wenn es also nicht ohnehin ein dummer Telefonstreich ist, so beklagen sich die betrunkenen »Hinweisgeber« regelmäßig über vermeintliche Verfehlungen ihrer Nachbarn; über Ärger mit der Ehefrau, den die Polizei gefälligst zu lösen habe; über ein »illegales« Hausverbot in der Stammkneipe, gegen das die Polizei einschreiten müsse; oder sie bitten schlicht um eine kostengünstige Mitfahrgelegenheit. Aber selbst bei ernst gemeinten Hinweisen verschwenden die Beamten regelmäßig ihre Zeit damit, sich mit haltlosen Spekulationen und vermeintlich wichtigen Beobachtungen ohne Beweiswert, mit albernen Verschwörungstheorien oder ermüdenden Lebensbeichten und Selbstbezichtigungen ohne strafrechtliche Relevanz herumzuschlagen. Und selbst wenn die gebeichteten »Jugendsünden« doch einmal eine Straftat darstellen sollten, so ist diese in den allermeisten Fällen längst verjährt. Die Mitteilung eines Mordes, in diesem Fall sogar eines grausigen Doppelmordes, hat hingegen Ausnahmecharakter.

Es muss ein grauenvoller Anblick gewesen sein, dem die Polizeibeamten gegen 11 Uhr vormittags in dem ramponierten ländlichen Anwesen mit der Nummer 3 ½ nahe dem idyllischen Bodensee ausgesetzt waren: Die 23-jährige Maria lag auf dem Boden in einer großen Lache ihres Blutes, nicht weit davon der leblose Körper ihres zweijährigen Sohnes Arthur. Ganz in der Nähe befand sich auch die bluttriefende Tatwaffe: Den beiden Opfern war mit einer Axt der Schädel eingeschlagen worden.

Der überlebende Bewohner des heruntergekommenen Bauernhauses, der Rentner Johann Lettenbauer, begegnete den Polizeibeamten dagegen als ein den Umständen entsprechend durchaus gefasster Mann – oder besser gesagt ein bisschen zu gefasst. Ihre Fragen beantwortete er geradezu stoisch: »Wie i heimkomme tu, da war die Maria schon tot. Die Maria hat aufm Sofa gelegen. Das Kind aufm Boden. Und schwer geschnauft hat’s. Des war ein harter Schlag für mich.«

Er habe morgens seiner Gewohnheit entsprechend Gras für seine drei Ziegen gemäht. Danach sei er nach Hause gegangen, wo seine Tochter normalerweise bereits das Frühstück gemacht habe. Da dies nicht der Fall war, sei es zum Streit mit ihr gekommen, daraufhin sei Lettenbauer erneut zum Grasmähen gegangen. Als er kurze Zeit später wieder nach Hause kam, habe er seine Tochter tot auf dem Sofa vorgefunden, seinen Enkel Arthur auf dem Boden liegend, in seinen letzten Atemzügen.

Johann Lettenbauer war aber nicht auf die Idee gekommen, die Polizei zu alarmieren, sondern hatte erst etwa eine halbe Stunde nach der vermeintlichen Auffindesituation bei seinen Nachbarn geklingelt, welche dann endlich den Notruf gewählt hatten. Dies erschien den Polizisten bereits sehr ungewöhnlich. »Ein Vater, der plötzlich der erschlagenen Tochter und dem in seinem Blut schwimmenden Enkelkind gegenübersteht, kann sich nur so teilnahmslos und gefühlskalt verhalten, wenn er in Beziehung zur Tat steht«, würden sie später vor Gericht aussagen und hatten damit ihren Hauptverdächtigen längst ausgemacht. Der frisch ausgewaschene, rosa schimmernde große Fleck auf Johann Lettenbauers Hemd machte die Sache nicht besser, ebenso wenig wie Lettenbauers Erklärung für den mutmaßlichen Blutfleck: Er habe den sterbenden Enkel vom Boden aufgehoben und an sich gedrückt, da er noch leicht zu atmen schien. Auf dem Weg zum Nachbarn sei er dann aber in Panik geraten, weil er nun das Blut seines toten Enkels auf seinem Hemd hatte. Was, wenn er verdächtigt würde, die Morde begangen zu haben – noch dazu mit seiner eigenen Handaxt, welche zuvor zur Tötung von Hühnern verwendet worden war? Deswegen habe er den Enkel aufs Sofa gelegt und sich erst einmal den Blutfleck aus dem Hemd gewaschen.

»Nur des hab i gmacht. Aber i hab selber nix weiter gmacht.«

Der noch vor den Polizisten eingetroffene Arzt indes berichtete, Lettenbauer habe bei seinem Eintreffen am Tatort noch völlig ungerührt sein Frühstück verspeist. Johann Lettenbauer wurde verhaftet.

Aber konnte der Streit um einen nicht gedeckten Frühstückstisch wirklich derartig eskalieren und aus einem bis dahin absolut unauffälligen Rentner einen grausamen Doppelmörder machen? So eindeutig, wie von den Ermittlern dargestellt, war die Beweislage dann doch nicht. Denn auch wenn sich an der Axt, die sich tatsächlich als Tatwaffe ermitteln ließ, ausnahmslos die Fingerabdrücke des rüstigen Rentners befanden, musste das noch lange nicht bedeuten, dass er die tödlichen Axthiebe auch selbst ausgeführt hatte: Immerhin war es ja sein eigenes Werkzeug, sodass seine Fingerabdrücke darauf keinen wirklich überraschenden Fund darstellten. Und auch sein vermeintlich so verdächtiges Verhalten nach dem Auffinden der grausam zugerichteten Leichen der eigenen Tochter und des Enkelkindes konnte man durchaus plausibel mit dem hieraus resultierenden Schockzustand erklären – vergleichbar mit den häufig im Radio vermeldeten Warnungen vor Personen auf der Fahrbahn, die nach einem Verkehrsunfall schockbedingt wortwörtlich »neben der Spur stehen«, anstatt sich in den sicheren Bereich abseits der Leitplanke zu begeben. So wäre auch das vom Arzt bekundete Frühstück erklärbar, das Lettenbauer nach dem grausigen Fund der beiden Leichen noch am Tatort zu sich nahm.

Und dann gab es noch die Aussage des neunzehnjährigen Nachbarmädchens, das just zur mutmaßlichen Tatzeit zwei Landstreicher direkt am Lettenbauer-Hof gesehen haben will. Ein Hinweis auf die unbekannten wahren Täter?

Nicht nach Einschätzung der Ermittler: Sie hielten die unbekannten Männer ohne weitere Nachforschungen für unverdächtige Wandersleute.

Da Lettenbauer in der Folgezeit aber auch weiterhin hartnäckig beteuerte, »das nicht gemacht« zu haben, nahm sich schließlich der in Polizeikreisen als besonders hart verschriene Kriminalrat Dorsch den Beschuldigten vor – mit durchschlagendem Erfolg. Nach wenigen Stunden Vernehmung hatte der Kriminalrat den Rentner »weichgekocht«. Noch am gleichen Tag konnte Dorsch der Staatsanwaltschaft eine »zusammenfassende Vernehmungsniederschrift« vorlegen, in der ein ausführliches Geständnis Lettenbauers enthalten war. Dass ein Gutachten des pathologischen Instituts der Universität Tübingen zu dem Ergebnis kam, dass die Tatschilderung in Lettenbauers Geständnis nicht mit der Beweislage übereinstimmte, spielte dabei aus Sicht der Ermittler keine Rolle: Schutzbehauptungen und Beschönigungen eines Mörders, um seine Tat in einem nicht ganz so grausamen Licht erscheinen zu lassen.

Dem Staatsanwalt erschien der Fall »vollkommen«. Johann Lettenbauer wurde angeklagt und in einem sehr zügigen Strafprozess nur vier Monate nach der Tat rechtskräftig verurteilt. Da half es auch nicht, dass Lettenbauer dann doch wieder kurz vor der Urteilsverkündung – das Geständnis hatte er längst widerrufen – jede Beteiligung an der Tat leugnete: »Gott ist mein Zeuge, dass ich unschuldig bin!«

Immerhin hatte ja auch der als zuverlässig bekannte Gerichtspsychiater Professor Ederle dem Angeklagten Lettenbauer nach sachverständiger Begutachtung attestiert, »intellektuell minderbegabt und seelisch plump« zu sein. Nach der Expertise des Professors sei somit auch auszuschließen, dass Lettenbauer überhaupt dazu in der Lage gewesen sei, sich ein solch ausführliches Geständnis gegenüber der Polizei einfach auszudenken – dazu sei er schlicht viel zu dumm.

Zumindest in Bezug auf seine Tochter gestand das Gericht Lettenbauer zu, sich »nur« des im Vergleich zu Mord deutlich milder bestraften Totschlags schuldig gemacht zu haben. Das Motiv dazu hatte er dem Gericht ja auch gleich noch selbst geliefert: Tochter Maria hatte am Morgen ihres Todes die Frage des Vaters nach dem Frühstück mit »Leck mich am Arsch!« beantwortet. Insoweit folgte das Gericht der Einlassung des Angeklagten Lettenbauer; allerdings auch wirklich nur insoweit. Das Gericht war nämlich fest davon überzeugt, dass Lettenbauer nach dem Streit um das Frühstück nicht wie von ihm vorgebracht seine Wut beim Mähen von Gras herausgelassen hatte, sondern vielmehr im Affekt seine Tochter mit der Axt ins Jenseits beförderte.

Warum er daraufhin auch noch seinen zweijährigen Enkel Arthur tötete, blieb aus Sicht der Kemptener Strafjustiz das einzige offene Rätsel an dem Fall – hier lautete das Urteil dann auch nicht mehr auf Totschlag, sondern Mord.

Die Akte des brutalen Doppelmordes wurde geschlossen. Das Urteil wurde in der Presse als »unübertrefflich« gefeiert, Lettenbauer aufgrund seines abermaligen Bestreitens als »hartgesotten bis zuletzt« beschrieben. Auch der Strafverteidiger schien von der Schuld seines Mandanten restlos überzeugt zu sein: Er verzichtete auf Rechtsmittel und besiegelte damit die Rechtskraft des Urteils. Im Gefängnis beteuerte Lettenbauer indes auch noch Jahre nach seiner Verurteilung hartnäckig seine Unschuld.

»Diesmal« müsse man seine Hinweise doch ernst nehmen, insistierte der eher unscheinbare angetrunkene Gast aus dem Wirtshaus Hammer. Es war unklar, was er damit meinte, aber ein Blick der Beamten auf Wirt und Stammgäste der Wirtschaft verriet, dass die theatralisch angekündigte »Lebensbeichte« des Mannes allen im Raum außer den beiden Beamten bereits seit Längerem vertraut war.

Seinerzeit habe er zusammen mit zwei weiteren Männern namens Manfred Jung und Wilhelm Schwall einige Einbrüche begangen. Er und sein Komplize Schwall seien bei einem ihrer Beutezüge dann aber gefasst und zu einer Haftstrafe verurteilt worden, Manfred Jung habe sich rechtzeitig absetzen können.

Die Enthüllung seiner angeblichen Serieneinbrüche war für die Polizei angesichts der bereits sehr lange zurückliegenden Zeit von eher untergeordnetem Interesse, worauf die Beamten den auskunftsfreudigen Kneipengast auch freundlich hinwiesen. Die Informationen, die er ihnen im Anschluss präsentierte, interessierten sie dafür umso mehr: Denn worum es ihm eigentlich ging, war das, was ihm Wilhelm Schwall später im Gefängnis erzählt haben soll. Demnach sei Schwall dabei gewesen, als Manfred Jung ein Jahr vor ihrer Verhaftung in der Gegend des Bodensees eine junge Mutter und ihr Kind mit einer Axt erschlagen habe.

Ein brisanter Vorwurf und – anders, als längst verjährte Einbrüche – einer, den die Beamten dann doch sehr ernst nehmen mussten. Schließlich ging es um einen auch nach knapp zwanzig Jahren nicht verjährten Mord, weshalb die Polizisten die Aussage des Mannes aus dem Hammer unverzüglich an die zuständige Kriminalpolizei weiterleiteten.

Es sollte sich herausstellen, dass der Mann in der Gaststätte Hammer nicht zum ersten Mal sein Wissen den Ermittlungsbehörden offenbart hatte. Bereits fünfzehn Jahre zuvor hatte ihn bei seinem abendlichen Bier das schlechte Gewissen so sehr geplagt, dass er einen Anruf bei der örtlichen Polizeidienststelle startete und schon damals den beiden angerückten Polizisten seine Kenntnisse mitteilte.

Die Beamten hatten seinerzeit auch an alle zuständigen Kriminalpolizeiinspektionen in der Bodenseeregion die Hinweise auf Wilhelm Schwall und Manfred Jung weitergegeben. Im idyllischen Umkreis des Bodensees ereignen sich wenige spektakuläre Verbrechen, schon gar keine Morde. Und wenn so etwas doch einmal passiert, vergisst man das nicht. Erst recht keinen grausigen Doppelmord, bei dem einem Kleinkind und dessen Mutter der Schädel mit der Axt gespalten wurde. Es war also schnell klar gewesen, um welchen Fall es sich handeln könnte.

Doch aus Sicht der Ermittlungsbehörden in Kempten hatte es im Fall der ermordeten Maria und Arthur Lettenbauer nichts mehr zu ermitteln gegeben: Der Fall war doch längst geklärt, der Täter Johann Lettenbauer rechtskräftig verurteilt worden. »Die von dem Mitteiler aus der Gaststätte Hammer in Verdacht gezogenen Männer scheiden also als Täter bestimmt aus«, hieß es wörtlich. Dass schon im Zuge der damaligen Ermittlungen die Nachbarstochter zwei verdächtige Landstreicher in der Nähe des Tatorts gesehen hatte, interessierte in Kempten offenbar auch nach diesem brisanten Hinweis niemanden.

Und nun, fünfzehn Jahre später? Zu diesem Zeitpunkt saß der Verurteilte Johann Lettenbauer schon seit achtzehn Jahren im Gefängnis, mittlerweile war der inzwischen 81-jährige Rentner auf Weisung des Gerichts in einem geschlossenen Altenheim untergebracht worden.

Doch diesmal knöpfte sich die örtliche Polizei in Eitorf die beiden Herren Jung und Schwall vor, mit einem – zunächst – erwartbaren Ergebnis: Der mittlerweile 37-jährige Manfred Jung bestritt nachdrücklich, irgendetwas mit einem lange zurückliegenden Doppelmord zu tun zu haben. Es fiel schwer, dem Busfahrer mit der sympathischen Frau und dem Sohn von elf Jahren eine solch bestialische Tat zuzutrauen.

Ja, er sei in seiner Jugend auf die schiefe Bahn geraten, darauf sei er auch nicht stolz: Einbrüche, Diebstähle, Vandalismus. Dann jedoch sei er in die Fremdenlegion eingetreten, jene französische Eliteeinheit, die dafür berüchtigt ist, jeden aufzunehmen – auch Kriminelle –, um diese dann aber mit eiserner Disziplin und Härte umzuerziehen. Wer die Zeit in der Fremdenlegion erfolgreich übersteht, bekommt auf Wunsch auch eine neue Identität zugewiesen oder kann eine fingierte Todesnachricht nach Hause schicken lassen, was viele von Manfred Jungs Kameraden angesichts ihres Vorlebens getan hatten. Nicht so Manfred Jung. Sein Gewissen sei schließlich rein. Hätte er jemanden umgebracht, dann hätte er eine neue Identität angenommen oder wäre in der Legion und später in Frankreich geblieben. An eine »Sache« mit einer jungen Frau und einem Kind könne er sich wirklich nicht erinnern. Eigentlich recht überzeugend.

Anders dagegen Wilhelm Schwall. Der berichtete, dass sein Bekannter Manfred Jung immer mal wieder gefragt habe, ob noch etwas aus der »Sache« mit der jungen Frau und dem Kind geworden sei. Und an die »Sache« könne er, Wilhelm Schwall, sich noch sehr gut erinnern.

Seinerzeit seien die beiden als junge Burschen auf Wanderschaft durchs Land gezogen. An dem verhängnisvollen Tattag seien sie zufällig am Hof der Lettenbauers vorbeigekommen und hätten die junge Maria nach einer Flasche Wasser und einem Handtuch gefragt, um sich draußen zu waschen und zu rasieren. Anschließend hätten sie die Flasche und das Handtuch zurückgebracht. Manfred Jung habe dabei auf dem frisch gedeckten Frühstückstisch Brot und eine Hartwurst bemerkt und heimlich eingesteckt. Den Diebstahl der Hartwurst habe Maria Lettenbauer allerdings bemerkt und Jung wütend zur Rede gestellt, worauf dieser ihr zunächst mit der Wasserflasche auf den Kopf geschlagen habe. Als Maria Lettenbauer um Hilfe rief, habe Jung die in der Nähe liegende Axt ergriffen, ihr den Schädel eingeschlagen und unmittelbar im Anschluss auch das Kind ermordet, um die Entdeckung seiner Tat zu verhindern. Das Brot, die Streit auslösende Hartwurst und eine auf dem Tisch befindliche Taschenuhr habe Jung auch noch eingesteckt. Da Manfred Jung Handschuhe trug, habe er keine Fingerabdrücke auf der Axt hinterlassen. Nach dem Mord hätten Manfred Jung und er ihre Wanderschaft ohne weitere »Zwischenfälle« fortgesetzt.

Nachdem die Ermittler Jung mit Schwalls Aussage konfrontiert hatten, konnte er sich dann doch an die »Sache« erinnern, allerdings sei alles ganz anders gewesen: Maria Lettenbauer habe plötzlich mit einem Messer herumgefuchtelt, daraufhin habe er gewissermaßen in Notwehr erst die Flasche auf ihrem Kopf zertrümmert und anschließend noch mit dem Beil zugehauen.

Allerdings wollte sich Manfred Jung nicht daran erinnern, dass Maria Lettenbauer von dem Schlag umgefallen, geschweige denn daran gestorben wäre. Und ein Kind habe er schon gar nicht gesehen. Er habe nach dem Kampf fluchtartig das Haus verlassen und auf seinen Komplizen Schwall gewartet, der ihm nach mehreren Minuten aus dem Haus gefolgt sei. »Der Schwall hat mir auf der Rückfahrt nach Köln erzählt, er hat dem Kind eine jetupt.« Das Brot und die Hartwurst habe Schwall mitgenommen, an eine Taschenuhr könne er sich nicht erinnern.

Es bleibt unklar, wer von den beiden Komplizen die Wahrheit sagte. Schwall belastete Jung schwer, wirkte aber in seiner Aussage wenig überzeugend und gefiel sich in seiner Rolle als Kronzeuge nur allzu sehr. Die Behauptung des breitschultrigen, 1,89 Meter großen Jung, er hätte sich den angeblich drohenden Schlägen der zierlichen Maria mit einem einzigen Hieb des Beils erwehren müssen, war aber ebenfalls nicht glaubhaft – und das nicht nur, weil Maria laut Obduktionsbericht von mindestens vier Beilhieben niedergestreckt worden war.

Eines aber stand fest: Johann Lettenbauer hatte offenbar doch nichts mit der Sache zu tun. Denn was Schwall und Jung in ihren mehr oder weniger glaubhaften Geständnissen offenbart hatten, war eindeutig Täterwissen: Sei dies nun die zerbrochene Flasche auf Marias Kopf, die gestohlene Taschenuhr oder eben das frisch angerichtete Frühstück samt der Hartwurst. Und mit den Wahrnehmungen der neunzehnjährigen Nachbarin und dem Gutachten der Pathologie waren Schwalls und Jungs Angaben nun auch in Einklang zu bringen. Maria Lettenbauer war also nicht wegen eines Streits um einen nicht gedeckten Frühstückstisch, sondern wegen einer Hartwurst umgebracht worden.

Johann Lettenbauer jedenfalls saß fast achtzehn Jahre lang unschuldig hinter Gittern, bis er im Alter von 83 Jahren endlich in einem Wiederaufnahmeprozess freigesprochen wurde.

Aber wie konnte es zu einem solchen Justizirrtum kommen? Damals wie heute will die Justiz nicht wahrhaben, wie häufig Unschuldige fälschlich unter Tatverdacht geraten und leider auch zu Unrecht verurteilt werden.

Falsche Verdächtigungen sind selten das Ergebnis planvoller Racheakte, sondern geschehen im Gegenteil meist unbewusst oder – wie hier – einfach nur fahrlässig. »Ein Vater in Lettenbauers Situation hat seine Kleider zu zerreißen, zu kreischen. Ein Unschuldiger hat zu wissen, wie Unschuld dargestellt gehört«, hatten die beiden Kriminalbeamten seinerzeit ihren Tatverdacht gegen Lettenbauer begründet und sich ab diesem Moment ausschließlich auf ihn eingeschossen.

»Scheuklappeneffekt« nennen Psychologen dieses Phänomen heute, wenn man sich grob verkürzt zu schnell auf eine einzige Theorie festlegt. Wer Scheuklappen trägt, den erschreckt nichts, was abseits seines Weges liegt. Für Pferde in einer Menschenmenge mag das eine gute Sache sein, für die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft dagegen ist dieser Effekt sehr schädlich: Denn in der Folge werden alle Informationen nur noch so interpretiert, dass sie die eigene Theorie bestätigen.

Auf der Suche nach diesen Ankerpunkten kommt es zu einer Verschiebung der eigenen Wahrnehmung und Erinnerung – vom Entlastungs- zum Belastungsinhalt, weil die bereits bekannten belastenden Informationen wesentlich besser antizipiert und später erinnert werden. Entlastende Beweise werden dagegen einfach nicht mehr beachtet: Man denke nur an die junge Nachbarstochter, die offenkundig Schwall und Jung am Tatort gesehen hatte. Aber anstatt diesem objektiv naheliegenden und rationalen Ermittlungsansatz nachzugehen, konzentrierten sich Polizei und Staatsanwaltschaft lieber darauf, Lettenbauers merkwürdiges Verhalten nach Auffinden der Leichen nicht etwa als menschlich nachvollziehbares irrationales Handeln im Schockzustand, sondern als Beweis seiner angeblich kaltblütigen Gesinnung zu interpretieren.

Dieses Verhalten ist menschlich, aber man sollte sich dessen stets bewusst sein. Der sogenannte Ankereffekt kann dazu führen, durch unbewusste gezielte Nichtwahrnehmung oder Nichtbeachtung relevanter Tatsachen eine widerspruchsfreie innere Beziehung zwischen der eigenen Meinung und objektiv entgegenstehenden Informationen herzustellen. Denn der Mensch neigt unterbewusst dazu, eine widerspruchsfreie Beziehung zwischen seinem bekannten Wissen und seiner eigenen Meinung zu erstreben. Eine Störung dieses Gleichgewichts, die sogenannte »kognitive Dissonanz«, wird gemeinhin als unangenehm empfunden und bewusst oder unbewusst bekämpft. Entsprechend neigen alle Menschen dazu, zum einen Tatsachen, welche die eigene Ausgangshypothese bestätigen, zu überschätzen, und zum anderen dazu, entgegenstehende Fakten systematisch falsch zu interpretieren, getreu dem Motto »Was nicht passt, wird passend gemacht«. Zusätzlich sucht man intuitiv bevorzugt nach neuen Informationen, welche geeignet sind, die eigene vorgefasste Meinung noch weiter zu bestärken.

Ein Beispiel: Dass sich an Lettenbauers Handaxt dessen eigene Fingerabdrücke fanden, ist bei neutraler Betrachtung nicht sonderlich überraschend, hatte er sie doch tagein, tagaus benutzt. Die Fingerabdrücke bewiesen also gar nichts, doch die Ermittler interpretierten diese als vermeintlich erdrückenden Beweis seiner angeblichen Täterschaft. Der deutliche Hinweis der Nachbarstochter auf die Landstreicher Jung und Schwall als mögliche Alternativtäter wurde dagegen völlig ignoriert.

Dieser Teufelskreis setzte sich weiter fort: Weil Johann Lettenbauer angesichts der vermeintlich »erdrückenden Beweislage« der einzige Tatverdächtige war, wurde der Rentner vom hartgesottenen Kriminalrat Dorsch entsprechend »bearbeitet«. Wie sehr, das ließ die Aussage eines der Ermittler im Wiederaufnahmeverfahren nur erahnen: »Auf Kapitalverbrechen, da war der Dorsch scharf.« Dorsch habe sich mit Lettenbauer in ein Kämmerlein zurückgezogen, wenig später kam er aus dem Vernehmungszimmer mit einem verschrifteten Geständnis zurück.

Dem Kriminalrat Dorsch reichte es aus, dass seine beiden Polizeikollegen von Lettenbauers Schuld überzeugt waren. Subjektiv sehen sich Polizeibeamte meist als neutral, aber man solidarisiert sich aufgrund der konstanten Zusammenarbeit dann eben doch viel eher mit den eigenen Kollegen als mit einem völlig fremden Tatverdächtigen.

Wie dieses Geständnis zustande kam, blieb unklar – wiederholt hat es Johann Lettenbauer jedenfalls nicht. Dennoch wurde dieses unter unsauberen Bedingungen zusammengeschriebene Geständnis dann später vor Gericht als unwiderlegbarer Beweis von Lettenbauers Schuld gewertet. Wir erinnern uns: Der Psychiater Professor Ederle bescheinigte dem Gericht sogar sachverständig, dass Johann Lettenbauer intellektuell unmöglich dazu in der Lage gewesen sei, sich das Geständnis einfach auszudenken. Im Wiederaufnahmeprozess gegen Lettenbauer dann die verräterische Aussage des renommierten Professors: »Sie müssen davon ausgehen, dass das Gutachten von dem Gesichtspunkt aus erstattet wurde, dass er es getan hat.« Was aber soll dann überhaupt der Beweiswert eines solchen Gutachtens sein?

Noch über Jahre hinweg setzte sich dieser »Schulterschlusseffekt« der Strafverfolgungsbehörden und Prozessbeteiligten gnadenlos durch: Selbst als man im Nachgang an den Mordprozess ganz konkrete Hinweise auf Jung und Schwall bekommen hatte – wir erinnern uns an den ersten Anrufversuch des Stammgastes aus der Gaststätte Hammer –, hielt man immer noch starr an der längst festgefahrenen Überzeugung fest, nur Johann Lettenbauer habe die beiden Morde begehen können. Hätten die Ermittlungsbehörden wenigstens hier rational gehandelt, wäre Lettenbauer schon fünfzehn Jahre früher entlastet worden.

Aber selbst beim zweiten Anruf aus dem Wirtshaus weigerte sich die Staatsanwaltschaft Kempten, dem objektiv ernst zu nehmenden Hinweis nachzugehen. Nur den diesbezüglich unvoreingenommenen Ermittlern in Eitorf ist es zu verdanken, dass Schwall und Jung überhaupt vernommen wurden – und Lettenbauer damit mehr als achtzehn Jahre nach seiner Verurteilung endlich entlastet wurde.

Johann Lettenbauer war im Jahr 1947 zu Unrecht verurteilt worden. Seine Rehabilitierung erfolgte erst 1965. Alle Beteiligten sind längst tot. Aber was die Mechanismen der Vorverurteilung angeht, waren die Umstände damals nicht anders als heute. Der Fall hätte sich genauso gut im Hier und Jetzt abspielen können.

Ein aktuelleres Beispiel: Im Jahr 2004 wurde der geistig behinderte Ulvi Kulac vom Landgericht Hof wegen Mordes an dem 2001 verschwundenen Mädchen Peggy Knobloch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Es gab weder eine Leiche noch sonstige Beweise gegen den Angeklagten. Grundlage der Verurteilung war vielmehr allein ein noch vor Prozessbeginn widerrufenes Geständnis, welches unter fragwürdigen Umständen zustande gekommen war: Angeblich hatte der Beschuldigte in einem Vieraugengespräch mit einem Ermittler sein Gewissen erleichtert, nachdem seine offizielle Vernehmung bereits abgeschlossen und sein Verteidiger schon nicht mehr zugegen gewesen war. Eine Tonaufzeichnung existierte nicht, das Gericht stützte die Verurteilung auch hier – wie im Fall Johann Lettenbauer – auf das »Gedächtnisprotokoll« des Vernehmungsbeamten.

Auch hier hieß es in der Urteilsbegründung, der geistig behinderte Ulvi Kulac wäre doch gar nicht in der Lage gewesen, sich ein solches Geständnis auszudenken.

Im Jahr 2014 wurde Ulvi Kulac in einem Wiederaufnahmeprozess vor dem Landgericht Bayreuth freigesprochen. Sein neuer Verteidiger legte dem Wiederaufnahmegericht die eidesstattliche Versicherung eines unbeteiligten Mannes vor, welcher den besagten Vernehmungsbeamten bezichtigte, ihm in einer Wirtschaft einmal in betrunkenem Zustand die Dienstwaffe an den Kopf gehalten zu haben.

Man mag somit gründlich spekulieren, wie derartige Vieraugengeständnisse wie in den Fällen Johann Lettenbauer oder Ulvi Kulac konkret zustande gekommen sein mögen. Wie es möglich sein kann, auch – oder vielleicht gerade – von Unschuldigen Geständnisse selbst schlimmster Kapitalverbrechen zu erzwingen, steht auf einem anderen Blatt und kann in meinem Buch Aussage gegen Aussage im Kapitel »Das Mords-Geständnis« nachgelesen werden. Nur so viel sei dazu gesagt: Auch das ist nicht selten, auch nicht in Deutschland und auch nicht in der heutigen Zeit. Als Grundlage einer Verurteilung sollten solche »Beweise« eines Rechtsstaates unwürdig sein.

Denn wer die ollen Kamellen aus den Jahren 1947 und 2004 für Geschichten aus grauer Vorzeit hält und glaubt, wenigstens heute sei alles anders, der blicke ins vergangene Jahr 2022: Nach einem jahrelangen Kampf der Anwälte im sogenannten »Badewannenmord« hat das Landgericht München nun die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet. Nach dem Fund der Leiche einer 87-jährigen Rentnerin aus Rottach-Egern in ihrer Badewanne im Jahre 2008 hatte man sehr schnell den Hausmeister und engen Vertrauten der wohlhabenden Seniorin, Manfred Genditzki, der Tat verdächtigt. Dabei war man zunächst davon ausgegangen, dass Genditzki einen vorausgegangenen Diebstahl habe vertuschen wollen. Das ließ sich jedoch nicht bestätigen, im Gegenteil: Das vermeintlich gestohlene Geld kam nachweislich aus ganz legalen Quellen. Daraufhin stützte das Gericht seine vorgefasste Überzeugung von der Schuld des Angeklagten dann eben darauf, dass Genditzki die Seniorin in einer Badewanne ertränkt habe, um zu vertuschen, dass er sie in einem vorausgegangenen Streit verletzt habe.

Nun, vierzehn Jahre nach der vermeintlichen Tat, begründete das für den Wiederaufnahmeantrag zuständige Landgericht München I seine Entscheidung mit den von der Verteidigerin des Verurteilten eingeholten neuen Sachverständigengutachten, welche »in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet sind, zu einer für den Angeklagten günstigeren Entscheidung zu führen«. Demzufolge soll ein thermodynamisches Gutachten, mit dem eine neue ungefähre Eingrenzung des Todes- und damit auch des Tatzeitpunkts möglich sei, zu dem Ergebnis kommen, dass dieser außerhalb des Zeitfensters liege, welches das Gericht damals annahm, ergo Genditzki ein wasserdichtes Alibi zum Todeszeitpunkt hat. Zum anderen hatte eine computergestützte biomechanische Simulation des Tatgeschehens ergeben, dass auch ein »Sturzgeschehen« möglich wäre und die Seniorin damit ohne Fremdverschulden zu Tode gekommen sein dürfte.

Und Johann Lettenbauer? Er erhielt eine Haftentschädigung von 50 000 Mark sowie Schmerzensgeld in Höhe von 60 000 Mark – Letzteres, weil die Kriminalpolizei die erste Anfrage der Polizei im Jahr 1950 amtspflichtwidrig behandelt und dadurch seine Rehabilitierung um fünfzehn Jahre verzögert hatte.

Manfred Jung, der zur Tatzeit neunzehn Jahre alt und damit strafrechtlich betrachtet noch Heranwachsender war, musste sich in Kempten vor dem Jugendgericht verantworten, wurde aber zunächst freigesprochen. Das Kemptener Gericht konnte die Zweifel an den wenig glaubhaft wirkenden Bekundungen des Komplizen Wilhelm Schwall hinsichtlich der Ermordung des kleinen Arthur nicht überwinden, ein aus Sicht des Gerichts mutmaßlicher Totschlag von Maria Lettenbauer war mittlerweile verjährt. Die Staatsanwaltschaft legte allerdings erfolgreich Revision ein, Manfred Jung wanderte schließlich für sieben Jahre wegen der Tötung des kleinen Arthur ins Gefängnis.

Während des Prozesses gegen Manfred Jung erhielt das Gericht einen anonymen Brief, in welchem mehrere »Einwohner und Bürger« – wohlgemerkt zwanzig Jahre nach der eigentlichen Tat – behaupteten, dass Johann Lettenbauer eben doch der wahre Täter gewesen sei: Sein Enkel Arthur sei aus dem Inzest mit seiner Tochter Maria hervorgegangen, Lettenbauer habe beide getötet, um die Blutschande zu tilgen.

Womit wir wieder beim Thema »Falsche Verdächtigung« wären …

Asche zu Asche

»Am 20. 04. 20XXbetrat der Angeklagte die Geschäftsräume des Bestatters TomH. und forderte ihn auf, von seiner berechtigten Rest-Forderung gegen einen gewissen MarcoS. in Höhe von 10 000 Euro Abstand zu nehmen.

Nachdem es wegen des Zahlungsrückstands für die Bestattungskosten der Mutter des MarcoS. zu Unstimmigkeiten zwischen ihm und dem Bestatter gekommen war, berichtete MarcoS. davon dem Angeklagten, für den MarcoS. als Pferdebetreuer tätig ist. Dieser erklärte, ihn dabei zu unterstützen, die Sache zu bereinigen.

Noch am selben Tag fuhr der Angeklagte zum Bestattungsinstitut von TomH. und teilte diesem mit, er sei gekommen, um die Zahlungsstreitigkeit zwischen ihm und MarcoS. endgültig zu klären. Er habe im Kofferraum seines Pkw einen Baseballschläger, mit dem er so lange auf TomH. einschlagen werde, bis dieser ›Blut kotze‹. Daraufhin forderte er den Bestatter auf, darüber nachzudenken, ob ihm seine Forderung gegen MarcoS. dies wert sei. Dann legte der Angeklagte eine 500-Euro-Banknote in einen in der Nähe befindlichen geöffneten Ausstellungssarg, mit den Worten ›Dies ist doch besser als ein zertrümmerter Schädel‹. Durch diese Drohung sollte der Bestatter dazu gezwungen werden, auf seine berechtigte Forderung gegen MarcoS. zu verzichten, wodurch TomH. einen Vermögensschaden in Höhe von 9500 Euro erlitten hätte.«

 

Nachdem der Staatsanwalt den Anklagesatz verlesen hatte, wurde mit Spannung erwartet, was der schick gekleidete Herr auf der Anklagebank dazu sagen würde. Laut seines Vorstrafenregisters war er jedenfalls nicht zum ersten Mal in diesem Deliktsbereich aufgefallen, darüber konnte auch sein geradezu perfekt sitzender Anzug nebst doppelt gebundenem Windsor-Krawattenknoten und gelbgoldener Manschettenknöpfe nicht hinwegtäuschen. Und immerhin drohte dem Mann im Falle einer Verurteilung eine angesichts seiner zahlreichen Vorahndungen mehrjährige Haftstrafe.

Das Schöffengericht hatte ganz bewusst den großen Schwurgerichtssaal des Landgerichts für die Verhandlung dieser versuchten räuberischen Erpressung gewählt, schließlich hatte der Fall schon im Vorfeld in der schwäbischen Kleinstadt für reichlich Gesprächsstoff gesorgt. Obwohl es ja »nur« um die Drohung eines eingeschlagenen Schädels ging und die angekündigte Gewalttat nicht umgesetzt worden war, war der Fall dennoch in aller Munde. Dies lag allerdings maßgeblich an dem Bestatter. Als »Bestatter Ihres Vertrauens« hatte der schillernde Tom H. nämlich eine gewisse Bekanntheit erlangt. Unter dem Slogan »Paradise Flugbestattungen«, der in großen Lettern vor der Kulisse der Schweizer Alpen thronte, bot Tom H. zahlungskräftiger Kundschaft die Verstreuung der Asche über den Wolken an – werbewirksam angeblich als »einziger Flugbestatter Deutschlands«. Nach der Selbstdarstellung auf seiner Homepage erhielt Tom H. regelmäßig Aufträge aus dem gesamten Bundesgebiet und war sogar weit über Deutschland hinaus beliebt, wie die zahlreichen zufriedenen internationalen Kundenbewertungen eindrucksvoll belegen sollten. Über die letzten Jahre hatte Tom H. mit seinem mittelständischen schwäbischen Bestattungsunternehmen mit einigem Erfolg zahlreiche treue Kunden gewonnen, quasi »Stammkunden«, wobei der Begriff im Zusammenhang mit einem Bestattungsunternehmen dann doch etwas unpassend scheint.

Mittlerweile war Tom H. auch schlicht der einzige Bestatter in der näheren Region, die Konkurrenz hatte er mit seinen aggressiven Werbemaßnahmen ausgebootet. Denn Tom hatte keine Gelegenheit zur Werbung und auch kein Medium ungenutzt gelassen und war dabei auch nicht vor unkonventionellen und teils fragwürdigen Maßnahmen zurückgeschreckt: So prangten seine meterhohen Werbeschilder nicht nur in der Nähe aller Friedhöfe, auch bei der städtischen Klinik schillerte Toms Gesicht auf dem gegenüberliegenden großflächigen Werbebanner mit dem kessen Slogan »Schlecht behandelt? Hoffentlich gut vorgesorgt!« – im Hintergrund das Bild eines geöffneten schwarz lackierten Hochglanzsarges mit kuschlig flauschigem Inlay, neben der Flugbestattung in den Schweizer Bergen sein anderer »Bestseller« für die letzte Reise.

Dass nun der »Bestatter Ihres Vertrauens« Opfer eines Verbrechens geworden war, hatte man allerdings unter vorgehaltener Hand irgendwann kommen sehen. Zu unverschämt waren seine Preise, und als alleiniger Anbieter von Bestattungen in der näheren und weiteren Umgebung hatte er eine regelrechte Monopolstellung. Mit anderen Worten: Jeder Tote musste zu Tom H., ob er wollte oder nicht. Denn gestorben wird immer.